Zwischen Technokratie und professionellem Anspruch

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S C H W E R P U N K T | Die Rolle der Sozialen Arbeit in der Gesellschaft
Zwischen Technokratie und
professionellem Anspruch
Das Verwaltungsprogramm der «Interkulturellen Öffnung» –
im Widerspruch zum Professionsideal Sozialer Arbeit?
Text: Nathalie Pasche, Esteban Piñeiro und Martina Koch
Bestrebungen und konkrete Massnahmen einer interkulturellen Öffnung finden sich in unterschiedlichen Verwaltungsdokumenten. Erste Ergebnisse eines Forschungsprojektes
zeigen, dass die darin skizzierten Menschen- und Gesellschaftsbilder mit dem Professionsideal der Sozialen Arbeit
kollidieren.
Die zunehmend international zusammengesetzte Bevölkerung stellt die öffentliche Verwaltung vor neue Herausforderungen. Seit Mitte der 1990er-Jahre wird deshalb von
offizieller Seite vermehrt eine interkulturelle Öffnung der
Verwaltung propagiert. Das politische Programm zielt auf
einen chancengleichen Zugang zu öffentlichen Stellen sowie damit verbunden auf die Anpassung staatlicher
Dienstleistungen an die ausländische Bevölkerung. Die
Öffnungsprogrammatik richtet sich potenziell an alle
­Verwaltungsabteilungen, so auch an Einrichtungen der
behördlichen Sozialen Arbeit wie beispielsweise Sozialdienste oder Kindes- und Jugendschutzbehörden. Wie sich
interkulturelle Öffnung in Konzepten der Schweizer Verwaltung konkretisiert, war Gegenstand einer ersten empirischen Annäherung an das Forschungsfeld der öffent­
lichen Verwaltung, die wir im Rahmen unseres vom
Schweizerischen Nationalfonds (SNF) finanzierten Forschungsprojektes unternahmen (siehe Kasten). Konkret
beschäftigte uns die Frage, was die Verwaltung unter der
interkulturellen Öffnung versteht und welche AdressatInnen sie primär in den Fokus nimmt. Hierzu analysierten
wir verschiedene offizielle Dokumente wie beispielsweise
Integrationspapiere, Massnahmenpläne, Empfehlungen,
Kursbeschreibungen etc. Es stellte sich heraus, dass in der
Schweiz bisher kein umfassendes Konzept zur interkulturellen Öffnung besteht, sondern eher punktuelle Ansätze
existieren, meist ohne direkt auf das Label «Interkulturelle
Öffnung» zu verweisen. Bemerkenswert ist zudem, dass
die ursprünglich vonseiten der Sozialen Arbeit geforderte
«Interkulturelle Öffnung der sozialen Dienste» (Gaitanides
2006) in den Verwaltungspapieren einen betont pragmati-
Nathalie Pasche,
M. A. in Sozialwissenschaften,
arbeitet im Forschungspro­
jekt «Interkulturelle Öffnung
der Institutionen» an der
Hochschule für Soziale
­A rbeit FHNW.
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schen, stellenweise gar technokratischen Charakter annimmt, ohne dass die für die Soziale Arbeit konstitutiven
fachlichen Ansprüche Berücksichtigung fanden. Im Folgenden wird anhand erster Ergebnisse diskutiert, wie sich
die verwaltungslogische Aneignung der interkulturellen
Öffnung gegenüber dem Professionsideal der Sozialen Arbeit verhält. Dabei verfahren wir bewusst kontrastiv, indem wir das Verständnis der interkulturellen Öffnung der
Verwaltung mit den professionellen Standards der Sozialen Arbeit konfrontieren.
Interkulturelle Herausforderungen
Welche Problemlagen werden in den behördlichen Dokumenten thematisiert? Ausgangspunkt der Verwaltung bildet die vielfältige Bevölkerung, die ein breites Spektrum
unterschiedlicher Menschen, Sprachen, Nationen und Lebensweisen umfasst. Diese vielfältige Kundschaft erscheint als gesellschaftliche Realität und Herausforderung
zugleich. Exemplarisch ist das folgende Zitat aus einem
der Verwaltungspapiere: «Die zunehmende Diversität der
städtischen Bevölkerung hat Herausforderungen für das
Zusammenleben und den sozialen Zusammenhalt, aber
Es geht der Verwaltung hauptsächlich
­darum, trotz Vielfalt ein gleichmässiges
Qualitätsergebnis gewährleisten zu können
auch für die Erbringung von Dienstleistungen zur Folge. Es
braucht Sensibilität und Toleranz gegenüber den unterschiedlichen Lebensmodellen und Flexibilität gegenüber
den sich verändernden Bedürfnissen.» Konkretisiert wird
dieses Anliegen, indem Verwaltungsbehörden dazu angehalten werden, ihre Strukturen und die Erbringung ihrer
Dienstleistungen so anzupassen, dass alle KundInnen gleichermassen versorgt werden können. Es geht der Ver­
waltung also hauptsächlich darum, trotz Vielfalt ein
«gleichmässiges Qualitätsergebnis» gewährleisten zu können. Die gesellschaftspolitische Dimension der migra­
Esteban Piñeiro,
Dr. phil. des., arbeitet an
der Hochschule für Soziale
Arbeit FHNW und leitet das
Forschungsprojekt «Inter­
kulturelle Öffnung der
­I nstitutionen».
