P h ilo so p hi e ge sc hi ch te – V orl esu n g WS 2 01 2/ 20 1 3 T he olo g isc h e F a kultä t Pade r bo rn P rof . D r . Dr . B er nd I rl en bo r n PHILOSOPHIE DER ANTIKE Aristoteles (384-322 v. Chr.) Begriffe: Perípatos (Säulengang), Metaphysik (t¦ met¦ t¦ fusik£), ousía (Substanz), prôtai ousíai (erste Substanzen)/deúterai ousíai (zweite Substanzen), tò hypokeímenon (Zugrundeliegendes), tóde ti (ein bestimmtes Dieses [= erste Substanz]), contingentia futura (kontingente Zukunftsaussagen), syllogismós (Schlussfolgerung), kínēsis (Bewegung), stérēsis/stšrhsij (Privation/Beraubung, vgl. die Formel: malum privatio boni), mē ón ti/m¾ Ôn ti (ein in bestimmter Weise Nichtseiendes) – mē haplôs ón/m¾ ¡plîj Ôn (ein schlechthin Nichtseiendes), dýnamis (Potentialität/Möglichkeit) – enérgeia (Verwirklichung, Aktualität – verwandter Begriff: entelécheia = Ins-Ziel[télos]-Gekommensein/erfüllte Verwirklichung), hýle/Ûlh (Stoff/Materie) – morphē (Form/Gestalt), pros-hen (prÕj ˜n)-Beziehung (Bezug auf eines die Substanz), tò akinēton kinoun/¢k…nhton kinoàn (das unbewegt Bewegende), poíēsis/po…hsij (Herstellen) – prāxis/pr©xij (Handeln), eudaimonía (Glückseligkeit), ethische/dianoetische Tugenden, mesótēs (Mitte zwischen Zuviel und Zuwenig/ethische Tugenden). Literatur: Einführung: J. L. Ackrill, Aristoteles: Eine Einführung in sein Philosophieren, Berlin 1985; A. Graeser, Die Philosophie der Antike: Sophistik, Sokratik, Platon und Aristoteles, München 2 1993; O. Höffe, Aristoteles, München 3 2006; Ders. (Hg.), Aristoteles-Lexikon, Stuttgart 2005; C. Rapp, Aristoteles zur Einführung, Hamburg 4 2012; Vertiefung: J. Barnes (Hg.), The Cambridge Companion to Aristotle, Cambridge 1995; Th. Buchheim u. a. (Hg.), Kann man heute noch etwas anfangen mit Aristoteles? Hamburg 2003; W. Detel, Aristoteles, Leipzig 2005; C. Rapp (Hg.), Metaphysik: Die Substanzbücher (Z,H,Q), Berlin 2 2012; Ders. u. a. (Hg.), Aristoteles-Handbuch: Leben, Werk, Wirkung, Stuttgart 2011. Einteilung des Wissens (epistēmē; siehe Metaphysik VI 1; Topik VI 6): 1. Theoretisches Wissen a. Erste Philosophie (Logik, Ontologie, Theologie) b. Mathematik (Arithmetik, Geometrie) c. Physik/Naturforschung (Kosmologie, Meteorologie, Psychologie) 2. Praktisches Wissen a. Ethik b. Politische Philosophie c. Rhetorik 3. Poietisches („herstellendes“) Wissen a. Rhetorik b. Dichtung c. Medizin d. Handwerk usw. (Wichtigste) Schriften des Corpus Aristotelicum: 1. Organon [THEORETISCHE WISSENSCHAFT: LOGIK UND ONTOLOGIE ]: a. Kategorien (Categoriae) b. Lehre vom Satz (Peri hermēneías / De Interpretatione) c. Erste Analytik (Analytica Priora) d. Zweite Analytik (Analytica Posteriora) e. Topik (Topica) f. Sophistische Widerlegungen (Sophistici Elenchi) 2. Physik (Physica) [THEORETISCHE WISSENSCHAFT : NATURFORSCHUNG ] 3. Über den Himmel (De Caelo) [THEORETISCHE WISSENSCHAFT : NATURFORSCHUNG] 4. Über die Seele (De Anima) [THEORETISCHE WISSENSCHAFT : NATURFORSCHUNG] 5. Metaphysik [THEORETISCHE WISSENSCHAFT : ONTOLOGIE UND THEOLOGIE] 6. Nikomachische Ethik (Ethica Nicomachea) [PRAKTISCHE WISSENSCHAFT ] 7. Eudemische Ethik [PRAKTISCHE WISSENSCHAFT ] 8. Politik (Politica) [PRAKTISCHE WISSENSCHAFT ] 9. Rhetorik [PRAKTISCHE UND POIETISCHE WISSENSCHAFT ] 10. Poetik (Poetica) [POIETISCHE WISSENSCHAFT ] 11. Protreptikos Texte / Einteilungen: 1. Organon a. Kategorien Zitat 1: zehn Kategorien „Jedes ohne Verbindung gesprochene Wort bezeichnet entweder eine Substanz oder eine Quantität oder eine Qualität oder eine Relation