© 2006 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern DOI 10.1024/0040-5930.63.8.539 Band 63, 2006 Heft 8 Therapeutische Umschau Klinik für Psychosomatische und Allgemeine Klinische Medizin, Zentrum für Psychosoziale Medizin, Universitätsklinikum Heidelberg 2 Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Universitätsklinikum Tübingen 1 Magersucht W. Herzog1, H. C. Friederich1, B. Wild1, B. Löwe1, S. Zipfel2 Zusammenfassung Die Magersucht unterscheidet sich deutlich von anderen psychogenen Ess-Störungen: Seit mehr als dreihundert Jahren bekannt, tritt sie mit konstanter Häufigkeit auf und gehört zu den gefährlichsten Erkrankungen der betroffenen Altersstufe: Dreiviertel der Patientinnen gesunden oder bessern sich langfristig, ein Viertel hat einen chronischen Verlauf, häufig mit somatischen Komplikationen und tödlichem Ausgang. Wegen des sich oft über viele Jahre erstreckenden Gesundungsprozesses und der erheblichen Chronifizierungs- und Komplikationsrate sollte zu Beginn jeder Behandlung ein individueller Gesamtbehandlungsplan stehen, um den Therapieverlauf langfristig zu strukturieren. In Abhängigkeit von Schwere, Phase und Komorbidität sind stationäre oder ambulante Therapien indiziert. Bei kurzem Krankheitsverlauf, hinreichendem Gewicht (BMI > 15 kg/m2), guter Motivation und fehlenden Komplikationen ist eine ambulanter Psychotherapieversuch gerechtfertigt. Entsprechend der multifaktoriellen Ätiologie der Anorexia nervosa ist die stationäre Psychotherapie multimodal. Die Gewichtszunahme ist ein wichtiges erstes Therapieziel und Voraussetzung für eine konfliktzentrierte, ambulant fortzusetzende Psychotherapie. Die ambivalente Psychotherapiemotivation und die Notwendigkeit zur Symptomorientierung erfordern sowohl stationär als auch ambulant technische Modifikationen der Psychotherapie und feste Rahmenbedingungen. Definition Hauptsymptom der Anorexia nervosa ist ein ausgeprägtes, selbstinduziertes Untergewicht Body Mass Index1 < 17,5 kg/m2. Die Gewichtsreduktion wird durch Fasten, selbstinduziertes Erbrechen, Abführen, übertriebene körperliche Aktivität, bzw. den Gebrauch von Appetitzüglern herbeigeführt. Es besteht eine Furcht zuzunehmen und eine intensive Beschäftigung mit dem Essen und dem eigenen Gewicht. Bei Frauen liegt eine Amenorrhoe von mindestens dreimonatiger Dauer vor. Subtypen der Magersucht sind eine nur durch Fasten herbeigeführte restriktive Form der Anorexie und eine bulimische Form (auch binge/purge type), die durch kompensatorische Maßnahmen nach Essanfällen, wie selbstinduziertes Erbrechen oder den Gebrauch von Abführmitteln, entsteht. Eine ausgeprägte Verleugnung des Untergewichtes und der damit verbundenen Gefahren sind ebenso typisch wie eine mangelnde Wahrnehmung körperlicher Schwäche: Viele Magersüchtige erleben sich als aktiv und voller Energie. Leichtere Formen anorektischer Symptomatik können als anorektische Reaktionen bezeichnet werden. Epidemiologie Populationsbasierte Studien, die repräsentative Bevölkerungsgruppen untersuchten, fanden eine Inzidenz der Magersucht von 19 neuerkrankten Frauen und 2 neuerkrankten Männern pro 100 000 Einwohner und Jahr. Bei Mädchen im Alter von 13 bis 19 Jahren erkrankten jährlich etwa 50 pro 100 000 Einwohner neu. Generell hat die Magersucht in den vergangenen Jahrzehnten wohl nicht zugenommen. In einer großen Studie mit Schulkindern wurde die 1 Körpergewicht (in kg)/Quadrat der