Aurenque (48472) / p. 1 / 1.3.11 Diana Aurenque Ethosdenken ALBER THESEN A Aurenque (48472) / p. 2 / 1.3.11 Dieses Buch beschäftigt sich mit dem viel besprochenen, aber weiterhin unklaren Verhältnis zwischen Heideggers Philosophie und Ethik. Es wird die These vertreten, dass sich Heideggers gesamtes Denken als ein Ethosdenken interpretieren lässt. Dieses darf aber weder als ein ethisches System noch als eine heideggersche Ethiklehre missverstanden werden. Ethos ist nicht moralisch zu verstehen, sondern es meint den Aufenthalt, in dem der Mensch seinem eigenen Wesen und dem Wesen aller Dinge gerecht wird. Heideggers Ethosdenken will dem Menschen keinen Schutz geben, sondern allen Phänomenen in ihrem jeweiligen Sichzeigen und Sichentziehen gerecht werden. Dieses ethische Denken versucht eine Offenheit für das Andere, für das Mögliche und Unbekannte, zu schaffen. Heideggers Ethosdenken liegt unmissverständlich das Ideal des philosophischen Lebens zugrunde. Ob das philosophische Ethos als ein einsames Ethos zu verstehen ist, wird im Buch systematisch geklärt. Zugleich wird Heideggers Ethosdenken im Hinblick auf sein Verständnis des Politischen gedeutet. Das philosophische Wesen des Menschen, das im eigentlichen Ethos erscheint, ist gerade, was Heidegger durch seine entpolitisierte Politik hervorzuheben versucht. Die Autorin: Diana Aurenque wurde am 29. 08. 1981 in Santiago de Chile geboren. Sie studierte Philosophie mit anschließendem Staatsexamen an der Universidad de Santiago de Chile. 2010 promovierte sie an der AlbertLudwigs-Universität Freiburg. 2006–2010 war sie Promotionsstipendiatin der chilenischen Regierung »Beca Presidente de la República«. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Phänomenologie und Hermeneutik, Lebensphilosophie, Ethik und Bioethik. Sie ist Mitglied der Heidegger-Gesellschaft, der Sociedad Iberoamericana de Estudios Heideggerianos und des redaktionellen Beirates des Bulletin heideggerien. Derzeit übt sie Lehraufträge an den Universitäten Freiburg und Stuttgart aus. Aurenque (48472) / p. 3 / 1.3.11 Diana Aurenque Ethosdenken Auf der Spur einer ethischen Fragestellung in der Philosophie Martin Heideggers Verlag Karl Alber Freiburg / München Aurenque (48472) / p. 4 / 1.3.11 Alber-Reihe Thesen Band 44 Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2011 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz: SatzWeise, Föhren Herstellung: Difo-Druck, Bamberg Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper Printed in Germany ISBN 978-3-495-48472-2 Aurenque (48472) / p. 5 / 1.3.11 Für Markus, Sonia und Amadeo Aurenque (48472) / p. 6 / 1.3.11 Aurenque (48472) / p. 7 / 1.3.11 Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einige Schwierigkeiten der Forschung . . . . . . . . . . Ethos und Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heideggers Kritik an der traditionellen Ethik . . . . . . Worauf weist das Ethische in Heideggers Philosophie hin? Gliederung der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 15 19 23 27 30 . . . . . . . . . . . . . . . 33 Einführung 1. 2. 3. 4. 5. Erster Teil: Der Aufenthalt im Handeln Kapitel I: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 1. 2. Der ethische Grundzug der Hermeneutik der Faktizität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Faktische, das Sinnhafte und das Eigene . . Die Zugänge zur Faktizität . . . . . . . . . . . Der echte, philosophische Aufenthalt . . . . . Die Hermeneutik als Klärung der Faktizität . . Das Sokratische der Hermeneutik der Faktizität Das Wachsein des Daseins und die Jeweiligkeit Kapitel II: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Herausarbeitung des Ethos am Modell der aristotelischen Phronesis . . . . . Warum interessiert sich Heidegger für die Phronesis? . . . Zu Heideggers Kritik an der traditionellen Metaphysik . . Ethosdenken 11 34 35 39 43 48 50 54 58 62 64 A 7 Aurenque (48472) / p. 8 / 1.3.11 Inhalt 3. 4. Der Vorrang der Phronesis . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Aufdeckung des genuinen Ethos: Zwischen Phronesis und Kairos . . . . . . . . . . . . . . 67 Kapitel III: Das rechte Ethos in Sein und Zeit . . . . . . . . . . . . . . . 