Vorlesung Psychiatrie WS 2011/2012 Schizophrenie I Symptomatik, Epidemiologie Michael Kluge Symptomatik Michael Kluge Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie 2 Emil Kraepelin (1856 − 1926) Dementia praecox Fasst verschiedene Erscheinungsformen in einer Diagnose zusammen Frühes Erkrankungsalter Progredienter, chronischer Verlauf Manisch-depressives Irresein Episodischer Verlauf Vollständige Remission Michael Kluge Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie 3 Eugen Bleuler (1857 − 1939) Schizophrenie Querschnittsbefund Verlauf und Ergebnis variabel Grundsymptome Denkstörungen (Assoziation) Affektivitätsstörungen (Ambivalenz) Autismus Antriebsstörungen Akzessorische Symptome Wahn Halluzination Katatonie Michael Kluge Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie 4 Kurt Schneider (1887 − 1967) Erstrangsymptome Wahnwahrnehmung Kommentierende, dialogisierende Stimmen (akustische Halluzination) Gedankenentzug, -eingabe, -ausbreitung Gedanken/Handlungen von außen gemacht Zweitrangsymptome Wahneinfall Sonstige Halluzinationen Affektstörungen Ratlosigkeit Michael Kluge Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie 5 Definitionen Wahn Unkorrigierbar falsche Beurteilung der Realität, die erfahrungsunabhängig auftritt und an der mit subjektiver Gewissheit festgehalten wird; die Überzeugung steht im Widerspruch zur Wirklichkeit und zur Überzeugung der Mitmenschen. Halluzination Sinneswahrnehmung ohne entsprechenden Sinnesreiz, die für real gehalten wird. Michael Kluge Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie 6 Aktuelle Definition (nach ICD-10) 1. Gedankenausbreitung, - lautwerden, - eingebung,- entzug 2. Kontroll -, Beeinflussungswahn, Wahnwahrnehmung 3. Kommentierende, dialogisierende Stimmen 4. anhaltender, kulturell unangemessener Wahn 5. Anhaltende Halluzination jeder Sinnesmodalität 6. Gedankenabreißen, Zerfahrenheit, Neologismen 7. Katatone Symptome 8. Negative Symptome Mindestens ein eindeutiges Symptom (1.- 4.) oder zwei Symptome (5.- 8.) Zeitkriterium: 1 Monat Michael Kluge Zeitkriterium DSM-IV: 6 Monate Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie 7 Symptomcluster Positivsymptome Wahn, Halluzinationen, Ich-Störungen Negativsymptome Affektverflachung, Anhedonie, Alogie, Apathie, Abulie, Sozialer Rückzug Tandon R et al. Schizophrenia, "just the facts" 4. Clinical features and conceptualization. Schizophr Res. 2009;110:1-23. Michael Kluge Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie 8 Weitere Symptomcluster Formale Denkstörungen + Auflösung des logischen Zusammenhangs (Zerfahrenheit, Neologismen) − gedankliche Verarmung Stimmung Depression / gelegentlich gehobene Stimmung Motorische Symptome – Katatonie + Raptus − Stupor Kognitionsstörungen Gedächtnis, Konzentration, Aufmerksamkeit Tandon R et al. Schizophrenia, "just the facts" 4. Clinical features and conceptualization. Schizophr Res. 2009;110:1-23. Michael Kluge Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie 9 Formale Denkstörungen Tandon R et al. Schizophrenia, "just the facts" 4. Clinical features and conceptualization. Schizophr Res. 2009;110:1-23. Michael Kluge Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie 10 Katatoner Stupor Emil Kraepelin (1896): Psychiatrie - Ein Lehrbuch für Studirende und Ärzte. Leipzig: Barth, 789-814. Michael Kluge Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie 11 Klinische Einteilung Paranoid (F 20.0) Positivsymptome, häufigste Form Hebephren (F 20.1) Affektstörungen: flach, läppisch; Antriebsstörungen; Denkstörungen, früher Beginn (15.