Axel W. Bauer (2005): „Realität - Ideal

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Ethik in der Medizin
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Axel W. Bauer
Realität – Ideal – Projektion?
Der „gute“ Arzt in medizinhistorischer Perspektive
1. Der „gute“ Arzt
in den Hippokratischen Schriften
E
ine der frühesten, zumindest indirekten Beschreibungen
des „guten“ Arztes in der griechischen Antike findet sich
im Hippokratischen Eid, der gegen Ende des 5. Jahrhunderts vor Christus möglicherweise im Umfeld des Hippokrates
von Kos (460–377 v. Chr.) und seiner Schule entstanden sein
dürfte:
Ich schwöre bei Apollon dem Arzt und bei Asklepios,
Hygieia und Panakeia sowie unter Anrufung aller Götter
und Göttinnen als Zeugen, dass ich nach Kräften und gemäß
meinem Urteil diesen Eid und diesen Vertrag erfüllen werde:
Denjenigen, der mich diese Kunst gelehrt hat, werde ich meinen
Eltern gleich stellen und das Leben mit ihm teilen; falls es nötig
ist, werde ich ihn mit versorgen. Seine männlichen Nachkommen
werde ich wie meine Brüder achten und sie ohne Honorar und
ohne Vertrag diese Kunst lehren, wenn sie sie erlernen wollen.
Mit Unterricht, Vorlesungen und allen übrigen Aspekten der
Ausbildung werde ich meine eigenen Söhne, die Söhne meines
Lehrers und diejenigen Schüler versorgen, die nach ärztlichem
Brauch den Vertrag unterschrieben und den Eid abgelegt haben,
aber sonst niemanden. Die diätetischen Maßnahmen werde
ich nach Kräften und gemäß meinem Urteil zum Nutzen der
Kranken einsetzen, Schädigung und Unrecht aber ausschließen.
Ich werde niemandem, nicht einmal auf ausdrückliches Verlangen, ein tödliches Medikament geben, und ich werde auch
keinen entsprechenden Rat erteilen; ebenso werde ich keiner
Frau ein Abtreibungsmittel aushändigen. Lauter und gewissenhaft werde ich mein Leben und meine Kunst bewahren.
Auf keinen Fall werde ich Blasensteinkranke operieren, sondern
ich werde hier den Handwerkschirurgen Platz machen, die
darin erfahren sind. In wie viele Häuser ich auch kommen
werde, zum Nutzen der Kranken will ich eintreten und mich
von jedem vorsätzlichen Unrecht und jeder anderen Sittenlosigkeit fern halten, auch von sexuellen Handlungen mit
Frauen und Männern, sowohl Freien als auch Sklaven. Über
alles, was ich während oder außerhalb der Behandlung im
Leben der Menschen sehe oder höre und das man nicht
nach draußen tragen darf, werde ich schweigen und es
geheim halten. Wenn ich diesen meinen Eid erfülle und ihn nicht
antaste, so möge ich mein Leben und meine Kunst genießen,
gerühmt bei allen Menschen für alle Zeiten; wenn ich ihn aber
übertrete und meineidig werde, dann soll das Gegenteil davon
geschehen [4].
Der Hippokratische Eid bot normierende, rational und
pragmatisch motivierte Leitlinien für die Medizinerausbildung, das Arzt-Patient-Verhältnis, den ärztlichen Beruf und
dessen Handlungsstrategie an. Solche Leitlinien benötigte der
Arzt der griechischen Antike, um medizinisch erfolgreich
wirken und ökonomisch überleben zu können. Die Tatsache,
dass die technischen Möglichkeiten der Medizin sehr begrenzt
waren, hatte Konsequenzen für das ärztliche Denken und
Handeln: Die Hippokratiker betrieben keine diagnostische
Medizin, sondern eine prognostisch orientierte Heilkunde,
die vor allem auf der korrekten Deutung körperlicher
Zeichen basierte [3]. Eigene Beobachtung und langjährige
Erfahrung waren hierzu notwendig. Wer Arzt werden wollte,
ging zunächst bei einem anerkannten Meister in die Lehre,
der den jungen Mann theoretisch und praktisch ausbildete.