84 85 88 93 97 100 109 . . . . . . . . 113 1. 2. 3. 4. 5. 6. Die Räumlichkeit des Ethos . . . . . . . . . . . Die Erweckung aus dem uneigentlichen Ethos . . Die Wiederentdeckung der Wahrheit der Existenz Das »faktische Ideal« . . . . . . . . . . . . . . . Augenblick und Aufenthalt . . . . . . . . . . . Das Ethos in Sein und Zeit als Überrest . . . . . Zweiter Teil: Das Ethos und die Wahrheit des Seins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 Kapitel IV: Die Ausarbeitung der Philosophie als Haltung: Heideggers Denken zwischen Ende der zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre . . . . . . . . . . 114 1. 2. 3. 4. 5. Die »Metaphysik des Daseins« und die Metontologie Die Erweckung und die Philosophie . . . . . . . . . Die Welt als Spiel und die Haltlosigkeit des Daseins . Unheimlichkeit, Langeweile und Augenblick . . . . Ist das Sichhalten in der Nichtigkeit als Nihilismus zu bezeichnen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kapitel V: 1. 2. 3. 4. 8 . . . . . . . . 115 120 123 128 . . . 135 Von der Wahrheit im Handeln hin zum Geschehen der Wahrheit: Ethos in der Wahrheit des Seins . 139 Der Wahrheitsbegriff in Sein und Zeit: Das Verweilen beim Handeln . . . . . . . . . . Das Verständnis der Wahrheit nach Sein und Zeit Die Erweiterung des Ethosdenkens . . . . . . . . Heideggers Auslegung des Höhlengleichnisses . ALBER THESEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 146 153 156 Diana Aurenque Aurenque (48472) / p. 9 / 1.3.11 Inhalt Kapitel VI: Zwischen Seinsgeschichte und Ereignisdenken: Heideggers Ethosdenken im Zeitalter der Heimatlosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . 164 1. 2. 3. 4. 5. Übersicht über das Ereignisdenken . . . . . . . . . Das Ereignis und die Inständigkeit im Da-sein: Aufenthalt im Sein . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Ethos im Zeitalter der »totalen Machenschaft« Die Gefahr und die Rettung . . . . . . . . . . . . Ethische Erziehung bei Heidegger . . . . . . . . . . . . . 166 . . . . 171 177 184 193 . . . . . . . . . . . . Kapitel VII: Die Thematisierung des Ethosdenkens: Das dichterische Wohnen und das Wohnen im Geviert . . . . . . . . . . . . . . . . 203 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. Der künstlerische Seinsentwurf . . . . . . . . . . . . . Die Rettung in dürftiger Zeit . . . . . . . . . . . . . . . Wo wohnt der Mensch? Heimat als Ort des Aufenthaltes Das Wohnen im Geviert . . . . . . . . . . . . . . . . . Das dichterische Wohnen als Aufforderung zur Offenheit Das Maß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das dichterische Sprechen und sein Wohnen . . . . . . . Dritter Teil: Ist das philosophische Ethos ein entpolitisiertes, einsames Ethos? Heideggers Philosophie, die Anderen und die Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . 204 209 211 216 225 229 233 . . 237 Kapitel VIII: Die Polis, der Dichter und der Philosoph (1933–1943) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 1. 2. 3. 4. Heideggers »entpolitisiertes« Verständnis der Polis . . . Der Dichter als »Souverän«? . . . . . . . . . . . . . . . Der Philosoph als der Befreier . . . . . . . . . . . . . . Heideggers entpolitisiertes Verständnis der Gerechtigkeit Ethosdenken . . . . 240 249 258 263 A 9 Aurenque (48472) / p. 10 / 1.3.11 Inhalt Kapitel IX: Heideggers Verständnis des Mitseins und Lévinas’ Kritik daran . . . . . . . . . . . . . . . 272 1. 2. 3. Heideggers Verständnis des Mitseins . . . . . . . . . . . Zu Lévinas’ Kritik an Heidegger . . . . . . . . . . . . . . Kritischer Kommentar: Die vorspringend-befreiende Fürsorge als Liebe und die Offenheit für das Andere . . . . Kapitel X: 1. 2. 3. 4. 275 286 295 Kann nur noch die Einsamkeit uns retten? Heideggers Kritik an der Öffentlichkeit und die Möglichkeit einer echten Gemeinschaft . . . . . 304 Heideggers Auffassung der Öffentlichkeit . . . . . . . . . Die Möglichkeit der echten Öffentlichkeit: Das philosophische Ethos in der geistigen Gemeinschaft . . Die Sprache der echten Öffentlichkeit: Das Schweigen und das Hören . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Selbstsein in ursprünglicher Gemeinschaft . . . . . . . . . 306 313 322 332 Abschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 1. 