WIRTSCHAFTSWUNDER UND MENETEKEL Sie verehren Buddha, Konfuzius und die Götter von Bäumen, Flüssen und Bergen – in Religionsdingen sind die Japaner erstaunlich tolerant. Bloß Christen hatten es im Land der aufgehenden Sonne nicht immer leicht. Die Erben der Sonnengöttin laubt man der Statistik, dürfte Japan das religiöseste Land der Erde sein. Fast 107 Millionen Menschen bekennen sich derzeit zum Shintoismus. Dazu kommen fast 90 Millionen Buddhisten, 10 Millionen Anhänger überwiegend jüngerer, häufig buddhistisch inspirierter Sekten und etwas mehr als 3 Millionen Christen. Macht insgesamt 210 Millionen Gläubige – in einem Land mit 127 Millionen Einwohnern. Das Phänomen resultiert daraus, dass die meisten Japaner sich sowohl zur uralten Naturreligion Shintoismus wie zum Buddhismus bekennen, der einst aus China nach Japan importiert wurde: Im fernöstlichen Reich leben beide Glaubensarten in friedlicher Koexistenz. Allerdings hat der „Weg der Götter“, wie Shinto übersetzt heißt, mit der in Europa verbreiteten monotheistischen Vorstellung vom rechten Glauben wenig gemein. Es gibt keinen alleinigen Gott, keine Heilige Schrift, keinen Stifter, keine Kirche und natürlich keine Kirchensteuer. Shinto ist für viele eher kulturelles Erbe und überliefertes Ritual als verinnerlichte Religion. G 118 Wer die überall im Land verstreuten Shintoschreine besucht, rund 80 000 sind es insgesamt, der verehrt Bäume, Flüsse und Berge – kehrt also gleichsam zurück zur Natur. Der Soziologe David Reid, langjähriger Herausgeber des japanischen Journals für religiöse Studien, verweist auf einen Unterschied: Religion werde zwar häufig als eine Frage des persönlichen Glaubens behandelt. In Japan funktioniere das aber anders, weil „religiöse Phänomene viele Dimensionen beinhalten, für die der Glaube irrelevant ist: Shinto-Festivals und buddhistische Beerdigungszeremonien zum Beispiel werden gemeinhin nicht als Teil einer persönlichen Religion betrachtet“. lenbesetzten Speer in dem Sud herum, doch als er die Lanze wieder herauszog, löste sich plötzlich ein salziger Klumpen, fiel hinunter und bildete das erste japanische Eiland – Onogoroshima, „die von selbst geronnene Insel“. Die beiden Götter stiegen hinab, errichteten einen Himmelspfeiler und umrundeten die Insel in einem Hochzeitsritus. Danach gaben sie sich dem ehelichen Vergnügen hin. So wurden die restlichen japanischen Inseln und eine ganze Reihe von Gottheiten geboren – Windgötter und Berggötter, Flussgötter Glaubt man den altjapanischen und Nahrungsgötter und viele mehr. IzaMythen, war am Anfang ein Regenbo- nagi und Izanami müssen sich, produkgen. Auf dem saßen die beiden Urgötter tiv wie sie waren, prächtig amüsiert haIzanagi und Izanami und blickten auf ben. Bis zur Geburt des Feuergotts ging die Ursuppe herab. Unter ihnen waberte auch alles gut. Doch dann verließ sie das eine flüssige Substanz, denn eine feste Glück. Bei der Geburt von Kagutsuchi no Form hatte Mutter Erde damals noch nicht. Izanagi stocherte mit seinem per- Kami nämlich verbrannte sich Izanami SPIEGEL GESCHICHTE 5 | 2011 ERICH LESSING / AKG Von THILO THIELKE Die Sonnengöttin Amaterasu taucht aus der Erde auf. Farbholzschnitt von Utagawa Kunisada, um 1860 den Schoß. Sie