Das hämolytisch- urämische Syndrom

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M E D I Z I N
Das hämolytischurämische Syndrom
Lothar Bernd Zimmerhackl1, Hege Verweyen1,
Angela Gerber1, Helge Karch2, Matthias Brandis1
Zusammenfassung
Das hämolytisch-urämische Syndrom (HUS) ist
durch hämolytische Anämie, Thrombopenie
und einem akuten Nierenversagen charakterisiert. Das HUS ist die häufigste Ursache für ein
akutes Nierenversagen im Kindes- und Jugendalter. Die Inzidenz beträgt 0,7 bis 1,0/100 000
Kinder unter 15 Jahren in Deutschland und
Österreich. Etwa zwei Drittel der Erkrankten
werden dialysepflichtig. Die Letalität liegt bei
einem bis drei Prozent. Folgeerkrankungen
sind arterielle Hypertonie, Proteinurie und
chronische Niereninsuffizienz in bis zu 40 Prozent der Fälle 10 bis 15 Jahre nach der Erkrankung. In den meisten Fällen werden Infektionen mit enterohämorrhagischen E. coli (EHEC)
als Ursache für das HUS gefunden. Diese können durch kontaminierte Lebensmittel, Tierkontakte sowie von Mensch zu Mensch über-
D
as hämolytisch-urämische Syndrom ist charakterisiert durch eine hämolytische Anämie, Thrombozytopenie und eine akute Niereninsuffizienz (5). Diese Erkrankung ist
weltweit bekannt, weist aber deutlich
unterschiedliche Häufigkeiten auf. Die
Inzidenz wird in Mitteleuropa auf 1 bis
1,5 Patienten/100 000 Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren geschätzt. In
Argentinien, dem Land mit der bisher
höchsten bekannten Inzidenz, liegt diese bei mehr als 20/100 000. Obwohl diese Erkrankung in jedem Lebensalter
auftreten kann, sind besonders Kinder
im Alter von ein bis fünf Jahren betroffen. Der Altersgipfel liegt im zweiten
bis dritten Lebensjahr (8, 24, 25). In
Deutschland ist das HUS die häufigste
Ursache eines akuten Nierenversagens
im Kindesalter (22).
Das HUS ist ein Syndrom im klassischen Sinne. Bereits in der Originalbeschreibung aus dem Jahre 1955 beschreiben Gasser, ein Pathologe und
Gautier, ein Kinderarzt aus Lausanne
die verschieden Formen beziehungsweise zugrunde liegenden Erkran-
A 196
tragen werden. Das HUS stellt somit die
schwerste Komplikation einer potenziell vermeidbaren (meldepflichtigen!) Lebensmittelinfektion dar. Davon zu unterscheiden sind die
viel selteneren „atypischen“ Formen des HUS,
bei denen auch genetische Faktoren eine Rolle
spielen.
Schlüsselwörter: hämolytisch-urämisches Syndrom, Dialysetherapie, Nierenversagen, pädiatrische Erkrankung, Escherichia coli
Summary
The Hemolytic Uremic Syndrome
The hemolytic uremic syndrome (HUS) is
characterized by hemolytic anemia, thrombocytopenia and acute renal failure. The HUS is
the main cause of acute renal failure in child-
kungsmodalitäten (5). Mittlerweile ist
es akzeptiert, dass es verschiedene Ursachen für ein HUS gibt. Eine einheitliche Nomenklatur gibt es jedoch noch
nicht. Mit der zunehmenden Aufklärung der verschiedenen Pathomechanismen die zum HUS führen, werden sich zwangsläufig neue Klassifikationen aufdrängen. Derzeit werden
mindestens vier verschiedene pathogenetische Formenkreise der Entstehung
eines HUS unterschieden (10, 24, 25,
31).
❃ HUS bei Infektionen: Pathogene
können Bakterientoxine (E. coli, Shigellen, Salmonellen) die Pneumokokkenneuraminidase und Viren sein. Bei
Erkrankungen, die initial mit Durchfall
einhergehen, wird auch der Begriff
typisches HUS (D+) verwandt. Da die
überwiegende Mehrzahl der HUS-Fälle
im Kindesalter mit enterohämorrhagi1
Kinderklinik (Geschäftsführender Ärztlicher Direktor:
Prof. Dr. med. Matthias Brandis) der Albert-Ludwigs-Universität, Freiburg im Breisgau
2 Institut für Hygiene (Direktor: Prof. Dr. rer. nat. Helge
Karch), Westfälische Wilhelms-Universität, Münster
hood and adolescence. The incidence is 0.7 to
1.0/100 000 children below 15 years in Germany and Austria. About two thirds of patients
have to be dialyzed. Mortality is between one
to three per cent. Long term sequelae 10 to 15
years after onset of the disease are arterial
hypertension, proteinuria and chronic renal insufficiency. Most cases are associated with infections with enterohemorrhagic E. coli (EHEC).
