Gesundheit & Heilen Wie das Krankheitsverhalten verstehen? Probleme und Konflikte Prof. Dr. Gundula Barsch Gesundheit & Heilen Erkranken in der westlichen Gesellschaft Literatur Siegel, B. (1994): Prognose Hoffnung – Liebe, Medizin und Wunder. Düsseldorf Simonton, O., Simonton, St., Creighton, J. (1982): Wieder gesund werden. Eine Anleitung für Krebspatienten und ihre Angehörigen. Hamburg Simon, F. (1995): Die andere Seite der Gesundheit. Ansätze einer systemischen Krankheits- und Therapietheorie. Heidelberg Pott, G. (2004): Der angesehene Patient. Ein Beitrag zur Ethik in der Palliativmedizin, Stuttgart Aulbert, E., Zech, W. (1997): Lehrbuch der Palliativmedizin. Stuttgart Schuller, Heim, Halusa (Hrsg.): Medizinsoziologie – ein Studienbuch. Köln 1992 Prof. Dr. Gundula Barsch Gesundheit & Heilen Der Krankheitsgewinn oder Warum man sich wünschen kann, nicht gesund, sondern krank zu sein Prof. Dr. Gundula Barsch Gesundheit & Heilen Der Krankheitsgewinn Die Rolle des „Kranken“ Auffangmöglichkeiten für leistungsgeminderte Mitmenschen, die vor dem Herausfallen aus sozialen Bezügen und Sanktionen in Beruf und Familie bewahren: Krankschreibung Freistellungen Krankenhauseinweisung Reha-Behandlungen Pflegedienste Attest Ist mit strikten Mustern für alltägliches Verhalten und Beziehungen verbunden. D. h. mit Krankheit ergibt sich umgehend eine soziale Situation mit vorgegebenen Spielregeln = Rollen Die Rollen sind nicht frei aushandelbar = es sind bestimmte sozialkulturell vorgegebene Erwartungen einzulösen (legen fest, was „gut“ u. „schlecht“ sei). Prof. Dr. Gundula Barsch Gesundheit & Heilen Der Krankheitsgewinn Gegenentwurf zum westlichen Konzept von Gesundheit Der Mensch ist ein soziales, liebebedürftiges Wesen. Benötigt einen sinnerfüllten Lebenszusammenhang. Braucht eine lebensstützende Umgebung. Erlaubt Sicht auf andere Aspekte: Zuflucht in Krankheit! Um bestimmte eigene Interessen, Bedürfnisse zu realisieren. Um auf das soziale Umfeld in bestimmter Weise einzuwirken. Prof. Dr. Gundula Barsch Gesundheit & Heilen Der Krankheitsgewinn Krankheit in unserer Kultur = „krank feiern“: Mit Belohnung in Verbindung gebracht: Zu Hause bleiben können. Sich ausruhen können. Karten, Blumen, kleine Geschenke bekommen. Anteilnahme der anderen durch Besuche. Wünsche und Bedürfnisse werden besonders beachtet = man bekommt sein Lieblingsessen Man hat besondere Privilegien gegenüber Gesunden. … Prof. Dr. Gundula Barsch Gesundheit & Heilen Der Krankheitsgewinn Krankheit in der Biografie Warum gerade hier? Warum gerade jetzt? Den Blick wenden auf die leidenschaftliche und leidende Seite des Daseins: Was sind die leidenschaftliche und leidvollen Seiten des Menschen? Was in der Biografie eines Menschen ist dasjenige, was ihn krank zu machen in der Lage ist? Was ist das Ungelebte, manchmal auch das ungeliebte Leben, die Unerfülltheit, Unabgeschlossenheit hinter der Erstarrung? Was an der Krankheit ist sich-selbst-erfüllende-Wartehaltung und Hoffnung zugleich? Sozialarbeit Prof. Dr. Gundula Barsch Gesundheit & Heilen Der Krankheitsgewinn Krankheit in der Biografie Man hat nicht nur eine Krankheit, sondern man gestaltet sie auch: Warum gerade hier? Warum gerade jetzt? Was kann über die Krankheit verwirklicht werden? Was muss wegen der Krankheit nicht gelöst/bearbeitet/erledigt werden? Was bedeutet die Wirkung der Krankheit für die Mitmenschen? Hat der Mensch seine „Kohärenz mit der Umwelt“ verloren – wo und warum? Sozialarbeit Prof. Dr. Gundula Barsch Gesundheit & Heilen Der