2. 3. Auf der Suche nach Wahrheit und Freiheit . . . . . . . . . Die ursprüngliche Ethik als das Ethos in der Entsprechung zum Sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischen antiker Ethik und entpolitisiertem Ethos . . . . 336 . . . . . . . . . . . . . . Zitierweise . . . . . . . . . . . . . . . . . Schriften Martin Heidegger . . . . . . . . Verzeichnis der anderen zitierten Schriften 348 348 348 351 Literaturverzeichnis 1. 2. 3. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 342 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 10 ALBER THESEN Diana Aurenque Aurenque (48472) / p. 11 / 1.3.11 Vorwort Das vorliegende Buch ist die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Sommersemester 2009 von der Philosophischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg angenommen wurde. Zuallererst möchste ich mich herzlich bei meinem Doktorvater Günter Figal bedanken, der mich von Anfang an unterstützt und der den Gang meiner Gedanken anhand kritischer und erkenntnisreicher Bemerkungen begleitet und erweitert hat. Ohne seine fruchtbare Art Heideggers Denken zu interpretieren, wäre diese Arbeit nicht zu dem geworden, was sie heute ist. Ebenfalls herzlich danken möchte ich den weiteren Gutachtern Andreas Urs Sommer und Bernhard Zimmermann für ihre hilfreichen Kommentare und Anregungen. Besonderen Dank möchte ich an dieser Stelle meinem akademischen Lehrer in Santiago de Chile, Raúl Velozo zukommen lassen, der in mir früh genug die Liebe zur deutschen Philosophie erweckte. All diejenigen Menschen beim Namen zu nennen, die in unterschiedlichen Weisen zur Entfaltung dieser Arbeit beigetragen haben, würde leider die Grenzen dieses Vorwortes bei Weitem überschreiten und so möchte ich hiermit auch allen Freunden und Kommilitonen von Herzen danken, die mich während den drei Jahren der Promotion akademisch und menschlich unterstützt haben. Lucia Castro, Eveline Cioflec, Maxime Dyon, Mihalis Pantoulias und Virginie Palette gilt meine Dankbarkeit für anregende Diskussionen und lebendige Freundschaft. Martin de la Ravanal und Tamara Villarroel möchte ich für ihre – trotz geographischer Entfernung – stets spürbare Nähe danken. Meiner deutschen Familie – Annemarie, Ottmar und Stefan Schüller – möchte ich für ihre grenzenlose Unterstützung und Liebe mit allem Nachdruck danken. Ganz besonders danke ich Christian Sommer, der durch seine breiten und nuancenreichen Heidegger-Kenntnisse, mir die Komplexität dieses Denkens unter einer neuen, kritischen Perspektive beleuchtete. Ethosdenken A 11 Aurenque (48472) / p. 12 / 1.3.11 Vorwort Ebenfalls möchte ich Peter Trawny meine Dankbarkeit ausdrücken. Ihm danke ich für zahlreiche Bemerkungen und kritische Gespräche, die die Entwicklung der hier vorliegenden Interpretation Heideggers entscheidend geprägt haben. Für letzte sprachliche Korrekturen, sowie auch für wichtige Kommentare und Anregungen danke ich Melanie El Mouaaouy, Tobias Keiling und Udo Richter. Ohne ihre Hilfe klänge diese nicht in meiner Muttersprache geschriebene Arbeit wohl ganz anders. Berta van Schoor, Johannes Müller und Willem van Reijen sei auch für ihr Korrigieren und Kommentieren des Textes herzlich gedankt. Der chilenischen Regierung danke ich für die Unterstützung durch die Graduiertenförderung Beca Presidente de la República. Vor allem möchte ich meinem Mann und meinen Eltern danken. Meine Dankbarkeit ihnen gegenüber in wenige Worte fassen zu wollen, scheint mir jedoch fast unmöglich. Aber vielleicht lässt sich in der schweigsamen, einfachen Geste einer Widmung meine tiefste und liebevolle Dankbarkeit erkennen. Stuttgart, im Januar 2011 12 ALBER THESEN Diana Aurenque Aurenque (48472) / p. 13 / 1.3.11 Einführung Das Thema »Heidegger und die Ethik« ist in der Heidegger-Forschung bis heute umstritten. Fraglich ist dabei vor allem die Konjunktion in dieser Wendung – Heidegger und die Ethik. Es ist durchaus möglich, über Heidegger zu sprechen, ohne die Ethik überhaupt zu erwähnen; und umgekehrt ist es genauso sinnvoll, über Ethik zu sprechen, ohne Heidegger zu erwähnen. Und doch ist die umfangreiche Literatur, die sich um die Frage nach dem Verhältnis zwischen einer