These bacteria can be transmitted through contaminated food, animal and person to person
contact. HUS is the most severe complication of
a potentially avoidable food-borne infection.
Other causes of HUS described as “atypical“
have to be differentiated since other factors including genetic disorders are of importance.
Key words: hemolytic uremic syndrome, dialysis, renal failure, pediatric disease, Escherichia
coli
schen Escherichia coli (EHEC) assoziiert ist, wird auch als synonym für diese
Form das Shigatoxin-assoziierte HUS
verwendet (2, 3, 14, 16).
❃ Idiopathisches HUS (atypisches
HUS): Werden bei den Patienten keine Hinweise auf EHEC gefunden, so
ist oft mit einer Rekurrenz der Erkrankung zu rechnen. Hierbei ist die
dauernde Aktivierung des Komplementsystems ein wichtiger pathogenetischer Hinweis (10, 19, 20). In wenigen, oft familiären, Fällen scheint eine
Störung des Faktors H eine Rolle zu
spielen (27). Dieser Faktor gehört zu
einer Gruppe von Proteinen die für
die Regulation des Komplementsystems verantwortlich sind. Insbesondere auf lokaler Ebene ist Faktor H
für die Inhibierung des Komplementsystems notwendig. Kommt es zu angeborenen oder erworbenen Störungen des Faktors H, bleibt eine Komplementaktivierung ungebremst, und
es kommt zu Parenchymschäden
wahrscheinlich durch die Persistenz
der C3-abhängigen Kaskade des alternativen Komplementweges (19, 20).
Deutsches Ärzteblatt½ Jg. 99½ Heft 4½ 25. Januar 2002
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In seltenen Fällen gibt es auch hereditäre Formen des HUS, die sowohl
autosomal dominant, als auch autosomal rezessiv vererbt werden können
(10, 20, 24, 39).
❃ HUS bei systemischen Erkrankungen: Diese stehen im Zusammenhang
mit malignen Erkrankungen, systemischem Lupus erythematodes, Knochenmarktransplantation, Glomerulonephritis und treten nach Schwangerschaften im Wochenbett auf (25).
❃ HUS durch Toxinexposition: Verschiedene Substanzen wie Ciclosporin
A, Tacrolimus, Mitomycin, Kontrazeptiva und Kokain können eine Erkrankung auslösen. Sie kann auch durch eine Bestrahlung verursacht werden.
Die häufigste Ursache für ein HUS
ist im Kindesalter eine Infektion mit
EHEC (2, 6, 13–16, 23, 26, 29). Der häufigste Auslöser für eine EHEC-assoziierte Erkrankung sind kontaminierte Lebensmittel, direkter Tierkontakt
sowie die Übertragung von Mensch zu
Mensch.
Innerhalb der Gruppe der EHEC
werden zunehmend neue Serotypen gefunden, beziehungsweise bisher nicht
virulente Bakterien werden virulent.
Eine ausführliche Beschreibung der
EHEC haben Karch und Bockemühl
veröffentlicht (3, 15, 37).
❃ Seit 1998 und auch nach dem neuen
Infektionsschutzgesetz (IfSG) sind sowohl das enteropathische HUS als auch
Infektionen mit EHEC meldepflichtig
nach IfSG § 6 Absatz 1f und § 7 Absatz
12a (siehe Anhang).
Jahreszeitliche Häufung von
HUS-Erkrankungen
Bei den EHEC-assoziierten HUS-Patienten liegt der Erkrankungsgipfel in
den Sommermonaten. Besonders in
den Monaten Juli bis September ist ein
erhöhtes Erkrankungsrisiko vorhanden
(Grafik 2).
Innerhalb einer prospektiven Untersuchung wurde in Deutschland und
Österreich versucht, mögliche Infektionsquellen zu erfassen. Aufgrund methodischer Probleme und der oft langen
Latenz zwischen Kontakt mit einem
Infektionserreger und der Diagnose einer EHEC-Infektion beziehungsweise
HUS kann in den meisten Fällen der
Verursacher nicht gefunden werden
(13, 14, 31, 37).
Das Verteilungsmuster des HUS
zeigt eine Häufung vom ersten bis fünften Lebensjahr mit einem Häufigkeitsgipfel bei etwa drei Jahren (Grafik 3)
(37). Eine weitere Besonderheit ist die
Tatsache, dass Patienten unter vier Jahren häufiger an Non-O157-Erregern erkranken als ältere Kinder (Grafik 3).
