DAS INDIVIDUELLE IN DER THERAPIE

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Penter R.: Das Individuelle in der Therapie.
In: Jahresbericht 2000, Klinik Öschelbronn und Carl Gustav Carus-Institut 2000
DAS INDIVIDUELLE IN DER THERAPIE
Einleitender Vortrag der öffentlichen Tagung zum 25. Geburtstag der Klinik
Öschelbronn „Das Individuelle in der Therapie – Laien und Fachleute im Gespräch“
vom 1. Juli 2000
Sehr verehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Klinik Öschelbronn,
liebe Interessierte für das, was wir hier in der Klinik Öschelbronn tagtäglich tun und
wonach wir streben!
Wir leben in einer Zeit großer, bewunderungswürdiger medizinischer Fortschritte. Es
gab sicher kaum ein Jahrhundert wie das letzte, das 20igste, in dem in so außerordentlich gedrängter Weise so überwältigend viele Veränderungen und Entwicklungen
eingetreten sind. Und das gilt nicht nur für die Medizin, sondern auch für alle politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Bereiche. Denken Sie an die Industrialisierung, die Kommunikationsmöglichkeiten, die Medien, an den Verkehr, aber
auch an die Kriegsführung. Im Medizinischen finden sich die spektakulärsten Veränderungen in der Diagnostik (z.B. die technischen Möglichkeiten, kleinste, für die
menschliche Sinne unerreichbare pathologische Veränderungen im Organismus zu
erfassen), in der Chirurgie (z.B. Transplantations-Chirurgie, Maximale Chirurgie, Minimal-invasive Chirurgie), die Notfall- und Intensivmedizin mit ihren Möglichkeiten,
Menschenleben zu retten und vieles andere mehr.
Was liegt diesen enormen Fortschritten zugrunde? Worauf beruht diese rasante Entwicklung?
Grundlage all dessen ist das in der Neuzeit entwickelte naturwissenschaftliche Denken. Mit seiner analytischen Kraft ist es möglich, sich zu immer kleineren Einzelheiten des menschlichen Organismus vorzuarbeiten. Dabei richtet es sich auf das Berechenbare, Messbare, Wägbare und Zählbare, also auf alles, was quantitativ erfassbar ist. Dadurch wird vieles beherrschbar und machbar, und als Begleiterscheinung
bildete sich ein großes Spezialistentum aus.
Als andere Seite dieses Fortschrittes finden wir aber auch viele „Nebenwirkungen“
(ähnlich den Begleiterscheinungen der Medikamente). Der Mensch wurde zum Objekt gemacht, und durch die immer mehr ins Einzelne gehenden Forschungen wurde
der Mensch als eine Ganzheit, als leiblich-seelisch-geistiges Wesen vergessen. Ein
gewisser Höhepunkt findet sich gerade aktuell durch die Entschlüsselung der Gensequenzen. Die mensch-reduzierende Haltung ist dabei, den Menschen bis ins Seelisch-Geistige hinein als Resultat und Wirkung seiner Gene anzusehen, ihn also aufs
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Materielle zu reduzieren. Das findet sich auch bis in die Sprache hinein. Sie kennen
die Formulierung „Die Galle in Zimmer 207“. Konsequenterweise könnte sich die
Formulierung in einigen Jahren vielleicht ändern in „Die Gensequenz in Zimmer 207“.
Während die Wissenschaft (speziell hier: die medizinische Wissenschaft) sehr ins
Einzelne und Kleinste des Organismus geht und dabei den Gesamtzusammenhang
aus den Augen zu verlieren droht, findet entgegengesetzt auf der Anwendungsseite,
in der Therapie eine Verallgemeinerung statt. Therapieschemata und standardisiertes Vorgehen sollen für alle in scheinbar derselben Weise Erkrankten gelten. Durch
eine „Evidence Based Medicine“ sollen aus Kollektiven abgeleitete Ergebnisse Richtlinien für alle einzelnen Patienten werden. Es wird also eine medikamentös gleiche
Behandlung angestrebt. Eine Entindividualisierung findet statt, der einzelne erkrankte
Mensch soll zum Kollektivwesen gemacht werden.
Während die Wissenschaft also ins Allerkleinste und in die Vereinzelung geht und die
Zusammenhänge (die „Ganzheit“) verliert, wird in der Therapie die Beachtung des
Einzelnen aufgehoben – das Individuelle und Besondere geht verloren.