Krankheitsgewinn Zuflucht in Krankheit Häufig letzter Versuch, soziale Zuwendung und Entlastung zu erlangen, auch um den Preis operativer Verstümmelung, medikamentöser Vergiftung, bürokratischer Schikane. Möglichkeit, den eigenen Lebensproblemen durch Leiden, Krankheit o. Tod zu entkommen. Suche nach omnipotenter Vaterfigur = Entscheidungen werden dem Arzt völlig überlassen. Opferrolle: „Mir wird etwas angetan“ = ich kann mir selbst nicht helfen, habe keine Kontrolle über mich, kann/muss mich selbst nicht ändern. Schuld für missliche Lebenssituation kann auf andere/anderes geschoben werden; eigene Anteile daran müssen nicht eingestanden werden. Prof. Dr. Gundula Barsch Gesundheit & Heilen Der Krankheitsgewinn Warum gesundheitsschädigendes Verhalten nicht aufgeben? Abwehr-Strategien = kognitive Dissonanzreduktion Vergleich mit drastischeren Gefahren (z. B. auf Tschernobyl) Zurückweisung persönlicher Konsequenzen durch Hinweis auf Ausnahmen oder persönliche Schutzmaßnahmen. Verweis auf Kontrollmöglichkeiten („Ich könnte jederzeit aufhören, wenn ich wollte“), Kosten-Nutzen-Abwägung („Vorteile aus Verzicht schwach, während sonst schwere Nachteile entstehen“) Prof. Dr. Gundula Barsch Gesundheit & Heilen Der Krankheitsgewinn Der Krankheitsgewinn und Konsequenzen für Soziale Arbeit? Prof. Dr. Gundula Barsch Gesundheit & Heilen Der Krankheitsgewinn Krankheit Kontinuum zwischen Krankheit u. Gesundheit = ist zusammenzudenken Normaler Zustand ist Heterostase = Ungleichgewicht im menschlichen Organismus Prozesshaftes der Vorgänge mit Möglichkeit der Wieder-Neuschöpfung u. Neuorientierung Je nach Betrachtung ist ´mal das eine Weg oder Ziel , ´mal das Andere Frage nach Pathogenese UND Salutogenese = wie trotz Gefährdungen weitgehend gesund bleiben? Leidensfähigkeit als Bestandteil von Gesundheit anerkennen! Ungeheuren Einfluss der Emotionen auf Gesundheit u. Krankheit beachten = Beitrag, ob wir eine Krankheit haben, beibehalten, fördern o. beendet Prof. Dr. Gundula Barsch Gesundheit & Heilen Grundsatzfragen mit Blick auf den Willen zu leben/gesund zu werden Warum haben Sie diese Krankheit gebraucht? Psychische Bedürfnisse, die die Krankheit erfüllt: Erlaubt Dinge zu tun, die sonst verboten wären. Erleichtert, Lasten, Pflichten, Forderungen anderer zurückzuweisen. Dient dazu, Dinge zu ermöglichen, die schon immer gewollt wurden, die man aber nie in Angriff genommen hat. Verschafft Zeit zum Nachdenken, zur Meditation, zum Pläneschmieden. Bietet eine Entschuldigung für Misserfolge. Erleichtert, Liebe, Zuwendung u. Fürsorge zu fordern u. entgegenzunehmen. Erlaubt, Gefühle anzusprechen u. ehrlicher zu sein. Ermöglicht, sich der Zuneigung u. Sorge anderer zu versichern (Mitleid) Möglichkeit, mit der Welt in Verbindung zu treten. Prof. Dr. Gundula Barsch Gesundheit & Heilen Erkranken in der westlichen Gesellschaft Der Karriere zum Patienten Prof. Dr. Gundula Barsch Gesundheit & Heilen Erkranken in der westlichen Gesellschaft Die Karriere des Menschen im medizinischen System Vom „Laiendiagnostiker“ Zu „Hilfesuchenden“ zum „Patienten“, zum „Devianten“, zum „Stigmatisierten“ zum “Gesunden“ Prof. Dr. Gundula Barsch Gesundheit & Heilen Erkranken in der westlichen Gesellschaft Die Patientenkarriere: Laiendiagnostiker Versuch des Individuums, sich bei Auffälligkeiten, vermeintlicher und wirklicher Symptombildung selbst über den körperlichen Zustand und mögliche Abhilfen klar zu werden. Durch die individuellen und kulturellen Möglichkeiten der Selbstwahrnehmung und der