Daher enthielt der Hippokratische Eid nach der Anrufung der
(Heil-)Götter zunächst einen Vertrag, der die Rechtsbeziehung
zwischen Lehrer und Schüler regelte. Sowohl das Honorar
und die Altersversorgung des Lehrers als auch eine Art
Numerus clausus für den Arztberuf wurden in diesem Vertrag
vorgesehen.
Für den Arzt kam es nicht nur aus moralischen Gründen
darauf an, Schaden von seinen Patienten abzuwenden; es
ging dabei auch um seine eigene berufliche Existenz. Angesichts der beschränkten therapeutischen Möglichkeiten
konnte es klüger sein, nichts zu tun und damit zusätzlichen
Schaden zu vermeiden, als durch eine falsche Behandlung die
Krankheit womöglich zu verschlimmern. Für das Ansehen des
Arztes, der sich als Fachmann zur Erhaltung des gefährdeten
Lebens verstand, wäre die Beihilfe zur Selbsttötung oder gar
zur Tötung eines Menschen äußerst abträglich gewesen. Sie
wurde deshalb im Eid ebenso abgelehnt wie die aktive Ausführung einer Abtreibung. Die Ablehnung der gefährlichen
Blasensteinoperation mit dem Verweis auf die hierfür zuständigen Spezialisten war in ähnlicher Weise ein Teil der Strategie
der Risikominimierung.
Kaum etwas ist in seiner Entstehungszeit selbstverständlich, das in einem Eid versprochen wird. Diese Erkenntnis lässt
sich auch auf die Vorschriften über den Hausbesuch und dessen Rahmenbedingungen anwenden. Dazu zählte ebenso die
Einhaltung der Schweigepflicht zum Schutz der Patienten und
ihrer Familie. Nicht zuletzt das Ansehen des Arztes konnte
unter einer im Dienst begangenen sexuellen Verfehlung oder
unter seiner mangelnden Verschwiegenheit leiden. Der letzte
Passus des Eides benannte schließlich die Sanktionen, die dem
Arzt drohten, wenn er die zuvor gegebenen Versprechungen
nicht einhielt. Dabei wurden die beiden Triebkräfte besonders
heraus gestellt, die ihn wohl am ehesten zu motivieren vermochten, nämlich der materielle Erfolg im Leben und im
Beruf sowie der dauerhafte Nachruhm. Das rationale Kalkül
des Hippokratischen Eides beruhte auf der Tatsache, dass in
seinen Vorschriften ärztlicher Eigennutz und ärztliches Ethos
in harmonischer Weise zusammentrafen. Die Funktionalität
der Hippokratischen Leitlinien resultierte nicht aus einer
metaphysischen Überhöhung des Arztes, sondern aus der
realistischen Abwägung der tatsächlichen Interessen von Arzt
und Patient.
ÄBW 01 • 2005
Redaktion:
Prof. Dr. med. Dr.
phil. Urban Wiesing,
PD Dr. med. Georg
Marckmann,
Universität Tübingen,
Institut für Ethik
und Geschichte
der Medizin,
Schleichstraße 8,
72076 Tübingen
23
Ethik in der Medizin
2. Arztideale von der Frühen Neuzeit
bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts
B
is ins 18. Jahrhundert bildeten die Aussagen der antiken
Ärzte, die im Mittelalter tradiert und kommentiert worden waren, eine wichtige Basis für die Pflichtenlehre der
abendländischen Medizin [7]. Doch kamen nun auch neue,
wissenschaftstheoretische Überlegungen hinzu. Das Spannungsverhältnis von Spontanheilung und ärztlicher Kunst sah
etwa der englische Staatsmann und Wissenschaftstheoretiker
Francis Bacon (1561–1626) im Jahre 1623 sehr differenziert:
„Wenn fast alle anderen Künste und Wissenschaften nach
Vollkommenheit und Verrichtung, nicht aber nach Erfolg oder
Mühe beurteilt werden, […] üben der Arzt und vielleicht nur
noch der Staatsmann kaum irgendwelche eigentümlichen
Wirkungen aus, durch die sie eine Probe ihrer Kunst ablegen,
sondern sie ernten Ehre oder Schande hauptsächlich nach
dem Erfolg und sind der unbilligsten Beurteilung ausgesetzt.
