DER HERZRHYTHMUS ALS ZENTRALER RHYTHMUS DES

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Penter R.: Der Herzrhythmus als zentraler Rhythmus des menschlichen Organismus.
In: Öschelbronner Akzente – Anthroposophische Medizin und Forschung, Klinik Öschelbronn und Carl Gustav CarusInstitut, Michaeli 2001
DER HERZRHYTHMUS
ALS ZENTRALER RHYTHMUS DES MENSCHLICHEN ORGANISMUS
Wir leben in einer Zeit, in der wir uns mit Vorliebe dem Spektakulären, Auffälligen,
aus dem Meer des Unauffälligen Herausragenden zuwenden und uns an ihm erfreuen. Bungeejumping, Hochleistungstechnologie, schnelle und schicke Autos, aber
auch Nachbarschaftsfeste oder eine interessante Buchlektüre reißen uns aus dem
oft als zäh und einförmig erlebten Alltag heraus. Dabei entgeht es uns schnell, dass
wir diese Neigung gerade demjenigen verdanken, was in uns unspektakulär und
dauerhaft wirkt, eben nicht isoliert-auftrumpfenden Charakter trägt, sondern dauerhaft-rhythmisch, ohne längere Pausen, ein Leben lang in uns wirkt – der Herztätigkeit. Der Herzschlag, der Herzrhythmus ist uns nicht bewusst, solange wir gesund
sind. Und so arbeitet das Herz unaufhörlich, dauerhaft, kontinuierlich – vom 22. Tag
der Embryonalentwicklung bis zu unserem letzten Atemzug zum Tode hin. Sobald es
aber aus dem Regelmäßigen, Dauerhaften herausfallen will, also auffällig, ja spektakulär wird, ist es krank. Das, was wir für unser Seelenleben so sehnlich wünschen –
Abwechslung und Veränderungen vom Alltagstrott – darf das Herz sich nicht erlauben. Extraschläge, Herzklopfen oder Herzrasen beeinträchtigen nicht nur den Organismus, sondern führen zu starken Veränderungen im Seelenleben mit Bedrängungs- und Angstzuständen.
Nun darf man sich den Herzrhythmus aber nicht so vorstellen, als wenn er in einem
absoluten Gleichmaß wie bei einem Takt vor sich ginge. Das wäre eben auch krank.
Die Annäherung an ein starres Herzfrequenzmaß findet sich bei z. B. Angina pectoris, Herzinfarkt, Herzinsuffizienz und Bluthochdruck. Der gesunde Herzschlag bewegt
sich „zwischen“ dem starren Takt und der Unregelmäßigkeit. Er ist zwar regelmäßig,
hat aber kein absolutes Gleichmaß – er variiert seine Abstände. Er variiert sie aber
so, dass die Zeitabstände der Herzschläge ähnlich lang sind und nur jeweils gering
voneinander abweichen, so dass der Herzschlag beim Pulsfühlen regelmäßig erscheint, aber eigentlich „unregelmäßig“ ist. Ein harmonischer Herzrhythmus enthält
gleichzeitig Elemente des Gleichmaßes und Elemente der Unregelmäßigkeit, was
dem Denken widersprüchlich erscheint, in Wirklichkeit aber nicht ist. Der menschliche Organismus führt diese gegensätzlichen Elemente so zusammen, dass sie sich
nicht ausschließen, sondern auf einer höheren Stufe zu einem harmonischen und
gesunden Herzrhythmus zusammengeführt werden.
Die Bedeutung des variablen Herzrhythmus für den Menschen
Die Rhythmusforschung hat nun herausgefunden, dass sich der variable Herzrhythmus mit seinen ähnlichen, aber nie gleichen bzw. absolut unregelmäßigen Zeitabständen im Laufe des Lebens ständig wandelt (Abb. 1). Bei der Geburt eines Menschen ist die so genannte Herzfrequenzvariabilität – bei einem sehr schnellen Herzschlag – nur gering ausgebildet. Im Laufe der nächsten Jahre bildet sie sich immer
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weiter aus, während die Herzfrequenz langsamer wird. Um das 9./10. Lebensjahr
herum (Rubikon) ist die Herzfrequenzvariabilität am ausgeprägtesten. (Man kann das
sehr schön erleben, wenn man den Puls am Handgelenk eines 10-jährigen Kindes
fühlt und es auffordert ganz tief und langsam ein- und auszuatmen. Die Änderung
des Herzschlags ist beeindruckend.)