ethischen Fragestellung und der Philosophie Heideggers dreht, nicht nur ein Beweis dafür, dass diese Problematik auf verschiedene Weisen interpretiert werden kann, sondern auch dafür, dass das Thema in der Forschung noch unentschieden ist. 1 Vgl. Burkhardt Biella, Eine Spur ins Wohnen legen. Entwurf einer Philosophie des Wohnens mit Heidegger und über Heidegger hinaus, Düsseldorf/Bonn 1998; R. Philip Buckley, Martin Heidegger: The »End« of Ethics, in: J. J. Drummond [Hrsg.], Phenomenological Approaches to Moral Philosophy, Dordrecht/Boston/London 2002, 197–228; Branka Brujić, Das Ethos des anderen Anfangs, in: D. Barbarić [Hrsg.], Das Spätwerk Heideggers. Ereignis – Sage – Geviert, Würzburg 2007, 19–27; Pedro Cerezo, De la existencia etica a la existencia originaria, in: F. Duque [Hrsg.], Heidegger: La voz de tiempos sombríos, Barcelona 1991, 11–79; Françoise Dastur, The Call of Conscience. The Most Intimate Alterity, in: F. Raffoul and D. Pettigrew, Heidegger and the Practical Philosophy, New York 2002, 87–97; Adriano Fabris, Das ethos des Wohnens im Denken Martin Heideggers, in: Internationales Jahrbuch für Hermeneutik 6 (2007), 181–195; Douglas Kellner, Authenticity and Heidegger’s Challenge to Ethical Theory, in: C. Macann [Hrsg.], Martin Heidegger: Critical Assessments, Band 4, London 1992, 198–212; Hans-Georg Gadamer, Gibt es auf Erden ein Maß? (W. Marx), in: Neuere Philosophie. Hegel-Husserl-Heidegger, Gesammelte Werk (im Folgenden: GW), Band 3, Tübingen 1999, 333–349; Hans-Georg Gadamer, Ethos und Ethik (MacIntyre u. a.), in: Neuere Philosophie. Hegel-Husserl-Heidegger, GW 3, Tübingen 1999, 350–374; Jean Greisch, The »Play of Transcendence« and the Question of Ethics, In: F. Raffoul and D. Pettigrew [Hrsg.], Heidegger and the Practical Philosophy, New York 2002, 99–116; Emil Kettering, NÄHE. Das Denken Martin Heideggers, Pfullingen 1987; Nobuyuki Kobayashi, Vereinzeltheit, Zwischenmenschlichkeit und Ort. Aus den »ethischen« Überlegungen 1 Ethosdenken A 13 Aurenque (48472) / p. 14 / 1.3.11 Einführung Im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit steht die Frage nach dem »und« in der Wendung »Heidegger und die Ethik«. Diese Fragestellung erfordert nicht nur, dass wir darüber einig sind, was jeweils gemeint ist, wenn wir über Heidegger und über die Ethik sprechen; sie fragt vor allem nach dem, was beide in einem gemeinsamen »und« verbindet. von Heidegger, Watsuji und Nishida, in: R. Elberfeld und G. Wohlfart [Hrsg.], Komparative Ethik. Das gute Leben zwischen den Kulturen, Köln 2002, 195–209; Dietmar Köhler, Metaphysische Anfangsgründe der Ethik im Ausgang von Heidegger, in: A. Großmann und C. Jamme [Hrsg.], Metaphysik der praktischen Welt. Perspektiven im Anschluß an Hegel und Heidegger, Amsterdam/Atlanta 2000, 176–187; Michael Lewis, Heidegger and the place of ethics: being-with in the crossing of Heidegger’s thought, London 2005; Andreas Luckner, Heidegger ethische Differenz, in: B. Waldenfels und I. Därmann [Hrsg.], Der Anspruch des Anderen: Perspektiven phänomenologischer Ethik, München 1998, 65–86; William McNeill, The Time of Life. Heidegger and Ethos, New York 2006; Werner Marx, Gibt es auf Erden ein Maß? Grundbestimmungen einer nichtmetaphysischen Ethik, Hamburg 1983; Barbara Merker, Selbsttäuschung und Selbsterkenntnis. Zu Heideggers Transformation der Phänomenologie Husserl, Frankfurt a. M. 1988; Jean-Luc Nancy, Heidegger’s »Originary Ethics«, in: F. Raffoul and D. Pettigrew [Hrsg.], Heidegger and the Practical Philosophy, State University of New York, New York 2002, 65–85; Gerold Prauss, Heidegger und die praktische Philosophie, in: A. Gethmann-Siefert und O. Pöggeler [Hrsg.], Heidegger und die praktische Philosophie, Frankfurt a. M. 1988, 177–190; R. Raj Singh, Ethics, Ontology and Technology: Heidegger and Gandhi, in: R. Elberfeld und G. Wohlfart [Hrsg.], Komparative Ethik. Das gute Leben zwischen den Kulturen, Köln 2002, 293–301; Manfred Riedel, Hören auf die Sprache. Die akroamatische Dimension der Hermeneutik, Frankfurt a. M., 1990; Manfred Riedel, Aufenthaltsdeutung. Heideggers Feldweg-Gespräche im geschichtlichen Zusammenhang seines Denkwegs, in: Heidegger Studies 19 (2003), Berlin 2003, 