Denn wie wenige Leute wissen, ob es Zufall oder planmäßigem Ratschluss zu danken ist, wenn der Patient gesundet oder
stirbt […]. Und so trägt oft der Betrüger die Siegespalme, der
Tüchtige den Tadel davon“ [1]. Im Kontrast zur modernen
naturwissenschaftlichen Methode, die nur Belege aus einer
empirischen Hypothesenprüfung sowie induktiv erschlossene
Generalisierungen von einer repräsentativen Stichprobe auf
die Grundgesamtheit akzeptiert, erkannte man in der vorexperimentellen Ära als „Beweis“ lediglich deduktiv gewonnene
Schlussfolgerungen an. Der „ideale“ wissenschaftliche Arzt
argumentierte in der Mitte des 17. Jahrhunderts noch mit den
Mitteln der deduktiven Logik, während ihm die besondere
Rolle der regelgeleiteten und kritisch evaluierten Erfahrung
noch nicht vertraut war.
Strategische Gesichtspunkte leiteten die 1718 veröffentlichten Überlegungen des Hallenser Anatomen Georg Daniel
Coschwitz (1679–1729) über den ärztlichen Hausbesuch.
Coschwitz warnte davor, dass „Ärzte aus übermäßiger Liebe
zum Geld, vor allem in den Gegenden, wo die Sitte der Krankenbesuche blüht und das Honorar nach der Zahl der Visiten
bezahlt wird, allzu häufig […] die Kranken besuchen […] und
gerade dadurch den Kranken […] beschwerlich werden“ [6].
Die angeprangerten Zustände hatten einen realen Hintergrund, gegen den polemisiert wurde. Die Beschreibung des
„richtigen“ ärztlichen Verhaltens kann auf diese Weise als
kontrastierendes Ideal zur zeitgenössischen Wirklichkeit interpretiert werden.
Noch im 17. Jahrhundert wurde vom Arzt eine religiöse
Grundhaltung gefordert. Der theologische Einfluss nahm erst
zu Beginn des 18. Jahrhunderts allmählich ab. Im Namen der
christlichen Nächstenliebe wurde der Arzt auch zur Hilfe für
Randgruppen, für Zahlungsunfähige, Sterbende und Unheilbare aufgefordert. Habgier, Ruhmsucht und Neid auf die
Kollegen galten als Kardinalfehler [7]. Vor allem die Vergütung
der Ärzte nach Einzelleistungen wurde bereits im 18. Jahrhundert scharf kritisiert. Johann August Unzer (1727–1799) veröffentlichte 1769 in seinem Periodikum „Der Arzt“ mehr oder
minder authentische Leserbriefe, die sich dem Thema der
Honorierung ärztlicher Leistungen widmeten. So hatte ein
gewisser Poltrian Nährlich geschrieben: „Sie und alle Welt
sollen über die Unverschämtheit meines Arztes richten. Ich
hatte ein wenig Blutspeyen, das in zwey Tagen kaum ein
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Eimerchen Blut betrug, welches ich aushustete. Darüber kam
er ein Paarmal in der Nacht zugelaufen, weil es mir zu arg
wurde, dass ich ihn rufen ließ. Für einen solchen Weg, der
doch nur ein Katzensprung ist, setzt er mir einen Reichsthaler
an, und läßt sich doch auch seine andern Besuche wie gewöhnlich bezahlen. Ey, wahrhaftig, dies Brodt ist leicht verdient!“. Eine Witwe beklagte sich: „Ist das wohl recht, dass ich
für meinen seligen Mann den Doctor bezahlen soll, da er doch
gestorben ist, und er ihm nicht geholfen hat? Ich habe es
endlich genug, zu bezahlen. Allein ich will doch auch mein
Geld nicht auf die Straße werfen. Er hatte die Wassersucht.
