POLITISCHER SONDERBERICHT

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POLITISCHER SONDERBERICHT
Kirgisistan
Religion in Zentralasien – Rückkehr zur Normalität oder Keimzelle für
neuen Extremismus?
1991 erlangten die fünf zentralasiatischen Sowjetrepubliken Kirgisistan, Kasachstan,
Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan ihre Unabhängigkeit. Nach Jahrzehnten des
militanten sowjetischen Säkularismus kann heutzutage von einem Wiedererstarken der
Religion in Zentralasien gesprochen werden. Oft wurde diese Entwicklung als
„Wiederaufleben der Religion“ bezeichnet, teilweise auch Ängste über eine „potenzielle
Bedrohung durch islamischen Fundamentalismus“ geschürt. Doch derartige
verallgemeinernde Darstellungen dienen nicht dazu, die wirkliche Komplexität religiöser
Veränderungen in der Region aufzuzeigen. Der fortdauernden Nationalisierung von
Religion seit 1991 steht heute eine wachsende Präferenz für neue religiöse Bewegungen,
die diese „nationalen Religionen“ in Frage stellen, gegenüber. Der nachfolgende Beitrag
versucht vor allem am Beispiel Kirgisistans aufzuzeigen, ob die Vorstellung, Religion sei
unter sowjetischer Herrschaft prinzipiell unterdrückt worden, richtig ist, und ob die
Menschen nach der Unabhängigkeit
ihrer Staaten einfach nur zu ihrer teilweise
traditionellen Religion zurückgekehrt sind oder sie schon jetzt dem Werben religiös
extremistischer Kreise unterliegen.
Entwicklung von Religion in Zentralasien bis zur Gründung der Sowjetunion
Im ersten Jahrhundert nach Christus waren im Territorium Zentralasiens und auch des heutigen
Kirgisistans die Religionen Zoroastrismus 1 und Buddhismus, sowie verschiedene Richtungen des
Christentums (Nestorianer 2 , Jokobiter 3 , Melkiten 4 und Armenier) vertreten. Im Reich der
Hephthaliten 5 , das vom fünften bis sechsten Jahrhundert ganz Zentralasien im Griff hatte, war
das Christentum zur Staatsreligion erklärt worden. Die Union der Hephthaliten und der Armenier
1
Der Zoroastrismus bzw. Zarathustrismus ist eine wohl zwischen 1800 v. Chr. und 600 v. Chr. vermutlich in
Baktrien (das heutige Balkh im persischen Khorasan im Mittelalter und im heutigen Afghanistan) entstandene,
monotheistische Religion mit heute etwa 120.000–150.000 Anhängern, die ursprünglich im iranischen Raum
verbreitet war. Die Anhänger des Zoroastrismus werden Zoroastrier oder Zarathustrier genannt, die Anhängerschaft
im heutigen Indien bezeichnet man auch als Parsen.
2
Nestorianismus ist eine nach Nestorius benannte christologische Lehre, die 553 auf dem 2. Konzil von
Konstantinopel verurteilt wurde.
3
Jakobiten oder Jakobiter (von engl. Jacobites, abgeleitet von Jakob II. von England) wurden die englischen,
schottischen und irischen Anhänger der im Exil lebenden Thronprätendenten aus dem Haus Stuart genannt (v.a. 1688–
1766).
4
Der Begriff Melkiten (Melchitisch) wird benutzt, um verschiedene Christliche Kirchen und ihre Mitglieder, die aus
dem Nahen Osten kommen, zu bezeichnen. Der Ursprung des Wortes stammt aus dem Aramäischen, was „kaiserlich“
bzw. „imperial“ bedeutet.
1
gegen das zoroastrische Persien baute auf dem gemeinsamen christlichen Glauben auf. Das
Christentum wurde jedoch niemals eine allgemeine Volksreligion, sondern existierte neben den
anderen traditionellen Religionen.
Der Islam drang schließlich an der Wende vom achten zum neunten Jahrhundert in Zentralasien
ein. Im Territorium des heutigen Kirgisistan verbreitete er sich sogar erst im zwölften Jahrhundert.
In Zentralasien war bis dahin die gemäßigte nicht orthodoxe islamische Strömung des Sufismus 6
verbreitet. Dieser orientierte sich am Nomadenleben und der allgemeinen Weltanschauung der
Turkvölker. Im Laufe der Islamisierung verschmolzen viele Bräuche und traditionelle
Vorstellungen der Turkvölker mit dem Islam. Der Islam war am meisten unter der kirgisischen
Elite verbreitet. Die Masse der Nomaden blieb im Laufe der Jahrhunderte weiter seinen
herkömmlichen Kulten treu oder bekannte sich zum religiösen Synkretismus 7 (Vermischung von
religiösen Ideen, Kulten oder Philosophien zu einem neuen System oder Weltbild).
Die religiöse Toleranz, mit der die Menschen in Zentralasien immer schon ausgestattet waren,
förderte das friedliche Zusammenleben verschiedener Religionen. Das Christentum konnte mehr
als zehn Jahrhunderte seinen starken Einfluss beibehalten: Im Mittelalter gab es ganze Städte in
Zentralasien, die überwiegend christliche Einwohner hatten. Die christlichen Gemeinden wurden
schließlich Opfer einer verheerenden Vernichtungsaktion als Ergebnis der Invasion von
Tamerlan 8 im 14. Jahrhundert. Die letzte Erwähnung von Christen in Zentralasien wird zunächst
auf das 16. Jahrhundert datiert.
Laut dem bekannten russischen Wissenschaftler W. W. Barthold wurden die Kirgisen noch in der
zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts nicht als „richtige“ Muslime anerkannt. Sogar die Kasachen
galten auf diesem Gebiet als fortgeschrittener. Die Kirgisen schenkten immer noch wandernden
Derwischen mehr Aufmerksamkeit als islamischen Theologen. Sie waren meist persönliche
Verehrer der Scheichs und taten sich bei der Annahme von islamischen Dogmen schwer.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts galt dann die Islamisierung Kirgisistans als abgeschlossen. Aber
das Land stand trotzdem vom religiösen Standpunkt her „irgendwo dazwischen“: Zwischen den
Mongolen und Kalmücken 9 , die den Islam nicht angenommen hatten, und den Tadschiken,
Uiguren 10 und Usbeken, von denen der Islam stark verinnerlicht worden war. Die Kirgisen galten
weiter als wenig religiös und nicht fanatisch bezüglich ihrer Religion. Ihr Wissen über den Koran
und den Sinn der islamischen Lehre wurde als niedrig eingestuft. Sie hielten ihr Bekenntnis zu
traditionellen Bräuchen und Riten aufrecht und hielten sich in ihrem täglichen Leben nur selten an
die Vorschriften des Islam. Um als lokaler islamischer Geistlicher (Mullah) zu gelten, war eine
5
Die Hephthaliten waren ein Stammesverband mit unklarem, womöglich jedoch mit überwiegend
indogermanischem Ursprung, welcher um 425 ein Reich in Mittelasien begründete, das bis ca. 560 bestand.
6
Der Ausdruck Sufismus, veraltet auch Sufitum oder Sufik, bezeichnet bis zum 9. Jh. eine asketische Randgruppe
und wird dann als Sammelbezeichnung für Strömungen im Islam verwendet, die asketische Tendenzen und eine
spirituelle Orientierung prägen, die oft mit dem Wort „Mystik“ bezeichnet wird.
7
Synkretismus bedeutet die Vermischung von religiösen Ideen oder Philosophien zu einem neuen System oder
Weltbild. Voraussetzung ist, dass diese Ideen oder Philosophien sich zuvor als inhaltlich voneinander abgegrenzt
haben, und dass sie als religiös-philosophische Teilaspekte auf einen Absolutheitsanspruch verzichten. Synkretismus
nimmt vielmehr die Aspekte unterschiedlicher Religionen bewusst auf und formt sie zu etwas Neuem.