Aus verschiedenen Ausbruchsuntersuchungen wird klar, dass neben den
Kleinkindern auch ältere Leute, besonders solche die in Heimen leben, wieder
häufiger erkranken (24). Eine Ursache
oder Erklärung hierfür ist bisher nicht
bekannt. Im Falle der Kleinkinder wird
allerdings vermutet, dass die in diesem
Alter noch nicht vorhandene Hygiene
dazu führt, dass bei Schmierinfektionen
eine höhere Bakterienmenge ingestiert
wird und damit eine höhere Erregerbelastung vorhanden ist. Ein Beweis für
diese Vermutung existiert aber bisher
nicht.
Diagnostik
Das klassische Leitsymptom einer Erkrankung des infektionsassoziierten
HUS mit EHEC-Nachweis ist ein blutiger Durchfall (Grafik 4). Es vergehen
etwa drei Tage (Bereich: 1 bis 8 Tage)
zwischen Infektion und Ausbruch der
Diarrhö. Nach Beginn der Diarrhö ist
das Auftreten eines HUS im Mittel in
vier Tagen zu erwarten (Bereich: 1 bis
12 Tage). Symptome, die zu Beginn des
HUS auftreten, sind in Grafik 4 gelistet.
Im Rahmen einer interdisziplinären,
multizentrischen Studie in Deutschland
im Jahre 1997 wurden in der Akutphase
die in der Tabelle dargestellten Laborwerte ermittelt.
Die Diagnose wird anhand der charakteristischen Symptome gesichert:
hämolytische Anämie mit Erhöhung
von LDH und Auftauchen von Fragmentozyten im Blutausstrich, Thrombopenie und Anstieg der Retentionswerte beziehungsweise Auftreten von
Oligo- oder Anurie. Komplikationen
Grafik 1
Epidemiologie des HUS
Das HUS tritt weltweit auf. In Europa
ist die Häufigkeit von Norden nach Süden unterschiedlich: In Deutschland
wird eine Inzidenz von 0,7 bis 1,0 pro
100 000 Kinder unter 15 Jahre gefunden. Das Verteilungsmuster der Bundesländer für die Jahre 1997/1998 ist in
der Grafik 1 dargestellt. Es fällt auf,
dass in den nördlichen Regionen um
Hamburg das HUS relativ häufig ist.
Alle anderen Bundesländer zeigen keine auffälligen Verteilungen. Es ist also
für Deutschland davon auszugehen,
dass das HUS überall vorkommen
kann.
A 198
Verteilung der gemeldeten HUS-Fälle bezogen auf die Bundesländer in Deutschland in den Jahren
1997 und 1998
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bei HUS sind eine arterielle Hyperto- nisse der Erfahrungen aus Deutschland
nie, Überwässerung mit Aszites und Pe- aus dem Jahre 1997, so mussten von 95
rikarderguss, Krampfanfälle, neurolo- Patienten 60 dialysiert werden. Die
gische, kardiale und pulmonale Beteili- überwiegende Mehrzahl (68 Prozent)
gungen.
wurde hierbei peritoneal dialysiert (37).
Die primäre bildgebende Diagnostik
Für das HUS gibt es nur wenige Beerstreckt sich auf eine sonographische richte über die Effektivität einer PlasUntersuchung der Nieren. Im B-Bild mapherese im Bezug auf Überleben
erscheinen die Nieren mit deutlich er- und Langzeitverlauf (30). In einer offehöhter Echogenität im Bereich der Nierenrinde und
Grafik 2
echoarmen Markkegeln (Abbildung). Die Nieren sind
deutlich vergrößert, und das
Volumen hat meist über die
altersentsprechende 97. Perzentile zugenommen. Im
Farbduplex zeigen sich oft
auch Muster wie sie bei einer
Nierenvenenthrombose angetroffen werden, mit deutlich
erhöhtem intrarenaler Widerstandserhöhung bis hin zu negativem diastolischen Fluss in
der Diastole. Eine Unterscheidung ist hierbei oft nur
Auftreten HUS-Erkrankungen in Abhängigkeit von der Jahdurch die Klinik mit Nachweis reszeit in Deutschland in den Jahren 1997 und 1998
von Fragmentozyten und dem
weiteren Verlauf möglich. Assoziierte Auffälligkeiten im Abdomen nen Studie der Arbeitsgemeinschaft Pädiatrische Nephrologie zeigte sich eine
können
in einem Aszites, Gallenblasenhydrops geringgradige Überlegenheit der Plasund verdickten Darmwandstrukturen mapherese bei Patienten mit sehr
schwerem Verlauf im Bezug auf eine reliegen.
nale Proteinurie (persönliche Mitteilung des Studienkoordinators Prof.
