Der Salat im Beutel ist eine Herausforderung für die Forschung

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BLICK VOM FERNSEHTURM
Zeitung Nr. 45
Freitag, 21. April 2006
V
Lebensmittel-Technik: Forscher fahnden nach der Dosen-Frischfrucht
DIE SPEISEDESIGNER
Der Lehrstuhl für Lebensmittel pflanzlicher
Herkunft gehört zum Fachbereich Lebensmitteltechnologie, die außer in Hohenheim
nur an den Universitäten Berlin, Bonn und
München vertreten ist. Etwa 250 Studenten
und rund 40 wissenschaftliche Mitarbeiter,
Doktoranden und Dozenten erforschen in
Hohenheim Möglichkeiten, Lebensmittel zu
verändern. Dies auch im Dienst der Wirtschaft und der Deutschen Forschungsgemeinschaft. So erhält der Lehrstuhl pro
Jahr rund 600 000 Euro Drittmittel.
Stolz ist Lehrstuhlinhaber Professor Reinhold Carle (56) darauf, dass alle promovierten Absolventen bisher gute Posten in der
Lebensmittelindustrie oder in der Pharmabranche fanden. Er selbst war als Pharmazeut Leiter der Naturstoffforschung eines
Pharma-Unternehmens und ist Entdecker
des „Kamillosan“. Seit 1995 leitet er den
Lehrstuhl und erhielt kürzlich einen Ruf
nach München. Carle hat sich noch nicht
entschieden – der Fachbereich aber, so
seine rechte Hand Regine Valet, will ihn
nicht gehen lassen.
sn
Schälen ohne Messer, eingemacht wie frisch, Farbe nach Wunsch – Lebensmitteltechniker passen Obst und Gemüse neuen Verbrauchergewohnheiten an.
Fotos: Sybille Neth (2), Marcell Haag (1)
Der Salat im Beutel ist eine Herausforderung für die Forschung
ERNÄHRUNG
Obst und Gemüse sind gesund, doch die Zubereitung dauert. Professor Reinhold Carle forscht an seinem
Lehrstuhl am Institut für Lebensmitteltechnologie der Uni Hohenheim, wie Haltbarkeit und Frische von Gemüse und
Obst verlängert werden können. Das Convenience Food genannte Essen soll fertig
zum Anbeißen im Kühlregal stehen.
Hohenheim.
Weil immer mehr Deutschen die Zubereitung des Essens zu lästig ist, arbeiten Wissenschaftler an neuen Fertigprodukten
Gemüse mit Zuwachsraten von bis zu 20
Prozent pro Jahr die Gewinnbringer auf dem
boomenden Markt für Convenience-Produkte
(wörtlich: bequeme Produkte).
Cateringfirmen und Großküchen wie in
Mensen, Kantinen oder Krankenhäusern,
Von Sybille Neth
„Wer schält schon im Auto eine Orange?“ Die
Frage von Reinhold Carle ist rein rhetorisch
und trifft den Kern des Problems: Die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt zwar, täglich mindestens 650 Gramm frisches Obst
und Gemüse zu essen, um fit und gesund zu
bleiben, dennoch liegt aus Gründen der Bequemlichkeit der Griff zum Schokoriegel fast
immer näher als der zur Karotte. Die hätte zu
Hause geschält, gewaschen und verpackt werden müssen. Die Kalorienbombe dagegen
gibt es an jeder Ecke zu kaufen.
Damit das nicht so bleibt, forschen die
Lebensmitteltechnologen in Hohenheim, wie
frische Produkte haltbar gemacht und verbraucherfreundlich vorbereitet werden können: Der Obstsalat und die Gemüsesticks
nebst Dip für unterwegs stehen schon im
Kühlregal, die geschälte und filetierte Mandarine könnte bald folgen. Schon jetzt sind
fertig geschnittene Salate und vorbereitetes
Reinhold Carle.
aber auch die Fast-Food-Ketten greifen seit
Jahren zum vorbereiteten Salat im Plastikbeutel. Das spart Zeit und Personalkosten und
rechnet sich trotz des höheren Preises für
Convenience Food: „Es gibt keinen Abfall und
keine Verluste durch verdorbene Ware,“ sagt
Carle. „Außerdem können Großabnehmer so
besser disponieren. Im Laden jedoch würde
ich mir das Verfallsdatum immer genau ansehen, denn der Handel zwingt die Hersteller
zu langen Haltbarkeitsdaten,“ rät Carle. Aber
nicht etwa wegen eines etwaigen Vitaminund Aromaverlustes warnt er vor Fertigsalat,
dessen Haltbarkeitszeit demnächst endet,
sondern wegen der Keime, die sich unter der
Plastikfolie rasant vermehren können, vor
allem, wenn die Kühlkette beim Transport
unterbrochen wird.