95–108; Anna Pia Ruoppo, Von Hegel zu Aristoteles. Phronesis, ethos, Ethik im frühen Denken Martin Heideggers, in: Heidegger-Jahrbuch 3 (2007), 237–254; Luis Cesar Santiesteban, Die Ethik des »anderen Anfangs«: Zu einer Problemstellung von Heideggers Seinsdenken, Würzburg 2000; Wolfgang Schirmacher, Technik und Gelassenheit. Zeitkritik nach Heidegger, Freiburg i. Br./München 1983; Martin Seel, Heidegger und die Ethik des Spiels, in: Martin Heidegger: Innen- und Außenansichten, hrsg. vom Forum für Philosophie Bad Homburg, Frankfurt a. M. 1989, 244–272; Beat Sitter, Dasein und Ethik. Zu einer ethischen Theorie der Existenz, Freiburg i. Br./München 1975; Christian Sommer, L’éthique de l’ontologie: Remarque sur Sein und Zeit (§ 63) de Heidegger, in: Éthique et phénoménologie, Revue de phénomenologie 13 (2005), 119–134; Rainer Thurnher, Heideggers Denken als »Fundamentalethik«, in: R. Margreiter und K. Leidlmar [Hrsg.], Heidegger. Technik – Ethik – Politik, Würzburg 1991, 133–141; Peter Trawny, Die unscheinbare Differenz. Heideggers Grundlegung einer Ethik der Sprache, in: E. Escoubas und B. Waldenfels [Hrsg.], Deutsche und französische Phänomenologie, Paris/Offenburg 2000, 65–102; Ch. von Wolzogen, Die eigentliche metaphysische Störung. Zu den Quellen der Ethik bei Heidegger und Levinas, in: M. Endreß [Hrsg.], Zur Grundlegung einer integrativen Ethik. Für Hans Krämer, Frankfurt a. M. 1995, 131– 154; u. a. 14 ALBER THESEN Diana Aurenque Aurenque (48472) / p. 15 / 1.3.11 Einige Schwierigkeiten der Forschung Damit wird aber weder eine »Heideggerianisierung« der Ethik noch eine »Ethisierung« Heideggers versucht. Es geht vielmehr darum, Heideggers Denkweg in seiner Entwicklung zu verfolgen, um so zu verstehen, worin die Möglichkeit einer ethischen Dimension im Denken Heideggers liegt, die von so vielen Interpreten gesehen wurde. Das Verhältnis zwischen Heidegger und der Ethik wird in concreto anhand von zwei Leitfragen untersucht, die den ersten Anstoß für diese Fragestellung gegeben haben. Diese Fragen lauten: »Warum gibt es in der heutigen Heideggerforschung noch keine Klarheit in Bezug auf die Möglichkeit einer ethischen Dimension in Sein und Zeit?« und zweitens: »Gibt es ethische Phänomene in Heideggers Werk, die den verschiedenen ›Heideggern‹ entsprechen, oder ist das Ethische in seiner Philosophie ein einheitliches Phänomen, das im Verlauf seines Denkweges immer wieder auftaucht, und zwar in vielfältiger Weise und trotz aller Differenzierungen?« Mit einer solchen Fragestellung zeigt sich einerseits, dass es nicht die Absicht der vorliegenden Arbeit ist, eine »heideggersche Ethik« zu begründen. Vielmehr kommt es darauf an, die Frage nach dem Ethischen in Heideggers Philosophie als eine berechtigte Problematik zu erweisen und die Berechtigung des »und« in der Wendung »Heidegger und die Ethik« zu bedenken. Andererseits soll diese Fragestellung deutlich werden lassen, dass in dieser Untersuchung der Versuch gemacht wird, die allgemeinen Züge von Heideggers Philosophie aufzuklären, um so die Frage nach dem ethischen Charakter der jeweiligen Phasen in seinem Denken angemessen stellen zu können. Dies erfordert es, Heideggers bewegtem und doch zugleich kontinuierlichem Denkweg zu folgen. 1. Einige Schwierigkeiten der Forschung Wenn man nach der Möglichkeit einer Ethik oder des Ethischen in der Philosophie Heideggers fragt, besteht das erste Problem darin, dass Heidegger selbst sich nur gelegentlich und dann meist negativ über Auf eine umfassende Darstellung der gesamten für die Problematik »Heidegger und die Ethik« einschlägigen Literatur muss hier verzichtet werden: Schon aufgrund ihres Umfangs würde eine solche Bemühung eine eigene Arbeit erfordern. Da diese Untersuchung jedoch nicht alleine steht, sondern nur – wie alle anderen auch – ein Versuch ist, die Problematik des Ethischen bei Heidegger aufzuklären, steht sie zu diesen Untersuchungen in einer systematischen Kontinuität. Ethosdenken A 15 Aurenque (48472) / p. 16 / 1.3.11 Einführung Ethik geäußert hat. 2 Ein zweites Problem ist, dass Heidegger kein systematisches Werk über Ethik geschrieben hat. Überraschenderweise findet man aber eine Reihe verschiedener Interpretationen seines