Nicht dass diese Entwicklung grundsätzlich falsch ist. Sie ist notwendig, aber eben
einseitig und damit der Wirklichkeit nicht genügend. Das merken die Menschen heute
sehr stark, weil immer mehr die aus der Einseitigkeit resultierenden „Nebenwirkungen“ ins Auge springen.
Die große Frage ist: Wie kommen wir aus der Einseitigkeit wieder heraus? Wie können wir das Besondere und Fruchtbare der heutigen rein naturwissenschaftlich orientierten Medizin nutzen und neue Aspekte in Wissenschaft und Therapie hinzunehmen? Wie führen wir in der Wissenschaft das Einzelne wieder ins Ganze; wie schaffen wir es, das sich in Zusammenhängen ausdrückende Lebendige eines Organismus zu erfassen? Und wie kommen wir in der Therapie aus der Kollektivierung wieder zum Einzelnen, zum Individuellen?
An dieser Stelle hat die Anthroposophische Medizin ihren Ansatz im Sinne einer Erweiterung der sog. Schulmedizin. Konkret in Öschelbronn widmet sich das Carl Gustav Carus-Institut der wissenschaftlichen Erweiterung. Als methodische Grundlage
dient der Goetheanismus, eine auf Zusammenhänge und das Lebendige gerichtete
Arbeitsweise, die von Johann Wolfgang von Goethe entdeckt und geschaffen und in
anthroposophischen Zusammenhängen weiterentwickelt wurde. In der Klinik Öschelbronn wird eine Arbeitsweise gepflegt, die sich im Therapeutischen am einzelnen erkrankten Menschen orientieren will, ihn damit aus der Kollektivierung herausholen und ihn in seiner individuellen Besonderheit berücksichtigen möchte.
Eine Erkrankung ist immer ein Einschnitt im Werdegang eines Menschen. Eine
scheinbar wie kontinuierlich vorwärtslaufende Entwicklung des Lebens (Arbeit, Familie, Hobbies, Schlafen etc.) wird abrupt unterbrochen. Der Erkrankte lebt jetzt ganz
anders als geplant, da Krankheit nicht planbar ist. Der Lebensfluss ist unterbrochen,
der Kranke ist herausgerissen aus den normalen Lebensgegebenheiten. Dieser Ein-
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schnitt kann mehr oder weniger intensiv sein; eine krankenhauspflichtige Erkrankung
ist in jedem Fall sehr einschneidend. Dieser Einschnitt, diese Unterbrechung im Lebenslauf eines Menschen ist ein biographisches Ereignis. Es ist auch ein mehr oder
weniger intensives existentielles Ereignis (bei einer Krebserkrankung mehr als bei
einer Erkältung). Denn die Fragen können auftauchen: Warum gerade ich? Warum
gerade jetzt, wo doch das Leben so gut verläuft? Diese Sinnfrage wird selten in der
akuten Situation eine Beantwortung finden, eher nach einer Erkrankung. In der momentanen Erkrankungssituation wird die Sinnfrage erlebt, erlitten, wird mit ihr gerungen.
Dieser biographische Einbruch im Lebenslauf eines Menschen und die damit verbundenen möglichen Existenz- und Sinnfragen sind in eminentester Weise individuell. Jeder Mensch stellt sie auf seine Weise – und findet auch die Beantwortung auf
seine ganz eigene Weise. Und manchmal wird die Krankheit als Wendepunkt im Leben eines Menschen offensichtlich.
Neben diesem Einbruch im Lebensablauf eines erkrankten Menschen erlebt der
kranke Mensch seelisch oft „Wellenbäder“ von Gefühlen. Zuallererst sind Ängste und
Unsicherheit zu nennen, insbesondere dann, wenn das seelische Erleben durch die
Erkrankung nicht zu stark abgedämpft ist, wie z. B. bei einem hohen Fieber. Aber
auch Wut und Verzweiflung treten auf, oft wenn die körperlichen Beschwerden, z. B.
Schmerzen, sehr stark werden. Sehr oft tauchen intensive Stimmungswechsel auf:
von Hoffnung zu Verzweiflung, von Ängstlichkeit zu Euphorie (evtl. illusorischen Vorstellungen), von Wut zu Resignation und umgekehrt. Gerade die Stimmungslabilität
findet sich oft bei kranken Menschen, also ein Verlust des seelischen Gleichgewichts. Auch ein Einseitigwerden im seelischen Ausdruck tritt oft auf, das manchmal
krankheitstypisch sein kann.
