4.4 Zwangsstörungen - Beck-Shop

Werbung
129
4.4 Zwangsstörungen
4.4
Zwangsstörungen
4.4.1 Symptomatik – Verlauf –
familiäre Häufung
und Vererbung
Man unterscheidet im Allgemeinen zwischen
den beiden Symptomtypen der
쐌 Zwangsgedanken und
쐌 Zwangshandlungen.
Zwangsgedanken sind »Ideen, Vorstellungen
und Impulse, die den Patienten immer wieder
stereotyp beschäftigen.« Aufgrund ihres gewalttätigen oder obszönen Inhalts oder weil sie
als sinnlos erlebt werden, sind sie fast immer
quälend; wenigstens anfangs versuchen die
Betroffenen, Widerstand zu leisten, dies aber
stets ohne Erfolg. Zwangshandlungen oder -rituale sind »ständig wiederholte Stereotypien«,
die weder als »angenehm empfunden werden«
noch dazu dienen, »an sich nützliche Aufgaben zu erfüllen.« Die Patienten erleben sie oft
als Vorbeugung gegen (höchst unwahrscheinliche) schädigende Ereignisse; auch hier findet
sich anfangs noch (erfolgloser) Widerstand.
Bemerkenswert ist die häufige Vergesellschaftung von Zwangssymptomen mit Depression
(stark verkürzt nach ICD-10, S. 164). Bei etwa
zwei Drittel der Fälle finden sich Zwangsgedanken und -handlungen gemischt, reine
Zwangsgedanken sind seltener, ausschließliche
Zwangshandlungen kommen kaum vor.
Differenzialdiagnostischer Hinweis
Ähnliche Symptome, so wiederholte, ritualisierte
Handlungen kommen auch im Rahmen von
Schizophrenie vor, wobei die Betroffenen nicht
die Unsinnigkeit der Maßnahmen empfinden
und entsprechend keinen Widerstand versuchen; typischerweise werden äußere Eingebungen zur Rechtfertigung vorgebracht. Zwangspatienten erleben die unbezwingbaren Impulse
zwar als unangenehm oder unsinnig, lokalisieren die Quelle jedoch im eigenen Ich.
Meist setzt die Störung zu Beginn des dritten
Lebensjahrzehnts ein, Kontrollzwänge typischerweise früher, Waschzwänge einige Jahre
später. Zwanghafte Züge haben im Allgemeinen schon vor der Erkrankung bestanden; bis
es, wenn überhaupt, zur Therapie kommt, vergeht gewöhnlich ein Jahrzehnt, der Verlauf ist
dann chronisch. Familiäre Häufung wird beschrieben, während genetische Determinierung kaum belegt ist.
4.4.2 Biologische Grundlagen
Es gibt Hinweise auf serotonerge Dysregulationen, zudem auf Überaktivität eines (u. a.
den Nucleus caudatus einschließenden) zentralnervösen Funktionskreises.
Die Serotoninhypothese der Zwangsstörungen
geht – im Gegensatz zu früheren Modellen, die
eine serotonerge Minderaktivität annahmen –
allgemeiner von einer Dysregulation des serotonergen Systems aus. Auf dessen Bedeutung
weist u. a. die Tatsache hin, dass von den trizyklischen Antidepressiva allein Clomipramin,
welches fast ausschließlich die Serotoninwiederaufnahme hemmt, Wirkung zeigt (daneben
SSRI). Provokationsmethoden sprechen für
Überempfindlichkeit einiger Rezeptoren; so
lässt sich mit dem Serotoninagonisten m-CPP
eine Verstärkung der Zwangssymptomatik
provozieren. Jedoch sind nicht alle 5-HT-Rezeptoren bei Zwangspatienten hypersensitiv,
einige wohl sogar besonders unempfindlich
(s. dazu Köhler 2005, S. 181 ff.).
