Einleitung Nach mehreren früheren Ansätzen seit Archimedes (287–212 v. Chr.) wurden ab 1665 (publiziert 1684/93) das Problem der Flächenberechnung und das Problem der Konstruktion von Tangenten bzw. der Bestimmung von Momentangeschwindigkeiten von Isaac Newton (1642–1727) und Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) gelöst, die dazu den Kalkül ( Calculus“) ” der Differential- und Integralrechnung entwickelten. Dieser wurde im folgenden Jahrhundert von Jakob (1654–1705) und Johann Bernoulli (1667–1748), Leonhard Euler (1707–1783) und vielen anderen wesentlich erweitert und mit ungeheurem Erfolg auf Probleme in den Naturwissenschaften, insbesondere in der Physik, und in der Technik angewendet. Die damaligen Rechnungen waren aus heutiger Sicht alles andere als exakt, und von schlüssigen Beweisen (die man aus der Euklidischen Geometrie durchaus kannte !) konnte keine Rede sein. Eine strenge Begründung des Calculus erfolgte erst im 19. Jahrhundert. Der moderne Stetigkeitsbegriff stammt von Bernhard Bolzano (1781– 1848); Augustin Louis Cauchy (1789–1857) führte Differentiation und Integration auf den Grenzwertbegriff zurück. Die von Jean Baptiste Fourier (1768–1830) begonnene Untersuchung trigonometrischer Reihen führte schrittweise zu einem allgemeinen Funktionsbegriff; traditionell galten als Funktionen“ nur solche, die sich durch analytische Formeln“ darstellen ” ” lassen. Die bei solchen Fourier-Reihen auftretenden Konvergenzprobleme führten Karl Weierstraß (1815–1897) zum wichtigen Begriff der gleichmäßigen Konvergenz; von ihm stammen auch die heute üblichen ε–δ“-Formu” lierungen bei Grenzwerten. Damit war der Calculus vollständig auf Eigenschaften der reellen Zahlen zurückgeführt. Es ist bemerkenswert, daß deren vollständiges Verständnis erst recht spät erzielt wurde. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein blieben die irrationalen Zahlen mysteriös (und die Differential- und Integralrechnung im Grunde unfundiert). Erst 1872 und 1883 wurden von Richard Dedekind (1831–1916) und Georg Cantor (1845–1918) Konstruktionen der reellen Zahlen angegeben, die von den rationalen Zahlen ausgehen. In dem vorliegenden einführenden Lehrbuch über Analysis wird der Calculus systematisch entwickelt; dadurch wird die Reihenfolge der wichtigen Begriffe im Vergleich zu deren historischer Entwicklung in etwa umgekehrt. Als Grundlage der Analysis dienen einige einleuchtende Eigenschaften der reellen Zahlen, die in den beiden ersten Kapiteln als Axiome formuliert werden; die Konstruktionen von Dedekind und Cantor werden in dem ergänzenden 2 Einleitung Abschnitt 15* vorgestellt. Nach der Erklärung des allgemeinen Abbildungsbzw. Funktionsbegriffs wird der für die Analysis zentrale Grenzwertbegriff eingeführt, und zwar zunächst für Folgen reeller Zahlen. Danach wird der Grenzwertbegriff auch für reellwertige Funktionen einer reellen Veränderlichen behandelt, und auf diesem Fundament wird schließlich die Differentialund Integralrechnung entwickelt. Ausführlichere Inhaltsübersichten werden jeweils am Anfang der fünf Kapitel angegeben; an dieser Stelle sei nur auf einige Punkte besonders hingewiesen : Im Vergleich etwa zu Darstellungen der Differential- und Integralrechnung in Schulbüchern ist die vorliegende Darstellung der Analysis sicher recht präzise, gründlich und abstrakt. Wesentlich für die Theorie sind Gleichmäßigkeitsbegriffe und, damit zusammenhängend, Aussagen über die Vertauschbarkeit von Grenzprozessen. Theoretische Erkenntnisse führen zu durchaus nicht auf der Hand liegenden konkreten