Wie sich Ängste, Unsicherheit, Wut, Stimmungswechsel im Menschen seelisch ausdrücken, ist individuell sehr verschieden. Insbesondere das Umgehen eines betroffenen Menschen mit diesen „Wellenbädern“ von Gefühlen ist stark persönlich geprägt.
So ergibt sich das Seelische als eine zweite Ebene des Individuellen bei einem erkrankten Menschen.
Weshalb aber ein körperlich erkrankter Mensch zum Arzt geht, hat seinen Grund zunächst nicht in der seelischen und geistigen Betroffenheit, zumindest in der Inneren
Medizin und verwandten Gebieten. Schmerzen, Deformierungen und Veränderungen
krankhafter Art im Leiblichen und auch andere Symptome, wie Krämpfe, Unwohlsein,
verstärkte Müdigkeit, Fieber etc. führen den Menschen zur Notwendigkeit einer Behandlung. Somit sind es also hauptsächlich leiblich krankhafte Veränderungen, durch
die der Arzt konsultiert wird. Diese krankhaften Symptome machen aber dem Kranken leiblich-seelisch-geistig zu schaffen. Eine Verletzung findet sich vielleicht am
Oberschenkel, der Schmerz wird aber seelisch erlebt, und ein normales Denk-,
Empfindungs- und Willensleben ist nur begrenzt möglich.
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Darf man aber auch von Individuellem auf leiblicher Ebene sprechen?
Natürlich ist dies mein Leib. Und wie wir von der Immunologie wissen, ist die Ausprägung des Immunsystems sehr individuell-spezifisch. Als leiblich „Reiner Penter“
bin ich gut von anderen abgrenzbar – und hätte ich einen eineiigen Zwillingsbruder
neben mir, so bin ich überzeugt, dass Sie mich trotzdem als „Reiner Penter“ erkennen würden und nicht als z. B. „Reinhold Penter“. Denken Sie an die Fähigkeit des
Erkennens und Auseinanderhaltens von eineiigen Zwillingen bei deren Eltern.
Bei einer Krankheit sprechen wir aber doch gewöhnlich so, als ob z. B. das Rheuma
des einen wie das Rheuma des anderen ist. Wir sagen zu beiden: Der hat Rheuma!
An dieser Stelle kann bemerkt werden, dass das, was da gesagt wird, richtig ist –
und doch nicht richtig ist! Beide Menschen haben natürlich Rheuma. Aber wie die
Erkrankung sich ausgeprägt hat, ist sehr verschieden. In der Art, wie sich eine
Krankheit zeigt und offenbart, kann nur von Ähnlichkeit gesprochen werden, nicht
von Gleichheit. Die Gleichheit findet sich, wenn ganz allgemein von der Krankheit
gesprochen wird, also auf rein begrifflicher Ebene. Am einzelnen erkrankten Menschen findet sich aber immer eine ganz spezifische, von Mensch zu Mensch verschiedene sinnliche Ausformung und Ausgestaltung (z. B. nur ein bestimmter Anteil
einer Vielzahl von möglichen Symptomen). Und wenn gleiche Symptome vorliegen,
so wird die Ausprägung eines Symptoms, z. B. Schmerz, individuell verschieden
sein.
Wesentlich sind aber die konstitutionellen Grundlagen und ihre Variationen in den
verschiedenen Altern der kranken Menschen. Ob Frau oder Mann, jung oder alt, lang
aufgeschossen und schmal oder klein und gedrungen, dick oder dünn – im Zusammenspiel von Alter und konstitutionellen Gegebenheiten auf der einen Seite und
Krankheit auf der anderen, ergibt sich ein jeweils ganz spezifischer Ausdruck des
Krankseins im Leiblichen. So ist es bekannt, dass bei einem jungen Menschen mit
Magen-Karzinom die Erkrankung wesentlich rasanter verlaufen kann als bei einem
älteren Menschen. Ihr Kranksein ist zwar ähnlich, aber nicht gleich. Es ist ein gleicher
„Grundstock“ vorhanden (hier: Karzinom oder Magen-Karzinom), der sich begrifflich
fassen lässt, aber sich doch unterschiedlich leiblich offenbart.
