6 Patientenautonomie und Patienten

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Patientenautonomie und Patientenverfügungen in der Palliativmedizin
Norbert Jömann und Bettina Schöne­Seifert
Einleitung
Das vorherrschende Bild von der richtigen Art der Arzt-Patienten-Beziehung hat
sich in westlichen Gesellschaften in den vergangenen Jahrzehnten enorm gewandelt. In früheren Zeiten herrschte ein Bild vor, in dem der Arzt für seine Patienten
allein verantwortlich war und alle anstehenden Behandlungsentscheidungen an
Stelle seiner Patienten in deren Sinne – wie ein treusorgender Vater, also paternalistisch – traf. Dieses Bild wurde zusehends und aus guten Gründen zugunsten des
Ideals einer partnerschaftlichen Arzt-Patienten-Beziehung aufgegeben, in welcher
der Patient bei jedweder Behandlung Mitsprachebefugnisse und ein bindendes
Abwehrrecht hat. Dieser Entwicklung liegt eine zunehmende Aufwertung der
Autonomie oder Selbstbestimmung des Patienten zugrunde.
In der Palliativmedizin kommt der Frage nach der Wahrung der Patientenautonomie besondere Bedeutung zu. Erstens kommt es in der Begleitung von
»Patienten mit einer progredienten (voranschreitenden), weit fortgeschrittenen
Erkrankung und einer begrenzten Lebenserwartung […; deren] Erkrankung nicht
mehr auf eine kurative Behandlung anspricht«1 im weiteren Verlauf der Erkrankung häufig und absehbar (wenn auch nicht exakt vorhersehbar) zu einem Punkt,
ab dem Patienten vorübergehend oder dauerhaft nicht mehr einwilligungsfähig
sind. Zweitens ist diese letzte Phase des Lebens, von der hier die Rede ist, für die
Patienten mit Ängsten und Sorgen besetzt, zu denen oft auch Befürchtungen gegenüber der modernen »Apparatemedizin« gehören. Drittens macht das palliativmedizinische Ziel, für den Patienten das größtmöglichen Maß an Lebensqualität
zu realisieren2, die Klärung der Frage erforderlich, was Lebensqualität individuell
für den Patienten bedeutet und welche Ziele und Absichten er mithilfe der Medizin
verfolgt wissen will.
1 Deutscher Ethikrat; http://www.ethikrat.org/themen/medizin-und-pflege/palliativmedizin. Vgl.
auch WHO und Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin.
2 »Im Mittelpunkt der [palliativmedizinischen] Behandlung steht nicht die Lebensverlängerung,
sondern das Ziel, der betroffenen Person das größtmögliche Maß an Lebensqualität zu erhalten,
indem körperliche Beschwerden bestmöglich gelindert und, soweit möglich und von der betroffenen
Person gewünscht, auch die psychischen, sozialen und spirituellen Aspekte berücksichtigt werden.«
Deutscher Ethikrat; http://www.ethikrat.org/themen/medizin-und-pflege/palliativmedizin.
Schattauer – Pott, Integrierte Palliativmedizin – Herstellung: Frau Heyny
14. Juni 2013 – Druckdaten – Seite 43
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In solchen Zusammenhängen ist es für das gesamte Behandlungsteam wichtig,
mit dem Patienten im Gespräch zu sein und seinem Standpunkt mit Toleranz
und Empathie zu begegnen. Auch eine umfassende und vorausschauende Behandlungsplanung in enger Abstimmung mit dem Patienten ist hier sinnvoll
und kann Situationen der Nicht-Einwilligungsfähigkeit in gewissen Grenzen
planerisch vorwegnehmen. Da der Personenkreis, mit dem der Patient in Berührung kommt, jedoch während der Behandlung wechseln kann, ist auch innerhalb
einer vorausschauenden Behandlungsplanung eine zusätzliche Absicherung der
vorausgreifenden Patientenautonomie empfehlenswert. Dafür ist eine Patientenverfügung – neben der Betreuungsverfügung oder der Vorsorgevollmacht – ein
wichtiges Instrument.