Martina Koch,
Dr. rer. soc., arbeitet an
der Hochschule für Soziale
Arbeit FHNW und leitet das
Forschungsprojekt «Inter­
kulturelle Öffnung der
­I nstitutionen».
| SCHWERPUNKT
tionsbedingten Bevölkerungsvielfalt und die damit einhergehenden Komplikationen finden hierbei kaum Berücksichtigung. Weder das strukturelle Problem der rechtlichen Benachteiligung von AusländerInnen oder das Bewusstsein der Verwaltung als potenziell mächtiger, interessenregulierter Apparat noch die negativen Effekte der
zwischen der ausländischen und der schweizerischen Bevölkerung existierenden sozialen Ungleichheit finden Eingang in das sich hier manifestierende Verwaltungsdenken. Die Bevölkerung wird als die Summe einer «unerschöpflichen» Vielfalt verstanden, ohne dass Mechanismen der Diskriminierung oder Marginalisierung mitgedacht werden. Die Herausforderungen, die mit der Vielfalt
der Menschen einhergehen, werden unabhängig von der
herrschenden politischen Gesellschaftsordnung beschrieben. Die interkulturelle Öffnung der Verwaltung scheint
sich also quasi autark zu vollziehen, losgelöst von den gesamtgesellschaftlichen Voraussetzungen, die die Ausländerintegration mitstrukturieren. Verwaltungsstellen werden dazu angehalten, die Probleme mit der Bevölkerungsvielfalt pragmatisch anzugehen, sie sollen sich – gemäss
den untersuchten Papieren – auf die Erbringung von qualitativ hochstehenden behördlichen Dienstleistungen für
alle konzentrieren.
MigrantInnen als TrägerInnen spezifischer Kompetenzen
Was für ein Menschenbild wird in den Verwaltungspapieren vermittelt? MigrantInnen erscheinen als TrägerInnen
von Ressourcen und Qualifikationen, von spezifischem
Wissen und Kompetenzen. Sie verfügen über ein Potenzial,
welches bisher ungenügend genutzt wurde. Diesbezüglich
Infos zum Forschungsprojekt
«Interkulturelle Öffnung der Institutionen». ­H erkunftsbezogene
Differenz in der Schweizer Street-Level Bureaucracy
Das ethnografische Projekt soll Erkenntnisse darüber erlangen, wie öffentliche Be­
hörden in der Eingriffsverwaltung auf «Bevölkerungsvielfalt» reagieren und damit
umgehen. Bei der Eingriffsverwaltung handelt es sich um einen sehr sensiblen
staatlichen Interventionsbereich, der sich durch ein Spannungsfeld zwischen
Rechtsstaatlichkeit und behördlichem Ermessensspielraum auszeichnet.
Mehr Informationen: www.fhnw.ch/ppt/content/prj/s256-0057
verfolgt die Verwaltung zwei strategische Ziele: In ihrer
Rolle als Arbeitgeberin möchte sie sich die spezifischen
Kompetenzen von MigrantInnen zunutze machen. Die Rekrutierung von Mitarbeitenden mit Migrationshintergrund gilt es zu fördern, Mehrsprachigkeit und interkulturelle Erfahrungen und Kompetenzen werden zu zentralen
Qualifikationskriterien. Mit dieser Rekrutierungsstrategie
verspricht sich die Verwaltung Vorteile bei der Bewältigung von Kundenvielfalt. Denn, so die logisch-pragmatische Argumentation, dadurch sei die vielfältige Bevölkerung in der Verwaltung besser vertreten. In ihrer Rolle als
Dienstleisterin formuliert die Verwaltung den Anspruch
an sich selbst an den spezifischen Bedürfnissen und Kompetenzen der ausländischen Kundschaft anzusetzen. Letztere wird im Hinblick auf ihre (fehlende) Sprachkompetenz
wahrgenommen, als fremdsprachige Bürgerinnen und
Bürger. Die Verwaltung reduziert das Migrationsproblem
darauf, dass diese KundInnen die «Amtssprache» nicht beherrschen. Die Förderung der interkulturellen Öffnung
und der Integration ist also im Wesentlichen auf ein
Kommunika­tionsproblem zurückzuführen. Entsprechend
stehen Massnahmen zur Verbesserung der Kommunikation und Verständigung im Vordergrund, wie beispielsweise Dolmetscherdienste, Leitfäden oder Weiterbildungen zum Umgang mit AusländerInnen etc.