Körpergröße (in m) 539 Therapeutische Umschau Band 63, 2006 Heft 8 Prävalenz der Magersucht mit 0,7% bei Mädchen und 0,1% bei Jungen bestimmt. Ätiologie 540 Entstehung und Aufrechterhaltung einer Magersucht werden als ein multifaktorielles Geschehen angesehen, bei dem psychische Faktoren im Zusammenwirken mit biologischen, soziokulturellen und familiären Faktoren eine zentrale Rolle spielen [1]. Zwillingsstudien weisen darauf hin, dass es eine erbliche Komponente bei der Entstehung der Magersucht gibt. Eineiige Zwillingspaare zeigen eine höhere Konkordanz der Magersucht als zweieiige. Psychodynamisch wurde traditionell eine triebtheoretische Position vertreten: Sexuelle Beziehungen sind nicht häufig bei Magersüchtigen, deshalb wurde eine Verschiebung vom Bereich der genitalen Sexualität auf den der Oralität angenommen. Körperliche Veränderungen der sexuellen Reifung wie z.B. die sekundären Geschlechtsmerkmale oder die Menstruation treten verzögert auf oder werden zurückgebildet. Die Ablösung vom Elternhaus verzögert sich. Die magersüchtige Patientin «hält die Zeit an» und sie wird zu einer «ewigen Tochter». Objektbeziehungstheoretisch wird das Ringen um Autonomie vor dem Hintergrund früher Erfahrungen von erlebter mangelnder Verlässlichkeit und darausfolgender Hilflosigkeit zu einem zentralen Thema. Die Kontrolle der Nahrungsaufnahme erleben magersüchtige Patientinnen als eine Stärke und eine Möglichkeit, pubertätstypschen (Überwältigungs-)Erfahrungen zu entgehen. Intrapsychisch und interpersonell reduziert sich die Selbstbehauptung auf die gelingende Kontrolle von Hunger und Gewicht. Häufige Auslösesituationen sind reale oder phantasierte Trennung vom Elternhaus (Ende der Schulzeit, Schüleraustausch, Aupair-Aufenthalte, Tod naher Angehöriger, z.B. der Großeltern) oder alterstypische Verunsicherungen im Rahmen erster erotischer Kontakte. Die Verselbständigung des Abnehmens und der damit verbundenen Verhaltensweisen und Rituale kann auch lerntheoretisch verstanden werden: Automatisierungen und psychische Folgen exzessiven Hungerns wurden in der Starvationsliteratur ausführlich beschrieben: Hier wurden – vor allem im und unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg – umfangreiche Hungerexperimente bei körperlich und psychisch Gesunden durchgeführt, um die günstigsten Strategien zur Bekämpfung von Folgen der Unterernährung zu untersuchen. Auch die jüngere, verhaltenstherapeutisch orientierte Literatur betont unter den psychologischen Ursachen der Anorexie Konfliktfelder mit langer psychodynamischer Rezeption wie die Autonomieentwicklung, die Auseinandersetzung mit der Sexualität und die Selbstwertproblematik. Vom pubertären Loslösungsprozess wird in der Regel die gesamte Familie erfasst. Familiendynamisch ist die Pubertät und die Verselbständigung eines Kindes eine wichtige Schwellensituation. Die Ablösung der Jugendlichen mit ihren Ambivalenzen, Launen und rasch wechselnden Bedürfnissen stellt für die ganze Familie eine Herausforderung dar und verlangt nicht zuletzt eine Vorstellung davon, wie sich die einzelnen Familienmitglieder und die Familie als Ganzes ohne die sich lösende Jugendliche neu organisieren. Erfahrungen der Eltern bei der eigenen Autonomieentwicklung (oder Nicht-Loslösung), Erfolge, Misserfolge und Ängste in diesem Zusammenhang, Bilder von der eigenen Zukunft als Paar bilden wichtige Rahmenbedingungen für diesen Prozess. Die direkte