Die neue Vorliebe der Verbraucher für
„bequeme Lebensmittel“ geht Hand in Hand
mit veränderten Lebensgewohnheiten wie
der zunehmenden Zahl berufstätiger Eltern
und Singlehaushalten. Das ändert die Einkaufs- und Essgewohnheiten und stellt die
Lebensmitteltechnologen vor neue Herausforderungen: Wie können frische Produkte haltbar gemacht werden, ohne ihren eigentlichen Charakter zu verlieren? Traditionelle
Konservierungsmethoden wie Trocknen, Einkochen oder Tiefkühlen mit vorherigem Blanchieren haben allesamt den gleichen Nachteil: Nach einer derartigen Prozedur ist das
Produkt nicht mehr frisch und schon gar
nicht mehr „lebendig“.
Carle und seine Studenten forschen des-
halb seit zehn Jahren unter dem Schlagwort
„From the field to the fork“ (vom Feld auf die
Gabel) an der Verarbeitung von Frische-Erzeugnissen. Unter mikrobiologischen Kriterien ist das eine höchst diffizile Angelegenheit, denn derlei Produkte sind der ideale
Nährboden für Keime. 50 Millionen pro
Gramm gelten laut der Deutschen Gesellschaft für Hygiene und Mikrobiologie als
unbedenklich. Dieser Grenzwert aber gilt
nicht für kranke oder alte Menschen. Auch
Kleinkinder wären gefährdet, die wenigsten
aber essen Salat. Im Gegensatz zur Risikogruppe benötigt ein gesunder Organismus
jedoch sogar regelmäßige Herausforderungen für das Immunsystem, beruhigt Carle
alle, denen angesichts solch gigantischer,
aber abstrakter Zahlen der Appetit vergeht.
Die Hygienebestimmungen im Lebensmittelbereich sind streng: „Wir machen zwar Bungeejumping, aber beim Essen sind wir sehr
sicherheitsbewusst.“
Im Nachbarland Frankreich wird den Keimen deshalb mit Chlor zu Leibe gerückt, in
den USA werden schon die Keimlinge damit
chemisch behandelt. Die Produkte machen
das zwar unbeschadet mit, hier zu Lande ist
die chemische Keule jedoch verboten. „Chlor
verflüchtigt sich zwar, aber es gibt eine Reihe
von Chlor-Folgeverbindungen auf den Lebensmitteln“, so Carle. „Niemand würde zum
Beispiel ein Bioprodukt kaufen, das mit Chlor
behandelt wurde.“
In Hohenheim wurde deshalb erfolgreich
die Reinigung mit Ozon erprobt. „Das ist ein
wunderbarer Stoff, weil er ohne Rückstände
einfach zu Sauerstoff zerfällt.“ Auch das Bodenseewasser wird ozoniert, bevor es sich
Trinkwasser nennen darf.
Auch das Schneiden der Salatblätter ist
eine Wissenschaft für sich, wenn daraus
Convenience Food werden soll: „Feine Streifen wirken sich negativ auf die Haltbarkeit
aus,“ weiß Carle und fürchtet die Einfälle von
Marketingstrategen, die dem eigenen Produkt zum Beispiel durch den besonders feinen Schnitt ein eigenes Profil geben wollen.
„Üblicherweise wird in sechs Millimeter
breite Streifen geschnitten.“ Schon ein Millimeter weniger wäre verderblich.
Nach dem Schneiden wird noch einmal
gewaschen – ganz im Gegensatz zur Zubereitung zu Hause – „der Zellsaft an der Schnittstelle ist eine Delikatesse für alle Mikroorganismen“. Erst dann kommt der Salat in die
Folienverpackung mit ausgeklügelten, selektiv arbeitenden Luftlöchern. Die sind notwendig, damit die Ware nicht gärt.
Das Wichtigste aber für die Hygiene ist
die Kühlkette, die keinesfalls unterbrochen
werden darf. Weder beim Transport noch
durch Schlendrian beim Einräumen des Kühlregals im Lebensmittelmarkt. Deshalb, so rät
Carle, sollten sich die Hersteller von frischem
Convenience Food eine High-Tech-Errungenschaft aus der Elektronik zu Eigen machen
und ihre Produkte mit einem Mikrochip kennzeichnen, der sich verfärbt, sobald die Kühltemperatur einen bestimmten Grenzwert
überschritten hat.
Gestresste Beeren schmecken besser
KONSERVIERUNG
Speziell behandelte Früchte bleiben im Einmachglas erntefrisch
Erdbeeren schmecken im
März nicht, genauso wenig wie Ananas,
die auf dem Schiff reifen mussten. Jahreszeit und Herkunft bestimmen die Qualität
von Früchten. Am Institut für Lebensmitteltechnologie in Hohenheim wird daran
gearbeitet, wie sich der Geschmack von
Saisonfrüchten wie Erdbeeren oder Himbeeren konservieren lässt.