Verwaltungs- versus Professionslogik
Vergleichen wir das bisher skizzierte Menschen- und Gesellschaftsbild, das der Verwaltungslogik der interkulturellen Öffnung zugrunde liegt, mit demjenigen der Professionslogik der Sozialen Arbeit, so sind markante Diskrepanzen festzustellen. Das Professionsideal der Sozialen
Arbeit versteht den Menschen immer als «ganze Person»,
mitsamt seinen spezifischen Bedürfnissen und seinem sozialen Umfeld – statt ihn technokratisch in verschiedene
Kompetenzen zu zerlegen. Mensch und Gesellschaft werden dabei in einem engen, relationalen Verhältnis gesehen. Der Mensch bildet Teil eines gesellschaftlichen oder
lebensweltlichen Kontextes, der komplexe ein- sowie ausschliessende (Macht-)Dynamiken aufweist. Soziale Arbeit,
verstanden als Teilsystem sozialstaatlicher Sicherung,
wird demnach als «Kompensation von Benachteiligungen»
respektive als «Verbesserung der Teilhabechancen bestimmter Bevölkerungsgruppen an verschiedenen gesellschaftlichen Lebenssphären» gesehen (Merten/Olk 1996,
570). Sozialer Wandel und soziale Gerechtigkeit bilden
­einen genuinen Gegenstand der fachlichen Auseinandersetzung. Beschreibungen zu ungerechten sozialstrukturellen Phänomenen sowie die Beschäftigung mit deren Ur­
sachen sind in der professionellen Sozialen Arbeit von besonderem Interesse. Der Mensch wird nicht ausschliesslich
von der Gesellschaft determiniert. Dennoch aber prägen
die gesellschaftlichen Strukturen seine Handlungs- und
Entfaltungsmöglichkeiten ganz wesentlich mit. Einschränkende oder behindernde Umweltbedingungen von
KlientInnen sind nicht nur zu berücksichtigende Kriterien
der Problem- oder Fallanalyse, sondern sie sind auch ganz
konkret aufzuheben. Denn gerechte Sozialstrukturen sind
unabdingbar für ein «erfülltes Menschsein» (Berufskodex
Kap. 4 Abs. 2). Soziale Arbeit versteht sich hiernach als
«Hilfe zur Lebensbewältigung im Horizont sozialer Gerechtigkeit» (Böhnisch et al. 2005, 15). Damit verfolgt sie
einen doppelten fachlichen Auftrag, der auf individueller
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wie auch auf gesellschaftlicher Ebene angesiedelt ist: Erstens geht es darum, emanzipatorische Bildungsprozesse zu
initiieren, beispielsweise durch die «Ermächtigung und
Befreiung von Menschen» (Berufskodex Kap. 7 Abs. 1) oder
die «Bestärkung ihrer Klientinnen und Klienten in der
Wahrnehmung ihrer Rechte» (Berufskodex Kap. 12 Abs. 2).
Zweitens versteht sich die Soziale Arbeit als «gesellschaftlicher Beitrag» (Berufskodex Kap. 5 Abs. 3). Sie kritisiert
in diesem Zusammenhang strukturelle und zwischenmenschliche Ungerechtigkeiten und arbeitet auf konkrete
«gesellschaftliche und sozialpolitische Verbesserungen»
hin (Berufskodex Kap. 14 Abs. 1).
Das Menschen- und Gesellschaftsbild, das wir aus den untersuchten behördlichen Dokumenten rekonstruierten,
unterscheidet sich also in vielerlei Hinsicht von demjenigen des Professionsdiskurses der Sozialen Arbeit: Während
in der öffentlichen Verwaltung die gesellschaftliche Realität als diffuse Vielfalt abstrahiert wird, bezieht sich der
Professionsdiskurs der Sozialen Arbeit auf ein komplexes
Verständnis vom Menschen-in-Gesellschaft. Im Gegensatz
dazu geht es der Verwaltung mit dem Programm der interkulturellen Öffnung eher darum, durch ihre Leistungserbringung der vielfältigen Gesellschaft gerecht und damit
auch effizienter zu werden. In dieser technisch-pragmatischen Verwaltungslogik leitet sich die Problemwahrnehmung nicht aus gesellschaftlich verursachten Ungleichheitsstrukturen ab, sondern wird auf die kommunikativen
Herausforderungen des Verwaltungsalltags beschränkt.