Fähigkeit zur Interpretation von Anzeichen und Beschwerden geprägt. „Selbsttherapie“ häufig von subjektiven und emotionalen Faktoren verzerrt (z. B. bei einer Häufung von Erkrankungen in der Familie). Je intensiver, je bedrohlicher, schmerzhafter, sichtbarer, auffälliger, behindernder, länger das Symptom erscheint und je mehr die resultierende Krankenrolle mit anderen zentralen Aktivitäten kollidiert. Indem Rat von Familienmitglieder und Freunden hinzugezogen wird, wird die Person zum Hilfesuchenden. Prof. Dr. Gundula Barsch Gesundheit & Heilen Erkranken in der westlichen Gesellschaft Die Patientenkarriere: Der Hilfesuchende Versuch des Individuums, sich im Laiensystem Hilfe für die Diagnose und Therapie zu holen: Fakten, die der Betroffene an sich selbst beobachtet, werden an signifikant andere mitgeteilt = private Erfahrung wird zu einem sozialen Tatbestand. Erkundung vorinstitutioneller und vormedizinischer Möglichkeiten, um Störungen im Lebensgefüge des Betroffenen zu interpretieren und aufzufangen. Kommunikationsort = das soziale Nahfeld (Familie, Wohngemeinschaft). Dem Betroffenen werden Zuwendung und Interesse zugesichert = Motive gehen oft über die Krankheit im engeren Sinne hinaus. Sprachliche und emotionale Kommunikation bleibt unter den Beteiligten erhalten, weil alle über alle relevanten psychischen, sozialen und somatischen Informationen verfügen. Prof. Dr. Gundula Barsch Gesundheit & Heilen Erkranken in der westlichen Gesellschaft Die Patientenkarriere: Der Hilfesuchende Das Laiensystem bei Diagnose und Therapie Weder begrifflich noch faktisch wird zwischen verschiedenen Aspekten und Ursachen der Störung unterschieden = Das Lebensgefüge als Ganzes wird zur Diskussion gestellt. Struktur des Laiensystems = ohne feste Rollen: Alle sind potentiell sowohl „Diagnostiker“ als auch „Therapeut“. Laiensystem birgt Gefahren: Ratschläge ineffektiv, bisweilen schädlich, Vielfalt der Ratschläge und Autorität der Ratgeber kann Empfänger unter Druck setzen und pathogene Konflikte auslösen. Prof. Dr. Gundula Barsch Gesundheit & Heilen Erkranken in der westlichen Gesellschaft Die Patientenkarriere: Die Patient-Werdung Laiensystem verweist auf Medizin, wenn das Problem nicht lösbar ist = hat Filterfunktion für die Inanspruchnahme medizinischer Hilfe Person wird: Zum ersten Mal als „Patient“ identifiziert! Damit an das professionelle Hilfesystem weitergeleitet. = Der Krankheitsbegriff des jeweiligen Laiensystems ist der erste und wichtigste Filter in der Bestimmung, wer Patient ist bzw. werden kann. Prof. Dr. Gundula Barsch Gesundheit & Heilen Erkranken in der westlichen Gesellschaft Die Patientenkarriere: Die Patient-Werdung Allgemeinarzt/Hausarzt: Konsultation hat trotz Professionalität noch viele informelle Aspekte. Hausarzt: Lebt in dem Umkreis, in dem auch der Patient lebt. Ist wegen räumlicher Nähe verfügbar, erreichbar und vertraut. Hat durch langanhaltende Betreuung, oft der gesamten Familie, einen engeren, informelleren und auch affektive Aspekte einbeziehenden Kontakt zu seinen Patienten. Sprachliche u. sonstige Barrieren hin zum Arzt können vom Patienten bewältigt werden. Prof. Dr. Gundula Barsch Gesundheit & Heilen Erkranken in der westlichen Gesellschaft Die Patientenkarriere: Die Patient-Werdung Hausarzt: Versucht, die von der Person präsentierten Störungen zu sichten. Ordnet diese in den allgemeinen Lebenszusammenhang ein. Erarbeitet eine Grobeinschätzung der Situation. Identifiziert Krankheit und bestätigt oder verwirft damit die