Denkens, in denen jeweils ein eigenes Verständnis der ethischen Dimension der heideggerschen Philosophie ans Licht gebracht wird. Entweder leiden alle diese Interpreten unter einer »ethischen Halluzination« (welche dann allerdings zu erklären wäre), oder es gibt tatsächlich etwas Ethisches in Heideggers Philosophie zu entdecken. Diese beiden Probleme sind nicht zuletzt deshalb kein Argument, eine ethische Untersuchung seiner Philosophie zu unterlassen, weil es mehr als bloß zufällig ist, dass mehrere Schüler Heideggers und andere von ihm beeinflusste Autoren – wie etwa Hannah Arendt, Hans Jonas, Hans-Georg Gadamer, Emmanuel Lévinas, Joachim Ritter – sich intensiv mit Fragen der Ethik beschäftigt haben, obwohl ihr akademischer Lehrer kein ausdrückliches Interesse hierfür zeigte. Dennoch muss man zugeben, dass es besonders schwierig erscheint, anzunehmen, dass Heideggers Philosophie einen entscheidenden Anstoß für die Untersuchung des Ethischen bedeuten könnte. Dieser Eindruck basiert auf folgenden Gründen: Heideggers Hauptwerk Sein und Zeit wird als ein Projekt konzipiert, bei dem es im Kern nicht um den Menschen als Menschen geht, sondern um die »Frage nach dem Sinn von Sein überhaupt« 3 . Deshalb wird der Mensch als Dasein betrachtet, das heißt als dasjenige Seiende, das in einem ausgezeichneten Verhältnis zum Sein steht. Allein der Mensch als Dasein ist ein seinsverstehendes Seiendes, das einzige Seiende, das über ein Verstehen des Seins verfügt. Seinsverständnis macht also die eigentümliche und wesentliche Seinsweise des Menschen aus. Aus diesem Grund ist erst eine Analytik des Daseins und mit ihr eine Ausarbeitung der Grundstrukturen des Daseins erforderlich, um die Frage nach dem Sinn von Sein, auf die Sein und Zeit hinauswill, überhaupt angemessen stellen zu können. Die Frage nach der Aufklärung des Daseins ist also nur als ein Mittel zu betrachten, um das eigentliche Hauptthema – die Seinsfrage überhaupt – zu erreichen. 4 Aus diesem Gedanken entspringt eine weitere, sehr wichtige Kritik, mit der jede Untersuchung bezüglich des Ethischen in Heideggers 2 3 4 16 Siehe den 3. Absatz dieser Einführung. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 17. Siehe das III. Kapitel dieser Arbeit. ALBER THESEN Diana Aurenque Aurenque (48472) / p. 17 / 1.3.11 Einige Schwierigkeiten der Forschung Philosophie in Berührung kommen muss. Sie besteht in der Meinung, dass ein ethischer Ansatz mit der von Heidegger betonten Neutralität des Daseins unvereinbar sei. Mit Lévinas’ bekannter Aussage »bei Heidegger hat das Dasein niemals Hunger« 5 wird versucht, den radikal neutralen Charakter des Daseins zu betonen, in welchem dessen moralischer Mangel gründet. 6 Diese Kritik ist zwar auf den ersten Blick zutreffend. Doch wir werden sehen, dass durch die Neutralität des Daseins nur das Moralische zurücktritt, nicht aber das Ethische. Ein weiteres Problem der Forschung besteht in der Einheit von Heideggers Denken. Eine einheitliche Ethik in Heideggers Philosophie zu entdecken würde voraussetzen, dass es eine Einheit dieses Denkens gibt. Doch Heideggers denkerischer Entwicklung ist besonders schwierig zu folgen. Zwischen dem philosophischen Projekt des jungen Heidegger – von der phänomenologischen Hermeneutik der Faktizität bis zum fundamentalontologischen Projekt von Sein und Zeit –, der Periode der sogenannten »Kehre« und schließlich seinem Spätwerk kann mehr oder minder deutlich unterschieden werden. Solche Unterscheidungen innerhalb eines philosophischen Denkens sind aber stets grobe Vereinfachungen, mit denen meistens – aus philosophischer Sicht – wenig gewonnen ist. Deshalb soll die Unterscheidung zwischen einem jungen und einem späteren Heidegger hier nur in einer anzeigenden Absicht erfolgen. Eine solche Unterscheidung dient lediglich dazu, den Umgang mit Heideggers Denken sprachlich zu erleichtern. Heidegger selbst hat versucht, deutlich zu machen, dass es in seinem Denken um »Wege« und nicht um abgeschlossene »Werke« geht. 7 Der Charakter des »Unterwegsseins« gehört also wesentlich zu seinem Denken. 8 Damit taucht aber notwendigerweise die Frage nach der Möglichkeit der Einheit und Kontinuität des heideggerschen Denkens auf. Ob man seiEmmanuel Lévinas, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über Exteriorität, Freiburg i. Br./München 2 1993, 191. 