starb einen qualvollen Tod und verschwand im Reich der Toten. Der trauernde Ehemann tobte und zürnte, zerfetzte den Feuergott mit seinem Schwert in tausend Stücke und schuf so, natürlich ungewollt, immer neue Schwert-Feuergötter. Er folgte der Verblichenen in die Unterwelt – und erschauerte angesichts ihres verwesten Leichnams. Gegen ihren Wunsch hatte er nämlich ein Licht entzündet. Das hätte er besser unterlassen. Inzanami wollte schön sein, wie alle Frauen. Nun aber fühlte sie sich durch die Helligkeit entblößt und verwandelte sich in eine Furie. Mit einigen Getreuen jagte sie ihren Mann keifend durch die Unterwelt. Mit letzter Kraft schaffte der es gerade noch zum Ausgang und rollte einen schweren Felsen vor das Tor. Damit aber war das Schicksal besiegelt. Die Welt der Toten und die der Le- SPIEGEL GESCHICHTE 5 | 2011 benden war endgültig voneinander getrennt. Die gekränkte Izanami blieb unversöhnlich. Sie schwor sich, jeden Tag tausend Leben zu vernichten. Izanagi aber gelobte, jeden Tag eineinhalbtausend Gebärhütten zu errichten. Danach wusch er sich den Schmutz der Unterwelt vom Leib – und schuf so den Mond und die Sonnengöttin Amaterasu. Diese sollte ihren Urheber bald beerben und zur Obergöttin werden – soweit der Mythos. Bis Mitte des 6. Jahrhunderts blieb die Götter- und Geisterwelt, die später erst Shinto genannt werden sollte, weitgehend unangetastet. Seit Mitte des 4. Jahrhunderts traten dabei Priester auf den Plan, die die verschiedenen Gottheiten mit allerlei Ritualen gütig zu stimmen versuchten und ihr Amt an ihre Nachkommen weitervererbten. Zwei große Festivals wurden jedes Jahr gefeiert: im Frühjahr eines, in dem die Götter um eine gute Ernte gebeten wurden; im Herbst, um für die Ernte zu danken. Die herrschenden Kaiserinnen und Kaiser waren dabei von herausragender Bedeutung. „Man nahm an“, so Reich, „dass sie die mystische Kraft hatten, Gaben der Sonnengöttin zu empfangen, um die Versorgung mit Nahrungsmitteln zu verbessern und so das Wohlbefinden der Bevölkerung zu steuern.“ Mitte des sechsten Jahrhunderts erweiterte sich das Bild. Experten streiten bis heute, ob es im Jahre 538 oder erst 552 geschah: Der Buddhismus, damals schon gut 1000 Jahre alt, erreichte Nippons Inselwelt – eine Delegation des koreanischen Königs Song-myong von Paekche soll eine Statue des Erleuchteten im Gepäck gehabt haben. Koreani- 119 sche Einwanderer führten den ReligionsImport fort. Als Begründer des Buddhismus, der im Jahr 594 vorübergehend sogar zu Japans Staatsreligion erhoben wurde, gilt Siddharta Gautama. Der Spross eines südasiatischen Adelsgeschlechts soll im sechsten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung gelebt haben. „Der verhätschelte Prinz“ (so der US-Religionswissenschaftler Stephen Prothero) war seines Lebens im Wohlstand überdrüssig und von Begegnungen mit Leidenden aufgewühlt. Im Alter von 29 Jahren beschloss er, seine Frau Yasodhara, den gemeinsamen Sohn Rahula und den Palast, in dem er sein bisheriges Leben verbracht hatte, zu verlassen und als Bettelmönch durch die Welt zu ziehen. Er lebte asketisch, meditierte und lernte eine Art Yoga, doch so richtig kam er nicht voran in seinem Streben nach Weisheit. Erst mit 35 oder 36, so will es die Legende, soll ihn in einer Vollmondnacht, unter einer Pappelfeige, die Erkenntnis getroffen haben. Fortan nannte er sich „Buddha“, also der Erleuchtete. Man nennt ihn auch „Shakayamuni“, den Weisen des Shakya-Klans, und in Japan „Shaka Nyorai“. „Er erkannte den Grund unseres Leidens: Wir wünschen uns, dass die Welt anders wäre“, schreibt Prothero, „und er erkannte, dass sein Leiden selbst durch diese Einsichten verschwand.