Familienorientierung in Familiengesprächen und gegebenenfalls therapeutische Interventionen haben damit vor allem für junge Patientinnen größte Bedeutung [2]. Vor dem Hintergrund der Zunahme des Übergewichts in den Industrieländern, hat sich ein erheblicher soziokultureller Druck vor allem auf Mädchen und junge Frauen hin zu Schönheits- und Schlankheitsidealen ausgebildet, die mit normalem Essen nicht erreichbar sind. Die über Jahrzehnte dokumentierte Gewichtsabnahme der Gewinnerinnen von Schönheitskonkurrenzen, die Ess-Störungen der Topmodels, die Beschreibung einer häufig bei Sportlerinnen auftretenden female athletes triad aus Ess-Störung, Amenorrhoe und Osteoporose, belegen diese Entwicklung. Angesichts der nicht ansteigenden Inzidenz der Anorexie in den letzten 50 Jahren dürfte dieser soziokulturelle Druck aber wohl eher zur Entstehung der anderen Ess-Störungen (Bulimie, Binge Eating Disorder, Eating Disorder Not Otherwise Specified – EDNOS) beitragen [3]. Komorbidität Die psychische Komorbidität umfasst häufig Depressionen, Angststörungen, Persönlichkeitsstörungen und Suchterkrankungen. Eine Einschätzung der latenten und manifesten Suizidalität sollte bei allen Patientinnen erfolgen. Perfektionismus und zum Teil ausgeprägte Zwangssymptome werden auch als prämorbide Symptomatik gefunden [4]. Die somatische Komorbidität zu Beginn der Erkrankung entsteht oft als unmittelbare Folge von pathologischem Essverhalten, selbstinduziertem Erbrechen, Laxantien- oder Diuretikaabusus: Erniedrigte Elektrolyt-, vor allem Kaliumwerte im Serum, angeschwollene Speicheldrüsen, ein Anstieg der Speicheldrüsen-Amylase im Serum und Erosionen der Zähne infolge Magensäureexposition sind häufige Folgen des Erbrechens. Hormonstörungen (erniedrigte Östrogene, Amenorrhoe, erhöhtes Cortisol) entstehen sekundär sind obligat, verminderte Zellzahlen in allen Blutzellreihen (Anämie, Leukopenie, Thrombopenie), erniedrigte Herzfrequenz und niedriger Blutdruck sind häufig [5]. Aus internistischer Band 63, 2006 Heft 8 Indikation sind Notfallaufnahmen bei rapidem Gewichtsverlust in kurzer Zeit (> 30% in den letzten 3 Monaten), extrem niedrigem Gewicht (< 60% des Erwartungsgewichtes), ausgeprägten Elektrolytstörungen, ventrikulären Herzrhytmusstörungen, hämodynamischen Störungen (Schwindel, verwaschener Sprache) angezeigt. Auch akute (Infekte) oder chronische Zweiterkrankungen (Diabetes, entzündliche Darmerkrankungen) erhöhen das Komplikationsund Mortalitätsrisiko unter Umständen erheblich. Zu den irreversiblen somatischen Langzeitfolgen der Magersucht gehört die Osteoporose, die langfristig zu erhöhten Knochenfrakturraten und frühzeitig eintretenden Symptomen von Knochenmasseverlusten im mittleren Lebensalter führen kann. Die Bestimmung der Knochendichte gibt Auskunft über die bereits eingetretenen Knochenmasseverluste und sollte ein fester Bestandteil der Erstuntersuchung sein. Terminale Niereninsuffizienzen in 5% der Fälle wurden berichtet [5–8]. Differentialdiagnose In aller Regel gelingt die Differentialdiagnose anamnestisch. Somatisch sind chronisch konsumierende Erkrankungen wie Malabsorptionssyndrome (chronisch entzündliche Darmerkrankungen wie Colitis ulcerosa und M. Crohn), Infekte (Tuberkulose etc.), Malignome (insbesondere Hirntumore) vor allem bei später Erstmanifestation und endokrinologische Erkrankungen auszuschließen. Eine internistische Untersuchung sollte Teil jeder Erstdiagnostik