Dreymal ist ihm das Wasser abgezapft worden, und doch hat
alles nichts geholfen“ [15]. Solche Äußerungen lassen Zweifel
daran aufkommen, dass die Rollen normierenden Traktate der
Gelehrten viel dazu beigetragen hätten, das Ansehen der
Ärzte bei den Patienten – ihren Kunden – zu heben.
Am Ende seines Lebens als praktizierender Arzt und Hochschullehrer veröffentlichte Christoph Wilhelm Hufeland
(1762–1836) ein Vermächtnis seiner langen Berufserfahrung.
An den Schluss dieses Werkes stellte Hufeland einen Verhaltenskodex, in dem er die Beziehungen des Arztes zu den
Kranken, zur Öffentlichkeit und zu den Kollegen ansprach.
Er entwarf ein übersteigertes Arztideal: Leben für Andere, nicht
für sich, das sei das Wesen des Arztberufs. Nicht allein Ruhe,
Vorteile, Bequemlichkeiten und Annehmlichkeiten des Lebens,
sondern Gesundheit und Leben selbst, Ehre und Ruhm müsse
er der Rettung des Lebens und der Gesundheit Anderer aufopfern. Nur ein reiner moralischer Mensch könne Arzt im
wahren Sinne des Wortes sein. Hufelands Bild vom Arzt war
das des individuell schaffenden Künstlers, der nicht durch
„mechanische Geschäftigkeit“, sondern durch das „Aufnehmen
des Gegenstandes ins innerste Gemüth“ charakterisiert werde.
Jede Kur müsse, wenn sie gut sein solle, nicht etwa nachgeahmt, sondern „neu erfunden“ werden. Hinter dieser Ansicht
stand die Auffassung, dass der menschliche Organismus ein
zu komplexes Gebilde sei, als dass er durch eine wissenschaftliche Analyse vollkommen erforscht werden könnte [8].
3. Der Arzt in der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts als Naturwissenschaftler
und Sozialreformer
E
twa zehn Jahre nach Hufelands Tod breitete sich die naturwissenschaftliche Methode auch in der deutschen
Medizin aus. Für diese Methode trat der junge Berliner
Pathologe Rudolf Virchow (1821–1902) erstmals 1847 öffentlich ein. Er beschrieb sie als die experimentelle Überprüfung
einer Hypothese, die ein bewusstes Handeln zu einem klar
definierten Zweck darstelle [17]. Gegen Ende des Revolutionsjahres 1848 schrieb Virchow mit derselben Überzeugung: „Die
Medicin ist eine sociale Wissenschaft, und die Politik ist weiter
nichts, als Medicin im Grossen“ [16]. Die fachliche Orientierung
der Medizin an den Naturwissenschaften und ihre Ausübung
als eine Tätigkeit mit sozialer Verantwortung kennzeichneten
erst in ihrer gegenseitigen Verschränkung den reformerischen
Impuls, der von Rudolf Virchow ausgehen sollte.
Wenn man den Gedanken von der Politik als Medizin im
Großen umkehrte, dann konnte man die Medizin als eine
Politik im Kleinen interpretieren und daraus zugleich eine
neuartige Rolle für den „guten“ Arzt ableiten: Dieser sollte sich
Ethik in der Medizin
nicht mehr nur auf die Diagnostik und eine wissenschaftlich
fundierte Therapie von Krankheiten beschränken, sondern
zugleich eine sozialpolitische Aufgabe im Dienst der Patienten
und des Staates übernehmen [18].