“ Seit dieser Nacht war jedenfalls alles anders. Die nächsten 45 Jahre zog Buddha durch Indien und verkündete seine neue Lehre; dabei versammelte er „Mönche und Nonnen zu einem bunten Haufen wandernder Bettler um sich“ (Prothero). Unaufhörlich wuchs die Bewegung. Verse zur Huldigung Buddhas Kalligrafie – Tusche auf Papier von Ikkyu Sojun, 15. Jahrhundert 1. Das Leben ist voller Leid. 2. Wir leiden, weil wir nach Dingen trachten, die uns unglücklich machen, weil wir neidisch und gierig sind. 3. Wir können uns von diesen Eigenschaften befreien, wenn wir 4. bestimmte Grundregeln befolgen, die er den „achtfachen Pfad“ nennt. Neben der Einsicht in die vier Weisheiten müsse, wer es ihm gleichtun wolle, freundlich und ohne Groll sein, dürfe nicht lügen, solle Gutes tun, nicht mit Waffen, Drogen oder Lebewesen handeln, Hass, Neid und Gier unterdrücken, achtsam mit seinem Körper umgehen und seinen unsteten Geist kontrollieren. Von Indien aus verbreitete sich die neue Religion in alle Himmelsrichtungen: im Süden nach Sri Lanka, von dort 120 TOKIO NATIONAL MUSEUM Buddha lehrte vier „edle Weisheiten“: ANDREAS MEICHSNER / VISUM WIRTSCHAFTSWUNDER UND MENETEKEL in die südostasiatische Inselwelt, bis ins Gebiet der heutigen Staaten Burma, Thailand und Vietnam; über die Berggipfel des Himalaja nach Tibet; im Norden nach Zentralasien und über die Seidenstraße nach China, von wo aus dann Korea und Japan erreicht wurden. Unterwegs machte der Buddhismus allerlei Wandlungen durch und erhielt landestypische Prägungen, von denen die chinesischen Einflüsse am nachhaltigsten auf die japanische Spielart des Buddhismus gewirkt haben dürften. Schließlich war das „Reich der Mitte“ seit alters Japans Lehrmeister. Im fünften Jahrhundert unserer Zeitrechnung waren mit der chinesischen Tor des ShintoSchrift bereits konSchreins fuzianische MoralItsukushima vorstellungen nach bei Hiroshima – Japan vorgedrunnur bei Ebbe gen. Der Buddhisfreiliegend mus hatte es hier leicht, weil zentralstaatliche Strukturen noch nicht ausgereift waren und „die politische Situation ungeklärt war“, wie David Reid schreibt: „Klanführer waren praktisch die Führer von Dorfstaaten. Die Kontrolle kaiserlicher Gerichte war keineswegs vollständig.“ Niemand sah sich berufen, die neue Kultur als bedrohlich zu empfinden und zu verbannen. Die in Japan vorwiegend praktizierte Strömung nannte sich Mahayana. Sie unterscheidet sich von der eher orthodoxen Ausprägung des Buddhismus vor allem dadurch, dass nicht nur buddhistische Mönche, sondern auch Laien erleuchtet werden können. Im Lauf von Jahrhunderten nisteten sich immer mehr buddhistische Sekten, meist aus China kommend, in Japan ein. Besonders der Zen-Buddhismus fiel dabei auf fruchtbaren Boden. Diese Spielart des Buddhismus, die in ihrem Herkunftsland China „Chan“ genannt wird und so viel wie „Versenkung“ bedeutet, geht auf den indischen Mönch Bodhidharma zurück, der um 500 n. Chr. in China missionierte. Er lehnte alle schrift- SPIEGEL GESCHICHTE 5 | 2011 lichen Überlieferungen ab und folgte seinem Leitspruch: „Die Lehre jenseits aller Schriften,/ Nicht aufgebaut auf Text und Zeichen,/ Weist geradehin ins Menschenherz:/ Da schau dein Wesen, dass du Buddha wirst.