Notwendigkeit, der Person den Status eines „Patienten“ zuzuweisen. Siebfunktion: Behandelt bestimmte Krankheiten und gibt Ratschläge zu deren Bewältigung. Ist die Störung zu schwer, dann Weiterleiten an andere medizinische Institutionen (Facharzt, Klinik) Aus dem Hilfesuchenden wird vorübergehend ein Patient Prof. Dr. Gundula Barsch Gesundheit & Heilen Erkranken in der westlichen Gesellschaft Die Patientenkarriere: Das Patient-Sein Facharzt: Arbeitet mit vorselektierten Patienten. Beziehung zwischen Arzt und Patient ausschnitthaft, formell und relativ arm an affektiven und sozialen Bezügen (Arzt kennt Lebens-, Arbeitsund Gefühlswelt des Patienten kaum). Der herrschende Krankheitsbegriff ist spezialisiert, somatisch und auf eine Organ-Dysfunktion beschränkt, psychische und soziale Aspekte spielen dabei kaum eine Rolle. Das Autoritätsgefälle zwischen Facharzt und Patient ist groß. Erwartungen des Patienten an den Arzt hoch. Chancen des Patienten zu einer Kommunikation gering. Verweist bei einer gewissen Schwere der Störung an die Klinik. Aus dem Hilfesuchenden wird ein Patient mit speziellen Auffälligkeiten Prof. Dr. Gundula Barsch Gesundheit & Heilen Erkranken in der westlichen Gesellschaft Die Rolle des „Kranken“ Der besondere Vorteil eines naturwissenschaftlichschulmedizinischen Paradigmas: Strikte Trennung/Autonomie von Körper und Geist/Psyche Voraussetzung für die Ableitung des Opferstatus des Patienten: Das Resultat „Krankheit“ kann dem Einzelnen nicht zugerechnet werden = Kranker ist nicht „Täter“/nicht willentlich beteiligt, sondern „Opfer“. Freisein und Freispruch von Verantwortung für die Krankheit = höchst wünschenswerte und mitunter lebensnotwendige Entlastung als Beitrag zur psychischen Ökonomie des Kranken als auch der Bezugspersonen mit oft gegensätzlichen Affekt-Versuchungen (z. B. beim Lästigfallen Angehörigen). Prof. Dr. Gundula Barsch Gesundheit & Heilen Erkranken in der westlichen Gesellschaft Die Rolle eines „Kranken“: Rechte Der Kranke darf Aufmerksamkeit, Zuwendung und Interesse seines sozialen Nahfeldes beanspruchen. Der Kranke wird von allen normalen Rollen- und Aufgabenverpflichtungen befreit – variiert je nach Krankheitsbild zeitlich und im Ausprägungsgrad. Er muss dazu jedoch anerkennen, dass die Krankheit unerwünscht ist; Er soll seinen Zustand im Rahmen der Möglichkeiten als tendenziell vorübergehend akzeptieren Der Kranke hat das Recht und die Pflicht, kompetente Hilfe und Unterstützung einzufordern und sich kooperativ zu verhalten (Compliance). Er sich um seine Gesundung in Zusammenarbeit mit dem Arzt bemühen = sind nicht beteiligt an Erkrankung. Prof. Dr. Gundula Barsch Gesundheit & Heilen Erkranken in der westlichen Gesellschaft Die Rolle eines „Kranken“: Forderungen Kranke sollen sich einer zwischenmenschlichen Beziehung aussetzen, in der die Aufmerksamkeit nicht ihm als ganzer Person gilt, sondern nur bestimmten Organen. Wissen und Können liegen allein beim Arzt, der Patient ist „inkompetent“ und hat sich nur „be-handeln“ zu lassen. Der Körper soll für diagnostische und therapeutische Eingriffe maximal bereitgehalten werden. Geforderte Fähigkeit ist Passivität (oft durch Angst und Schmerz sichergestellt). Psychische Krankheit = Spaltung des Individuums nicht allein in Körper und Psyche, sondern auch in mehrere geistige Bereiche: einen autonomen, nicht selbst steuerbaren Teil (psychische Störung) und einen Teil, für den jeder selbst verantwortlich ist. Freispruch von Schuld/Absicht betrifft auch die Mitmenschen