Virchows politisches Engagement machte den aufstrebenden Wissenschaftler bei der Preußischen Regierung so
unbeliebt, dass er 1849 einem Ruf auf den ersten damals in
Deutschland bestehenden Lehrstuhl für Pathologische Anatomie an der Universität Würzburg folgte. Dort konzentrierte
er seine intellektuellen Kräfte auf die Pathologie, die er als
neue Leitdisziplin der naturwissenschaftlichen Medizin formierte. 1855 veröffentlichte er in seinem Archiv einen Aufsatz
mit dem Titel Cellular-Pathologie, in dem er die Umrisse eines
neuartigen Forschungsparadigmas für die Medizin skizzierte:
Das Konzept der Zellularpathologie sah die Zelle als morphologisch wie funktionell kleinste autonome Einheit des gesunden und kranken Lebens an, wodurch Pathologische Anatomie und Pathologische Physiologie einen gemeinsamen Ansatzpunkt erhielten. Als 1858 die Cellularpathologie in monographischer Form erschien, arbeitete Virchow bereits wieder
in Berlin, denn 1856 war er Direktor des Pathologischen Instituts der Charité geworden. Zunehmend faszinierte ihn nun
wieder die Politik: Seit 1859 war Virchow Berliner Stadtverordneter, 1861 gehörte er zu den Mitbegründern der linksliberalen Deutschen Fortschrittspartei, 1862 wurde er Mitglied des
Preußischen Landtages, und von 1880 bis 1893 war er Reichstagsabgeordneter. Sein – unerfüllter – Wunschtraum aber
blieb die Konstituierung einer humanen Gesellschaft und
einer sozialen Medizin, die auf einer wissenschaftlich fundierten, physiologischen Grundlage entstehen sollte [5].
4. Arztideale zwischen Kaiserreich
und Nationalsozialismus
U
m die Wende zum 20. Jahrhundert geriet Virchows
Ideal des rein naturwissenschaftlich denkenden Arztes
in die Kritik. So vertrat der Straßburger Internist Bernhard Naunyn (1839–1925) im Jahre 1900 die Meinung, eine
Naturwissenschaft sei die Medizin nicht geworden und werde
sie auch schwerlich jemals werden. Dazu sitze ihr die Humanität zu tief im Blut: Der Arzt, der am Krankenbett um das
Leben seines Kranken ringe, könne nicht gelassen die Grenze
seines Wissens hinnehmen [12]. Im Widerspruch zu diesen
Worten stand allerdings eine Überzeugung, die Naunyn 1905
so ausdrückte: „Für mich ist es kein Zweifel, dass das Wort:
Die Medizin wird eine Wissenschaft sein, oder sie wird nicht sein
auch für die Therapie gelten muss und gilt. […] Mir ist es
sonnenklar, dass da, wo die Wissenschaft aufhört, nicht
die Kunst anfängt, sondern rohe Empirie und das Handwerk“
[2, 13, 14].
Nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg gerieten vor allem
in Deutschland die geistigen Eliten des Kaiserreichs in eine
Sinnkrise, die sie zum Teil auf ihr jeweiliges Arbeitsgebiet
projizierten. Häufig reflektiert wurde zu Beginn der 1920er
Jahre eine „Krise der Medizin“, die mit einer angeblichen Überbetonung des naturwissenschaftlichen Denkens assoziiert
wurde. Auch der Heidelberger Internist Ludolf Krehl (1861–
1937) beschäftigte sich in seinem Lehrbuch Pathologische
Physiologie, das 1923 in zwölfter Auflage erschien, mit diesem
Thema. „Die Biologie kann“, so meinte Krehl, „für das Verständ-
nis der Lebensvorgänge
Der Autor
mit der Annahme mechanisch-kausaler ZusamProf. Dr. med. Axel W. Bauer
menhänge allein nicht
studierte Medizin an der Uniauskommen. Sie bedarf
versität Freiburg. 1986 habiliweiterer Gedanken. […]
tierte er sich an der MediziniMeine Überzeugung ist,
schen Fakultät der Universität
dass wir eine einheitliche
Heidelberg für Geschichte der
Auffassung von Mensch,
Medizin, 2002 wurde seine
Natur und Gott nur wieLehrbefugnis auf die Fächer
dergewinnen, wenn wir
Geschichte, Theorie und Ethik
übermechanische Vorder Medizin erweitert. Seit 1992 ist er Professor am Heigänge, die hinter den Erdelberger Institut für Geschichte der Medizin, seit 2004
scheinungen stecken und
zugleich hauptamtlicher Koordinator des Querschnittsbesie leiten, anfangen zu
reichs Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin an der
beobachten, zu untersuFakultät für Klinische Medizin Mannheim der Universität
chen und in unseren
Heidelberg und nebenamtlich Vorsitzender des Klinischen
Rechnungen zum Rechte
Ethik-Komitees der Klinikum Mannheim gGmbH. In der
kommen lassen“ [9].