Dirk E. Müller-Wiefel, UKE, HamTherapie
burg). Es hat sich daher in der Praxis
Da bisher keine spezifischen Therapie- eingebürgert, dass bei extrarenalen
formen routinemäßig zur Verfügung Symptomen, insbesondere zerebralen
stehen, ist die derzeitige Therapie Veränderungen, versuchsweise eine
symptomatisch (10, 30, 32).
Plasmapherese durchzuführen. Man
Bei Kindern mit HUS handelt es sich sollte allerdings darauf hinweisen, dass
überwiegend um Kleinkinder. Deshalb es keine kontrollierte Studien für diese
sollte zur Dialyse eine Peritonealdialy- Behandlungsform gibt.
se gewählt werden. Allerdings ist zu beIm Gegensatz dazu hat bei TTP die
denken, dass bei einem aktiven intesti- Arbeitsgruppe um Bell, Boston (1), benalen Geschehen eine Peritonealdia- reits Anfang der 90er-Jahre gezeigt,
lyse obsolet ist. Da bei extrarenalen dass bei dieser Form der Erkrankung
Komplikationen zunehmend eine Plas- eine Plasmapherese oft lebensrettend
mapherese versucht wird, ist in diesen ist. Hier wird durch den Austausch von
Fällen ebenfalls eine Hämodialyse der Plasma die fehlende Protease (der
Peritonealdialyse vorzuziehen. Die „vWF-cleavage factor“) ersetzt und daüberwiegende Mehrzahl der Patienten, mit können die Thromben aufgelöst
die mit HUS in eine Klinik eingewiesen werden.
werden, müssen im Verlauf der ErkranDie Behandlung der Anämie ist
kung einer Nierenersatztherapie zuge- nicht einheitlich. In der klinischen Rouführt werden. Nimmt man die Ergeb- tine werden bei einem Hb unter 6 g/dl
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Erythrozytenkonzentrate verabreicht.
Im Jahr 1997 wurden bei 80 Prozent der
Patienten in Deutschland und Österreich Erythrozytenkonzentrate notwendig. Fällt der Thrombozytenwert unter
20 000/µl, wird oft eine Thrombozytensubstitution empfohlen. Es scheint sich
hier abzuzeichnen, dass erst bei Werten mit weniger als 10 000/µl und/oder
Blutungszeichen Thrombozyten gegeben werden. In der Praxis zeigt sich
jedoch, dass bei Anlage eines Dialysekatheters der zuständige chirurgisch tätige Kollege, oft die Thrombozytenwerte durch eine Transfusion anhebt (30).
Da es sich bei einer D+-HUS um eine
bakterielle Infektion handelt, wurde
diskutiert, ob man hier nicht mit Antibiotika behandeln sollte. Bei einem
EHEC-Ausbruch in Sakai, Japan, im
Jahre 1996 wurde erfolgreich mit Fosfomycin behandelt (9). Diese Erfahrung wird aber durch die nicht ausreichende Kontrollgruppe relativiert,
denn nur eine sehr geringe Anzahl von
Patienten erhielt keine Antibiotika.
Die Gabe von Antibiotika wird von
den meisten anderen Ländern nicht befürwortet. In einer Untersuchung aus
Seattle, USA, konnten Kinderärzte
nachweisen, dass Patienten die an einer
EHEC-induzierten Diarrhö litten, häufiger an einem HUS erkrankten, wenn
sie Antibiotika erhielten (38). Dieser
Hinweis ist auch theoretisch nachvollziehbar, weil Antibiotika EHEC-Erreger zu einer erhöhten Ausscheidung
von Shigatoxin, zumindest in vitro,
führen (7, 12, 18). Demzufolge sollte
nach der bisher gewonnen Erkenntnis
die Infektion mit EHEC-Erregern
möglichst nicht mit Antibiotika behandelt werden (38, 40).
Bei einigen sich in der Erprobung befindlichen Therapieformen wird versucht, dass Shigatoxin vor dem Eintritt
in den Kreislauf zu eliminieren. Dies
wird beispielsweise mit der Gabe von
Milchpräparaten versucht, in denen
Antikörper gegen Shigatoxin enthalten
sind. Eine therapeutische Effektivität
wurde jedoch bisher noch nicht in einem Feldversuch gezeigt. In einer anderen Studie wird versucht, das Toxin an
eine inerte Kieselgur-Matrix zu binden.
Dieses Material (SynsorbPK) wird derzeit von der Firma Synsorb in Kanada
A 199
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in einem weltweiten Versuch getestet.