Ergebnissen, etwa zur Berechnung von Z ∞ Z ∞ ∞ (−1)k+1 ∞ 1 P P dx sin x , , oder dx , 2 4 k 1+x x k=1 k=1 k 0 0 zu präzisen Näherungen für Fakultäten (Formel von James Stirling (1692– 1770)) und auch zu effektiven numerischen Verfahren zur Lösung von Gleichungen, zur Berechnung von Integralen oder zur genauen Berechnung der Kreiszahl π . Am Ende des Buches wird der 1882 von Ferdinand Lindemann (1852–1939) gefundene Beweis der Transzendenz von π vorgestellt und damit das klassische Problem der Quadratur des Kreises“ negativ ” gelöst. Aus Platzgründen kann in diesem Buch kaum auf Anwendungen der Analysis außerhalb der Mathematik eingegangen werden; daher sollen zum Abschluß dieser Einleitung zwei konkrete“ Probleme vorgestellt werden, die ” sich mit den zu entwickelnden Methoden lösen lassen : Problem A. Ein Rechteck mit der festen Fläche von 12 m2 soll eingezäunt werden, wobei die Kosten pro m auf einer Seite höher sind als auf den drei anderen, z. B. 50 DM statt 20 DM (vgl. Abb. A). Gesucht ist das billigste“ ” solche Rechteck. Lösungsversuch: Die Kosten betragen K(x, y) = 50x + 20y + 20x + 20y = 70x + 40y in Abhängigkeit von den Seitenlängen x, y . Da die Fläche x·y = 12 konstant Einleitung ist, kann man y = 12 x K(x) = 70x + 3 setzen und findet 480 x , also eine Kostenfunktion der einen Variablen x . Das Problem ist nun, die Seitenlänge x so zu wählen, daß K(x) minimal wird. Man berechnet etwa K(1) = 550 , K(2) = 380 , K(3) = 370 , K(4) = 400 , K(5) = 446 , K(6) = 500 usw. Aufgrund von Abbildung B erkennt“ man, daß K ” irgendwo zwischen 2 und 3 minimal wird. Mit Hilfe der Differentialrechnung läßt sich das Minimum (leicht) bestimmen. 1200 y = K(x) 1000 800 600 y 400 y = 70x 200 x 0 0 Abb. A 2 4 6 8 10 12 Abb. B Problem B. Es werden der Prozeß der stetigen Verzinsung sowie ähnliche Wachstumsprozesse diskutiert. Bei einem Zinssatz von α (etwa 0, 05 ) pro Jahr vermehrt sich ein Kapital K ohne Zinseszinsen innerhalb von t Jahren auf K (1 + αt) . Hat man in dieser Zeit dagegen zwei Zinstermine, so vermehrt sich K auf αt αt 3 K (1 + αt 2 ) (1 + 2 ) , bei dreien auf K (1 + 3 ) . Allgemein vermehrt sich das Kapital bei n Zinsterminen (n = 1, 2, 3, . . .) auf n Kn (t) = K 1 + αt . n Analoges gilt etwa bei biologischen Wachstumsprozessen (mit meist viel größerem α ) oder beim radioaktiven Zerfall (mit negativem α ). Der Idealfall der stetigen Verzinsung“ wäre n = ∞“, was an dieser ” ” Stelle den Grenzwertbegriff ins Spiel bringt. Ist etwa αt = 1 , so ist die Folge n en := 1 + n1 4 Einleitung zu untersuchen. Aufgrund der bisherigen Diskussion sollte diese monoton wachsend sein, d. h. es sollte (vgl. Abb. C) 2 = e1 ≤ e2 ≤ e3 ≤ . . . ≤ en ≤ en+1 ≤ . . . gelten; dies wird in Satz 4.7 in der Tat bewiesen. Man hat z. B. e2 = 2, 250 , e3 = 2, 370 , e4 = 2, 441 , e6 = 2, 522 , e8 = 2, 566 , e12 = 2, 613 , e100 = 2, 70481 , e1000 = 2, 71692 , e10000 = 2, 71815 , und man kann zeigen, daß en ≤ 3 für alle n gilt (vgl. Satz 4.8). Dies suggeriert, daß die Zahlen (en ) sich auf eine bestimmte Zahl 2 < e < 3 hin verdichten“ oder gegen eine bestimmte Zahl 2 < e < 3 konvergieren soll” ten; in der Tat spielt diese Eulersche Zahl e eine große Rolle in der Analysis. e1 = 2 e2 e3 e4 e5 e 3 Abb. C Für feste α , t > 0 lassen sich entsprechende Überlegungen auch für n n Kn (αt) = K 1+ αt durchführen. Den Grenzwert der Ausdrücke 1+ αt n n nennt man Exponentialfunktion exp(αt) . Aufgrund der obigen Diskussion sollte für diese die Funktionalgleichung“ ” exp (α(t1 + t2 )) = exp (αt1 ) · exp (αt2 ) gelten, was in Satz 11.4 in der Tat bewiesen wird.