sein. Psychisch sind die depressive Esshemmung, Brechneurosen, verminderte Nahrungsaufnahme bei Borderline-Störungen oder Wahnbildungen im Rahmen einer Schizophrenie abzugrenzen [1]. Verlauf Auch heute ist die Magersucht noch eine der gefährlichsten Erkrankungen von Mädchen und jungen Frauen. Eigene Langzeitkatamnesen mit 20-jähriger Beobachtungszeit zeigten ein 10-fach erhöhtes Sterberisiko gegenüber der altersgematchten Normalbevölkerung [7, 8]. Eine Heilung im umfassenden biopsycho-sozialen Sinne erreichten etwa die Hälfte der Patientinnen. Die mittlere Dauer bis zu einer ersten Vollremission betrug durchschnittlich sechs Jahre seit Erstaufnahme. Etwa ein Viertel der Patientinnen war gebessert: Hier lag das Vollbild einer Anorexie nicht mehr vor. Beobachtet wurden eine Restsymptomatik der Ess-Störung (EDNOS) oder Syndromshifts zu anderen psychischen Erkrankungen oft verbunden ausgeprägter soziale Isolation. Chronische Verläufe mit dem Vollbild einer Anorexie wiesen etwa 10% der Patientinnen auf. Diese waren mit schwersten psychischen (Affektiven Störungen, Persönlichkeitsstörungen) und somatischen Komplikationen Therapeutische Umschau (Osteoporose mit Knochenbrüchen, Niereninsuffizienzen bis hin zur Dialyse) belastet. Bemerkenswert in unseren Untersuchungen war, dass zwar die Hälfte der nachuntersuchten Patientinnen im Prozess ihrer Gesundung eine bulimische Phase durchliefen, dass aber eine Bulimie (mit Normalgewicht) als Langzeitverlaufsergebnis selten war. Ungünstige prognostische Faktoren waren in eigenen Untersuchungen eine bulimische Symptomatik bei Behandlungsbeginn, die Dauer der Erkrankung bei Behandlungsbeginn, das Ausmaß der Schwere der psychischen und sozialen Symptome bei Behandlungsbeginn, ein niedriges Gewicht bei Aufnahme und eine niedrige Gewichtszunahme während der initialen Behandlung. Therapie Zu Beginn jeder Therapie einer Patientin mit Magersucht sollte ein Gesamtbehandlungsplan [1] entwickelt werden wegen 1. der Dramatik der Symptome in der Ausgangssituation, 2. der Notwendigkeit der Koordination von vor-, mitund nachbehandelnden ÄrztInnen und PsychotherapeutInnen und schließlich 3. der Verlaufsdynamik der Magersucht, deren Heilungsprozess sich über Jahre erstreckt und die zum Teil in chronische oder infauste Verlaufsformen übergeht. Selbst bei günstigem Verlauf dauert es im Mittel sechs Jahre [5, 7] bis zur Heilung einer Anorexie. Mit Rückfällen oder dauerhaft chronischen Verläufen muss ge- Tabelle 1 [1]) Initialdiagnostik bei Magersucht (zitiert nach Untersuchung • • • • • • • • • • • des Überweisungskontextes, der aktuellen Motivation, der früheren Krankengeschichte/Krankheitsphase, der bisherigen Therapien (hilfreiche und schwierige Aspekte, aktuelle Krisen in einer Psychotherapie?), des aktuellen Gewichtes (wiegen ohne Kleidung!), die Anamnese der Gewichtsentwicklung (Stabilität/Instabilität, Kontrollverlust), des Essverhaltens bzw. der Esssymptomatik (Purging, Erbrechen, Laxantien-, Diuretikaabusus?), der körperlichen Aktivität, Medizinische Untersuchung und Laborparameter, Zahnstatus, Knochendichte, Hypothesen zur Psychodynamik (inkl. Auslösesituation, Grundkonflikte, Abwehrmechanismen, Strukturniveau), Psychische Komorbidität (Depression, Persönlichkeitsstörungen, Suchterkrankungen) und Suizidalität, Aktuelle Lebenssituation und -krisen (Beruf/Ausbildung und finanzielle Situation, Familie, Partnerschaft, Peer Group/Freundeskreis, Wohnsituation) 