Die bisherigen Ergebnisse sind allerdings enttäuschend. Darüber hinaus
wird eine Impfung gegen Shigatoxin erprobt. Bisher ist man über das Stadium
des Tierexperiments allerdings nicht
hinausgekommen.
Die Therapie des hämolytisch-urämischen Syndroms, welches nicht Shigatoxin-assoziiert ist, ist abhängig von
der zugrunde liegenden Situation. Liegt
ein mit Medikamenten assoziiertes
HUS vor, ist die Beendigung der Medikamentengabe am erfolgversprechendsten. Bei den familiären Formen des
HUS, die autosomal rezessiv oder dominant vererbt werden, ist eine Plasmapherese beziehungsweise eine Plasmagabe therapeutisch zu erwägen. Innerhalb dieser Gruppe nimmt der Faktor
H eine besondere Ausnahmestellung
ein (8, 10, 20, 24, 27, 30, 32).
In den letzten Jahren zeigte sich zunehmend, dass Kinder, die an einem
nicht mit Shigatoxin assoziiertem HUS
erkrankten eine angeborene Störung
der Faktor-H-Regulation haben können (27). Faktor H ist ein wichtiges Regulationseiweiß, welches die Komplementaktivierung hemmt.
Neben Faktor H sind mindestens
vier weitere sehr ähnliche Moleküle an
der Kontrolle beteiligt. Bei einem Gendefekt im Faktor-H-Gen kann es somit
zu einem HUS kommen. Hier sind ansatzweise Plasmasubstitution und Plasmapherese erfolgversprechend (10, 20,
24).
Liegt bei einem HUS eine Komplementaktivierung vor, wären zumindest
theoretisch andere Formen der Komplementinhibition möglich. Obwohl es
pharmakologische Ansätze zur Inhibierung des Komplementsystems gibt, sind
derartige Strategien noch nicht erfolgreich durchgeführt worden. Hier sind
die Ergebnisse der Phase-1- und Phase2-Studien abzuwarten. Erfolgversprechend ist der Einsatz von TP10 beziehungsweise TP20.
Beides sind lösliche ComplementReceptor-Type-1- (sCR1-)Moleküle. Von
der Firma Avant Immunotherapeutics,
INC (www.avantimmune.com, jetzt Novartis, Basel) wurden diese Komplementinhibitoren in Kanada erfolgreich
in einer Phase-2-Studie getestet. Allerdings nicht bei Patienten mit HUS,
A 200
Wirkung des Shigatoxins
wahrscheinlich den Rückgang
der Diurese beeinflusst und
nicht notwendigerweise die
Verringerung der renalen
Durchblutung (10, 30, 41).
Steroide sollten ebenfalls
nicht eingesetzt werden, da sie
die Erkrankung nicht positiv
beeinflussen (21). Eine Ausnahme bilden atypische HUSFormen, die mit einer Komplementaktivierung einhergehen. Ob bei diesen seltenen
Sonderformen durch die Gabe von Steroiden der LangAltersverteilung der HUS-Patienten in Bezug auf die nachgezeitverlauf beeinflusst wird,
wiesenen EHEC-Serotypen
ist nicht bekannt. Die Blutdruck steigernde Wirkung der
Steroide in derartigen SituaGrafik 4
tionen ist jedoch zu bedenken.
Eine wichtige Komplikation der Therapie des HUS ist
die Überwässerung. Da der
Zeitpunkt der Anurie beziehungsweise Oligurie oft nicht
einfach erkennbar ist, werden
routinemäßige Infusionsschemata wie sie bei Gastroenteritis verwendet werden, rasch
für die Patienten gefährlich.
Es ist bei einem Rückgang der
Diurese mit einer konsequenten nephrologischen ÜberwaSymptome der Patienten mit HUS bei Aufnahme in die Klinik chung wie Gewichtskontrolle,
in Deutschland (Ergebnisse einer von Biomed 2 unterstützFlüssigkeitsbilanz und Blutten Studie, 1997)
druckverhalten zu achten und
insbesondere eine Hyperkasondern postoperativ bei pädiatrischen liämie beziehungsweise eine Azidose
Patienten nach kardiochirurgischen Ein- rasch zu erkennen (30, 41). Daraus lässt
griffen.
sich unschwer ableiten, dass Patienten
Der Einsatz von Thrombolytika, He- mit HUS in ein Zentrum, das mit diesen
parin oder Prostazyklin wurde in der Verfahren vertraut ist, eingewiesen
Vergangenheit im Rahmen von Thera- werden sollten.