Viel langsamer als sich die Herzfrequenzvariabilität von der Geburt bis zum 9./10.
Lebensjahr ausgebildet hatte, bildet sie sich anschließend bis zum Lebensende wieder zurück, verschwindet bei einem gesunden Menschen aber nie ganz. Ähnlich einem Vogel, der mit seiner Sinnestätigkeit ganz zum Umraum geöffnet ist und eine
schnelle Herzfrequenz besitzt, ist das kleine Kind anzusehen. Ganz dem Umraum
hingegeben und von ihm abhängig ist vor allem der Säugling. Im Zuge der immer
weiter gehenden körperlichen und seelischen Ausbildung, Differenzierung und
Emanzipierung bildet sich auch die Herzfrequenzvariabilität immer mehr aus, bis sie
sich im 9./10. Lebensjahr auf ihrem Höhepunkt befindet. Dies ist das Alter der Konsolidierung des Rhythmischen Systems des Menschen und seiner Emanzipation von
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der ihn umgebenden Welt (sog. Rubikon). Im Zuge des Älterwerdens mit den entsprechenden leiblichen Vorgängen und der immer weiter differenzierenden Seelenund Geistbefähigungen, nimmt die Herzfrequenzvariabilität bis zum Lebensende immer mehr ab. Im höheren Alter werden auch die sog. Sklerosekrankheiten wie Koronare Herzkrankheit, Altersdiabetes etc. häufiger, die mit einer deutlichen Abnahme
der Herzfrequenzvariabilität bis zur Frequenzstarre hin verbunden sind, während im
Kindesalter die Entzündungskrankheiten vorherrschen.
Die Herzfrequenzvariabilität ist aber nicht nur Bild des Alters, sondern gleichzeitig
auch Spiegel vielfältigster rhythmischer Vorgänge im Menschen. Dass überhaupt die
Herzfrequenz variabel ist, verdankt sie der Einwirkung fern von dem Herzen vorhandener, ‚peripherer’ Rhythmus z. B. dem Atemrhythmus (alle 3 bis 4 Sekunden), dem
Blutdruckrhythmus (alle 10 Sekunden) und dem peripheren Durchblutungsrhythmus
(jede Minute) (Abb. 2).
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Insofern kann man das Herz mit seinem Rhythmus als offenes System gegenüber
außerhalb von ihm gelegenen Vorgängen bezeichnen. Es ist nicht in sich abgeschlossen, sondern nimmt Rhythmen aus dem gesamten Kreislauf auf, die sich in
ihm spiegeln und dadurch die Herzfrequenz modulieren. Die Variation der Herzfrequenz ist also nicht zufällig, sondern durch die einwirkenden Vorgänge deutlich gegliedert. Dabei findet ein Zusammenspiel zwischen dem Herzen als Zentralorgan und
den außerhalb von ihm befindlichen rhythmischen Vorgängen statt. Im Sinne sich
durchdringender Vorgänge geht die Herzfrequenz als regelmäßiger Impuls vom Herzen aus, findet seine Modulation aber von der Peripherie des Herzens, von teilweise
unregelmäßigen Vorgängen. Allein schon diese beschriebenen Verhältnisse können
schon die heute verbreitete Vorstellung in Frage stellen, dass das Herz eine Pumpe
sei.
Neben der Herzfrequenzvariabilität zeigen sich noch weitere charakteristische Besonderheiten des Herzrhythmus:
• Die Zahl der Herzschläge pro Minute ist nicht beliebig. Große Untersuchungen
bei Erwachsenen konnten zeigen, dass die durchschnittliche Herzschlagzahl pro Minute ca. 70 ist, wobei eine große Streubreite der Normalwerte in Ruhe zwischen 60 –
80 besteht.
