Landespsychotherapeutentag, Stuttgart, 5.Juli 2008 Universität Freiburg Jürgen Bengel Psychotherapie bei chronischen körperlichen Erkrankungen Krankheitsspektrum Somato-psychische Komorbidität 3. Besonderheiten bei der Behandlung Beispiel Koronare Herzerkrankung 2. Somato-psychische Komorbidität 1. Krankheitsspektrum • Bedeutung der körperlichen Erkrankungen • Besonderheiten bzgl. der Patienten und der Behandlung Ziele: Ziele und Inhalte Behandlung Krankheitsspektrum Somato-psychische Komorbidität Diabetes, Depression, Demenz • WHO Life in the 21th Century: (Bengel & Koch, 2000; Weis & Koch, 1998) Fortschritte in der akutmedizinischen Versorgung (Lebensverlängerung ohne vollständige Heilung) Behandlung Zunahme psychischer Belastungen aufgrund der allgemeinen Lebens- und Arbeitsbedingungen Demographische Entwicklung: Anstieg der Inzidenz chronisch degenerativer Erkrankungen (Multimorbidität häufig) aufgrund zunehmenden Alters Veränderungen im Krankheitsspektrum Krankheitsspektrum Somato-psychische Komorbidität • Patienten mit Migrationshintergrund Behandlung • Patienten mit psychischen Belastungen und Störungen Steigender Anteil der • Mehr multimorbide Patienten • Zunehmend Patienten in höherem Alter Anstieg Chronischer Erkrankungen Veränderungen bei den Patienten … zur Evidenzbasierung … zur Standardisierung der Behandlung … zur Individualisierung … zu mehr Patientenorientierung & Patientensouveränität … zur Prävention und Gesundheitsförderung … zur integrierten Versorgung … zur Spezialisierung der Anbieter • • • • • • • Krankheitsspektrum … zur Ökonomisierung • Somato-psychische Komorbidität Behandlung (modifiziert nach Pfaff & von Pritzbuer, 2006) … zur Steuerung der Patienten und der Leistungsanbieter • Trend… Veränderungen in der gesundheitlichen Versorgung Seit 37.LJ Seit 32.LJ Behandlung Agoraphobie Dysthymie seit Jugendalter: Schmerzstörung (Migräne) Psychische Anamnese Somato-psychische Komorbidität chronische progrediente Schmerzen in Kniegelenk, Rücken, Nacken und Fingern Seit 40.LJ Krankheitsspektrum Colitis ulcerosa Seit 33.LJ Somatische Anamnese 45 jährige Pat., verh., 2 Kinder, Verkäuferin, Rentenantrag vor 3 Jahren Diagnosen: Chronisches Wirbelsäulensyndrom, Athralgien Beispiel: Komorbidität: Frau H. Krankheitsspektrum (z.B. Diabetes) Behandlung (z.B. Infertilität, Unterbauchbeschwerden) • Gynäkologische Erkrankungen (z.B. Neurodermitis, Ekzeme) • Hauterkrankungen Somato-psychische Komorbidität • Endokrinologische Erkrankungen (z.B. entzündliche Darmerkrankungen) • Gastroenterologische Erkrankungen (z.B. Multiple Sklerose, SchädelHirn-Trauma) • Neurologische Erkrankungen • Atemwegserkrankungen (z.B. Asthma bronchiale) • HIV-Infektion / Aids (z.B. Herzinfarkt) • Herz-Kreislauf-Erkrankungen • Tumorerkrankungen (z.B. chronische Rückenschmerzen) • Muskulo-skelettale Erkrankungen Häufige Erkrankungen mit Assoziation zu psychischen Belastungen und Störungen Krankheitsspektrum Somato-psychische Komorbidität Behandlung z.B. LZ-Prävalenz für Depression bei Erstgradangehörigen depressiver Diabetiker (27%) im Vergleich zu nicht depressiven Diabetikern (3%) erhöht • Genetische Vulnerabilität z.B. depressive Störungen und Angststörungen bei endokrinen Erkrankungen z.B. Dysregulation des Hypothalamus-HypophysenNebennierenrindensystems bei depressiven Krebspatienten z.B. medikamentös induzierte Angst- und depressive Syndrome • Biologische Ursache Somato-psychische Störungsmodelle I Krankheitsspektrum Somato-psychische Komorbidität Behandlung Creed 1997; Depression Guideline Panel 1993; Mayou 1997; Härter, Baumeister & Bengel 2007 • Keine Kausalität (zeitliche Koinzidenz) • Reaktion auf