541 Therapeutische Umschau 542 Band 63, 2006 Heft 8 rechnet werden. Indikation, Therapieziele (kurativ oder supportiv), Art und Ort der Intervention hängen also ganz wesentlich davon ab, in welcher Phase der Erkrankung eine Behandlung erwogen wird. Eine detaillierte und standardisierte Initialdiagnostik vor Therapiebeginn durch eine(n) möglichst erfahrene(n) Therapeutin (Therapeuten) ist eine wichtige Voraussetzung für die weitere Therapieplanung (Tab. 1). Kern und Fundament jeder Therapie von Patientinnen Anorexie ist eine längerfristige psychotherapeutische Behandlung [1]. Eine kurze Erkrankungsdauer (< 6 Monate) und ein Gewicht mit einem Body Mass Index über 15 kg/m2 bei fehlenden Komplikationen rechtfertigen einen ambulanten Therapiebeginn. Niedriges Gewicht (BMI < 15 kg/m2), kardiale, metabolische oder sonstige medizinische Komplikationen, eine psychische oder psychiatrische Komorbidität (z.B. Suizidalität, Selbstverletzungen, Alkohol-, Tabletten-, Dorgenabhängigkeit) sowie ein mangelndes Ansprechen ambulanter Therapie führen zur akuten stationären Behandlung von Patientinnen mit Anorexia nervosa. Es besteht Konsens, dass eine stationäre Behandlung begonnen werden sollte, bevor es zu medizinisch instabilen Zuständen mit abnormen Vitalparametern (z.B. Herzfrequenz < 40/min, Hypotonie mit einem RR niedriger 80/50 mm Hg, pathologische Orthostase-Reaktion mit Synkopen) kommt. Hauptziel der stationären Behandlung ist es, die Voraussetzungen für eine meist langfristige ambulante Behandlung zu schaffen. Dazu gehört eine Gewichtssteigerung bzw. möglichst Gewichtsnormalisierung, die Behandlung somatischer Komplikationen, eine Motivationssteigerung, die Bereitstellung von Informationen zu gesundem Essverhalten und zunehmend in einer zweiten Phase der Beginn einer Psychotherapie. Diese Maßnahmen werden gefördert – oder gelegentlich erst möglich – durch eine Einbeziehung der Familie. Die medikamentöse Therapie bei Anorexia nervosa hat allenfalls einen symptomatischen Charakter bei zusätzlichen Symptomen wie Schlaflosigkeit, Unruhe, ausgeprägter Depressivität. Über die aktuelle psychotherapeutische Arbeit hinaus, müssen bei der Behandlung von Ess-Störungen eine Reihe von Koordinationsaufgaben erfüllt werden. Auf Grundlage eines etablierten Arbeitsbündnisses kann dies der Hausarzt, oder aber auch eine Institution übernehmen, dabei ist ein aktives Vorgehen (Wiedereinbestellen) sinnvoll. Wichtig ist, dass jemand für den Gesamtbehandlungsplan verantwortlich ist. Im einzelnen ist • Das Essverhalten einzuschätzen und im Verlauf zu beurteilen, • Der medizinischen Zustand einzuschätzen und im Verlauf zu bewerten, • Verschiedene Bausteine der Therapie parallel oder konsekutiv zu koordinieren und aufeinander abzustimmen, • Eine mögliche psychische Komorbidität zu diagnostizieren, • Die familiäre Situation zu beurteilen und der Therapieprozess gegebenenfalls durch Familiengespräche zu begleiten. • Die berufliche Perspektive und die soziale Integration in peer-groups zu fördern. Stationäre Psychotherapie Die starke Verleugnungstendenz anorektischer Patientinnen, die ein wesentliches anorektisches Krankheitsmerkmal ist, und mangelnde Motivation sind Hauptgründe für die Notwendigkeit stationärer Behandlungen. Die Notwendigkeit der Gewichtszunahme begründet sich einerseits aus den physiologischen Folgen des Hungerns, die ab einer bestimmten Grenze eine Psychotherapie