8
Tīmūr bin Taraghay Barlas (Mitteltürkisch: – Temür, „das Eisen“), in der abendländischen Geschichtsschreibung
besser bekannt als Tamerlan bzw. Timur Lenk (ugs. „Timur der Lahme“, geb. 8. April 1336 in Kesh, heute
Shaxrisabz; gest. 19. Februar 1405 in Schimkent) war ein zentralasiatischer Eroberer am Ende des 14. Jahrhunderts
und Gründer der Timuriden-Dynastie in Persien und Transoxanien.
9
Die Kalmücken, auch Kalmüken oder Kalmyken geschrieben, sind ein westmongolisches Volk, das heute vor allem
in Kalmückien siedelt. Der Begriff wurde bereits im 14. Jahrhundert von islamischen Historikern für die Oiraten
verwendet und später von den Russen für an der Wolga siedelnde Splittergruppen der Oiraten übernommen.
10
Uiguren (auch: Uyghuren, Uighuren etc.) bilden das größte Turkvolk im chinesischen Uigurischen Autonomen
Gebiet Xinjiang, auch Uiguristan oder Ostturkestan genannt.
2
theologische Ausbildung nicht erforderlich. Die Tätigkeit der örtlichen Mullahs konzentrierte sich
auf alltägliche Riten wie Hochzeiten, Beerdigungen, Gedenkfeiern usw.
Die Eingliederung ins russische Reich hat die Situation der Religion in der Region erheblich
verändert. Die massenhafte Übersiedlung von russischen und ukrainischen Bauern in den
achtziger und neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts führte zur Bildung von zahlreichen
russisch-orthodoxen Gemeinden in der Region Zentralasien bzw. in Kirgisistan. Dies löste jedoch
keine Streitigkeiten mit der örtlichen islamischen Bevölkerung aus. Es gab keinerlei
konfessionelle Konflikte. Verantwortlich dafür war wiederum die schon erwähnte traditionelle
Toleranz der zentralasiatischen Völker (wie auch die der Kirgisen) gegenüber andersartigen
Religionen.
Eine Verschärfung der Situation um die Religionen in Zentralasien begann dann aber während
des Ersten Weltkrieges. Mitte 1916 haben die drastische Erhöhung von Steuern und Abgaben,
sowie die Erlasse über die zwangsweise Mobilmachung für Arbeit im Hinterland oder in
Frontnähe zu starken Unruhen unter den Moslems geführt. Sie fassten das Ganze als „eine
Schikane der christlich-orthodoxen russischen Besatzungsmacht gegenüber den ansässigen
Moslems“ auf. Erst im Januar 1917 gelang es der zaristischen Regierung unter großen Mühen,
die verbreiteten bewaffneten Aktionen von Viehzüchtern und Bauern in verschiedenen Teilen
Zentralasiens niederzuschlagen.
Religion in der Sowjetzeit
Der Regierungswechsel in Russland im Oktober 1917 wurde in Zentralasien als eine direkte
Bedrohung für die örtliche Lebensweise wahrgenommen. Auch die muslimische Elite sah sich
bedroht. Im November 1917 begann die Zeit der „Doppelherrschaft“: Zum einen regierte der
bolschewistische „Rat der Volkskommissare“ der Region Turkestan, der das heutige Kasachstan,
Kirgisistan, Usbekistan, Tadschikistan und Turkmenistan angehörten. Zum anderen wurde auf
der vierten außerordentlichen „Versammlung der Muslime von Turkestan“ die „Autonomie von
Kokand 11 “ gegründet, die den Islam zur Staatsreligion erklärte.
Die sogenannte „Autonomie von Kokand“ befand sich im Fergana-Tal (Dreiländereck Kirgisistan,
Tadschikistan und Usbekistan), das von alters her ein Bollwerk des Islam war. Damals gab es
dort 382 Moscheen, 42 Medressen und etwa 6.000 muslimische Geistliche. Die Führer der
„Autonomie“ traten mit den folgenden Losungen auf: Wiederherstellung des Khanats 12 von
Kokand, Schaffung eines einheitlichen mittelasiatischen Kalifats im Territorium Turkestan und die
Einsetzung von Scharia-Gerichten. Zur weiteren Losung wurde der Pantürkismus erklärt. Mit
dessen Hilfe versuchte die „Autonomie“, die Unterstützung aller Turk-Völker der Region zu
erhalten - unabhängig davon, inwieweit sie islamisiert waren oder nicht.
Ab 1920 machten sich die Bolschewiken die innere Zerrissenheit der islamischen Opposition zu
Nutze und etablierten die Sowjetmacht in Zentralasien. Jedoch gelang es lange nicht, die Region
zu stabilisieren. Es gab weiterhin die bewaffneten Basmatschi 13 -Truppen, die sich auch die
„Armee des Islam“ nannten. Mehr als zwanzig Jahre haben die Basmatschi die Normalisierung
des täglichen Lebens in Zentralasien erheblich behindert.
11
Das Khanat von Kokand war ein Staat im Ferghanatal, mit der Hauptstadt Kokand. Es existierte von ca. 1710 bis
1876, als es von den Russen annektiert wurde. Besonders im frühen 19. Jh. verfügte es über Wohlstand und Einfluss.
12
Khanat, auch Chanat (türk. Hanlık) ist die Bezeichnung für die historischen Staatsgebilde der türkischen und
mongolischen Stämme im Sinne eines mittelalterlichen Feudalstaates. Sie wurden von einem Khan regiert.
13
Basmatschi ist das türkische Wort für Unterdrücker. Die Basmatschi - auch Basmadschi oder Basmatschen
genannt - waren islamische Aufständische die sich 1916 gegen die Zarenherrschaft in Turkestan erhoben, um sich
gegen die zunehmende Russifizierung in Zentralasien zu wehren.
3
Zu Beginn hatten die Bolschewiken gehofft, den Islam im Rahmen des anti-imperialistischen
Kampfes nutzen zu können, um so auch „im Osten das Feuer der Revolution entzünden zu
können“. Aber ihnen wurde sehr schnell die Gefahr klar, die von einer Konsolidierung der Region
Turkestan auf einer panislamischen Grundlage ausgehen konnte. Auf dem anschließenden Weg
zur Neutralisierung der islamischen Bedrohung in Zentralasien stellten sie dem konfessionellen
Bewusstsein das ethnische Bewusstsein gegenüber: In den zwanziger und dreißiger Jahren des
neunzehnten Jahrhunderts wurde Turkestan nach Nationen aufgeteilt und Kasachstan,
Kirgisistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan gegründet.
Nach der Festigung der Sowjetmacht in Zentralasien begann das Aufzwingen der
kommunistischen Ideologie und des radikalen Atheismus. Der Islam und die russische
Orthodoxie, sowie andere Religionen wurden zu „Überbleibseln der Reaktion“ erklärt. Geistliche
wurden systematischen Repressalien ausgesetzt, viele von ihnen erschossen. Ende der
zwanziger Jahre fingen die neuen Machthaber an, Kirchen, Moscheen und Medressen zu
schließen und ihr Vermögen zu beschlagnahmen. Es wurde unter anderem eine „Politik der
Ausrottung des islamischen und traditionellen Rechts aus dem gesellschaftlichen und alltäglichen
Leben“ betrieben.
In allen russisch-orthodoxen Gemeinden der noch jungen Sowjetunion begann die Schließung
und Zerstörung von Kirchen bereits im Jahre 1920. Im Gegenzug haben die örtlichen russischorthodoxen Vertreter 1923 die „Union der Kirchengemeinden“ gegründet. Sie wurde von den
Erzbischöfen der russisch orthodoxen Kirchen, die in Turkestan lebten, angeführt. Russischorthodoxe Geistliche wurden dorthin nicht verbannt, sondern sind dorthin geflohen, weil die
Verfolgung dort bei weitem nicht so brutal war wie in anderen Gebieten. Die lokalen Muslime
hatten meist Mitgefühl mit den Geflüchteten. Vielerorts gewährten sie den russisch-orthodoxen
Geistlichen Unterschlupf vor Verfolgung und riskierten dabei ihr eigenes Leben. In den Jahren
vor dem zweiten Weltkrieg blieb in Zentralasien schließlich nur eine orthodoxe Kirche erhalten:
Der Pokrowski-Dom in Samarkand.