Hohenheim.
Von Sybille Neth
Ein revolutionärer Coup für die Zukunft gelang Professor Reinhold Carle und seinen
Mitarbeitern vom Lehrstuhl für Lebensmittel
pflanzlicher Herkunft mit einer neuartigen
Schältechnik für Obst: Ein bestimmtes Enzym knackt jede Schale. Sogar die ledrig
harte Hülle von Litschis lässt sich nach einer
solchen Behandlung einfach mit einem Wasserstrahl wegspülen. Nach dem gleichen Verfahren werden auch Zitrusfrüchte geschält.
Übrig bleibt das reine Fruchtfleisch – bei
Orangen, Mandarinen und Grapefruits beseitigt das Enzym auch gleich noch die Häutchen zwischen den Fruchtfilets.
„Das ging bisher nur mit Hitze oder
Natronlauge“, sagt Carle. Das neuartige Verfahren wird in naher Zukunft in Australien in
der Praxis angewandt. Demnächst öffnet dort
die erste Fabrik, die mit Hohenheimer Knowhow arbeitet. In Thailand, wo bisher exoti-
sche Früchte von Frauen am Fließband geschält werden, läuft ein entsprechendes Forschungsprojekt unter der Leitung von Carles
Lehrstuhl. Damit ist auch erklärt, weshalb im
Büro des Professors die thailändische Flagge
hängt.
Aber auch bei der Konservierung von
Früchten durch Einwecken sind die Hohenheimer auf ein neues Verfahren gestoßen.
Stolz präsentiert Feinschmecker Carle zwei
Gläser: eines mit Erdbeeren, eines mit Himbeeren. Der kleine Unterschied zur handelsüblichen Ware mit eher matschig bräunlichem Inhalt zeigt sich auf den ersten Blick.
Die Früchte sehen aus wie gerade erst geerntet und – sie schmecken auch so.
Der Trick der Lebensmitteltechnologen:
Sie setzten die frischen Beeren unter Stress.
„Die reagieren auf jede Art von Stress gleich,
indem pflanzeneigene Enzyme aktiviert und
die Zellwände verfestigt werden.“ Für die
neue Einmachvariante wurden die Beeren
zwei Wochen lang gekühlt, gesetzt, bis sie
fest waren, dann erst wurden sie erhitzt. Das
Ergebnis ist haltbares Obst im Glas von
bestechend frischem Geschmack.
Das Verfahren ließen sich die Hohenheimer patentieren. „Damit“, so freut sich Carle,
„ist auch die tiefgefrorene Erdbeertorte jetzt
möglich“. Denn im Gegensatz zu ihren herkömmlich vereisten Verwandten behalten
die gestressten und dann tiefgefrorenen Erdbeeren auch nach dem Auftauen Form und
Geschmack. Bei traditionell tiefgefrorenen
Beeren tropft die Hälfte ihres ursprünglichen
Gewichts beim Auftauen einfach ab, beim
Hohenheimer Patent beträgt der Auftauverlust gerade zwei Prozent.
Und dann wäre da noch das fluoreszierende Disco-Eis. Ohne künstliche Farbstoffe
und ohne Hokuspokus, nur mit Hilfe pflanzeneigener Pigmente gelang den Lebensmitteltechnologen diese Kreation.
Spezialisiert sind die Hohenheimer auf
die Lebensmittelfarben Gelb-Orange (Carotinoide) und auf Rot-Töne (Anthocyane und
Betalaine). Vor allem mit Kaktusfrüchten
lässt sich eine so intensive Rotfärbung von
Lebensmitteln erzielen wie sonst nur mit
Roter Bete. Der Vorteil: Die Kaktusfrüchte
sind geschmacksneutral. Die natürlichen
Farbstoffe ersetzen allmählich in der Lebensmittelindustrie die gesundheitlich bedenklichen künstlichen Farben. Zum Beispiel wird
in so genanntem Functional Food wie den
ACE-Getränken zunehmend Beta-Carotin aus
pflanzlichen Quellen eingesetzt. Gewonnen
wird der Stoff aus Karotten-Trester – auch
dieses Verfahren haben sich die Hohenheimer patentieren lassen.
Im Herbst stellt der Fachbereich seine
Forschungsergebnisse aus der Welt der Lebensmittelfarben bei einem internationalen
Kongress auf dem Hohenheimer Campus der
Fachwelt vor. „Schließlich wollen wir schöne
Produkte machen, die dem Verbraucher etwas bringen“, sagt Carle und schmunzelt.
Denn bekanntlich isst das Auge mit.
Das Auge isst mit – was ihm schmeckt, bleibt dem Betrachter überlassen.
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