u. Interaktionspartner (Pfleger, Ärzte) des Kranken = sind nicht beteiligt an Erkrankung. Prof. Dr. Gundula Barsch Gesundheit & Heilen Erkranken in der westlichen Gesellschaft Die Patientenkarriere: Der Deviante/Stigmatisierte Klinik: In der Regel letzte Etappe gesundheitlicher Versorgung, die Patienten mit besonderes schwerer Störung versorgt Stationär und überwiegend liegend = Person ist mit ihrer ganzen physischen, psychischen und sozialen Problematik Patienten, diagnostische und therapeutische Maßnahmen beschränken sich aber in der Regel nur auf das somatisches Leiden. Patient verliert seine normale soziale Rolle und Stellung. Hoher Status des Arztes: Bestimmt alle für den Patienten wichtigen Umständen (Diagnose- und Therapieplanung, Dauer, individuelles Verhalten, Leistungsvolumen, Kommunikationsklima, internen Ablauf). Patient spielt in dem organisatorischen Gefüge der Klinik kaum eine Rolle = ist Regeln und Normen unterworfen, die er nicht durchschauen, kritisieren und verändern kann = Normabweichendes Verhalten ist mehr oder weniger folgerichtig. Aus dem Patienten mit speziellen Auffälligkeiten wird ein Devianter Prof. Dr. Gundula Barsch Gesundheit & Heilen Erkranken in der westlichen Gesellschaft Der Patient – ein Devianter: Compliance Arzt-Patienten-Interaktion = Patient ist passiver Empfänger ärztlicher Anweisungen. Art und Weise, wie sich der Patienten unterordnet, sich den diagnostischen und therapeutischen Anweisungen des Arztes unterwirft. Bewertungsmaßstab = arztzentrierte Perspektive Prof. Dr. Gundula Barsch Gesundheit & Heilen Erkranken in der westlichen Gesellschaft Der Patient – ein Devianter: Non-Compliance = Ungehorsam des Patienten gegenüber dem Arzt beispielsweise in Form von Kritik an dessen professioneller Kompetenz oder Therapie- und Verhaltensanweisungen, Nichtbefolgen der Anweisungen oder Ratschläge. Aus Sicht des Arztes = moralisches Versagen Prof. Dr. Gundula Barsch Gesundheit & Heilen Erkranken in der westlichen Gesellschaft Der Patient – ein Devianter: Non-Compliance aus Sicht des Patienten: Folge der Unvereinbarkeit von Lebensbedingungen des Patienten mit dogmatischen Therapieplänen, Anspruch auf Selbstregulation: Austesten = Durch Absetzen von Therapie sich selbst ein Bild von dem Ausmaß der Störung verschaffen/sich diese wieder bewusst zu machen. Abhängigkeitskontrolle = insbesondere Dauertherapie wird als Bedrohung der Selbststeuerung empfunden, das nicht-streng-an- Verordnung-Halten als Versuch, selbst wieder Kontrolle über die Krankheit zu erhalten. Stigma-Management: Patient setzt Techniken der Informationskontrolle ein, um Stigmatisierungsprozesse zu entgehen (z.B. keine Medikamente in der Öffentlichkeit) Situativer Steuerungsbedarf: Therapie wird aus praktischen Gründen und mit Bezug zum Alltag variiert (z. B. Einnahme von Medikamenten zu einer bestimmten Tageszeit) Prof. Dr. Gundula Barsch Gesundheit & Heilen Erkranken in der westlichen Gesellschaft Der Patient – ein Devianter: Compliance Arzt-Patienten-Interaktion = Patient ist passiver Empfänger ärztlicher Anweisungen Art und Weise, wie sich der Patienten unterordnet, sich den diagnostischen und therapeutischen Anweisungen des Arztes unterwirft. Mitwirkungsbereitschaft Arzt-Patienten-Interaktion = Patient ist aktiver Gestalter seiner Behandlung, hat eigene Vorstellungen über die Therapie und bewertet die Wirksamkeit der Medikamente nach seinen Erfahrungen. Art und Weise, wie der Patient mit dem Arzt Aushandlungsprozesse Prof. Dr. Gundula Barsch zu einer für ihn