Ende der vierziger Jahre wurde Kirgisistan schließlich das Exil für religiöse Sektierer 14 aus den
westlichen Gebieten der Ukraine, aus Weißrussland, aus Bessarabien (historische Landschaft in
Südosteuropa), aus Nord-Bukowina 15 und aus dem Baltikum. Mit ihnen kamen auch die „Zeugen
Jehovas“ 16 und Vertreter der Pfingstbewegung 17 ins Land. Auch die Zahl der Baptisten 18 und
Adventisten 19 nahm zu. In ihren neuen Siedlungen machten die Sektierer weiter, ihre
14
Sekte (lat. secta „Richtung“, von sequi, „folgen“, in der Bedeutung beeinflusst von secare, „schneiden, abtrennen“)
ist eine ursprünglich wertneutrale Bezeichnung für eine philosophische, religiöse oder politische Gruppierung, die
durch ihre Lehre oder ihren Ritus im Konflikt mit herrschenden Überzeugungen steht. Insbesondere steht der Begriff
für eine von einer Mutterreligion abgespaltene religiöse Gemeinschaft.
15
Die Bukowina (veraltet deutsch Buchenland) ist eine historische Landschaft im östlichen Mitteleuropa. Die
nördliche Hälfte gehört zur Ukraine und ist Teil des Bezirks Czernowitz. Die südliche Hälfte gehört zu Rumänien und
ist Teil der Kreise Suceava und Botoşani.
16
Die Zeugen Jehovas sind eine im ausgehenden 19. Jahrhundert in den USA von Charles Taze Russell mit
gegründete, chiliastisch ausgerichtete christliche Religionsgemeinschaft, die sich kirchlich organisiert. Die innere
Verfassung der Gemeinschaft wird selbst abgrenzend terminologisch als „christliche, theokratische Organisation“
bezeichnet.
17
Der Pfingstbewegung verwandte Glaubensrichtungen existierten bereits im Europa und Amerika des 18.
Jahrhunderts, etwa in Form der verschiedenen Erweckungsbewegungen oder der Inspirationsgemeinden. Das heutige
Pfingstchristentum entstand Anfang des 20. Jahrhunderts, die charismatische Bewegung Anfang der 1960er Jahre.
18
Als Baptisten werden die Mitglieder einer evangelischen Konfessionsfamilie bezeichnet, zu deren besonderen
Merkmalen die ausschließliche Praxis der Gläubigentaufe ebenso gehört wie die Betonung, dass die Ortsgemeinde für
ihr Leben und ihre Lehre selbst verantwortlich ist
19
Als Adventisten (von lat. adventus „Ankunft“) bzw. Milleriten wurden Anhänger einer christlichen, religiösen
Erweckungsbewegung des 19. Jahrhunderts in den USA bezeichnet, für die die Lehre vom zweiten Advent, d. h. von
der nahen Wiederkunft von Jesus Christus, zu jener Zeit eine zentrale Rolle spielte.
4
Glaubenslehre zu predigen. Den größten Einfluss gewannen sie unter den Slawen. Hilfreich war
Ihnen dabei sicherlich die Verfolgungspolitik gegen die russisch-orthodoxe Kirche.
Zusammenfassend kann man sagen, dass die sowjetische Deportationspolitik dazu führte, dass
viele neue, früher unbekannte religiöse Richtungen und Sekten in Zentralasien bzw. Kirgisistan
ihre Wurzeln schlagen konnten.
Nach dem zweiten Weltkrieg hat die Sowjetunion ihre Politik gegenüber der russischen
Orthodoxie in Zentralasien etwas abgemildert. So gab es Anfang 1950 66 Gemeinden in den
Diözesen Taschkent und Mittelasien. Sowohl die Wiederherstellung als auch der Neubau von
Kirchen erfolgten vielerorts auf Kosten des Staats – auch als eine Wiedergutmachung für die
vorangegangene Verfolgung und Zerstörung. Ab 1955 verschärft sich jedoch wieder die
staatliche Politik gegenüber der Kirche und ein Großteil der Kirchen wird geschlossen. Erst Ende
der 80er Jahre kam es von Neuem zu einer Belebung des kirchlichen Lebens und die Zahl der
russisch-orthodoxen Gemeinden stieg bis 1990 auf 56.
Während der sowjetischen Periode wurde die Position des Islam und der russischen Orthodoxie
in Kirgisistan stark geschwächt. Zum Ende der Sowjetzeit war der gesellschaftliche Einfluss der
islamischen Geistlichkeit stark gesunken und sie konnte bei gesellschaftlichen/ethnischen
Konflikten nicht mehr die Rolle des Friedensstifters übernehmen. Sie war nicht fähig, vorhandene
Gegensätze innerhalb der islamischen Gemeinde abzumildern, Plünderungen von Hab und Gut
der Meschetiner 20 -Türken zu verhindern und den Konflikt zwischen den Nationalitäten im
Fergana-Tal zu entschärfen. Vergeblich versuchte sie, einen Grundstücksdisput zwischen
Kirgisen und Tadschiken im Dorf Utsch-Dobo (1989) zu schlichten, und vergeblich blieben ihre
Bemühungen bei den massiven Zusammenstößen zwischen Kirgisen und Usbeken in der Region
Osch (1990). Bei all den genannten Auseinandersetzungen standen sich moslemische
Brüdervölker gegenüber.
Im Gegensatz zum institutionellen Islam hat der Volksislam seine Bedeutung innerhalb der
kirgisischen Gesellschaft beibehalten können. Auch während der Sowjetunion blieb er ein Mittel
der Selbstidentifikation und ein Bestandteil der volkstümlichen Lebensweise. In der kirgisischen
Gesellschaft dominierte jedoch immer Stammeszugehörigkeit über die religiöse Zugehörigkeit.
Als Ergebnis der verordneten Politik des staatlichen Atheismus ergaben sich zum Zeitpunkt des
Zusammenbruchs der Sowjetunion günstige Bedingungen für die Tätigkeit der Anhänger eines
radikalen Islams, sowie verschiedener anderer Sekten und neuer religiöser Organisationen von
unterschiedlicher Konfession.
Zeit nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Erklärung der Unabhängigkeit
Kirgisistans im Jahre 1991
Der Zusammenbruch der Sowjetunion hat die Belebung des religiösen Bewusstseins in allen
kirgisischen Gesellschaftsschichten begünstigt. Im ganzen Lande wurde begonnen, in großer
Zahl neue Moscheen und russisch-orthodoxe Kirchen zu bauen. Neue religiöse Richtungen
traten hervor. Übersetzungen und Veröffentlichungen des Korans in kirgisischer und usbekischer
Sprache wurden erstellt. Die Bibel wurde ins Kirgisische übersetzt und in Bischkek entstanden
sogar einige Fachgeschäfte für den Verkauf von islamischen und christlichen Schriften. Die
Herausgabe von islamischen Zeitschriften wurde begonnen.
Nach der Erlangung der Unabhängigkeit erfolgten in Kirgisistan strukturelle Veränderungen im
System der religiösen Institutionen. Es wurde ein eigenes Muftijat 21 für Kirgisistan gegründet und
20
Türken, die von der Sowjetmacht nach dem Zweiten Weltkrieg der gemeinsamen Sache mit den Nazis beschuldigt
wurden und von Georgien in die zentralasiatischen Republiken deportiert worden sind.
21
Muftijat ist die Verwaltung einer Religionsgemeinschaft. Oberhaupt des Muftijats ist ein Mufti.
5
geistliche Verwaltungen für die Muslime in den Regionen eingerichtet. In der Sowjetzeit war es
unmöglich gewesen, innerhalb Kirgisistans eine Ausbildung als islamischer Geistlicher zu
erhalten. Die nächsten diesbezüglichen Einrichtungen befanden sich in Usbekistan. Zurzeit gibt
es in Kirgisistan etwa 2.000 Moscheen (im Jahre 1991 nur 40), wobei diese meist mit
ausländischen Spenden aufgebaut worden sind. Einige Hundert kirgisische Studenten studieren
in islamischen Bildungseinrichtungen Ägyptens, der Türkei, Pakistans, Syriens und Kuwaits. In
Osch, im Süden des Landes, befindet sich die Zentrale der „Assoziation der religiösen
Bildungseinrichtungen“, zuständig für das ganze Land.