oder ein Wo oder ein Wann oder eine L age oder ein Haben oder ein Tun oder ein Erleiden“ (Cat. 4, 1b). Einteilung: 1. Substanz (ousía, lat. substantia): Sokrates [erste Substanz] oder Mensch [zweite Substanz] 2. Quantität (posón; lat. quantitas): zwei Ellen lang 3. Qualität (poion) (lat. qualitas): weiß 4. Relation (prós ti; lat. relatio): doppelt (Bezug auf etwas) 5. Ort (pou; lat. ubi): auf dem Markt 6. Zeit (pote; lat. quando): gestern 7. Lage (keîsthai; lat. situs): er sitzt 8. Haben/Zustand (échein; lat. habere): er hat Schuhe an 9. Tun (poieîn; lat. actio): der Arzt schneidet 10. Erleiden/Widerfahren (páschein; lat. passio): der Patient wird geschnitten. b. Hermeneutik (Peri hermēneías / De Interpretatione) 2 c. Erste Analytik (Analytica Priora) Zitat 2: Syllogismus „Ein Syllogismus ist ein Argument (lógos), in welchem sich, wenn etwas vorausgesetzt wird, etwas von dem Vorausgesetzten Verschiedenes notwendig dadurch ergibt, dass dies der Fall ist“ (An. pr. 24b) Beispiel: 1. Prämisse/Obersatz: 2. Prämisse/Untersatz: Konklusion: Alle Menschen (B) sind sterblich (A): Alle Athener (C) sind Menschen (B): Alle Athener (C) sind sterblich (A): Kombinationsmöglichkeiten: 1. A kommt allen B zu (allgemeine affirmative Aussagen): 2. A kommt keinem B zu (allgemeine negative Aussagen): 3. A kommt einigen B zu (partikulare affirmative Aussagen): 4. A kommt einigen B nicht zu (partikulare negative Aussagen): Figuren (Auswahl): Barbara AaB BaC AaC Celarent AeB BaC AeC Darii AaB BiC AiC AaB BaC AaC AaB AeB AiB AoB Ferio AeB AiC AoC d. Zweite Analytik (Analytica Posteriora) Zitat 3: Wissen (epistēmē): „Wir glauben etwas zu wissen, schlechthin, nicht nach der sophistischen Weise, wenn wir sowohl die Ursache, durch die es ist, als solche zu erkennen glauben, wie auch die Einsicht uns zuschreiben, dass es sich unmöglich anders verhalten kann“ (An. post. 71b). e. Topik (Topica) f. Sophistische Widerlegungen (Sophistici Elenchi) 2. Physik Grundmomente der Bewegung (kínēsis): (a) ein Substrat (hypokeímenon), (b) ein terminus a quo/Ausgangsbegriff (stérēsis) (c) ein terminus ad quem/Zielbegriff (morphē). Beispiel (vgl. Phys. I 7): Prozess des Gebildetwerdens (a) das Substrat: die Bestimmung „Mensch“, die bei diesem Prozess (kínesis) erhalten bleibt, (b) der terminus a quo: das Ungebildetsein, also das Noch-nicht-Gebildetsein, die stéresis (Privation, Beraubung) des Gebildetseins, 3 (c) der terminus ad quem: das Gebildetsein, bei dem am Substrat sich die Veränderung vom Ungebildetsein zum Gebildetsein vollzogen hat und die Beraubung aufgehoben ist. Konzept: Vier-Ursache-Lehre (Phys. II 3): (1) das Material, woraus etwas wird, der Stoff; Beispiel Bronzestatue: das Material der Bronze [causa materialis]. (2) die Form, das Muster oder den Begriffs; Beispiel: der Entwurf, den der Bildhauer ausführt [causa formalis]. (3) das Prinzip der Veränderung, die Wirkursache; Beispiel: Bildhauer, der die Statue formt [causa efficiens]. (4) das Ziel, den Zweck der Veränderung; Beispiel: kultische Verehrung der Statue oder Schmuck [causa finalis]. Zitat 4 (Phys. II 3): „[B]ezüglich der Ursachen (aitíōn) [ist] die Untersuchung anzustellen, welche und wie viele der Zahl nach es sind. () [1.] Auf eine Weise wird also Ursache genannt das, woraus als schon Vorhandenem etwas entsteht (tò ex hoû gignetaí), z. B. das Erz Ursache des Standbildes, das Silber der Schale (). [2.] Auf eine andere Weise aber die Form (eídos) und das Modell (parádeigma), d. h. die vernünftige Erklärung des ‘was es wirklich ist’ (). [3.] Des Weiteren: Woher der anfängliche Anstoß zu Wandel (hē archē tēs metabolēs) oder Beharrung kommt; z. B. ist der Ratgeber Verursacher von etwas, und der Vater Verursacher des Kindes, und allgemein das Bewirkende Ursache dessen, was bewirkt wird (). [4.] Schließlich: Als das Ziel (télos), d. i. das Weswegen (tò hou heneka); z. B. Ziel des Spazierengehens ist die Gesundheit (). – ‘Ursache’ wird also etwa in so vielen Bedeutungen ausgesagt. Es ergibt sich nun, da von Ursachen in vielen Weisen die Rede sein kann, dass es auch viele Ursachen eines und desselben Gegen standes geben kann.“ 3. Metaphysik Übersicht über die 14 Bücher (vgl. C. Rapp [Hg.], Metaphysik: Die Substanzbücher, 4-7): • Buch A (Alpha = Buch 1) entwirft die Konzeption einer (zu suchenden) Wissenschaft, die „die ersten Prinzipien und Ursachen“ (982b9) betrachtet. Diese zu entwerfende Wi ssenschaft ist eine rein theoretische Disziplin, die nur um ihrer selbst willen erstrebt wird und das im höchsten Maße Erkennbare zum Gegenstand hat. • Buch a (alpha élatton/„kleineres Alpha“ = Buch II), das im Anschluss an Buch A eingefügt wurde, enthält eine knappe Einleitung in das Studium der Philosophie, bleibt aber ohne Bedeutung für die übrigen Abhandlungen. • Buch B (bēta = Buch III) enthält eine Sammlung und kurze Erörterung von insgesamt 15 Aporien, die sich hinsichtlich der gesuchten Wissenschaft ergeben. • Buch G (gamma = Buch IV) beginnt mit neuen Bestimmung der gesuchten Wissenschaft, die das Seiende als Seiendes (on hē on) betrachte und anders als die Einzelwissenschaften nicht auf ein bestimmtes Gebiet des Seienden eingeschränkt sei. 4 • Buch D (delta = Buch V) bietet eine Art von Begriffslexikon, das über die vielfachen Bedeutungen bestimmter philosophischer Begriffe handelt (etwa Begriffe wie „Ursprung“, „Ursache“, „Natur“, „Sein“, „Substanz“, „Akzidens“). • Buch E (epsilon = Buch VI) knüpft zwar thematisch an die Bücher III und IV an, ve rsucht aber auch eine eigene thematische Bestimmung der „Ersten Philosophie“. • Buch Z (zēta = Buch VII), • Buch H (ēta = Buch VIII), • Buch Q (thēta = Buch IX) gehören zu den so genannten „Substanzbüchern“. Sie untersuchen die Substanz und bilden zusammen eine weitgehend selbständige Gruppe innerhalb der Metaphysik. • Buch I (iōta = Buch X) erörtert den Begriff des Einen (hen) und damit verwandte Begriffe (Identität, Nichtidentität). • Buch K (kappa = Buch XI) scheint nicht von Aristoteles selbst zu stammen, denn es referiert lediglich Gesichtspunkte aus vorigen Büchern der Metaphysik. • Buch L (lambda = Buch XII) enthält die berühmte „Theologie“ des Aristoteles; sie gipfelt in der Beschreibung des göttlichen „unbewegt Bewegenden“. • Buch M (mŷ = Buch XIII), • Buch N (nŷ = Buch XIV) stellen voraristotelische Theorien über die Zahl und eine Kritik der platonischen Ideenlehre vor. Zitat 5: Erste Philosophie als Wissenschaft von den ersten Ursachen und Gründen „Dass also die Weisheit (sophía) eine Wissenschaft (epistēmē) von gewissen Ursachen und Prinzipien ist, das ist klar. Da wir nun diese Wissenschaft suchen, so müssen wir d anach fragen, von welcherlei Ursachen und Prinzipien die Wissenschaft handelt, welche Weisheit ist (Met. 982a1-6). [] Wissen aber und Erkennen um ihrer selbst willen kommt am meisten der Wissenschaft des im höchsten Sinne Erkennbaren zu (), im höchsten Sinne erkennbar aber sind die ersten Prinzipien (prôtai archaí) und die Ursachen (aítia); denn durch diese und aus diesen wird das andere