6 Auch Derrida hat die Neutralität des Daseins kritisiert. Vgl. Jacques Derrida, Geschlecht (Heidegger) Sexuelle Differenz, ontologische Differenz. Heideggers Hand (Geschlecht II), Wien 1988, 117–122. Dazu auch: Rainer Marten, Die Griechen und die Deutschen – eine unschuldige Konjunktion?, In: B. H. F. Taureck [Hrsg.], Politische Unschuld? In Sachen Martin Heidegger, München 2008, 131–140, hier 134 und 138. 7 Heidegger, Frühe Schriften, GA 1, 436. 8 Heidegger selbst kritisiert in einem Brief an Max Müller von 11. Dezember 1964 diese Trennung: »Das ›Unterwegs‹ ist verschwunden, schon durch die Nummerierung HI und HII« (Martin Heidegger, Briefe an Max Müller und andere Dokumente, hrsg. von H. Zaborowski und A. Bösl, Freiburg i. Br./München 2003, 48). 5 Ethosdenken A 17 Aurenque (48472) / p. 18 / 1.3.11 Einführung ne Philosophie als ein bewegliches und trotzdem einheitliches Denken oder als ein nicht kontinuierliches betrachtet, bedingt in gewissem Maße, wie das Ethische dabei zu verstehen ist. Stehen Heideggers denkerische Phasen jeweils mit einer gewissen Autonomie nebeneinander, dann bildet in entsprechender Weise das, was in diesen Phasen jeweils als das Ethische entdeckt werden könnte, nicht notwendigerweise eine Einheit. Allerdings zeigt sich beim Durchlaufen von Heideggers Denken dieses nicht nur seinem Wesen nach als ein »Unterwegsdenken«, sondern es zeigt sich auch, dass seine Kritik an der traditionellen Auffassung der Ethik stets lebendig bleibt. Das lässt vermuten, dass wir in dieser Kritik bereits einen einheitlichen Ansatz bezüglich des Ethischen finden können. Dennoch lässt sich die Frage nach der Möglichkeit eines einheitlichen Ansatzes in der Problematik der Ethik nicht so leicht beantworten. Aus der ablehnenden Haltung Heideggers gegenüber der bisherigen Ethik folgt aber weder, wie eine positive Bestimmung des Ethischen mit Heidegger zu denken ist, noch, dass dies gar nicht möglich wäre. Eine weitere Schwierigkeit, mit der diese Arbeit konfrontiert ist, zeigt sich in der Tatsache, dass Heidegger moralischen und sozialen Problematiken keine besondere Aufmerksamkeit schenkt. Darüber hinaus ist es nicht die Frage nach dem konkreten Verhältnis von Mensch und Gesellschaft, die Heidegger interessiert: 9 »So wichtig die ökonomisch-sozialen, die politischen, die moralischen und sogar religiösen Fragen sein mögen, die in bezug auf das technische Hand-Werk verhandelt werden, sie alle reichen nirgends in den Kern der Sache.« 10 Auf die Frage, ob die Philosophie einen gesellschaftlichen Auftrag habe, sagt Heidegger im Gespräch mit Richard Wisser aus dem Jahr 1969: »Wenn man diese Frage beantworten will, muß man zuerst fragen: ›Was ist die Gesellschaft?‹ und muß darüber nachdenken, daß die heutige Gesellschaft nur die Verabsolutierung der modernen Subjektivität ist und daß von hier aus eine Philosophie, die den Standpunkt der Subjektivität überwunden hat, überhaupt nicht mitsprechen darf.« 11 Weil Im Spiegel-Interview sagt Heidegger, dass der Grundgedanke seines Denkens darin besteht, »daß das Sein beziehungsweise die Offenbarkeit des Seins den Menschen braucht und daß umgekehrt der Mensch nur Mensch ist, sofern er in der Offenbarkeit des Seins steht« (Heidegger, Martin Heidegger im Gespräch, GA 16, 704). 10 Heidegger, Was heißt Denken?, GA 8, 27. 11 Heidegger, Martin Heidegger im Gespräch, GA 16, 703. 9 18 ALBER THESEN Diana Aurenque Aurenque (48472) / p. 19 / 1.3.11 Ethos und Ethik Heideggers Wahrheitsverständnis es gerade unternimmt, den ObjektSubjekt-Dualismus zu überwinden, der aus der neuzeitlichen Subjektphilosophie stammt, kann sein Denken die Frage nach dem Verhältnis von Philosophie und Gesellschaft nicht beantworten. 12 Heidegger sagt offen, dass zu seiner Philosophie die Beschäftigung mit der politischen und moralischen Dimension des menschlichen Lebens nicht gehört. 