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion stieg aber auch die Zahl der russisch-orthodoxen
Gemeinden sehr schnell an. Bereits zu Mitte der 90er Jahre betrug ihre Zahl 97. Im Jahre 1990
wurde eine theologische Schule eröffnet, aus der fast alle russisch-orthodoxen Gemeinden
Kirgisistans versorgt werden konnten. Mit Beschluss der kirgisischen Regierung wurde in der
Hauptstadt Bischkek ein entsprechendes Grundstück für den Bau einer neuen russischorthodoxen Kirche und eines Kirchenverwaltungszentrums zur Verfügung gestellt.
Nach Angaben der staatlichen kirgisischen „Kommission für Religionsfragen“ aus dem Jahre
2009 leben im unabhängigen Kirgisistan die Vertreter von etwa 84 nationalen Ethnien. 80
Prozent der Bevölkerung sind moslemisch, 16 Prozent russisch-orthodox und 4 Prozent entfallen
auf Vertreter anderer Konfessionen. In der muslimischen Gemeinschaft sind über 15 nationale
Ethnien vertreten: Kirgisen (sie machen über die Hälfte aus), Usbeken (15 Prozent), Uiguren,
Kasachen, Tataren, Baschkiren 22 , Tadschiken, Aserbaidschaner, Dunganen 23 , Türken,
Tschetschenen, Inguschen 24 , Darginer 25 und andere. Die russisch-orthodoxe Gemeinschaft
schließt vor allem Russen, Ukrainer und Weißrussen ein.
Im Dezember 1991 wurde in Kirgisistan das „Gesetz über Glaubensfreiheit und religiöse
Organisationen“ verabschiedet. In diesem wurde die absolute Glaubensfreiheit verankert, das
Verfahren zur Bildung religiöser Organisationen und Einrichtungen geregelt und die
Bestimmungen des kirgisischen Arbeits- und Eigentumsrechts auch auf Geistliche ausgeweitet.
Liberale Gesetze hatten Kirgisistan zum Ziel verschiedener religiöser Organisationen gemacht
und Missionare aus der ganzen Welt angezogen. Bildungszentren verschiedener christlicher
Konfessionen wurden ab 1991 aktiv: Das Bibel-College, das Bildungszentrum der Presbyter 26 Organisationen und andere. Bisher in Kirgisistan unbekannte religiöse Organisationen begannen
auch, aktiv zu werden. In der Mitte der 90er Jahre betrug die Zahl der amtlich eingetragenen
ausländischen Missionare in Kirgisistan etwa 900. Jedoch weit mehr dürften über viele Jahre hin
ohne gesetzliche Registrierung ihre Tätigkeit ausgeübt haben.
22
Die Baschkiren sind eine turksprachige Ethnie im russischen Uralgebirge. Sie sind das namensgebende Volk
Baschkortostans.
23
Dungan bezeichnet Angehörige einer muslimisch-chinesischen Minderheit vor allem in den zentralasiatischen
Staaten. Ihre Sprache, ein chinesischer Dialekt, ist Dunganisch; die beiden Hauptdialekte sind Gansu und Schanxi.
24
Die Inguschen sind ein etwa 250.000 bis 360.000 Angehörige zählendes Volk im russischen Nordkaukasus und die
Titularnation der autonomen Republik Inguschetien, sowie eine Minderheit in den Nachbarrepubliken Tschetschenien
und Nord-Ossetien.
25
Die Darginer sind ein Volk in der russischen Kaukasusrepublik Dagestan.
26
Ein Presbyter ist der Inhaber eines kirchlichen Leitungsamtes. Es wird in diesem Zusammenhang auch der Begriff
„Ältester“ verwandt. Andere Bezeichnungen sind, je nach Kirche: Kirchengemeinderat, Gemeindekirchenrat oder
Priester (kath.). Presbyterianismus bezeichnet eine Form von Kirchenverfassung, in der die Gemeinde von einer
gewählten Gemeindeleitung aus Pfarrer und Ehrenamtlichen geführt wird. Presbyterianische Strukturen findet man
häufig in Kirchen der reformatorischen Tradition, z. B. in den reformierten und unierten Gemeinden der
Evangelischen Kirche in Deutschland. Einige Presbyter/innen haben das Amt des Kirchmeisters/der Kirchmeisterin
inne.
6
Auch religiöse Organisationen, die in anderen Ländern verboten waren, haben versucht, sich in
Kirgisistan niederzulassen (Moon-Bewegung, Weiße Bruderschaft 27 , Dianetik 28 -Zentrum und
andere radikale Sekten). Viele von diesen Organisationen wurden damals zunächst als säkulare
Einrichtungen offiziell registriert.
Nach der Erlangung der Unabhängigkeit in Kirgisistan hat der Wettbewerb zwischen den
Konfessionen um Einfluss auf die Gesellschaft ständig zugenommen. Unter diesen Bedingungen
gerieten der offizielle Islam und die russische Orthodoxie in eine sehr schwierige Situation. Der
offizielle Islam sah sich einem massierten Angriff seitens islamisch radikaler Gruppen ausgesetzt,
die von außen erhebliche finanzielle Unterstützung erhielten. Die Stellung der russischorthodoxen Kirche wurde dadurch geschwächt, dass es unter der russisch-slawisch stämmigen
Bevölkerung zu einer richtigen Massenabwanderung kam. Allein zwischen 1992 – 1994
wanderten jährlich zwischen 100.000 – 110.000 russisch-stämmige Bürger vor allem nach
Russland aus. Seit der Unabhängigkeit sind aus Kirgisistan über 400.000 russisch-stämmige
Bürger emigriert. Der Anteil der indigenen Bevölkerungsgruppen ist von 50 auf 25 Prozent
zurückgegangen und beträgt noch 700.000 insgesamt. Viele wieder hergestellte russischorthodoxe Gemeinden wurden wieder geschlossen, weil es zu wenige Mitglieder gab. Zum Ende
der 90er Jahre ist die Zahl der russisch-orthodoxen Kirchen abermals stark zurückgegangen.
Der offizielle Islam und die russische Orthodoxie waren für die harte Konkurrenz durch islamische
radikale Strömungen und weitere unzählige Sekten nicht vorbereitet. Sie hatten als Ergebnis der
langen Existenz des atheistischen Staates ihre Erfahrung und ihre Fertigkeit für die
missionarische Tätigkeit unter den verschiedenen Bevölkerungsgruppen eingebüßt.
Demgegenüber verfügen die religiösen radikalen Gruppen - in der Regel in Opposition zu der
jeweiligen laizistischen Regierung und oft aus dem Untergrund agierend – über eine große Zahl
gut ausgebildeter Missionare.
Die Islamisten konzentrierten sich zunächst auf die einheimische nicht-indigene kirgisische
Bevölkerung, die eine sehr liberale Auffassung vom Islam hatte. Unter der russisch slawischen
Bevölkerung haben sie überhaupt nicht gewirkt. Der Erfolg der Predigten der islamischen
Radikalen rührte auch vom niedrigen Bildungsniveau der örtlichen islamischen Geistlichkeit her.
Deren Kenntnisstand genügte vielleicht, den täglichen Bedarf der Moscheegänger zu befriedigen,
aber reichte nicht aus, den professionell vorbereiteten Predigten der radikalen islamistischen
Gruppen entgegenzuwirken.
Im Unterschied zu den Islamisten verzichteten die christlichen Organisationen auf eine Teilung
ihrer Zielgruppe nach deren ethnischer Zugehörigkeit. Sie agierten unter allen
Bevölkerungsgruppen, wobei die Kirgisen den Schwerpunkt darstellten.