unmöglich machen. Zum anderen wird durch eine Unterbrechung der anorektischen Symptomatik der Weg frei zur Wahrnehmung, Bearbeitung und Überwindung spezifischer Selbstbilder, Kränkungen, Hilflosigkeiten und Ohnmachtsgefühle, die zu Beginn der Erkrankung oft begünstigend wirkten. Der Essvertrag wird zwischen Patientin und Therapeutin ausgehandelt und fasst die symptomorientierten Rahmenbedingungen (regelmäßige, gemeinsam einzunehmende Mahlzeiten, Wiegetage, Führen eines Esstagebuchs, Teilnahme an der symptomorientierten Essgruppe, Möglichkeit unangemeldeter Kontrollen wie Wiegen, Blutentnahmen, Durchsicht der persönlichen Dinge der Patientin etc.) dieses Settings für Patientin und Behandlungsteam zusammen. Er legt ein Zielgewicht und wöchentliche Gewichtszunahmen fest. Mit dem Erreichen von Zielen (primär Gewichtsstufen) sind Verstärker verbunden (z.B. Ausgang, Teilnahme an weiteren Therapieangeboten). Werden Gewichtsziele nicht erreicht, können Zusatznahrung, Ruhezeiten nach dem Essen, Einschränkung von Ausgang vereinbart werden. Die Funktion des Vertrages ist es, zweiseitig mit der Patientin etwas auszuhandeln, sie also zu involvieren und mit ihr ins Gespräch zu kommen. Eine stationäre psychosomatische Behandlung bietet zudem die Möglichkeit, ein multifaktorielles Krankheitsgeschehen auch multimethodal zu behandeln. Elemente Stationärer Psychotherapien sind neben den obengenannten die Gesprächstherapie (Einzel- und Gruppentherapie), körperorientierte Therapien, Entspannungstherapien, Gestaltungstherapie, Musiktherapie, die Stammbaum- und Skulpturarbeit, Familienorientierungen und Familientherapien. Eine wichtige Rolle spielen auch Krankenschwestern und -pfleger als Kotherapeutinnen und in der Bezugspflege. Eine prä- (Motivationsphase) und poststationäre Einbettung (teilstationäre Nachbetreuung bzw. zeitnahe Vermittlung einer ambulanten Therapie) sind empfehlenswert. Band 63, 2006 Heft 8 Ambulante Psychotherapie Magersucht kann als Identitätsentwurf einer Patientin verstanden werden, die im anthropologischen Sinne ein «Kranksein am Leben» erfährt [9, 10]. Sie findet eine Zuflucht im «Niemandsland» zwischen Leben und Tod, indem sie etwas vom Leben ablöst, das allem Lebendigen inhärent ist: das «Gerichtetsein-auf-etwas», das Wünschen, das Begehren. Mit diesem Identitätsversuch schützt sie sich vor Abhängigkeit, die sie elementar bedroht. Gegen die überwältigend gefährliche Abhängigkeit wird ein narzisstisches Ideal gesetzt: Indem die negierende Abgrenzung gelingt, wird das Selbstwertgefühl gestärkt. Für die Entstehung der anorektischen Identität kann postuliert werden, dass frühe Abhängigkeitssituationen als extrem bedrohlich erlebt wurden, weil primäre Bezugspersonen, als unzuverlässig erfahren wurden. Damit ist nicht gemeint, dass primäre Bezugspersonen schuldhaft etwas Falsches getan haben; vielmehr handelt es sich um eine Passungsstörung mit frühen Bezugspersonen. Auch für die ambulante Psychotherapie werden zwei Therapiephasen vorgeschlagen: Ziel der ersten Phase ist der Aufbau von Beziehungssicherheit. Danach kann eine zweite Phase der Therapie beginnen, die auf vertraute psychodynamische Techniken zurückgreift. Auch die ambulante Therapie erfordert eine Symptomorientierung und einen sicheren Rahmen (z.B. regelmäßige Hausarztkontakte einschließlich Gewichtsbestimmung). Literatur 1. Herzog W, Munz D, Kächele H (Hrsg.). Ess-Störungen. Therapieführer und psychodynamische Behandlungskonzepte. Stuttgart: Schattauer, 2004: 449 S. 2. Kröger F, Bergmann G, Herzog W, Petzold E. Familienorientierung und Familientherapie. In: Herzog W, Munz D, Kächele H (Hrsg.): Ess-Störungen. Therapieführer und psychodynamische Behandlungskonzepte. Stuttgart: Schattauer, 2004: 147–61. 