pieversuchen ohne Erfolg erprobt. Es
Auch heute ist zu bedenken, dass das
ist davor zu warnen, diese Medikamen- HUS in den westlichen Ländern inclusite einzusetzen, da nach der klinischen ve Deutschland mit einer Mortalität
Erfahrung mehr Nebenwirkungen als von circa drei bis fünf Prozent belastet
therapeutische Effekte damit erzielt ist und eine Verringerung dieser Quote
werden. Damit erübrigt sich auch die nur durch interdisziplinäre AnstrenForderung nach einer kontrollierten gungen und rasche Überweisung der
Studie zur Überprüfung dieser Medika- Kinder in ein mit dieser Erkrankung
mente. In Anbetracht der Pathogenese vertrautes Zentrum zu erreichen ist
der HUS ist es wahrscheinlich, dass eine (37). In wieweit neuere TherapieforFibrinolyse eher zu Blutungskomplika- men beziehungsweise die bessere Diffetionen führt, bevor eine glomeruläre renzierung der verschiedenen HUSKapillare eröffnet ist. Hierbei ist auch Formen hier eine Verbesserung herzu bedenken, dass die tubulo-toxische beiführen, ist abzuwarten.
Grafik 3
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Verlauf
Die Letalität des HUS war vor einigen
Jahren noch sehr hoch (25). Eine genaue Statistik in Abhängigkeit von dem
zugrunde liegenden Formenkreis liegt
nicht vor. Die hereditären Formen und
die HUS-Erkrankungen im Jugendund Erwachsenenalter haben wahrscheinlich eine deutlich höhere Letalität.
Am häufigsten treten persistierende
Proteinurie, Hämaturie, arterielle Hypertonie und Einschränkung der Nierenfunktion als Komplikationen auf (8,
10, 30). Verlässliche Langzeitverläufe
sind leider nur spärlich dokumentiert.
Es gibt nach der bisherigen Erfahrung
keine obere Zeitgrenze in der eine
Komplikation auftreten kann. Im Gegenteil, eine Einschränkung der Nierenfunktion kann sich auch erst nach
mehreren Jahren (bis nach 15 Jahren)
entwickeln.
Die arterielle Hypertonie scheint ein
wichtiger Progressionsfaktor für die
Niereninsuffizienz zu sein. Obwohl es
keine randomisierten Studien zur Effizienz der ACE-Hemmer gibt, wird in
Analogie zur Therapie der Hypertonie
im Erwachsenenalter bei Nierenerkrankungen bevorzugt diese Stoffgruppe eingesetzt.
Pathomechanismen beim
Shigatoxin-assoziierten HUS
Obwohl der genaue Mechanismus des
EHEC-assoziierten HUS noch nicht
komplett aufgeklärt ist, konnten wichtige Pathomechanismen beschrieben
werden (10, 24, 25, 30, 32). Nach der Ingestion von EHEC folgt eine gastrointestinale Infektion mit wässrigem
und/oder blutigem Durchfall. Durch
die Pathogenitätseigenschaften des
E.coli-Bakteriums kommt sowohl Lipopolysaccharid (LPS) als auch Shigatoxin über die Darmwandbarriere in
das zirkulierende Blut. Hier zeigen sich
mannigfaltige Reaktionen. Die Endothelzelle wird aktiviert und Zytokine
wie Interleukin 1, 6, 8, 10 und TNF-alpha werden freigesetzt (29). Gleichzeitig wird durch das Shigatoxin und diese
Aktivierung die Endothelzelle geschädigt und von-Willebrand-Faktor freige-
A 202
´
Tabelle
C
´
Laborwerte in der Akutphase
Parameter
Median
Bereich
Hämoglobin (g/dl)
Leukozyten (x1000/µl)
Thrombozyten (x1000/µl)
LDH (U/I)
Kreatinin (mg/dl)
6,0
14
40
2866
3,0
(3–12)
(3,1–32,9)
(5–365)
(4–6290)
(0,7–14,5)
n = 95 Patienten; LDH, Laktatdehydrogenase
setzt. Die Gerinnungskaskade wird
ebenfalls aktiviert und durch die Schädigung des Endothels mit Freilegung
der Basalmembran werden die Thrombozyten lokal verbraucht, und es folgt
eine generalisierte Thrombozytopenie.
Da sich diese Reaktion vornehmlich in
den Kapillaren der Niere abspielt, führt
dies zur Kongestion vorwiegend der
glomerulären Kapillaren. Durch die lokale Schädigung des Toxins werden
Epithelzellen der Niere ebenfalls zerstört, wodurch vor allem im proximalen
Tubulus das Epithel im Sinne einer akuten tubulären Nekrose (ATN) geschädigt wird. Beide Schädigungsmuster bewirken eine eingeschränkte Nierenfunktion wodurch eine Azotämie mit
Anstieg des Kreatinins hervorgerufen
wird (41).