Unter den Kirgisen waren die protestantischen Organisationen besonders aktiv. Sie haben
eigene religiöse Literatur auf Kirgisisch in großen Mengen herausgegeben und verbreitet. Auch
ihre Predigten haben sie auf Kirgisisch gehalten. Der Zulauf zur protestantischen Kirche in
27
Die Universelle Weiße Bruderschaft ist eine synkretistische Lehre und okkulte Schule des sogenannten
esoterischen Christentums und wurde am 6. April 1900 in Warna (Bulgarien) von Peter Deunov gegründet. 1897
nannte er sie anfangs "Synarchistische Kette". Sie wurde aber 1918 in "Universelle Weiße Bruderschaft" umbenannt.
Die Ideen, die die Nachfolger dieser Lehre vereinigen, sind universell und können als Grundlage einer neuen
Religion, einer neuen Philosophie und einer neuen Lebensgesinnung verstanden werden.
28
Dianetik wurde vom bekannten amerikanischen Schriftsteller und Philosoph L. Ron Hubbard entwickelt.
L. Ron Hubbard begann seine Untersuchungen des Verstands im Jahr 1923. Durch seine ausgedehnten Reisen, das
Studium vieler Kulturen auf der ganzen Welt und mit Hilfe wissenschaftlicher Untersuchungen entwickelte und
testete er die erste funktionierende Lehre über den Verstand. 1950 schrieb L. Ron Hubbard mit dem Buch „Dianetik:
Der Leitfaden für den menschlichen Verstand“ ein umfassendes Werk, in dem er seine Entdeckungen und deren
Anwendungsmethoden beschrieb. Hubbard gründete 1954 „Scientology“, eine umstrittene Religionsgemeinschaft, die
in Deutschland beispielsweise unter Beobachtung des Verfassungsschutzes steht.
7
Kirgisistan nahm so stark zu und die Zahl der zum Christentum konvertierten Kirgisen dürfte
heute 15.000 übersteigen.
Im Norden Kirgisistans, in dem Duzende von verschiedenen religiösen Gemeinden agieren, gibt
es Situationen, dass sich die Mitglieder von einer kirgisischen Familie zu unterschiedlichen
Religionen bekennen. Großen Erfolg unter den Kirgisen haben auch die evangelischen Baptisten
und die Zeugen Jehovas. Auch hat die Bahai-Lehre 29 (eine sektiererische Reformationsströmung
des Islam) starke Verbreitung gefunden.
In ihrem Kampf gegen die laizistische kirgisische Regierung versuchen die islamischen
Radikalen, sich den Faktor Regionalismus – der immer noch existierende
Entwicklungsunterschied zwischen dem Norden und dem Süden des Landes – zu Nutze zu
machen. Während die bürgerliche politische Opposition sich mehr auf den Norden des Landes
stützt, aus dem auch viele Persönlichkeiten der Zivilgesellschaft. Leiter von Massenmedien und
leitende Beamte des Rechtssektors stammen, dominiert die islamische Opposition mehr im
Süden des Landes, der allgemein als zurückgeblieben und stärker islamisiert eingeschätzt
werden muss. Die säkularen politischen Parteien haben Probleme, sich im Süden des Landes zu
organisieren. Auch kommt die Mehrheit der am meist bekannten islamischen Oppositionellen des
modernen Kirgisistans aus dem Süden.
Auch die Tätigkeit der Missionare hat den Unterschied zwischen Nord und Süd noch einmal
verstärkt. Während in den letzten Jahren in den nördlichen Regierungsbezirken und in der Stadt
Bischkek (dem Schwerpunkt der ausländischen Missionare protestantischer Richtung) die
Tendenz zur „Christianisierung“ besonders erkennbar war, ist der Süden zur Schaubühne der
Tätigkeit der islamischen Radikalen geworden, wobei die Positionen des islamischen
Fundamentalismus und des Wahhabismus 30 stark hervortreten.
In einer im Jahre 2002 veröffentlichten Sondererklärung der „Geistlichen Verwaltung der Muslime
Kirgisistans“ stellt diese fest, dass „die Tätigkeit der christlichen Sekten die Republik in religiöse
Einflusszonen aufgeteilt und zu einer Verschärfung der inter-konfessionellen Beziehungen
geführt hätte. In ländlichen Gebieten würden Dorfbewohner ihre Nachbarn, die zu einem anderen
Glauben konvertiert sind, als Glaubensabtrünnige betrachten, sie gesellschaftlich verurteilen und
sie aus dem „Yntymak“ (das traditionelle System für gegenseitige Hilfe) ausschließen. Sehr oft
würden Bewohner von kirgisischen Dörfern die Aussiedlung von „Glaubensabtrünnigen“ fordern.
So hätten im Frühling 2002 über 500 Einwohner des Landkreises Susak im Regierungsbezirk
Dschlal-Abad von den Behörden gefordert, acht kirgisische Familien, die zum Glauben der
Baptisten übergetreten waren, auszusiedeln. In einigen Dörfern sei es zum Verprügeln und zur
Ermordung von Menschen gekommen, die auf den Glauben ihrer Ahnen verzichtet hätten.“
Die Zunahme des Einflusses der islamischen Radikalen und auch der christlichen Sekten in der
Gesellschaft löste bei der kirgisischen Regierung und auch bei den führenden Köpfen der
muslimischen Gemeinschaft Besorgnis aus. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei dem Süden
des Landes, der sogar als reale Gefahr für die staatliche Sicherheit angesehen wird. Nach
29
Bahai nennen sich die Mitglieder einer weltweit verbreiteten Religion (auch als Bahaismus oder Bahaitum
bekannt), die im 19. Jahrhundert von dem aus Persien stammenden Baha’u’llah gestiftet wurde. Sie lehrt einen
abrahamitischen Monotheismus eigener Prägung, in dessen Mittelpunkt der Glaube an einen transzendenten Gott, die
mystische Einheit der Religionen und der Glaube an die Einheit der Menschheit steht. Die Bahai vertreten eine
handlungsorientierte Ethik, die sich einer humanitären Vision des sozialen Fortschritts verpflichtet.
30
Als Wahhabiten werden die Anhänger der Wahhabiya, einer konservativen und dogmatischen Richtung des
sunnitischen Islams hanbalitischer Richtung bezeichnet. Die Bewegung gründet auf den Lehren Muhammad ibn Abd
al-Wahhabs. Die Anhänger Ibn Abd al-Wahhabs nehmen für sich in Anspruch, die islamische Lehre authentisch zu
vertreten. Die in Asien verbreitete Gruppe Ahl-i Hadîth steht den Wahhabiten nahe.
8
offizieller Einschätzung ist die Mehrheit der staatlichen Mullahs 31 mangelhaft ausgebildet, ein
Viertel kommt seinen beruflichen Verpflichtungen überhaupt nicht nach und fast 60 Prozent
müssten sich einer neuen staatlichen Attestierung unterziehen. Deswegen „würden es die
Mullahs auch nicht wagen, mit den Vertretern radikal islamischer Parteien und Bewegungen wie
„Hizb ut-Tahrir al-Islami“ („Partei der Freiheit des Islam“), „Wahhabite“ oder „Al Quaida 32 “, die alle
in Kirgisistan tätig sind, überhaupt in einen Disput zu treten. Häufig würde die Tätigkeit der
Imame (vor allem in den Moscheen) sogar kontra-produktiv wirken, da sich die Gläubigen
enttäuscht über deren mangelndes Wissen schnell den hervorragend ausgebildeten Predigern
der radikal islamischen Gruppen zuwenden würden. Der Mangel an gut ausgebildetem Personal
unter den örtlichen muslimischen Geistlichen sei akut“ (Aussage der „Geistlichen Verwaltung der
Muslime Kirgisistans“).
Die letzten Änderungen im kirgisischen „Gesetz über Glaubensfreiheit und religiöse
Organisationen“
Im Jahre 2008 erklärte die kirgisische Regierung, dass das bisher geltende „Gesetz über
Glaubensfreiheit und religiöse Organisationen“ das liberalste im post-sowjetischen Raum war,
dass dadurch die Bedingungen für das Entstehen verschiedenster religiöser Strömungen
geschaffen worden sind und dass dadurch schließlich die religiöse Stabilität des Landes bedroht
war. Zunächst wurde eine parlamentarische Kommission unter der Leitung des Abgeordneten R.