erkannt, aber nicht dies aus dem Untergeordneten“ (Met. 982a30-982b4 / Übersetzung von Hermann Bonitz, in: Aristoteles, Metaphysik, hg. von U. Wolf, Hamburg 1994). Zitat 6: Erste Philosophie als Wissenschaft vom Seienden als Seienden „Es gibt eine Wissenschaft, welche das Seiende als solches (tò òn hē ón) untersucht und das demselben an sich Zukommende. Diese Wissenschaft ist mit keiner der einzelnen Wissenschaften identisch; denn keine der übrigen Wissenschaften handelt allgemein von dem Seienden als solchem, sondern sie scheiden sich einen Teil des Seienden aus und untersuchen die für diesen sich ergebenden Bestimmungen. Indem wir nun die Prinz ipien und die letzten Ursachen erforschen, ist offenbar, dass diese notwendig Ursachen einer gewissen Natur an sich (kath’ hautēn) sein müssen“ (Met. 1003a21-30). Zitat 7: Erste Philosophie als Wissenschaft vom Höchsten und Göttlichen „Es gibt also drei Gattungen theoretischer Wissenschaften (theôrētikôn epistēmôn): Physik, Mathematik, Theologie (theologikē). Die theoretischen Wissenschaften sind die höchste Gattung unter allen Wissenschaften, und unter ihnen wieder ist die zuletzt g enannte; denn sie handelt von dem Ehrwürdigsten unter allem Seienden, höher und nie d- 5 riger aber steht eine jede Wissenschaft nach Maßgabe des ihr eigentümlichen Gegenstandes des Wissens“ (Met. 1064b1-7). 4. Nikomachische Ethik Zitat 8: höchstes Ziel des Handelns „Jedes praktische Können (téchnē) und jede wissenschaftliche Untersuchung (méthodos), ebenso alles Handeln (prāxis) und Wählen strebt nach einem Gut (ágathos), wie allgemein angenommen wird; weshalb man das Gute treffend als dasjenige bezeichnet hat, wonach alles strebt. Dabei zeigt sich aber ein Unterschied zwischen den Zielen: zum einen ist es das reine Tätigsein, zum anderen darüber hinaus das Ergebnis des Tätigseins: das Werk. () Wenn es nun wirklich für die verschiedenen Formen des Handelns ein Endziel gibt, das wir um seiner selbst willen erstreben, während das übrige nur in Richtung auf dieses Endziel gewollt wird, und wir nicht jede Wahl im Hinblick auf ein weiteres Ziel treffen – das gibt nämlich ein Schreiten ins Endlose –, dann ist offenbar dieses Endziel „das Gut“ (ágathon) und zwar das oberste Gut (áriston)“ (NE 1094a1-5, 18-20). Zitat 9: Glückseligkeit „Im Namen stimmen wohl die meisten überein: Glückseligkeit (eudaimonía) nennen es die Menge und die feineren Köpfe, und dabei gilt ihnen gutes Leben und gutes Handeln in eins gesetzt werden mit Glückseligkeit. Aber was das die Glückseligkeit sein soll, darüber entzweit man sich, die Menge erklärt sie ganz anders als die Weisen“ (NE 1095a1722). Zitat 10: bíos theôrētikós „Wenn also nun zwar unter allen tugendhaften Handlungen diejenigen, die sich um Staat und Krieg drehen, an Schönheit und Größe obenan stehen, und sie gleichwohl der Muße entbehren (), und wenn dagegen die Tätigkeit der Vernunft (noûs), die denkende, ebenso wohl an Ernst und Würde hervorragt, als sie keinen anderen Zweck hat, als sich selbst (), so sieht man klar, dass in dieser Tätigkeit, soweit es menschenmöglich ist, sich die Genügsamkeit, die Muße und alles, was man sonst noch dem Glückseligen beiliegt, finden muss. Und somit wäre dies die vollendete Glückseligkeit des Menschen (). Aber das Leben, in dem sich diese Bedingungen erfüllen, ist höher, als es dem Me nschen als Menschen zukommt. Denn so kann er nicht leben, insofern er Mensch ist, so ndern nur, insofern er etwas Göttliches (theíon) in sich hat“ (NE 1177b16-28). 6