So findet sich hier die individuelle Qualität einer Erkrankung auf der leiblichen Ebene
(statt individuell kann man auch spezifisch sagen, wenn jemand den Begriff „individuell“ ausschließlich auf das Geistige eines Menschen beziehen möchte).
Wenn nun die Therapie erfolgen soll, muss sich nicht das, was sich diagnostisch als
Ähnlichkeit zeigt, therapeutisch widerspiegeln, d.h., dass die Therapie höchstens
ähnlich sein kann, aber nicht gleich?
Wissenschaftlich kann erfasst werden, dass z. B. junge Birkenblätter ein Heilmittel für
die Chronische Polyarthritis sind – oder auch Ledum palustre (der Sumpfporst). Muss
aber jeder Mensch mit einer Chronischen Polyarthritis Birkenblatt- und
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Sumpfporstpräparate bekommen (oder auch Cortison-, Gold- oder Methotrexatpräparate)?
Im Sinne eines gemeinsamen „Grundstocks“ vielleicht – doch was ist, wenn die unterschiedliche Ausprägung und Symptomatik eines Rheumakranken erfasst wird? So
darf gesagt werden: Es kann vielleicht sein, dass verschiedene Rheumakranke gleiche Medikamente bekommen, es muss aber nicht sein. Und wenn Kranke das gleiche Medikament bekommen, so könnte/müsste sich, je nach individueller Situation,
die Dosierung der Heilmittel eventuell unterscheiden. Oder jeder hätte noch verschiedene andere Medikamente, so dass die ganze Heilmittelzusammenstellung eine
andere wäre.
Für den Arzt und Therapeuten ist die Situation also folgende: Er sollte ein allgemeines Wissen von der Krankheit und auch von den in Frage kommenden Heilmitteln
haben, im besten Fall die Verwandtschaft von Krankheit und Heilmittel erkenntnismäßig durchschauen. Er wird diese Heilmittel aber nicht einfach bei jedem Patienten
einer gleichen Erkrankungsgruppe anwenden, sonst würde er schematisierend vorgehen und die besonderen Ausprägungen als individuellen Ausdruck ignorieren. Mit
der Grundlage und dem Hintergrund der Erkenntnisse über die Erkrankung und die
entsprechenden Heilmittel, muss die spezifisch-individuelle Ausgestaltung der Erkrankung, des Krankseins, berücksichtigt und die individuelle Therapie erst gesucht
und entdeckt werden. Es erfordert also eine große Anstrengung, um die spezifische
Therapie zu finden. Der Arzt muss sich sozusagen vom kranken Organismus „sagen
lassen“, wie die Therapie sein soll.
Ein großer Philosoph unserer Tage, Hans-Georg Gadamer (Heidelberg), der in diesem Jahr 100 Jahre alt und unter prominenter Anteilnahme gefeiert wurde, hat dieses Problem zwischen allgemeinem Wissen (Wissenschaft) und der Therapie sehr
klar gesehen. „Es wäre begrüßenswert, wenn man sich der Unterschiede bewusst
würde, die zwischen wissenschaftlicher Medizin und eigentlicher Heilkunst bestehen.
Letztlich ist das der Unterschied, der zwischen dem Wissen der Dinge im Allgemeinen und den konkreten Anwendungen dieses Wissens auf den einmaligen Fall besteht. Das aber ist ein Urthema der Philosophie und des Denkens und ist auch ein
besonderer Gegenstand meiner eigenen philosophischen Arbeit, die man als Hermeneutik bezeichnet. Offenkundig lässt sich das eine, das Wissen im allgemeinen,
lernen, das andere lässt sich nicht lernen, sondern muss durch eigene Erfahrung und
durch eigene Urteilsbildung langsam reifen.“
Gadamer berührt hier die Grundfrage des am Individuum orientierten Vorgehens.
Würde aus Schemata oder Standards oder Indikationslisten ohne Berücksichtigung
der spezifischen Besonderheiten der individuellen Gegebenheiten therapiert, so würden wissenschaftliche, allgemein-kollektive Elemente in falscher Weise in die Therapie hineingetragen, der einzelne Mensch bliebe unberücksichtigt. Das Wissen um
krankheitsentsprechende Heilmittel muss natürlich vorhanden sein und kann Anregung sein auf der Suche nach der spezifisch-individuellen Therapie. Das Auffinden
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der Heilmittel für den Einzelnen und die Entscheidung für die Anwendung derselben
erfolgt aber nicht durch das Wissen, sondern willensorientiert am Patienten im Sinne
einer Heilkunst. Das lehrt die Wissenschaft aber nicht, kann sie auch gar nicht.