Tagaew gebildet, um die religiöse Situation in Kirgisistan detailliert zu untersuchen.
Die Hauptaussage der Parlamentskommission war, dass „die religiöse Situation in Kirgisistan
schwierig und widersprüchlich bleibt“. Die Kommission führt an, dass es in Kirgisistan bis 1991
drei bis vier überwiegend traditionelle religiöse Richtungen gegeben hat, aber es jetzt über
dreißig seien. Bei der Erlangung der Unabhängigkeit (1991) waren in Kirgisistan offiziell 39
Moscheen, sowie 25 Kirchen und Gemeinden der russisch-orthodoxen Kirche, sowie fünf
christliche Einrichtungen in Betrieb. Zwischen November 1996 und November 2009 waren
gemäß dem Bericht 2.245 Objekte mit religiöser Bestimmung registriert worden, davon 1.705
moslemisch. „Die ‚Geistliche Verwaltung der Muslime‘ (eingeteilt in neun territoriale Einheiten
eines Muftijats) verfüge über 1.705 Moscheen (76 Prozent im Süden des Landes), 9 islamische
Hochschulen (davon eine in Bischkek), 8 religiöse Institute, 48 Stiftungen, Zentren und Verbände,
sowie drei ausländische Missionen. Insgesamt seien 58 religiöse Bildungseinrichtungen (56
Prozent im Süden und 44 Prozent im Norden des Landes) aktiv. Die Gesamtzahl der Studenten
in religiösen Bildungseinrichtungen liege bei 2.866 (52 Prozent im Süden und 48 Prozent im
Norden des Landes)“.
Besorgt zeigte sich die Kommission auch über den Zustand der islamischen
Bildungseinrichtungen. Die Lebensbedingungen, der Lernprozess, das Ausbildungsniveau der
Lehrer – nichts entsprach den offiziellen staatlichen Normen und Standards. Das
Ausbildungsprogramm ist in der Regel so aufgebaut, dass sich die Schüler allein mit dem
Auswendiglernen des Korans beschäftigen und weltliche Fächer überhaupt keine Beachtung
finden. Das Dokument beklagt, dass es eine Reihe von illegal arbeitenden religiösen
Universitäten und Fakultäten gebe. Als ein ernsthaftes Problem wird angesehen, dass manche
31
Ein Molla (auch: Mulla bzw. Mullah, von engl. mullah, nordafrikanisches franz. moula) ist ein islamischer Lehrer,
Prediger, Geistlicher oder Theologiestudent.
32
al-Qaida ist ein loses Netzwerk meist sunnitischer dschihadistischer Gruppen, dem seit 1993 zahlreiche Anschläge
vor allem in Afrika und in New York am 11. September 2001, zur Last gelegt werden. Al-Qaida wird unter anderem
vom deutschen Verfassungsschutz und den USA zu den transnationalen Terrorgruppen gezählt und wird von diesen
beiden Staaten als „Prototyp“ für diese Art von Terrorismus angesehen.
9
kirgisische Bürger sogar inoffiziell ausreisten, um an der Ausbildung in ausländischen religiösen
Zentren teilzunehmen. Die Tätigkeit einiger ausländischer Stiftungen (islamisch und auch zu
anderen Konfessionen gehörend) wird als radikal eingestuft.
Die Kommission betont, dass die Probleme, die aus der Tätigkeit von extremistisch religiösen
Organisationen wie „Akramkija 33 “, „Islamische Turkestan-Partei 34 “ und insbesondere „Hizb utTahrir“ resultieren, sich laufend verschärfen würden. Im Kommissionsbericht heißt es, dass deren
Aktivisten früher eher im Verborgenen wirkten, aber jetzt ihre politischen und religiösen Ziele
offen erklären würden. Die Kommissionsmitglieder merken an, dass die „Hizb ut-Tahrir“
mittlerweile auch Druck auf örtliche Behörden und Rechtschutzorgane ausübt. Auch während der
Wahlkämpfe zum Nationalen Parlament würden sie sehr aktiv agieren und ihre Anhängerschaft
dazu aufrufen, für die „wahren Moslems“ unter den Kandidaten zu stimmen. In diesem
Zusammenhang würden sie auch die Imame größerer Moscheen (wie in der Stadt Kara-Suu im
Süden des Landes) unter Druck setzen, mit ihnen zu kooperieren. „Hizb ut-Tahrir“ genießt die
Unterstützung der sozial benachteiligten Bevölkerungsschichten. Nach Angaben des kirgisischen
Innenministeriums verfügte die Bewegung im Jahre 2003 über etwa 450 bekannte Anhänger.
Diese Zahl lag dann in 2004 bei etwa 1.000 und in 2007 bei 5.000. Die Parlamentskommission
unterstreicht, dass auch die Frauenorganisation von „Hizb ut-Tahrir“ unter kirgisischen Frauen,
die wiederum für die Erziehung der Kinder verantwortlich sind, sehr erfolgreich wirkt.
Die Parlamentskommission führt weiter aus, dass innerhalb der islamischen Konfession „ein
regelrechter Wettbewerb besteht, diese um Einfluss unter den Gläubigen konkurrieren würden,
sie aber alle in Opposition zum säkularen Staatsaufbau stehen würden“. Als ein ernsthaftes
Problem sieht sie die Tätigkeit der „Daawatisten“, Anhänger der Organisation „Tablighi
Dschamaat“ mit zentralem Sitz in Pakistan. „Sie würden eine sehr aggressive Politik betreiben,
ihre Aktivisten in Moscheen unterbringen und diese in Agitationszentren umwandeln. Sie rufen
die Gläubigen auf, die Scharia streng einzuhalten, täglich fünf Mal zum Gebet in die Moschee zu
gehen und das Tragen von Hidschab 35 durch die Frauen streng zu kontrollieren. Religiöser
Fanatismus wird von ihnen bewusst geschürt. Mittlerweile fordern sie schon von örtlichen
Behörden, den Hidschab in allgemeinbildenden Schulen einzuführen und den Unterricht getrennt
nach Geschlechtern durchzuführen. Ihre organisatorischen Einheiten gibt es in allen Städten und
Landkreisen und sie verweigern, sich der offiziellen ‚Verwaltung der Muslime von Kirgisistan‘
unterzuordnen. Wird dagegen nicht eingeschritten, könnten die radikalen Gruppen bald eine
starke Konkurrenz zu den offiziellen Institutionen werden“.
Die wichtigsten Einrichtungen mit christlicher Orientierung können gemäß des parlamentarischen
Kommissionsberichts landesweit wie folgt zusammengefasst werden: 46 russisch-orthodoxe
Kirchen (plus ein Frauenkloster), zwei Altgläubiger-Kirchen 36 , vier katholische Gemeinden, 49
baptistische und 21 lutherische Einrichtungen, 53 Objekte der Pfingstbewegung und 31 der
33
"Akramija", ein Ableger von Hizb ut-Tahrir, ist in der Tat eine eher informelle und lose Vereinigung von
Gleichgesinnten als eine straff strukturierte Organisation mit streng religiösem Hintergrund. Ihre Anhänger sind vor
allem in Andischan, Namangan und Fergana - alles Städte im Ferganatal - zu finden.
34
Die Islamische Turkestan-Partei (ITP) ist eine islamistische politische Partei in Zentralasien. Diese Partei wurde
im Sommer 2001 gegründet und ist auch unter den Bezeichnungen Islamische Partei von Turkestan und
Turkestanische Islamische Partei bekannt. Kurzformen sind turkestanische Partei und Turkestan-Partei.
35
Hidschab oder Hijab ist der arabische Name einer islamisch begründeten Körperbedeckung für Frauen, die nicht
nur den Kopf, sondern auch den Körper als Ganzes bedeckt. In Saudi-Arabien ist das Tragen des Hidschab Pflicht,
Zuwiderhandlungen werden bestraft. Ausnahme ist die Pilgerfahrt nach Mekka (Haddsch), bei der Frauen das Gesicht
unverschleiert lassen müssen.