Erkrankung / Behandlung • Somatisierung Schmerzstörung – Rückenschmerzen: red flags: u.a. Depressivität, Unzufriedenheit mit dem Arbeitsplatz, Katastrophisieren bei Vorliegen einer depressiven Störung z.B. erhöhte Morbidität für kardiovaskuläre Erkrankungen und höhere Mortalität • Einfluss auf Entstehung / Chronifizierung der somatischen Erkrankung Somato-psychische Störungsmodelle II Biologische Ursache Krankheitsspektrum Genetische Vulnerabilität Somato-psychische Komorbidität Psychische Belastung Reaktion auf Erkrankung Einfluss auf Entstehung/ Chronifizierung der som. Erkrankung. Somatische Erkrankung Somatisierung Behandlung Keine Kausalität Somato-psychische Störungsmodelle Krankheitsspektrum Somato-psychische Komorbidität Einschränkungen durch die Krankheit • Alltägliche Belastung Psychische, körperliche und soziale Folgen • Chronische Belastung Lebensbedrohliche Diagnose / Erkrankung • Traumatisches Ereignis Diagnosemitteilung / Krankheitsausbruch • Kritisches Lebensereignis Behandlung Chronische Erkrankung als Stressor Somato-psychische Komorbidität Geschlecht Initiale Belastungsreaktion Vorbestehende psychische Belastungen Soziale Unterstützung Krankheitsspektrum • • • • • Prädiktoren für posttraumatische Symptome: Behandlung • Prävalenz akuter Belastungsreaktion und –störung bis zu 25% → potentiell traumatisches Erlebnis → erschwert durch Anhalten des Stressors • Traumatischer Stressor: Diagnosemitteilung, Konfrontation mit lebensbedrohlicher Krankheit Erkrankung als traumatisches Ereignis Beispiel Tumorerkrankung Krankheitsspektrum Somato-psychische Komorbidität • Abhängigkeit vom medizinischen System • Aversiv erlebte therapeutische Maßnahmen • Chronische Schmerzen • Reduzierte körperliche Leistungsfähigkeit • Progredienz und Irreversibilität Behandlung • Subjektive und / oder objektive Lebensbedrohung • Bedrohung des Selbstbildes • Verletzung der körperlichen Integrität Merkmale chronischer Erkrankungen Krankheitsspektrum Somato-psychische Komorbidität Leidensdruck, Alltagsbewältigung, Intensität, Zeitdauer Diagnostische Frage: • Einengung von Freizeitaktivitäten und Sozialkontakten • Aufgabe / Veränderung von Berufstätigkeit Behandlung • Vorübergehende / anhaltende Befindlichkeitsstörungen • Compliance-Probleme bei Therapiemaßnahmen • Verminderung sexueller Aktivität bzw. sexuelle Störungen • Belastungen für Partnerschaft und Familie • Veränderte Einstellungen zur eigenen Person / Körper Mögliche Folgen chronischer Erkrankungen Krankheitsspektrum Somato-psychische Komorbidität • Chronisches Erschöpfungssyndrom • Somatoforme Störung • Angststörung • Akute Belastungsreaktion und PTBS • Depressive Störung • Anpassungsstörung • Störungswertige Symptomatik Diagnostische Abgrenzung Behandlung 10.2 Somatoforme Störungen Krankheitsspektrum 14.1 Suchterkrankungen 2 7.5 5.0 20.5 17.5 11.0 6.8 14.5 11.5 Behandlung Allgemeinbevölkerung, Wittchen et al. 1999 4.3 12.8 17.7 14.6 Somato-psychische Komorbidität Härter & Bengel 2001; 25.2 Angststörungen 1 19.4 Orthopädie Kardiologie Onkologie BGS N=2051 N=1641 N=2001 N=41812 Affektive Störungen Gewichtet (in %) (12 Monate, Diagnosen nach DSM-IV) Prävalenz psychischer Störungen 20-40% 15-30% 30-50% Krankheitsspektrum Somato-psychische Komorbidität Behandlung 2.0 fach erhöhtes Risiko gegenüber Allgemeinbevölkerung Rund 1/3 der Patienten mit chronischen körperlichen Erkrankungen leiden an Anpassungsstörungen, Angststörungen, Depression, somatoformen Störungen • Tumorerkrankungen • Herz-Kreislauf-Erkrankungen • Muskulo-skelettale Erkrankungen Häufigkeit von psychischen Störungen bei körperlichen Erkrankungen Krankheitsspektrum (= 1/4 aller Patienten) 