In diesem Kapitel wird zunächst auf die grundsätzliche Struktur medizinischer
Entscheidungen eingegangen und gefragt, wie das Selbstbestimmungsrecht des
Patienten darin verankert ist. Dann wird untersucht, unter welchen Voraussetzungen davon ausgegangen werden darf, dass Entscheidungen autonom getroffen werden. Im Anschluss werden verschiedene Stufen des Patientenwillens voneinander
abgegrenzt, die verschiedene Grade an Autonomie des Patienten widerspiegeln. Im
Anschluss stellen wir die bestehenden Möglichkeiten von Vorausverfügungen in
Deutschland (Patientenverfügung, Vorsorgevollmacht und Betreuungsverfügung)
kurz vor und grenzen sie gegeneinander ab. Abschließend sollen einige strittige
Fragen im Umfeld der Patientenverfügung kurz angerissen werden.
Das Selbstbestimmungsrecht des Patienten in
medizinischen Entscheidungen
Bei der Entscheidungsfindung im Vorfeld medizinischer Eingriffe sind grundsätzlich zwei Komponenten wesentlich: Zum einen stellt der Arzt eine medizinische
Indikation, in der aufgrund ärztlicher Expertise bestimmt wird, welche therapeutischen Maßnahmen – ausgehend vom Krankheitsbild des Patienten – in der
jeweiligen Situation angezeigt sind. Der Indikation geht die Stellung der Diagnose
voraus. Es ist möglich, dass mehrere Therapieoptionen bestehen. Kurative wie
palliative Maßnahmen erfordern gleichermaßen eine Indikationsstellung.
Bevor die in der Indikation festgestellten Maßnahmen durchgeführt werden
können, findet im Regelfall ein Aufklärungsgespräch mit dem Patienten statt, in
dem der Arzt die informierte Einwilligung des Patienten einholt. Ist der Patient
nicht einwilligungsfähig, findet eine Orientierung am vorausverfügten Willen
oder ein Gespräch mit einem Vertreter des Patienten statt. Die Einwilligung
des Patienten erfolgt in einer Vorausverfügung oder durch eine Orientierung
am mutmaßlichen Patientenwillen. Nur im seltenen Ausnahmefall erfolgt eine
Orientierung am objektiven Patientenwohl. Hierauf werden wir später noch ausführlicher eingehen (s. S. 50).
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Beide Bestandteile, Indikation und die informierte Einwilligung des Patienten,
sind grundsätzlich notwendige Bedingungen aber erst gemeinsam eine hinreichende Bedingung für die legitime Durchführung medizinischer Maßnahmen.
Ausnahmen von dieser Regel dürfen einerseits bei akuten medizinischen Notfällen
mit unmittelbarem Handlungsbedarf, andererseits bei nicht einwilligungsfähigen
Patienten gemacht werden. Im ersten Fall ist zunächst nach dem Grundsatz in
dubio pro vita – im Zweifel für das Leben – das Wohl des Patienten zu sichern,
im zweiten Fall eine Patientenverfügung oder ein Stellvertreter-Urteil heranzuziehen.
Durch das Aufklärungsgespräch und die Notwendigkeit der informierten
Einwilligung wird der Patientenautonomie in medizinischen Entscheidungssituationen Rechnung getragen. Aber welche Bedingungen müssen erfüllt sein,
damit man von einer autonomen Entscheidung sprechen kann? Diese Frage wurde
unter anderem in dem wegweisenden Werk »Principles of Biomedical Ethics« von
Thomas L. Beauchamp und James F. Childress (2008) ausführlich behandelt. Zwei
Aspekte, welche die Autoren herausstellen, sind für die Fragestellung nach dem
Respekt vor der Patientenautonomie im Kontext der Palliativmedizin besonders
interessant: Zum einen schlagen Beauchamp und Childress vor, bei der Frage, ob
eine Entscheidung autonom gefällt wurde, nicht auf eine grundsätzliche Befähigung zur Autonomie des Patienten abzustellen, sondern stets der Frage nachzugehen, ob eine konkrete Entscheidung die Bedingungen des Autonom-Seins
erfüllt (Beauchamp u. Childress 2008, S. 100 f.). Diese Überzeugung gewinnen
Beauchamp und Childress auf dem Boden theoretischer Erwägungen, sie ist aber
auch aus der Praxis heraus nachvollziehbar. Wenn wir etwa die Entscheidungen betrachten, die wir selbst – als zur Selbstbestimmung fähige Personen – in
unserem eigenen Leben treffen, werden wir feststellen, dass diese nicht immer
wirklich autonom sind und auch nicht sein müssen. Die meisten Menschen kaufen
beispielsweise im Supermarkt deutlich mehr Lebensmittel ein, wenn sie während
des Einkaufens hungrig sind, ohne sich dessen bewusst zu sein. Auch aus den
Situationen in der Begleitung von Patienten lassen sich solche Beispiele finden:
Gerade wenn die Kräfte schwinden etwa, ist die Befähigung Entscheidungen zu
treffen von der aktuellen Tagesform abhängig. Besonders ausgeprägt ist dieses
Phänomen z. B. bei der vaskulären Demenz, in deren anfänglichem Verlauf sich
»gute Phasen« und »schlechte Phasen« abwechseln. Ein weiteres gutes Beispiel ist
das Verkünden einer schwerwiegenden Diagnose, in Folge derer ein Patient erst
nach einer Verarbeitung der neuen Lage, die in der Bewältigung von Ängsten
bestehen kann, wieder fähig ist, wahrhaft autonome Entscheidungen zu treffen.