“ Im 12. Jahrhundert besuchte der japanische Mönch Esai (1141 bis 1215) das Reich der Mitte und traf dort auf Schüler des Chan. Er erfuhr, so der deutsche Autor und Religionsexperte Peter Koehler, „dass nicht nur Bücherwissen und rationale Erkenntnis, sondern allein die kontemplative Versenkung zur Erleuchtung führe“. Dazu müsse der Schüler in jah- relangem Üben von einem Meister in die Kunst der Meditation eingewiesen werden, notfalls mit dem Stock. Diese Meditation und Strenge, mutmaßt Koehler, waren es, die dem Zen-Buddhismus in Japan „rasch Gefolgsleute unter den Samurai und am kaiserlichen Hof“ bescherten. Jahrhundertlang bildete der Zen-Buddhismus neben dem Konfuzianismus fortan das geistige Rückgrat der Kriegerkaste. Buddhismus und Shintoismus existierten derweil friedlich nebeneinander. Während in China Buddhisten zeitweilig verfolgt wurden, konnten sie in Japan ihren Glauben ungestört leben. Allenfalls kamen sich Buddhisten hier beim Klosterbau gegenseitig in die Quere. Das Christentum gelangte in der Mitte des 16. Jahrhunderts, im Zuge des eu- ropäischen Kolonialismus, mit den Jesuiten nach Japan. Bis zum Ende des 16. Jahrhunderts gewann es in einer Zeit heftiger Bürgerkriege und innerer Zerrissenheit rund 300 000 Anhänger. Dann aber wurde es im Verlauf der gewaltsamen Reichseinigung nicht zuletzt wegen seiner Verbindung mit fremden Mächten scharf bekämpft und blieb mehr als 250 Jahre in Japan verboten. Erst als sich Japan im späten 19. Jahrhundert nach Westen öffnete und binnen weniger Jahrzehnte modernisierte, fiel 1873 auch das Verbot des Christentums. Zudem kam es zu einer politischen Umdeutung des japanischen Kaisers, der fortan als religiös verehrtes Haupt der staatlichen Exekutive gelten sollte. Die japanischen Kaiser waren gemäß der shintoistischen Legende zwar immer schon als Abkömmlinge der Sonnengöttin Amaterasu verehrt worden, doch hatte bis dahin niemand den unpolitischen, naturreligiösen Shinto-Kult in den Dienst einer autoritär-zentralstaatlichen Exekutive und Expansion gestellt. Im Zeichen des neuen „Staats-Shinto“ aber kam es in den ersten Jahren der Modernisierung sogar zu Ausschreitungen eines nationalistisch fanatisierten Mobs gegen buddhistische Heiligtümer. Die unheilvolle politische Instrumentalisierung des Shinto-Kultes wurde erst nach dem Zweiten Weltkrieg rückgängig gemacht, als der Vater des amtierenden Tenno unter dem Druck der amerikanischen Besatzungsmacht ausdrücklich auf seine gottähnliche Stellung verzichtet hatte. So kann Kaiser Akihito heute, fern politischer Einmischung, Empathie für Katastrophenopfer zeigen – und sich im übrigen darauf konzentrieren, im kaiserlichen Garten nach Shinto-Ritus Reis anzubauen, Boten zu den Shinto-Schreinen zu entsenden und den Ahnen Reiswein und geweihte Speisen zu opfern. 121