36
Altgläubige ist eine Sammelbezeichnung für religiöse Strömungen und Gruppen innerhalb der russisch-orthodoxen
Tradition, die sich ab etwa 1666 und 1667 von der russischen orthodoxen Großkirche lösten und schließlich völlig
von ihr getrennt agierten.
10
Sieben-Tage-Adventisten, 43 Einrichtungen der „charismatischen 37 “ Richtungen, 41 Zentren der
Zeugen Jehovas, 15 allgemeinbildende Institutionen von protestantischen Gruppen, sowie 12
Bahai-Gemeinden 38 . Daneben existieren eine jüdische und eine buddhistische Gemeinde.
Als „mehr als besorgniserregend“ wird die (teilweise illegale) Tätigkeit der folgenden Gruppen
eingestuft: „Falun Gong 39 “, „Managementschule von Maharischi“, „Internationale Gesellschaft des
Bewusstseins von Krischna“, „Jesus-Christi-Kirche der Heiligen letzten Tage“ (Mormonen), die
„Weiße Bruderschaft 40 “, sowie die Satanismus-Anbeter („Dolnara Hanon“). Die Kommission
unterstreicht, dass „all diese Organisationen innerhalb der Mitgliedsstaaten der ‚Schanghaier
Organisation für Zusammenarbeit‘ verboten sind“.
Auf Vorschlag der parlamentarischen Kommission wurde anschließend ein neuer Entwurf des
„Gesetzes über Glaubensfreiheit und religiöse Organisationen“ ausgearbeitet. Darin wurde
vorgesehen, dass zur Gründung einer religiösen Organisation mindestens 200 Mitglieder
notwendig sind (Im vorherigen Gesetz waren es noch 10 Mitglieder gewesen.). Außerdem darf
ihre Satzung den anderen geltenden Gesetzen nicht widersprechen. Nach dem Gesetzesentwurf
war es auch verboten, von einer religiösen Gemeinde in eine andere überzutreten. Religiöse
Literatur darf nicht mehr auf öffentlich zugänglichen Plätzen, sondern nur noch an religiösen
Stätten verkauft werden.
Nach der Billigung des Gesetzesentwurfes im kirgisischen Parlament hat dieses auch der
kirgisische Präsident am 12. Januar 2009 unterschrieben, obwohl die USA und die EU ihn
gebeten hatten, dies nicht zu tun. Es beunruhigte die westlichen Staaten, dass das Gesetz de
facto jegliche missionarische Tätigkeit von nicht traditionellen religiösen Organisationen verbietet
und vor allem die Tätigkeit der protestantischen Missionare untersagt. Westliche Politiker führten
an, „dass durch dieses Gesetz kein Gegengewicht zu den radikal-islamischen Gruppen
entstehen und der Schritt auch eine ernsthafte Nicht-Einhaltung der OSZE-Normen bedeuten
würde.“ Nichtsdestotrotz ist heutzutage in Kirgisistan die Bekehrung Gläubiger zu einer anderen
Konfession, die Predigertätigkeit außerhalb von Moscheen oder Kirchen und der private
Unterricht von religiösen Fächern verboten.
Regierungsvertreter betonten, dass es das Hauptziel des „Gesetzes über Glaubensfreiheit und
religiöse Organisationen“ war, „durch das starke Einschränken der nicht-traditionellen Religionen
die wachsenden Spannungen in der kirgisischen Gesellschaft abzubauen und allgemein eine
stärkere Kontrolle über den gesamten religiösen Bereich zu installieren“. Experten halten dem
jedoch entgegen, dass die Tätigkeit der Protestanten nie eine reale Gefahr für die kirgisische
Gesellschaft darstellte, aber die Rolle des radikalen Islam mit all seinen negativen Auswirkungen
37
Die charismatische Bewegung oder charismatische Erneuerung ist eine christliche, konfessionsübergreifende
geistige Strömung, eine geistige Bewegung, welche die besonderen Begabungen hervorhebt, die nach christlichem
Verständnis Gott einem Menschen verleiht: Diese Fähigkeiten sind die so genannten Gnadengaben, oder
Geistesgaben.
38
Bahai nennen sich die Mitglieder einer weltweit verbreiteten Religion (auch als Bahaismus oder Bahaitum
bekannt), die im 19. Jahrhundert von dem aus Persien stammenden Baha’u’llah gestiftet wurde. Sie lehrt einen
abrahamitischen Monotheismus eigener Prägung, in dessen Mittelpunkt der Glaube an einen transzendenten Gott, die
mystische Einheit der Religionen und der Glaube an die Einheit der Menschheit steht.
39
Falun Gong ist eine aus China stammende neue religiöse Bewegung auf der Basis von Qi Gong. Falun Gong wurde
erstmals 1992 in der Volksrepublik China in der Öffentlichkeit vorgestellt und hat sich seitdem weltweit verbreitet.
Hauptwerk ist das vom Gründer Li Hongzhi verfasste Zhuan Falun. Falun Gong wurde im Westen hauptsächlich
durch das Verbot 1999 in China und die darauffolgende staatliche Verfolgung bekannt.
40
Die Universelle Weiße Bruderschaft ist eine synkretistische Lehre und okkulte Schule des sogenannten
esoterischen Christentums und wurde am 6. April 1900 in Warna (Bulgarien) von Peter Deunov gegründet. 1897
nannte er sie anfangs "Synarchistische Kette". Sie wurde aber 1918 in "Universelle Weiße Bruderschaft" umbenannt.
Die Ideen, die die Nachfolger dieser Lehre vereinigt, sind universell und können als Grundlage einer neuen Religion,
einer neuen Philosophie und einer neuen Lebensgesinnung verstanden werden.
11
in der Region stark zunehme. Der Nährboden für den radikalen Islam nicht nur in Kirgisistan,
sondern in ganz Zentralasien (mit Ausnahme von Kasachstan) sind Armut, Korruption, schlechte
Bildung und die fortlaufende politische/wirtschaftliche/soziale Instabilität. Vor diesem Hintergrund
erlangen radikale Organisationen, die unter der Fahne des Schutzes der traditionellen
islamischen Werte auftreten, unter der Bevölkerung immer mehr Popularität. Auch scheinen
diese Organisationen finanziell aus dem Vollen schöpfen zu können. „Al-Istihbarrat al-Amma“
(Allgemeiner Aufklärungsdienst von Saudi-Arabien) gilt hierbei als einer der großen Geber,
obwohl die Organisation offiziell andere Ziele verfolgt.
Die autoritären Regime in Zentralasien unterschätzen auch die heutige Situation: Eine
unzufriedene Bevölkerung sucht sich immer Möglichkeiten, ihren Unmut (ihre Opposition) zu
äußern. Wenn die zentralasiatischen Machthaber die Möglichkeit einer demokratischen
politischen Opposition einschränken oder gar ausschalten, dann werden diese
Bevölkerungsschichten (vor allem die jüngeren) sich der gut organisierten, teilweise nicht nach
außen offen sichtbaren, islamischen Opposition zuwenden.
Im November 2009 wurde die religiöse Situation in Kirgisistan wieder im kirgisischen Parlament
behandelt – dieses Mal unter Teilnahme der Geheimdienste. Deren Vertreter betonten, dass die
Situation „explosionsgefährdet ist und verlangt, sofort adäquate Maßnahmen zu ergreifen und die
Öffentlichkeit zu mobilisieren“. Die Vertreter der kirgisischen Geheimdienste sind davon
überzeugt, dass die Gesellschaft in der Frage Religion geschlossen auftreten sollte. Sie
empfehlen, dass die soziale Verantwortung der Gläubigen gestärkt und diese zur Lösung von
sozialen Problemen mit einbezogen werden müssen. Gemäß der Information der Geheimdienste
wurden in der zweiten Hälfte 2009 insgesamt 62 aktive Funktionäre der „Hizb ut-Tahrir“ verhaftet.