• Jeder einzelne „Herzschlag“ besteht dabei aus zwei Phasen, der Systole und
der Diastole. In der Systole ziehen sich die beiden Herzhauptkammern zusammen,
was mit einem Ausströmen des Blutes einhergeht; in der Diastole entspannen sich
die Kammern und füllen sich durch den Zustrom des Blutes aus den beiden Vorhöfen
wieder auf. Jeder „Herzschlag“ ist also eine Zeiteinheit mit zwei gegensätzlichen
Phasen. Das Erstaunliche ist nun, dass beide Phasen bei normaler Herzfrequenz
zeitlich genau aufeinander abgestimmt sind – und zwar im Verhältnis des „Goldenen
Schnittes“ Der „Goldene Schnitt“ ist eine räumliche und zeitliche Proportion, die, benannt als „proportio divina“ (göttliche Proportion), sich weit verbreitet in der in der
Natur findet (z. B. bei den Längenproportionen des menschlichen Organismus oder
in den Fünfecksverhältnissen der Blüten) und vom Menschen vielfältig als Proportionsverhältnisse in der Architektur (z. B. beim Turm des Freiburger Münsters) verwandt wurde. Der Herzschlag als Zeiteinheit offenbart insofern Zeitverhältnisse, wie
sie dem Lebendigen eingeschrieben sind.
• Der Herzschlag steht in vielfältigster Beziehung zu anderen Rhythmen im
menschlichen Organismus. Dabei kommt dem Verhältnis zur Atmung eine ganz zentrale Bedeutung zu, wie es allein schon von den Gefäßbeziehungen des Herzens zur
Lunge und umgekehrt abgelesen werden kann. Herz und Lunge können so auch als
zentrale rhythmische Organe gelten. Rudolf Steiner wies aufgrund seiner geisteswissenschaftlichen Erkenntnisse auf ihr ideales Zahlenverhältnis von 4:1 hin (d.h. 4
Herzschläge auf einen Atemzug), das Prof. Gunter Hildebrandt durch seine Untersuchungen bestätigen und spezifizieren konnte. Bei den verschiedenen Menschen
kann dieser Wert konstitutionell bedingt variieren – dennoch wird im Gesunden im-
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mer ein ganzzahliges Verhältnis angestrebt. Diese Ganzzahligkeit ist für die meisten
Verhältnisse der rhythmischen Vorgänge üblich und kennzeichnet Verhältnisse, wie
sie im Bereich der Musik und der planetarischen Vorgänge vorkommen und für den
beseelten menschlichen Organismus typisch sind.
• Als weitere Qualität findet sich eine so genannte Kopplung von Herzschlag
und Atmung. Hierbei treten Atemzug und Herzschlag meistens gleichzeitig auf, was
natürlich nicht für alle Herzschläge gilt, da diese viermal so häufig sind wie die Atemzüge sind. Diese Gleichzeitigkeit von Atmung und Herzschlag weist auf einen gemeinsamen Tätigkeitsimpuls des Rhythmischen, der zwar sinnlich nicht feststellbar
sit, aber doch aufgrund der Gleichzeitigkeit des Beginnens vorhanden sein muss. Ist
Herz- und Atmungstätigkeit umfassende Impuls nicht vorhanden - fallen Herzschlag
und Atmung also entkoppelt auseinander -, so kann dies z. B. ein Krankheitssymptom sein, nachgewiesen bei der Depression. Die Kopplung von Herzschlag und Atmung weist insofern auf eine noch höhere Ebene als die des beseelten Organismus
– auf den geisttragenden Organismus des Menschen.
Diagnostische und therapeutische Konsequenzen
In der Klinik Öschelbronn wird seit 3 Jahren ein Untersuchungsverfahren zur Diagnostik angewandt, bei dem die Herzfrequenz aufgezeichnet und die sich darin spiegelnden Rhythmen, insbesondere Atmungs-, Blutdruck- und Durchblutungsrhythmus
herausgefiltert werden (Abb. 3). Durch ein spezifisches computergestütztes Berechnungsverfahren ist es möglich, die Herzfrequenzvariabilität einer Stunde, einer Nacht
oder eines ganzen Tages als farblich kodiertes Bild darzustellen, das über die Ausprägung der verschiedenen Rhythmen und der Ihnen zugrunde liegenden vegetativen (d.h. autonomen, vom Wachbewusstsein unabhängigen) Aktivität Auskunft gibt.