Die hämolytische Anämie ist am wenigsten verstanden. Sowohl das Toxin
als auch die Aktivierung der verschiedenen genannten Pathomechanismen
können prinzipiell die Zellmembran
der Erythrozyten schädigen. Auch
kann mechanischer Stress und Freilegung der Basalmembranen die Fluidität
Abbildung: Ultraschallbefund der rechten Niere
bei einem 17 Monate alten Mädchen mit HUS
seit 4 Tagen. Auffallend echodichtes Parenchym
im Bereich der Nierenrinde. Markkegel echoarm
abgehoben. Volumen und Größe der Niere > 97.
Perzentile.
der Erythrozyten beeinträchtigen. Das
daraus resultierende Phänomen ist die
Hämolyse (8).
HUS und thrombotischthrombozytopenische Purpura
In den anfänglichen Kommentaren
nach Erkennung und Beschreibung des
HUS wurde darauf hingewiesen, dass
die
thrombotisch-thrombozytopenische Purpura (TTP), auch Morbus
Moschkowitz genannt, sehr viele Gemeinsamkeiten mit dem HUS aufweist
(4, 10, 32). Durch die Arbeiten von Furlan und Lämmle aus Bern (4) konnte innerhalb der letzten Jahre gezeigt werden, dass die beiden Erkrankung mit
großer Wahrscheinlichkeit unterschiedliche pathogenetische Auslöser haben.
So spielt bei der TTP insbesondere der
von-Willebrand-Faktor eine wichtige
Rolle. Furlan und Lämmle zeigten, dass
bei TTP der freigesetzte vWF aggregiert und die Protease, die für die Auflösung dieser vernetzten Moleküle notwendig ist, der „vWF-cleavage factor“
durch Antikörper gehemmt wird und
damit die proteolytische Aktivität fehlt.
Die Folge ist eine aktivierte Gerinnung
mit lokaler Thrombenbildung. Dieses
Phänomen wurde beim HUS bisher
nicht gefunden. Diese Erkenntnis wirkt
sich direkt auf die Therapie aus (1, 4).
Die Trennung der beiden Beschreibungen ist historisch begründet: Mittlerweile wird von HUS/TTP gesprochen
und die Trennung dadurch vermieden.
Andererseits wird versucht die Pathogenese genauer zu beschreiben. Der
Begriff TTP ist klinisch gesehen unglücklich gewählt, da eine Purpura bei
den Patienten in der Regel nicht vorliegt. Aus diesem Grund wird hier der
Begriff HUS gewählt.
Deutsches Ärzteblatt½ Jg. 99½ Heft 4½ 25. Januar 2002
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Zukünftige Entwicklungen
Da es sich bei dem EHEC-assoziierten HUS um Lebensmittelvergiftungen
handelt, werden große Anstrengungen
unternommen, diese Übertragungswege zu verringern. In einer durch das
BMBF geförderten Studie versuchen
mehrere Forschungsgruppen unter Federführung des RKI, Berlin, durch eine Netzverbundstruktur Aufklärungsarbeit zu leisten. Insbesondere die Gesundheitsämter und veterinärmedizinischen Einrichtungen stellen sich dieser
Herausforderung.
Neben diesen Maßnahmen des öffentlichen Gesundheitswesens sollten
die Grundlagenerkenntnisse und neue
therapeutische Ansätze verbessert werden. Neue experimentelle Modelle und
Zellkulturversuche können zur Aufklärung beitragen (32, 33). Es ist zu hoffen, dass die europäische Union die
Bekämpfung dieser lebensbedrohenden Erkrankung unterstützt.
Anhang
Eine Empfehlung des Robert Koch-Instituts bei einem hämolytisch-urämischen Syndrom mit Nachweis eines
EHEC beziehungsweise Nachweis von
Shigatoxin im Stuhl oder Antikörper
gegen O157-LPS im Serum kann im In-
Referiert
ternet unter der nachfolgend angegebenen Adresse abgerufen werden.
Laut § 6 Absatz 1 f des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) gehört enteropathisches hämolytisch-urämisches Syndrom zu den meldepflichtigen Krankheiten. Namentlich ist hierbei Krankheitsverdacht, Erkrankung sowie Tod
an die Gesundheitsämter zu melden. Weiterhin ist der Nachweis von
enterohämorrhagischen Stämmen von
Escherichia coli (EHEC) nach § 7 Absatz 12 a IfSG meldepflichtig.