-25. Lj.) Kataton (F 20.2) Motorische Symptome (Stupor, Erregung, Stereotypien) Undifferenziert (F 20.3) Schiz., die nicht Kriterien der anderen Formen erfüllt, oder mehrerer Formen gleichzeitig Tandon R et al. Schizophrenia, "just the facts" 4. Clinical features and conceptualization. Schizophr Res. 2009;110:1-23. Michael Kluge Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie 12 Klinische Einteilung Postschizophrene Depression (F 20.4), die schizophrener Symptomatik folgt Schizophrenes Residuum (F 20.5) chronische Negativsymptome Schizophrenia simplex (F 20.6) Selten! Schleichend primäre Negativsymptomatik, keine Positivsymptome Tandon R et al. Schizophrenia, "just the facts" 4. Clinical features and conceptualization. Schizophr Res. 2009;110:1-23. Michael Kluge Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie 13 Differentialdiagnosen Schizotype Störung (F 21): Exzentrik, Anomalie des Denkens (> 2 Jahre) Anhaltende wahnhafte Störung (F 22): mindestens 3 Monate, fast nur Wahnsymptomatik Akute Vorübergehende psychotische Störung (F 23): Beginn innerhalb von 2 Wochen Induzierte wahnhafte Störung (F 24) Mindestens 2 Personen mit demselben Wahn Michael Kluge Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie 14 Differentialdiagnosen Schizoaffektive Störung (F 25) Gleichzeitiges Vorliegen eindeutig schizophrener und affektiver Symptome Körperlich begründbare Psychosen (F 06) Nachweis einer Erkrankung, zeitlicher Zusammenhang Psychotische Störung durch psychotrope Substanzen (F 1x.5) (z.B. Amphetamin, Kokain) Tandon R et al. Schizophrenia, "just the facts" 4. Clinical features and conceptualization. Schizophr Res. 2009;110:1-23. Michael Kluge Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie 15 Prodromi Michael Kluge Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie 16 Unspezifische Prodromi • • • • • • • • • Energieverlust Schlafstörung Unruhe Konzentrationsstörungen Depressive Verstimmung Veränderungen im Tagesablauf Sozialer Rückzug Vernachlässigung der Person Gereiztheit Michael Kluge Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie 17 Klosterkötter J. (2008) Deutsches Ärzteblatt 105(30):532-9 Michael Kluge Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie 18 Klosterkötter J. (2008) Deutsches Ärzteblatt 105(30):532-9 Michael Kluge Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie 19 Ersterkrankungsalter • 75 % zwischen 15 - 30 Jahren • Männer: Anfang/Mitte 20 90 % bevor 30. Lj. • Frauen: Ende 20 66 % bevor 30. Lj. • Erkrankungsgipfel: • Männer 18 - 30 Jahre • Frauen 18 - 30 Jahre, 40 – 50 Jahre (Menopause) • Abhängig vom Typ: Hebephrene S.: Jugendalter Michael Kluge Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie 20 Epidemiologie • Prävalenz: weltweit ca. 0,5 − 1 % • Inzidenz: 0,05 % (20/100.000 x Jahr), d.h. 100/Jahr in Leipzig • Frauen ≅ Männer • Häufiger in höheren Breitengraden Michael Kluge Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Saha S et al. Acta Psychiatr Scand. 2006;114:36-9. 21 Verlauf • sehr variabel! • Nicht jeder Verlauf ist ungünstig! Bleuler, M. Stuttgart: Georg Thieme, 1972. Michael Kluge Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie 22 Verlauf Ciompi L. Schizophr Bull. 1980;6:606-18. Michael Kluge Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie 23 Prognose Günstiger Ungünstiger Beginn Akut Schleichend Symptome Positiv Negativ Erkrankungsalter Älter Jünger Erkrankungsdauer Kurz Lang Geschlecht Weiblich Männlich Prämorbider Anpassung Gut Schlecht Familienstand Verheiratet Ledig Partnerschaft Ja Nein Familienanamnese Negativ Positiv Michael Kluge Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie 24 Mortalität • Lebenszeit ist 15-20 Jahre kürzer als bei Allgemeinbevölkerung • Ursachen: • Suizide (ca. 25%) • Unfälle (ca. 10%) • Krankheiten (v. a. kardiovaskulär) Tandon R et al. Schizophrenia, "just the facts" 4. Clinical features and conceptualization. Schizophr Res. 2009;110:1-23. Michael Kluge Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie 25 Mortalität Høye A et al. Schizophr Res. 2011;132:228-32. Michael Kluge Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie 26 Suizidalität • 1/3 der Patienten begeht mindestens einen Suizidversuch • 5 % der Patienten versterben an Suizid • Suizidrisiko ist bei Erkrankungsbeginn am höchsten Tandon R et al. Schizophrenia, "just the facts" 4. Clinical features and conceptualization. Schizophr Res. 2009;110:1-23. Michael Kluge Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie 27 Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! Michael Kluge Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie 28