Das Letztere gibt dem Ganzen seinen Namen: Autonomes Bild (Autonomic Image).
Entwickelt wurde dieses Verfahren von Prof. Maximilian Moser und seinen Mitarbeitern vom Physiologischen Institut der Universität Graz, mit denen eine intensive Zusammenarbeit besteht. Zurzeit wird es insbesondere bei Krebspatienten angewendet. Bei diesen entspricht die Herzfrequenzvariabilität oftmals der eines Menschen
Lebensalters (s. Abb. 1). Insofern besteht bei der Behandlung von Krebspatienten
das Ziel, die Herzfrequenzvariabilität anzuregen, d. h. die Veralterung aufzuheben.
Somit wird die Herzfrequenzvariabilität in der Klinik Öschelbronn diagnostisch vor der
Misteltherapie als auch während der Therapie als Verlaufskriterium und Therapiebeurteilung berücksichtigt.
Der Herzrhythmus ist der Zentralrhythmus des menschlichen Organismus. In ihm
spiegelt sich die zeitliche Organisation des Menschen. Im Herzschlag und seiner
Modulation kommt die Einbindung des Herzens in den Gesamtorganismus als „Zeitleib“ zum Ausdruck. Es erstaunt deshalb nicht, dass die Menschen zu allen Zeiten
instinktiv dem Herzen eine besondere Rolle zugedachten. Die heute vielleicht noch
empfundene Bedeutung des Herzens wird immer mehr durch die Wissenschaft auf-
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gedeckt und dem gedankengetragenen Verständnis zugänglich. Dies ist die Grundlage, um darüber immer feiner auch die Krankheitszeichen, wie sie sich in der Herztätigkeit spiegeln, aufzudecken und immer besser und tiefer wirkende Heilmittel und
–methoden zu entdecken.
Ausgewählte Literatur
Brettschneider H.: Krebstherapie und Metamorphose-Idee. In: Tycho de BraheJahrbuch für Goetheanismus 1988, Niefern-Öschelbronn
Bühler W.: Das Pentagramm und der Goldene Schnitt als Schöpfungsprinzip. Verlag
Freies Geistesleben, Stuttgart 1996
Hildebrandt G.: Die rhythmische Funktionsordnung von Puls und Atmung. Zeitschrift
für angewandte Bäder- und Klimaheilkunde, 7. Jahrgang, p. 533-615,1960
Hildebrandt G., Moser M., Lehofer M.: Chronobiologie und Chronomedizin – Kurzgefasstes Lehr- und Arbeitsbuch. Hippokrates, Stuttgart 1998
Löllgen H.: Herzfrequenzvariabilität. Deutsches Ärzteblatt 96, Heft 31-32, 1999 (45),
S. 2029-2032
Moser M., Lehofer M., Sedminek A., Lux M., Zapotoczky H.G., Kenner T., Noordergraf A.: Heart rate variability as a prognostic tool in cardiology. A contribution
to the problem from a theoretical point of view. Circulation 1994; 90: 1078-1082
Moser M., Lehofer M., Hildebrandt G., Voica M., Egner S., Kenner T.: Phase- and
frequency coordination of cardiac and respiratory function. Biological Rhythm
Research 1995; 26 (11): 100-111
Moser M., Frühwirth M., Bonin D.v., Cysarz D., Penter R., Heckmann Ch., Hildebrandt G.: Das autonome Bild als Methode zur Darstellung der Rhythmen des
menschlichen Herzschlags. In: Heusser P. (Hrsg.): Akademische Forschung in
der Anthroposophischen Medizin. Peter Lang, Bern 1999
Pfeiffer B.: Zur normalen Entwicklung der chronotropen Steuerung des Herzens beim
Menschen sowie deren Veränderung bei Erkrankungen im Herz-KreislaufSystem. Dissertation Humboldt-Universität, Berlin 1981
Steiner R.: Physiologisch-Therapeutisches auf der Grundlage der Geisteswissenschaft. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1965
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