Vor dieser Verarbeitung ist die Autonomiefähigkeit in Bezug auf Behandlungsentscheidungen eingeschränkt.
Für die dezidierte Feststellung, ob konkrete Entscheidungen autonom sind oder
nicht, bedarf es überprüfbarer Kriterien. Beauchamp und Childress warnen in
diesem Zusammenhang vor überzogenen Anforderungen an die Patientenautonomie. Werden die Anforderungen an autonome Entscheidungen zu hoch angesetzt,
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werden diese zu seltenen Ereignissen. Das Prinzip der Achtung der Autonomie
würde so an handlungsleitendem Charakter erheblich einbüßen. Sie entwickeln
einen Katalog von vier Kriterien:
• Intentionalität
• angemessenes Verständnis
• Freiheit von Zwang
• Entscheidungskompetenz
Der hier entwickelten Position zu Folge ist das Kriterium der Intentionalität eine
Grundbedingung von bewusst vollzogenen Handlungen, und grenzt diese von
Impulshandlungen ab. Dieses Kriterium ist entweder erfüllt oder nicht erfüllt.
Die folgenden drei Kriterien hingegen können jeweils mehr oder weniger erfüllt
werden und verleihen somit auch dem Vorliegen autonomer Entscheidungen insgesamt einen graduellen Charakter.
Eine autonome Entscheidung setzt ein angemessenes Verständnis der Handlungsoptionen und der jeweiligen Situation voraus. Das Mindestmaß an Einsicht
in die Situation ist dabei von der zu entscheidenden Frage abhängig, mit zunehmender Eingriffstiefe steigen die Sorgfaltspflichten bei der Überprüfung dieses
Kriteriums. Um als autonom gelten zu können, darf eine Entscheidung auch nicht
unter übermäßigem Druck oder Zwang getroffen werden. Als mögliche Druck
ausübende Faktoren kommen etwa Ängste des Patienten, starke Erwartungen
aus dem Umfeld des Patienten oder auch hoher Entscheidungsdruck seitens der
Ärzte in Frage. Die Person, die eine autonome Entscheidung trifft, muss zudem Entscheidungskompetenz für die jeweilige Fragestellung aufweisen. Wird
ein Mindestmaß an Informiertheit, Entscheidungskompetenz oder Freiheit von
kontrollierendem Druck oder Zwang unterschritten, kann nicht mehr von einer
autonom getroffenen Entscheidung gesprochen werden (Beauchamp u. Childress
2008, S. 111–117).
Das Prinzip der Achtung der Patientenautonomie, welches Beauchamp und
Childress in ihrem Buch entwickeln, verlangt von dem Behandlungsteam zum
einen eine Haltung des Respekts vor der autonomen Entscheidung der Patienten,
fordert aber auch dazu auf, Patienten gerade erst in die Lage zu versetzen, autonome Entscheidungen zu treffen. So übernimmt der Arzt im Aufklärungsgespräch
Verantwortung dafür, dass der Patient befähigt wird, sein Selbstbestimmungsrecht auszuüben: Der Arzt erklärt dem Patienten seine Lage und die Therapieoptionen, weist auf mögliche Risiken hin, erläutert welche Erfolgsaussichten bestehen
und steht für Rückfragen zur Verfügung. Die Bedingungen der Informiertheit
werden so erfüllt. Zudem kann es zu den Aufgaben des Arztes gehören, dem Patienten unnötige Ängste zu nehmen und andere Formen der Ausübung von Druck
oder Zwang abzubauen. Daraus folgt selbstverständlich auch, dass der Arzt den
Prozess der Willensbildung durch den Patienten weder manipulieren noch den
Patienten unter ungebührlichen Druck setzen darf.
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