3. Beumont P, Touyz S. What kind of illness is anorexia nervosa? European Child & Adolescent Psychiatry 2003; 12: 20–4. 4. Löwe B, Zipfel S, Buchholz C, Dupont Y, Reas DL, Herzog W. Long-term outcome of anorexia nervosa in a prospective 21 year follow-up study. Psycholog Med 2001: 31, 881–90. 5. Herzog W, Deter HC, Fiehn W, Petzold E. A 12-year follow-up study of 66 anorexia nervosa patients: Medical findings and predictors of long-term outcome in the Heidelberg-Mannheim-Study. Psycholog Med 1997; 27: 269–79. Therapeutische Umschau 6. Zipfel S, Seibel MJ, Löwe B, Beumont PJ, Kasperk C, Herzog W. Osteoporosis in patients with eating disorders: A follow-up study of patients with anorexia and bulimia nervosa. J Clin Endocrinol Metab 2001; 86(11): 5227–33. 7. Zipfel S, Löwe B, Reas DL, Deter H-C, Herzog W. Longterm prognosis in anorexia nervosa: Lessons from a 21year follow-up study. Lancet 2000; 355: 721–2. 8. Deter HC, Herzog W. Anorexia nervosa in a long-term perspective: Results of the Heidelberg-Mannheim Study. Psychosom Med 1994; 56: 20–7. 9. Küchenhoff J. Die psychodynamische Behandlung der Anorexia nervosa. In. Herzog W, Bergmann G, Munz D, Vandereycken W (Hrsg). Anorexia und Bulimia nervosa. Ergebnisse und Perspektiven in Forschung und Therapie. Frankfurt: Verlag Akademischer Schriften, 1996: 7–13. 10. Schneider G. Die psychoanalytisch fundierte Behandlung anorektischer Patientinnen – ein Zwei-Phasen-Model. In: Herzog W, Munz D, Kächele H (Hrsg.): Ess-Störungen. Therapieführer und psychodynamische Behandlungskonzepte. Stuttgart: Schattauer, 2004: 94–106. Summary: Anorexia nervosa Anorexia nervosa differs distinctly from other psychogenic eating disorders. Well known for the past 300 years, anorexia occurs consistently and is one of the most serious illnesses to be found for a certain age group. Three-quarters of the patients are healed or improve their condition long-term; one-quarter has a chronic course frequently including somatic complications and death. Because of the long healing process as well as the extensive chronification and complication rate, an individual treatment plan should be set up at the beginning of therapy to allow for a long-term structure of the course of therapy. Depending on the severity, phase and co-morbidity, inpatient and ambulant therapies are indicated. Depending on the duration of therapy, adequate weight (BMI > 15 kg/m2), good motivation, and lack of complications, an ambulant therapy is justified. Inpatient treatment is multimodal corresponding to the multifactorial etiology of anorexia nervosa. Weight gain is an important primary goal of therapy and a prerequisite for a conflict oriented, ambulant psychotherapy to be carried on after inpatient treatment. Ambivalent psychotherapy motivation and the necessity of symptom orientation demand technical modification both for inpatient as well as ambulant psychotherapy. Korrespondenzadresse: Prof. Dr. Wolfgang Herzog, Universitätsklinikum Heidelberg, Klinik für Psychosomatische und Allgemeine Klinische Medizin, Im Neuenheimer Feld 410, DE-69120 Heidelberg E-mail: [email protected] 543