14. und 15. Legislaturperiode ist er Mitglied des WissenWas Krehl vernünftischaftlichen Beirates „Bio- und Gentechnologie“ der CDU/
gerweise
einforderte,
CSU-Fraktion des Deutschen Bundestages. Zu seinen Forwurde nur zehn Jahre
schungsschwerpunkten gehören u. a. die Geschichte der
später unter der nationalPathologie, wissenschaftstheoretische Fragen der Medizin
sozialistischen Herrschaft
sowie ethische Probleme bei der Forschung an menschliin ein mystisch-irrationachen embryonalen Stammzellen, ethische Aspekte der
les Arztideal transformiert
Therapiebegrenzung in der Intensivmedizin und ethische
und pervertiert. Nun chaPrinzipien in der Finanzierung des Gesundheitswesens.
rakterisierten einerseits
Führerschaft, Priestertum
und ethisch-ständisches Denken, andererseits biologistisches
Handeln den Arztberuf. So beschrieb 1933 der ehemalige
Chirurg Erwin Liek (1878–1935) in seinem Buch Die Welt des
Arztes euphorisch den neuen Arzt: „Aus zwei Wurzeln zieht der
Arzt seine Kraft: aus der Welt der Erkenntnis, d. h. der Wissenschaft, und aus dem Reich des Irrationalen, des Übersinnlichen.
Sind das nicht aber auch die tragenden Gedanken der nationalsozialistischen Weltanschauung? Werden nicht diese Ideen
in der Heilkunde unserer Tage Schritt für Schritt durchgesetzt?
[…] Die Erneuerung der Heilkunde kommt aus dem Geist,
nicht aus der Materie. Führer der neuen deutschen Heilkunst
wird nicht der Mediziner sein, sondern der Arzt!“ [10]. Wo
Ludolf Krehl eine methodische Ergänzung der naturwissenschaftlichen Perspektive gefordert hatte, wucherten nun
Spekulation, Mystizismus und autoritärer Führerkult.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde 1946/47
während des Nürnberger Ärzteprozesses deutlich, in welchem
Ausmaß sich Ärzte während des „Dritten Reiches“ an verbrecherischen Menschenexperimenten vor allem in den
Konzentrationslagern beteiligt hatten. Im Urteilsspruch vom
20. August 1947 wurden sieben Angeklagte zum Tode, fünf
zu lebenslänglicher Haft und vier zu Zeitstrafen zwischen zehn
und zwanzig Jahren verurteilt [11]. Die medizinhistorische
Forschung hat seit den 1980er Jahren belegt, dass es weit
mehr medizinische NS-Täter insbesondere im Bereich der
Sterilisationsoperationen und bei der Beteiligung an den
staatlich inszenierten Euthanasie-Morden gab, als man sich
dies in der unmittelbaren Nachkriegszeit eingestehen wollte.
Diese Verbrechen waren trotz jener zahllosen normativen
Beschreibungen des „guten“ Arztes aus den vergangenen
zweieinhalb Jahrtausenden verübt worden.