Anders als im Verwaltungsdiskurs zeigt sich der Mensch
in der Sozialen Arbeit nicht als ein Empfänger oder Erbringer von Dienstleistungen, sondern in seiner vielschichtigen individuellen und gesellschaftlichen Wirklichkeit.
Fazit
Die bisherige Ausformulierung des Programms der interkulturellen Öffnung zeigt, dass sich dieses im Falle der behördlichen Sozialen Arbeit nicht einseitig verwaltungslogisch realisieren lässt, ohne dass damit professionelle
Standards verletzt würden. Die von der Sozialen Arbeit
postulierten fachlichen Maximen – etwa die Förderung
Vorschau
Nr. 1/2015: Verhältnis Soziale Arbeit und Recht
Call for Papers: 1. Juli | Redaktionsschluss: 13. November
Inserateschluss: 10. Dezember | Erscheinungsdatum: 8. Januar
Nr. 2/2015: Humor
Call for Papers: 1. August | Redaktionsschluss: 11. Dezember
Inserateschluss: 10. Januar | Erscheinungsdatum: 2. Februar
Nr. 3/2015: Kinder- und Jugendhilfe
Call for Papers: 1. September | Redaktionsschluss: 15. Januar
Inserateschluss: 10. Februar | Erscheinungsdatum: 3. März
Literatur
AvenirSocial (2010): Berufskodex Soziale Arbeit Schweiz. Ein Argumen­
tarium für die Praxis der Professionellen. Bern.
Nr. 4/2015: Versorgung gestalten
Call for Papers: 1. Oktober | Redaktionsschluss: 12. Februar
Inserateschluss: 10. März | Erscheinungsdatum: 3. April
Böhnisch, Lothar/Schröer, Wolfgang/Thiersch, Hans (2005): Sozialpäda­
gogisches Denken. Wege zu einer Neubestimmung. Weinheim/München:
Juventa Verlag.
Nr. 5/2015: Suizidalität
Call for Papers: 1. November | Redaktionsschluss: 12. März
Inserateschluss: 10. April | Erscheinungsdatum: 4. Mai
Gaitanides, Stefan (2006): Interkulturelle Öffnung der sozialen Dienste.
In: Otto, Hans-Uwe/Schrödter, Mark (Hrsg.): Soziale Arbeit in der Migra­
tionsgesellschaft. Multikulturalismus – Neo-Assimilation – Transnatio­
nalität. neue praxis. S. 222–234.
Nr. 6/2015: Sozialpolitik/Wahlen 2015
Call for Papers: 1. Dezember | Redaktionsschluss: 16. April
Inserateschluss: 10. Mai | Erscheinungsdatum: 3. Juni
Kontakt: [email protected]
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emanzipatorischer Bildungsprozesse oder Bestrebungen,
strukturelle Ungleichheit, sozialen Ausschluss und Diskriminierung zu überwinden – sind auch für öffentliche
Dienste der Sozialen Arbeit wegweisend. In diesem Sinne
vertritt professionelle Soziale Arbeit ein genuin politisches
Selbstverständnis, das sich mit einer pragmatischen «Verwaltung der Menschen» keinesfalls zufriedengeben kann.
Soziale Arbeit kann sich nicht auf eine technokratische Bearbeitung von menschlichen Kompetenzen, Ressourcen,
Bedürfnissen beschränken, und sie rechnet immer mit der
Gesellschaft als vielschichtigem Umfeld der Menschen.
Vor diesem Hintergrund ist eine kritische Reflexion über
die Rolle der staatlichen Sozialen Arbeit in der Gesellschaft
umso wichtiger. Was das Programm der interkulturellen
Öffnung der öffentlichen Verwaltung in der Schweiz – und
im gesamten deutschsprachigen Raum – angeht, lässt eine
solche Debatte momentan auf sich warten.
SozialAktuell | Nr. 12_Dezember 2014
Merten, Roland/Olk, Thomas (1996): Sozialpädagogik als Profession.
Historische Entwicklung und künftige Perspektiven. In: Combe, Arno/
Helsper, Werner (Hrsg.): Pädagogische Professionalität. Untersuchungen
zum Typus pädagogischen Handelns. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
S. 570–613.
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