Ein zweites – die Serotoninhypothese ergänzendes – pathogenetisches Modell nimmt
Überaktivität eines neuroanatomischen Funktionskreises an, der neben Orbitofrontalregion
und Gyrus cinguli die zu den Basalganglien
gerechnete Struktur des Caudatums (Nucleus
130
4 Biologische Grundlagen und biologische Behandlung psychischer Störungen
caudatus) umfasst (Basalganglienhypothese
der Zwangsstörungen; s. Rosenberg u. MacMillan 2002). Hinweise auf ihre Gültigkeit leiten sich u. a. daraus ab, dass bei Erkrankungen
der Basalganglien (etwa infektiöser Natur) oft
Zwangssymptomatik auftritt. Weiter konnte
mittels bildgebender Verfahren (z. B. PET =
Positronenemissionstomografie) bei Zwangsgestörten eine Überaktivierung in den genannten Arealen nachgewiesen werden – wenn
auch keineswegs in letzter Eindeutigkeit. Weiter lässt sich in diesem Sinne die Tatsache interpretieren, dass psychochirurgische Eingriffe
in diesen neuroanatomischen Funktionskreis
schwere Zwangssymptomatik oft erheblich
lindern.
zeptoren stützten würde. Durch Kombination
mit anderen Psychopharmaka (z. B. dem partiellen Serotoninagonisten Buspiron sowie mit
Neuroleptika, Lithiumsalzen oder Antikonvulsiva) wird teilweise versucht, die Wirksamkeit
noch zu erhöhen.
Psychochirurgie: Außerhalb Deutschlands ist
die Psychochirurgie als Ultima Ratio bei therapieresistenten Zwangsstörungen nicht ganz
selten. Vorgenommen wird dabei eine Unterbrechung des beschriebenen, vermutlich überaktiven Funktionskreises, z. B. Durchtrennung
von Faserverbindungen des Nucleus caudatus (Subkaudatumtraktomie) oder Zerstörung
von Teilen des Gyrus cinguli (Cingulotomie),
zudem Kombination beider Eingriffe.
4.4.3 Biologische Behandlung
Pharmakologische Therapie: Zwangsstörun-
gen wurden lange v. a. mit dem – ausschließlich die Serotoninwiederaufnahme hemmenden – TZA Clomipramin (Anafranil®) behandelt. Es ist hierbei anderen, nicht spezifisch auf
das serotonerge System wirkenden TZA wie
Desipramin, Imipramin oder Amitriptylin
eindeutig überlegen. Mittlerweile werden zur
Behandlung auch SSRI wie Fluoxetin (Fluctin®) oder Fluvoxamin (Fevarin®) erfolgreich
eingesetzt. Bemerkenswerterweise beträgt die
Zeit bis zum Wirkungseintritt von Clomipramin und SSRI bei Zwangspatienten oft bis
zu zehn Wochen; sie ist damit noch deutlich
länger als bei der Behandlung depressiver Zustände. Außerdem sind höhere Dosen als
zur Depressionsbehandlung erforderlich. Sehr
wahrscheinlich beruht der Effekt nicht direkt
auf Erhöhung der Serotoninkonzentration im
synaptischen Spalt, sondern auf Anpassungsmechanismen postsynaptischer Rezeptoren an
das vermehrte Transmitterangebot (DownRegulation). Initial scheint die Gabe von
Clomipramin sogar die Symptomatik zu verschlechtern, was die erwähnte These einer
erhöhten Ansprechbarkeit von Serotoninre-
!
Bei der Zwangsstörung finden sich häufig
unsinnig oder quälend empfundene Gedanken, die gleichwohl nicht unterdrückt
werden können, und/oder Handlungen,
welche zwar als sinnlos erkannt werden,
bei deren Unterlassung aber unbestimmte
Befürchtungen und Angst auftreten. Als
biologische Grundlagen nimmt man zum
einen Störungen im serotonergen System
an, und zwar eine erhöhte Zahl oder Empfindlichkeit bestimmter Rezeptoren (Serotoninhypothese der Zwangsstörungen).
Zum anderen vermutet man eine Überaktivität eines neuroanatomischen Funktionskreises, der speziell Nucleus caudatus, Gyrus cinguli und orbitofrontalen
Kortex umfasst (Basalganglienhypothese).
An biologischen Therapien ist zum einen
Gabe von Serotoninagonisten wie SSRI
oder Clomipramin zu nennen, welche in
hohen Dosen und mit erheblicher klinischer Latenz die Serotoninrezeptoren herabregulieren dürften, zum anderen (in
seltenen Fällen) psychochirurgische Eingriffe; diese zielen auf Unterbrechung des
beschriebenen Funktionskreises ab.
Herunterladen