Heilkunst heißt, bei jedem Patienten um die Therapie neu ringen. Denn sie ist nicht
einfach vorgegeben, sondern sie muss aus der besonderen Situation eines Patienten
heraus erfasst werden.
Das geht aber nur, wenn der Arzt und Therapeut sich liebevoll dem erkrankten Menschen und seiner Symptomatik zuwenden. Das ist ganz konkret gemeint: Liebevoll
sich dem Erkrankungsausdruck zuwenden, ihn wirklich ernst nehmen. Denn sonst
kann dieser individuell-spezifische Ausdruck der Erkrankung nicht verstanden werden. Jedes Vorurteil, jede Abneigung hält vom Verständnis ab.
Der tiefere Grund, mich liebevoll dem erkrankten Menschen zuzuwenden, ist, dem
erkrankten Menschen zu helfen, bestenfalls zu heilen – mich also in den Dienst des
Heilens zu stellen. Die Heilung selbst ist aber eben nicht nur ein leibliches Problem,
sondern umfasst den ganzen Menschen. Wenn Heilung eintritt, so ist der ganze
Mensch (leiblich-seelisch-geistig) verändert. Bei Kindern z. B., die eine Masernerkrankung durchgemacht haben, lässt sich das sehr schön beobachten. Auch geheilte
ehemals krebskranke Menschen (nicht nur 5 Jahre Überlebenszeit), imponieren
durch tiefgreifende Veränderungen auf jeder Seinsebene.
Insofern ist das Leibliche zwar Ausgangspunkt der therapeutischen Beziehungen und
Handlungen, aber im Sinne des therapeutischen Zieles muss der gesamte Mensch
aufgerufen werden. Die Frage nach dem Seelischen und Geistigen des Menschen
gehört unabdingbar zur Heilung dazu.
Und danach fragt der kranke Mensch auch! Werde ich mit meinen Beschwerden,
meinen Ängsten, Fragen, Stimmungen wirklich ernst genommen? Stoße ich auf wirkliches Verständnis, oder werde ich nur als Sache oder Nummer behandelt? Und
schlägt sich dies auch therapeutisch nieder?
Bezüglich der Therapie spreche ich gerne von einer Heilmittelkomposition im Sinne
der oben beschriebenen Heilkunst, deren verschiedene Heilmittel mehr ergeben sollen als eine bloße Summation. Sie sollen sich gegenseitig steigern und ergänzen.
Diese Heilmittelkomposition enthält unmittelbar am Leiblichen ansetzende Heilmittel
(Arzneimittel, Wickel, Auflagen, Massage, Physiotherapie). Dazu kommen primär
seelisch ansetzende Heilmittel (Kunsttherapie – plastisch-therapeutisches Gestalten,
Maltherapie, Musiktherapie, Sprachtherapie), die sekundär bis ins Leibliche Heilwirkungen entfalten können. Die Heileurythmie wirkt über das Seelisch-Geistige unmittelbar bis ins Leibliche, und in z. B. Gesprächen mit dem Arzt können Fragen zu Erkrankungssinn, Tod und Lebenszielen geistige Hilfen bringen.
Doch mit dem Akt einer Therapieeinleitung ist das Therapieren noch nicht zu Ende.
Im Verlauf der Therapie wird sich beim Patienten etwas ändern – vielleicht im Sinne
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einer Krise oder einer Besserung. Jede Heilmittelkomposition muss variierbar sein, je
nach Veränderung im Behandlungsverlauf. Dies erfordert ein waches Begleiten seitens der Ärzte, Therapeuten und Pflegenden, um Modifikationsnotwendigkeiten patientenorientiert wahrzunehmen.
Das Individuelle in der Therapie ist ein sehr vielschichtiges Geschehen. Vor allem
aber: Es ist – mit Worten Goethes – kein ‚Theorem’, sondern ein ‚Problem’. Das
heißt, man kann viel darüber reden; aber es löst sich das Problem, die Umsetzung,
dadurch nicht. Es löst sich erst, wenn es getan wird, wenn der einzelne Arzt, Therapeut und Pflegende in diesem Sinne handelt. Theoretisch kann Vieles beleuchtet
werden, kann Vieles ins Bewusstsein gehoben werden, was natürlich wichtig für die
Umsetzung ist. Die Verwirklichung findet aber nur in der tatsächlichen Be-Handlung
statt.