53% der Patienten mit korrekten Diagnosen 48%(32%) erkannt Somato-psychische Komorbidität Behandlung 53% Empfehlung poststationärer spezifischer Maßnahmen 52%(68%) nicht erkannt Patienten mit psychischen Störungen Krankheitsspektrum Somato-psychische Komorbidität Behandlung • Unzureichende Kenntnis hinsichtlich der Besserung / Behandelbarkeit psychischer Störungen psychischer Störungen, mangelnde diagnostische Fertigkeiten • Unkenntnis über Symptome und Syndrome bei Vorliegen dominanter körperlicher Symptome • Tendenz zur Unterschätzung psychischer Störungen psychischer Symptome (z.B. Fatigue, Appetitmangel) • Fehlinterpretation / Überlappung somatischer und Diagnostik komorbider psychischer Störungen Gründe für ungünstige Entdeckungsraten Krankheitsspektrum Somato-psychische Komorbidität Behandlung Koronare Herzerkrankung - Herzinfarkt Krankheitsspektrum Somato-psychische Komorbidität Behandlung Risikofaktoren 2. Ordnung - Übergewicht / Adipositas - Hyperurikämie (Gicht) - Bewegungsmangel - Ungünstige sozioökonomische Bedingungen - Belastende Lebensbedingungen, kritische Lebensereignisse - Berufl. Überbeanspruchung - Emotionale Probleme, Depression Schutzfaktoren: Schokolade, Wein, Tee Fixe Risikofaktoren - Geschlecht - Alter - Genetische Faktoren - Besonderheiten im Lipidstoffwechsel Risikofaktoren 1. Ordnung - Hypercholesterinämie - Rauchen - Hypertonie - Diabetes mellitus Risikofaktoren der Koronaren Herzerkrankung Krankheitsspektrum Somato-psychische Komorbidität Behandlung Prognostischer RF HR = 2,0 bis 2,42 Krankheitsspektrum Somato-psychische Komorbidität Behandlung 2002, 2Schumacher 2003; siehe auch Ferketich et al. 2000; Pratt et al. 1996; Kubzansky & Kawachi 2000, Frasure-Smith et al. 1999, 2000; Thomas et al. 1997; Irvine et al. 1999 1Rugulies Prämorbider RF RR = 1,6 bis 2,71 Depression und Koronare Herzerkrankung Krankheitsspektrum Zigarettenkonsum ↑ Bewegung ↓ Gesundheitsverhalten ↓ Psychologische und Verhaltenseffekte Behandlung KHK, Myokardinfarkt, plötzlicher Herztod z.B. Endothelregeneration ↓ Thrombozytenaktivität ↑ Herzfrequenz ↑ Herzfrequenzvariabilität ↓ Neurobiologische Effekte Lipide ↑ Blutdruck ↑ Blutzucker ↑ Metabolisches Syndrom ↑ Somato-psychische Komorbidität Sympathikotone Überaktivierung Hypercortisolismus Thrombozytenaktivierung neurobiologisch gekennzeichnet u.a. durch: Depression Risikofaktoren Lebensstil – Genetische Prädisposition – Persönlichkeitscharakteristika Prädisponierende Faktoren Krankheitsspektrum Psychosoziale Faktoren mit negativem Einfluss auf Depression bzw. KHK Verhaltensänderung bei depressiven Störungen mit einem erhöhten KHK-Risiko Somatische Veränderungen (Risikofaktoren) durch eine depressive Störung Behandlung Geringere soziale Unterstützung Kritische Lebensereignisse Stress und belastende Arbeitsbedingungen Reduzierte Medikamentencompliance und Gesundheitsverhalten Erhöhter Tabakkonsum Reduzierter Antrieb Reduzierte Herzfrequenzvariabilität, erhöhte Herzfrequenz, Arrhythmien Veränderte Trombozytenaggregation Erhöhte CRP- und Interleukin 6 Werte Somato-psychische Komorbidität • • • • • • • • • Ätiologische Erklärungen Krankheitsspektrum - Geringe Soziale Unterstützung - Berufliche Überlastung - Kritische Lebensereignisse … Psychosoziale Risikofaktoren (Z.B. Diabetes) Multimorbidität Alter, Geschlecht, sozioökonomischer Status Somato-psychische Komorbidität Behandlung Leistungsorientierung Somatische Orientierung Lebensbedrohliches Erlebnis durch KHK Risikoverhalten, Complianceprobleme Koronare Herzerkrankung – Patientenmerkmale Behandlung Häufige Diagnosen in allgemeinärztlicher Versorgung (Casey, 2001) und psychosomatischer