passenden Behandlung führt. Gesundheit & Heilen Erkranken in der westlichen Gesellschaft Der Patient – ein Devianter: Compliance entwickelt sich ungünstig: Bei kommunikativer Unfähigkeit oder Sprachlosigkeit, wenn die medizinische Prognose eines Patienten ungünstige ist, Keine personelle Kontinuität in der Arzt-Patienten-Interaktion besteht, Der Patient nur kurz in der Behandlung verweilt, Der Arzt wenig kommunikative Kompetenz entwickelt hat: Nicht gelernt hat, bei großem fachlichen Informationsgefälle/Kommunikationsdifferenzen zu vermitteln, Mit dem Patienten keine gemeinsame Wirklichkeitssicht gefunden werden kann. Prof. Dr. Gundula Barsch Gesundheit & Heilen Erkranken in der westlichen Gesellschaft Erkranken und soziokulturelle Benachteiligung Gesundheit als Zusammenspiel von Selbstbild, sozialer Bewertung und Rolle sozialen Rückhaltes: Gesundheitsrelevantes Verhalten ist Teil des Alltagshandelns und damit durch subkulturelle Bräuche und soziale Normen gesteuert. Wird von relevanten Bezugsgruppen verstärkt und kontrolliert. Handlungsabsichten zielen darauf, ein Selbstbild zu präsentieren, das von einer wichtigen Bezugsgruppe positiv bewertet wird (Erzielen eines positiven sozialen Vergleichs). Handlungsabsichten bedürfen der sozialen Verstärkung, damit sie auch gegen innere Widerstände durchgesetzt werden. Prof. Dr. Gundula Barsch Gesundheit & Heilen Erkranken in der westlichen Gesellschaft Erkranken und soziokulturelle Benachteiligung Unterschicht: Sozialisiert oft zu strengem Gegenwartsbezug = Dinge in der fernen Zukunft sind von geringerer Bedeutung, Motivationale Fähigkeiten zu Bedürfnisaufschub, zielorientiertes und systematisches Ansteuern ferner Ziele, Frustrationstoleranz bei Rückschlägen, Durchhaltevermögen wenig entwickelt, Prävention und Symptomaufmerksamkeit werden als weniger relevant erachtet. Dominanz eines eher instrumentellen Körperbildes = Maschine, die eben altert und verschleißt. Prof. Dr. Gundula Barsch Gesundheit & Heilen Erkranken in der westlichen Gesellschaft Krankheitsgewinn auf Seiten der Medizin Trennung des Menschen in naturales und personal-sozial Wesen = der Mensch muss sich zu nichts bekennen (Glaube, Überzeugungen) und sich nicht ändern, um sich behandeln zu lassen. Der Persönlichkeit wird keine Bedeutung beigemessen, soziale Beziehungen für Heilung nicht als wichtig erachtet = Arzt ist austauschbar, die Behandler können wechseln. Ausbleiben von Heilung/Misslingen von Therapie kann auf die stärkere somatische Natur des Leidens geschoben werden = weder Arzt noch Patient sind mitbeteiligt. Da keine Schuldfrage aufgeworfen, ist Aufbau von Krankenversicherungssystemen mit solidarischen Regelungen möglich. Prof. Dr. Gundula Barsch Gesundheit & Heilen Erkranken in der westlichen Gesellschaft Die Patientenkarriere und Konsequenzen für Soziale Arbeit? Prof. Dr. Gundula Barsch Gesundheit & Heilen Forschungsaufgabe zum nächsten Seminar: „Danach war er erst mal verschnupft!“ „Das geht ihm an die Nieren“ „Er war einfach nur sauer!“ „Davon bekommt er sooo einen Hals!“ „Der hat es faustdick hinter den Ohren!“ „Das geht unter die Haut.“ „Der hat sich etwas aufgehalst!“ Volksmund: Was ist gemeint und was sagt die Medizin dazu??? „Das lässt sich doch noch schultern!“ „Der ist ja blind vor Liebe/Hass!“ „Das ist ihm ans Herz gegangen.“ „Das hat ihm das Genick gebrochen.“ „Das macht ihm Bauchschmerzen.“ „Das macht mich heiß/kribbelig!“ „Das liegt mir schwer im Magen!“ „Sie fiebert dem Ereignis entgegen!“ Prof. Dr. Gundula Barsch