Um überhaupt individuell orientiert arbeiten zu können, braucht es eine wissenschaftliche Fundierung, braucht es Forschung. Die medizinische Wissenschaft ist die unabdingbare Grundlage, um therapeutische Tätigkeit entfalten zu können. Trotzdem
sind Wissenschaft und Therapie Gegensätze, obwohl sie sich gegenseitig bedingen.
Das eine ist ohne das andere nicht denkbar. Und trotzdem müssen sie in der Praxis
getrennt werden, um ihre jeweils eigene Wirkenskraft entfalten zu können.
Und letztlich ist dies auch die Bedingung für die notwendige therapeutische Freiheit.
In jeder Begegnung mit einem erkrankten Menschen muss die Möglichkeit gegeben
sein, dass sich eine originäre, schöpferisch-therapeutische Tätigkeit entfalten kann –
aber natürlich differenziert, rational und nicht willkürlich.
Mit dem leiblich-individuellen Kranksein wird das Individuelle im Seelischen und
Geistigen auch erfasst und mit in die Therapie integriert. In diesem Sinne ist jeder
erkrankte und zu behandelnde Mensch einmalig – eben individuell. Und für und um
dieses Individuelle in der Therapie ringen der Arzt, der Therapeut und der Pflegende.
Um dem kranken Menschen bestmöglichst zu helfen, ist aber eine Zusammenarbeit
aller therapeutisch Tätigen notwendig. Erst wenn alle Behandelnden ihre verschiedenen Gesichtspunkte austauschen, kann der einzelne Mensch wirklich umfassend
begleitet werden.
Weil der therapeutisch Tätige um die bestmögliche Therapie und Begleitung des
kranken Menschen ringt, kann er sich auch selber weiterentwickeln. Mit jedem Patienten kann der Arzt, Therapeut und Pflegende etwas Neues hinzulernen, was sein
Bild von Krankheit und Heilung erweitern kann und damit wiederum anderen, zukünftigen Patienten als Fähigkeit zur Verfügung steht. Das heißt, die Patienten sind (neben der Wissenschaft) der Anlass dafür, dass sich die Ärzte, Therapeuten und Pflegenden weiterentwickeln können, und damit auch Anlass, dass sich ein Krankenhaus, wie die Klinik Öschelbronn, bis heute so entwickeln konnte und sich auch in
Zukunft weiterentwickeln kann.
Penter R.: Das Individuelle in der Therapie.
In: Jahresbericht 2000, Klinik Öschelbronn und Carl Gustav Carus-Institut 2000
Uns so, wie sich Patienten für die Hilfe, die sie hier erfahren haben, bedanken, wenn
sie entlassen werden, so dürfen wir als Ärzte, Therapeuten und Pflegende, aber
auch anderweitig hier im Krankenhaus Tätige, nun den Dank umgekehrt aussprechen. Wir möchten uns bei unseren Patienten dafür bedanken, dass sie uns geholfen
haben, uns zu dem zu entwickeln, was wir heute nach 25 Jahren Existenz sind!
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Literatur:
FINTELMANN, Volker: Quo vadis. Medizin am Scheideweg. Stuttgart, Berlin 2000
GADAMER, Hans-Georg: Über die Verborgenheit der Gesundheit. Frankfurt am Main,
1993
KIENLE, Gerhard: Die Situation der Medizin. In: Die Drei, 3/1977, Stuttgart
PENTER, Reiner: Der Krankheitsprozess als Frage – Der Heilungsprozess als Antwort. Beiträge zur wissenschaftlichen und diagnostisch-therapeutischen Methode
der Anthroposophischen Medizin. Dornach 1998
PENTER, Reiner: Goethes naturwissenschaftliche Methode – Zur Einheit von Natur
und Forscher. Med. Diss., Freiburg 1996
RECKERT, Till: Evidence basierte Medizin: Einheitlicher Bewertungsmaßstab. In: Der
Merkurstab. Beiträge für eine Erweiterung der Heilkunst. 52. Jahrgang, Heft 6, 1999
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