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Ethik in der Medizin
5. Der „gute“ Arzt der Gegenwart zwischen
Gelöbnissen, Deklarationen und Richtlinien
Anschrift des Autors
Prof. Dr. med. habil. Axel W. Bauer
Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin
Institut für Geschichte der Medizin
Universitätsklinikum Heidelberg
Im Neuenheimer Feld 327
69120 Heidelberg
E-Mail: [email protected]
I
n Kenntnis der NS-Medizinverbrechen schwand während
der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Vorstellung,
dass sich der „gute“ Arzt in Zukunft noch an den traditionellen normativen Texten würde orientieren können, die
zwar oftmals klug formuliert waren, die aber letzten Endes
unverbindlich blieben. An ihre Stelle traten nun international
verbindliche Dokumente wie das Genfer Ärztegelöbnis (1948)
oder die Deklaration von Helsinki (1964), die seither etliche
Male überarbeitet und den aktuellen Bedürfnissen angepasst
wurden. In den vergangenen Jahren kamen weitere internationale Abkommen zur Medizin- und Bioethik hinzu, so vor
allem das Übereinkommen zum Schutz der Menschenrechte
und der Menschenwürde im Hinblick auf die Anwendung
von Biologie und Medizin (1996) des Europarates und die
EU-Biopatentrichtlinie (1998). Auf nationaler Ebene sind
neben einschlägigen Gesetzen des Medizinrechts seit den
1990er Jahren zahlreiche Richtlinien, Grundsätze und Empfehlungen der Bundesärztekammer zu aktuellen Themen wie
Sterbebegleitung, Hirntodfeststellung, Pränataldiagnostik
oder assistierte Reproduktion erlassen worden. Alle diese
Dokumente beschreiben den „guten“ Arzt nicht mehr in
überkommenen ethischen Kategorien, sondern sie normieren sein Verhalten in präzisen juristischen Termini, die
notfalls auch einer gerichtlichen Nachprüfung vom Zivilrecht über das Strafrecht bis hin zum Verfassungsrecht Stand
halten sollen.
In der globalisierten Welt gibt es kaum noch die Chance
zur Formulierung und Durchsetzung einer einheitlichen und
für alle Menschen in allen Ländern verbindlichen Moral. An
die Stelle früherer umfassender ethischer Verhaltensnormen,
die auf einer gemeinsamen Werteordnung beruhten, ist heute die Abfassung konkreter positiv-rechtlicher Gesetze und
Richtlinien getreten, die nicht mehr den „guten“ Arzt beschreiben wollen, sondern deren Ziel darin besteht, punktuelle
Lösungen für spezifische Problemlagen zu liefern. Als minimale gemeinsame Wertebasis muss dabei das Grundgesetz
und seine gültige Interpretation durch das Bundesverfassungsgericht ausreichen. Diese Normierungen setzen also
nicht mehr ein anspruchsvolles, homogenes Welt- und
Menschenbild voraus, vielmehr begnügen sie sich mit dem
Vertrauen auf die Durchsetzungskraft des modernen Rechtsstaates.
Der „gute“ Arzt verfügt am Beginn des 21. Jahrhunderts
über ein umfangreiches Reservoir an offiziellen Leit- und
Richtlinien, das ihm äußerlich eine gewisse professionelle
Sicherheit gewährt. Doch das externe rechtsethische Stützkorsett kann ihn nicht vor den inneren Konflikten im Hinblick
auf sein ärztliches Selbstverständnis bewahren. Der Arzt der
Gegenwart fühlt sich als Akteur im Gesundheitswesen zwischen Patienten, Kollegen, Krankenversicherungen und Politik
oftmals tief verunsichert. Vielleicht sind es aber gerade diese
Unsicherheit und diese Suche nach neuer Identität, die den
heutigen Arzt und die heutige Ärztin nach langen historischen
Phasen oftmals falscher Sicherheiten zu einem besseren Arzt
und zu einer besseren Ärztin machen können.
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Literatur
1 Bacon von Verulam, Francis: Über die Medizin. Ins Deutsche übertragen
aus: De dignitate et augmentis scientiarum (1623), Buch IV Kapitel II,
von E. Wallach. Sudhoffs Archiv 1926; 18: 112–129.