Die wichtigsten präventiven Maßnahmen sind die Beachtung und Einhaltung der Hygienevorschriften bei
Verarbeitung, Lagerung, Transport
und Verkauf von Lebensmitteln. Es
sollte nur pasteurisierte Milch keine
Rohmilch verwendet werden. Insbesondere Kinder, ältere Menschen,
Schwangere und immunsupprimierte
Patienten sollten grundsätzlich tierische Produkte nur durchgegart beziehungsweise pasteurisiert (Milch: 70°C
für 10 min) zu sich nehmen. Auf den
Genuss von Produkten die aufgrund
der Herstellung nicht erhitzt werden
können, sollte diese Personengruppe
verzichten. Hierzu zählen beispielsweise Rohwurst (Mettwurst, Teewurst) und Rohmilchkäse. Kleinkinder sollten nach dem Besuch von Bauernhöfen und Streichelzoos gründlich
die Hände waschen.
Vitamin C schützt vor ASS-Läsionen
der Magenschleimhaut
Die Kombination Acetylsalicylsäure
(ASS) plus Vitamin C wird seit Jahren
von der Pharmaindustrie vermarktet,
ohne dass bislang eine plausible Begründung für diese Kombination angeboten
wurde.
Die Autoren führten bei gesunden
freiwilligen Personen Magenschleimhautstudien durch, die über drei Tage
zweimal 400 mg ASS mit und ohne zweimal 480 mg Vitamin C erhielten. Die
Magenschleimhaut wurde endoskopisch
beurteilt. Ferner wurden Durchblutung,
Sauerstoff-Freisetzung und verschiedene Enzymaktivitäten bestimmt und mit
der intragastralen Vitamin-C-Konzentration korreliert. Vitamin C führte zu
einer deutlichen Abschwächung der Magenschleimhautschäden, die unter ASS
auftretende Abnahme der Superoxiddismutase- und der Glutathionperoxidase mRNA normalisierten sich unter
Vitamin-C-Supplementierung.
Die Autoren kommen zu dem
Schluss, dass die durch Acetylsalicylsäure ausgelöste Freisetzung von Radika-
Deutsches Ärzteblatt½ Jg. 99½ Heft 4½ 25. Januar 2002
Allerdings sind auch andere Lebensmittel und Grundwasser als Infektionsquellen nachgewiesen worden, sodass
auch bei Einhaltung der genannten
Maßnahmen kein sicherer Schutz vor
EHEC besteht.
Die in dieser Übersicht zitierten Arbeiten der Autoren
wurden durch das Bundesministerium für Bildung und
Forschung (BMBF) und das Biomed-2-Programm der EU
unterstützt. Das Forschungsnetzwerk Lebensmittelinfektionen in Deutschland wird durch das BMBF unterstützt.
Die Koordination dieser Studie liegt beim Robert Koch-Institut, Berlin (Frau Dr. Andrea Ammon, Abteilung Infektionsepidemiologie). Einzelheiten sind im Epidemiologischen Bulletin 1/2000 veröffentlicht. Zur genaueren Darstellung der verschiedenen Projekte siehe Internetverweis
Manuskript eingereicht: 14. 9. 2000, revidierte Fassung
angenommen: 14. 8. 2001
❚ Zitierweise dieses Beitrags:
Dtsch Arztebl 2002; 99: A 196–203 [Heft 4]
Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literaturverzeichnis, das über den Sonderdruck beim Verfasser
und über das Internet (www.aerzteblatt.de) erhältlich ist.
Anschrift für die Verfasser:
Prof. Dr. med. Lothar Bernd Zimmerhackl
Universitäts-Kinderklinik
Mathildenstraße 1, 79106 Freiburg
E-Mail: [email protected]
Weitere Informationen im Internet:
www.rki.de
www.loisjoygaller.org
www.cdc.gov/ncidod/dbmd/diseaseinfo/escherichiacoli_
g.htm
www.rki.de/INFEKT/RATGEBER/RAT6.HTM
len, die für die Magenschleimhautschädigung verantwortlich zu machen ist,
durch Vitamin-C-Zugabe weitgehend
verhindert werden kann, wobei auch die
Myeloperoxidaseaktivität, die für eine
Aktivierung von Neutrophilen verantwortlich zu machen ist, durch Vitamin C
w
verhindert wird.
Pohle T, Brzozowski T, Becker JC et al.: Role of reactive
oxygen metabolites in aspirin-induced gastric damage in
humans: gastroprotection by vitamin C. Aliment Pharmacol Ther 2001; 15: 677–687.
Dr. T. Pohle, Department of Medicine B, University of
Münster, Albert-Schweitzer-Straße 33, 48129 Münster,
E-Mail: [email protected]
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