Offen wurde
auch angemerkt, dass die Zahl der wirklichen Experten zum Thema
Religion/religiöser Extremismus innerhalb der kirgisischen Geheimdienste, in anderen
kirgisischen staatlichen Behörden und auch in der „Geistlichen Verwaltung der Muslime
Kirgisistans“ sehr begrenzt ist. Im Laufe der Untersuchung der Besonderheiten der Arbeit der
„Hizb ut-Tahrir“ in Kirgisistan sind die Geheimdienste zu der Schlussfolgerung gekommen, dass
einer der effizienten Wege, dem religiösen Extremismus entgegenzuwirken, die Aufklärung der
Bürger ist. „Die Aufklärung der Muslime wird die soziale Basis, aus der die „Hizb ut-Tahrir“
Anhänger gewinnen kann, deutlich verringern“.
Es gibt sicher auch andere Wege der Reaktion – eine noch strengere Kontrolle über alle
religiösen Strukturen. Als Beispiel dafür kann Usbekistan angeführt werden. Aber die weltweite
Praxis zeigt, dass dieses ein aussichtsloses Unterfangen ist, obwohl es manchmal kurzfristig
scheinbar Erfolge zeigt.
Ausblick
Bei dem Versuch, einen Ausblick zu wagen, wie sich Religion in Zentralasien und vor allem in
Kirgisistan entwickeln wird, gehen die Meinungen der Zuständigen und Experten teilweise
auseinander.
In einem neuerlichen Interview vom 22.04.2010 führte Kanybek Osmonaliev, Direktor der
„Geistlichen Verwaltung der Muslime Kirgisistans“ wie folgt aus:
„Die Uneinigkeit des kirgisischen Klerus, Kontroversen und auch Defizite der ‚Geistlichen
Verwaltung‘ spielen in die Hände der islamischen Extremisten. Die Vertreter der ‚Geistlichen
Verwaltung‘ seien mit kleinen täglichen Problemen beschäftigt und die Existenz von Extremismus
und Fundamentalismus würde von ihnen immer noch verneint. Dass die Extremisten sich so
schnell ausbreiten können, ist auch durch die Ineffektivität der ‚Geistlichen Verwaltung‘
verursacht. Beginnend mit dem Jahr 1990 haben die Islamisierung und das Anwachsen von
12
Religiosität mehr und mehr Einfluss auf die politische und soziale Situation des Landes
genommen. Die Zunahme von ausländischen Missionaren hat im Lande eine Vielfalt von
religiösen Strömungen entstehen lassen, darunter auch sehr gefährliche Sekten. Aber das
Hauptproblem im religiösen Bereich sind die radikalen islamischen Gruppen, die mittlerweile
auch einen hohen Anteil an Frauen haben, was alarmierend ist. Die ‚Geistliche Verwaltung‘ wird
nicht fähig sein, den islamischen Extremisten wirklich etwas entgegenzusetzen, wenn sie sich
selbst nur mit inneren Querelen und der Vergabe von Posten beschäftigt. Gewisse Kräfte im
Lande haben schon jetzt begonnen, den Islam für ihre eigenen politischen Ziele zu benutzen. Die
regionalen Vertreter der ‚Geistlichen Verwaltung‘ sind wirtschaftlich meist von den Gemeinden
der Gläubigen abhängig und kaum in der Lage, ihre Moscheen und Religionsschulen zu
kontrollieren. Religiöse Lehrer sind schlecht ausgebildet und die Vorsteher der Moscheen
arbeiten nicht mit der Jugend. Es gibt keine offiziellen Strukturen der Solidarität unter den
Gläubigen mehr und das intellektuelle Leben der Gemeinden ist verloren gegangen. Dieses
Vakuum wird von „Schattenpersonen“, die parallel zu den Moscheen eine eigene Gemeinde von
Gläubigen gründen, ausgefüllt. Die Neugestaltung der ‚Geistlichen Verwaltung der Muslime
Kirgisistans‘ ist unvermeidlich. Diese muss effektiver arbeiten und offen für aktuelle
Herausforderungen sein. Es muss eine langfristige Arbeitsstrategie für die Entwicklung des Islam
im Lande ausgearbeitet werden. Das kulturelle und intellektuelle Niveau des Klerus muss erhöht
werden. Die Vorsteher der Moscheen und islamischen Gemeinden sollten sich jährlich einer
staatlichen Prüfung unterziehen. Es muss eine staatliche Strategie für die Behandlung des
Themas Religion existieren. Der Wert, die Prinzipien und die Vorteile einer säkularen multikonfessionellen Gesellschaft muss dabei herausgestellt werden“.
Dieser eher pessimistisch angehauchten Bewertung des Direktors der „Geistlichen Verwaltung
der Muslime Kirgisistans“ setzen langjährige Kenner von Kirgisistan eine etwas distanziertere
Bewertung der Situation entgegen, die wie folgt zusammengefasst werden kann: „Die gesamte
Politik Bakijews war eine gefährliche Gratwanderung zwischen Autoritarismus und fehlender
staatlicher Handlungsfähigkeit, die für die sozioökonomischen Probleme des Landes keinerlei
Lösung gebracht hat. Es war immer gemunkelt worden, dass im Verlaufe einer neuen
Protestwelle in Kirgisistan die nächste Revolution nicht mehr wie früher rot getönt sein könnte,
sondern bereits grün. Es war und ist bekannt, dass die religiösen Parteien (darunter auch im
Untergrund befindliche und verbotene), wie die ‚Hizb ut-Tahrir‘, aktive Maßnahmen zur
Vorbereitung einer solchen Entwicklung der Ereignisse betreiben. Die Unterstützung der
Einkommensschwachen (insbesondere der Ärmsten), die Heranziehung von Jugendlichen zu
religiös extremistischen Aktivitäten, die Verbreitung der Ideen des „Glaubenskrieges“ in allen
Regionen des Landes – all dies wurde als eine Gefahr angesehen, dass man sich bei
zukünftigen Massenkundgebungen religiöser Motive bedienen könnte. Dieser Fall ist jedoch in
Kirgisistan nicht eingetreten. Die Islamisten sind in keiner Phase des Volksaufstandes vom 07.
April 2010 oder auch in den darauffolgenden Tagen in Erscheinung getreten. Es liegt deshalb
die Vermutung nahe, dass die islamistischen Kreise in Kirgisistan noch nicht so „Wurzeln
schlagen“ konnten, wie dies von Usbekistan oder auch Tadschikistan berichtet wird. Nach 70
Jahren Sowjetunion mit einer stark laizistisch geprägten Gesellschaft, die auch vor der
sowjetischen Periode nie stark religiös orientiert war, dürfte es islamischen Extremisten in
Kirgisistan noch schwerfallen, auf breiter Ebene Fuß zu fassen. Zumindest werden sie von einem
Großteil der Bevölkerung immer noch mit großem Misstrauen verfolgt.“
Ein erster „Lackmus-Test“ könnten die anstehenden Parlamentswahlen in Kirgisistan vom 10.
Oktober 2010 sein. Verlaufen diese, wie versprochen, demokratisch und unterstützen die radikal
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islamistischen Gruppen eine der teilnehmenden Parteien, könnte dies erste Rückschlüsse auf
ihre wirkliche Stärke geben.
Es könnte jedoch auch sein, dass die radikalen islamischen Gruppen die Zeit dafür noch nicht als
gekommen sehen und es deshalb vorziehen, noch eine Zeitlang im Stillen und Verborgenen ihre
strukturelle Organisation weiter voranzubringen.
Eines ist jedoch klar: Am Ende werden auch sie die politische Macht anstreben!
Anmerkung: Die Erklärungen in den Fußnoten basieren teilweise auf eigenen Aufzeichnungen
des Verfassers oder sind „WIKIPEDIA – Die freie Enzyklopädie“ entnommen.
Herausgeber: Christian J. Hegemer, Leiter IBZ
Autor: Max Georg Meier
Lazarettstr. 33 – 80636 München –
Tel.: +49 (0)89 1258-0 – Fax.:+49 (0)89 1258-359
e-Mail: [email protected] – Homepage: WWW.HSS.DE
Erstellt am: 11.05.2010
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