2 Bauer, Axel: Naturwissenschaftliche Medizin der Jahrhundertwende.
Fiktion und Realität um 1900. Deutsche Medizinische Wochenschrift 1989;
114: 1676–1679.
3 Bauer, Axel W.: Die Allgemeine Semiotik als methodisches Instrument
in der Medizingeschichte. Würzburger medizinhistorische Mitteilungen
1994; 12: 75–89.
4 Bauer, Axel W.: Der Hippokratische Eid. Medizinhistorische Neuinterpretation eines (un)bekannten Textes im Kontext der Professionalisierung des
griechischen Arztes. Zeitschrift für medizinische Ethik 1995; 41: 141–148.
5 Bauer, Axel W.: Die Medizin ist für Rudolf Virchow immer eine soziale
Wissenschaft gewesen. Vor 175 Jahren wurde der Mann geboren,
der in Deutschland die Pathologie etabliert hat. Ärzte-Zeitung Nr. 183
vom 11./12. Oktober 1996: 22.
6 Coschwitz, Georg Daniel: Requisita medico ad praxin felicem summa
necessaria. Halle 1718.
7 Elkeles, Barbara: Aussagen zu ärztlichen Leitwerten, Pflichten und
Verhaltensweisen in berufsvorbereitender Literatur der Frühen Neuzeit.
Medizinische Dissertation, Medizinische Hochschule Hannover 1979.
8 Hufeland, Christoph Wilhelm: Enchiridion medicum oder Anleitung
zur medizinischen Praxis. Vermächtnis einer funfzigjährigen Erfahrung.
5. Auflage (VII. Abdruck). Berlin 1839.
9 Krehl, Ludolf: Pathologische Physiologie und Arzt. In: Krehl, Ludolf:
Pathologische Physiologie. 12. Auflage. Leipzig 1923: 697–706.
10 Liek, Erwin: Die Welt des Arztes. Aus 30 Jahren Praxis. Dresden 1933.
11 Mitscherlich, Alexander und Mielke, Fred (Hrsg.): Medizin ohne Menschlichkeit. Dokumente des Nürnberger Ärzteprozesses. Frankfurt am Main
1978.
12 Naunyn, Bernhard: Die Entwicklung der Inneren Medicin mit Hygiene
und Bakteriologie im 19. Jahrhundert. In: Verhandlungen der Gesellschaft
Deutscher Naturforscher und Ärzte. 72. Versammlung zu Aachen.
16.–22. September 1900. Erster Theil. Leipzig 1901: 59–70.
13 Naunyn, Bernhard: Ärzte und Laien (1905). In: Gesammelte Abhandlungen von Prof. Dr. B. Naunyn, 2. Würzburg 1909: 1327–1355.
14 Pfohl, Gerhard: Und Naunyn hat‘s doch gesagt. Die Medizinische Welt
1987; 38: 597–600.
15 Unzer, Johann August: Von den Belohnungen der Ärzte. (55. Stück).
In: Unzer, Johann August: Der Arzt. Eine medicinische Wochenschrift.
Zweyter Band. Hamburg, Lüneburg, Leipzig 1769: 30–42.
16 Virchow, Rudolf: Der Armenarzt. In: Die medicinische Reform.
Eine Wochenschrift, herausgegeben von Rudolf Virchow und
Rudolf Leubuscher. Nr. 18 vom 3. November 1848. Reprint Berlin (DDR)
1983: 125–127.
17 Virchow, Rudolf: Die naturwissenschaftliche Methode und die Standpunkte in der Therapie. (Gelesen bei der Jahressitzung der Gesellschaft
für wissenschaftliche Medicin zu Berlin am 20. Decbr. 1847.) Archiv für
pathologische Anatomie und Physiologie und für klinische Medicin 1849;
2: 3–37.
18 Virchow, Rudolf: Mittheilungen über die in Oberschlesien herrschende
Typhus-Epidemie. Archiv für pathologische Anatomie und Physiologie
und für klinische Medicin 1849; 2: 143–322.
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