Rehabilitation (DRV Bund, 2007) • Somato-psychische Komorbidität „Unscharf und unterschwellig“ – Lösung • Krankheitsspektrum Beschwerden als psychische Reaktion auf das Krankheitsereignis • Anpassungsstörung: • Behandlungsindikation häufig gegeben • subsyndromale Störungen: Häufig nicht die Kriterien einer spezifischen psychischen Störung erfüllt • Prävalenz psychischer Störungen erhöht (im Schnitt 15-30%) das Erleben körperlich Kranker • Psychische Belastungen beeinflussen zumindest zeitweise Psychische Belastungen – psychische Störungen Krankheitsspektrum Somato-psychische Komorbidität Behandlung 1 Ehlert 1998; 2 Cavanaugh et al. 2001, 3 Härter et al. 2002; 4 McDaniel et al. 1995; 5 Linton 2000; 6 Saupe & Diefenbacher 1999 verursachen erhöhte Inanspruchnahme und Kosten 3,5 beeinflussen Compliance und Lebensqualität ungünstig 3,4,5 tragen zur Chronifizierung bei 5 erhöhen die somatische Morbidität und Mortalität 1,2,4-6 verlängern die Krankenhausliegedauer 1 Komorbide psychische Störungen ... Relevanz Krankheitsspektrum Somato-psychische Komorbidität Behandlung Enge Kooperation mit haus- und fachärztlichen Kollegen Flexible Dauer, Frequenz und Setting Häufig „klassische“ Depressions- und Angsttherapie • Patientenschulung, Entspannung, Stressreduktion • Soziale Kompetenz, Partnerschaft, Familie • Existentielle Fragen und Lebensbedrohung • Klärung von Funktionalität und dysfunktionalem Verhalten • Emotionsausdruck und Emotionsregulation • Umschriebene Therapieziele / Zwischenschritte • Motivationsklärung und Laientheorie bei Patienten mit somato-psychischer Komorbidität Therapeutische Prinzipien Krankheitsspektrum Somato-psychische Komorbidität Kein klassisches Versorgungssetting Arzt-Patient-Beziehung Vorrang der somatischen Therapie Behandlung Einschränkungen durch Erkrankung / Behandlung Höheres Alter bzw. spezifischer Lebensabschnitt Somatische Laientheorie Begrenzte Therapiemotivation Psychische Störung nicht obligat, häufig temporär Psychotherapie mit körperlich Kranken Besonderheiten Krankheitsspektrum Anforderungsfeld Rehabilitation Psychologische Psychotherapie Somato-psychische Komorbidität Onkologie, Orthopädie, Kardiologie, .... Behandlung Diagnostik, Gesundheitsförderung, Patientenschulung Struktur, Recht, Sozialmed. Psychologie Diplom, MSc, BSc Das Anforderungsfeld Rehabilitation Krankheitsspektrum Somato-psychische Komorbidität Behandlung Die Psychotherapie muss sich auf diese Patienten verstärkt einstellen und ihre Behandlung entsprechend anpassen. Die Versorgung dieser Patienten geht über eine Psychotherapie im engeren Sinne hinaus. Auch unterschwellige Störungen (u.a. Anpassungsstörungen) verdienen therapeutische Aufmerksamkeit. Ein Teil erfüllt die Kriterien für eine psychische Störung. Ein Teil dieser Patienten ist temporär oder längerfristig psychisch stark belastet. Die chronisch körperlichen Erkrankungen nehmen zu, sie stellen eine besondere Herausforderung dar. Fazit Prof. Dr. Dr. Jürgen Bengel Abteilung für Rehabilitationspsychologie und Psychotherapie Institut für Psychologie, Universität Freiburg Engelbergerstraße 41, D-79085 Freiburg Telefon: 0761 – 203-2122, Fax: - 3040 e-mail: [email protected] • Strauß, B. (Hg.) (2002). Psychotherapie bei körperlichen Erkrankungen. Göttingen: Hogrefe. • Härter, M., Baumeister, H. & Bengel, J. (Hg.) (2007). Psychische Störungen bei körperlicher Krankheit. Berlin: Springer. • Faller, H. (Hg.) (2005). Psychotherapie bei somatischen Erkrankungen. Stuttgart: Thieme. • Bengel, J., Barth, J. & Härter, J. (2007). Körperlich Kranke. In B. Strauß et al. (Hg.), Lehrbuch Psychotherapie (Bd. 2, S. 837-59). Göttingen: Hogrefe. Literaturhinweise