2. Ethos und Ethik Die genannten Gründe führen dazu, dass der Titel dieser Arbeit nicht Heidegger und die Ethik lautet, sondern Ethosdenken. Einerseits wird durch das Vermeiden des Wortes »Ethik« Heideggers eigene Ablehnung der traditionellen Ethik respektiert. »Ethik« weist traditionell auf eine philosophische Disziplin hin – während Heidegger eine Unterteilung der Philosophie in Disziplinen überhaupt wenig schätzt. Mit dem Aussparen dieses Wortes, so kann man sagen, gehen wir schon mit Heidegger mit. Auch sprechen wir von Ethos und nicht von Ethik, weil Heidegger selbst diesen Ausdruck bevorzugt. Man sollte kurz daran erinnern, dass Heidegger im Humanismusbrief die ethische Problematik anerkennt: »Der Bindung durch die Ethik muß alle Sorge gewidmet sein«. 13 In diesem Brief fordert Heidegger nicht nur, über das Wesen des Handelns tiefer nachzudenken, 14 sondern auch ein Denken der Ethik in ihrem ursprünglicheren Sinne als Ethos, das heißt als das Denken des Aufenthaltes des Menschen in der Nähe des Seins. Die Ethik als Ethos wird, laut Heidegger, zu »ursprünglicher Ethik«, sofern dabei »die Wahrheit des Seins als das anfängliche Element des Menschen als eines eksistierenden« gedacht wird. 15 Wenn diese Arbeit jedoch nach der Möglichkeit einer ethischen Vgl. Heidegger, Seminar in Le Thor 1969, GA 15, 359: »Das Wichtigste, wenn es darüber zur Klarheit kommen soll, ist die Einsicht, daß der Mensch kein Seiendes ist, das sich selbst macht, – ohne solche Einsicht bleibt man bei dem angeblichen politischen Gegensatz von bürgerlicher und industrieller Gesellschaft stehen und vergißt, daß der Begriff der Gesellschaft nur ein anderer Name oder ein Spiegel oder eine Erweiterung der Subjektivität ist.« 13 Heidegger, Brief über den Humanismus, GA 9, 353. 14 Vgl. Heidegger, Brief über den Humanismus, GA 9, 313: »Wir bedenken das Wesen des Handelns noch lange nicht entschieden genug.« 15 Heidegger, Brief über den Humanismus, GA 9, 356. 12 Ethosdenken A 19 Aurenque (48472) / p. 20 / 1.3.11 Einführung Dimension in der gesamten Philosophie Heideggers fragt und dieses Fragen als eine Untersuchung des Ethos begrifflich fixiert werden soll, stellt sich die Frage nach der Angemessenheit einer Rede von einem Ethos für die Schriften vor dem Humanismusbrief. Eine prinzipielle Schwierigkeit für das Anliegen, Heideggers Ethosdenken zu untersuchen, besteht darin, dass erst in Heideggers spätem Denken ein Denken des Ethos explizit zur Geltung kommt. Insofern scheint sich diese Arbeit an Heideggers Spätphilosophie zu orientieren und so ihrem Anspruch nicht zu genügen, dem gesamten Denkweg Heideggers gerecht zu werden. Doch Heidegger selbst sagt im Humanismusbrief, dass das »Wohnen […] das Wesen des ›In-der-Welt-seins‹ [ist]«. Damit bezieht er die in Sein und Zeit behandelte Thematik des »In-Seins« explizit auf das Wohnen, 16 das heißt auf ein Ethosdenken. Das Dasein als ein Inder-Welt-sein ist als ein wohnendes Seiendes zu verstehen. Ausgehend von Heideggers Anerkennung des Bezuges zwischen dem In-der-Welt-sein und dem Wohnen muss zweierlei geklärt werden: erstens die Möglichkeit eines Ethosdenkens bereits in seiner früheren Philosophie – der Hermeneutik der Faktizität und der Philosophie von Sein und Zeit – und zweitens der Zusammenhang, in dem die frühere Auffassung von Ethos mit dem späteren Ethosdenken steht. Wie genau die Ethik als Ethos, oder besser, wie die ursprüngliche Ethik zu verstehen ist, wird erst im Laufe dieser Untersuchung geklärt. Einleitend muss jedoch hierbei eines klar sein: Dass Ethik als Ethos zu verstehen ist, heißt, Ethik von Moral zu unterscheiden. Zwar bezieht sich die Ethik immer irgendwie auf die Moral, doch sie sind nicht unmittelbar dasselbe. Der Unterschied zwischen Moral und Ethik zeigt sich bereits, wenn man auf die Bedeutungen des Wortes »Ethos« achtet, denn dieses Wort ist äquivok. Das Bedeutungsspektrum dieses Wortes hängt jedoch nicht nur mit seinen unterschiedlichen Schreibweisen zusammen, das heißt damit, ob »Ethos« mit Epsilon (˛qo@) oder mit Eta (Æqo@) geschrieben wird. Während ˛qo@ »Gewohnheit, Gebrauch, Herkommen« 17 bedeutet, gehören zu Æqo@ drei unterschiedliche Bedeutungen. Zum einen bezieht es sich auf ˛qo@, weil Æqo@ auch Heidegger, Brief über den Humanismus, GA 9, 358. Franz Passow, Handwörterbuch der griechischen Sprache, umgestaltet von V. Chr. Fr. Rost, F. Palm und O. Kreussler, Band 1, zweite Abteilung, Leipzig 5 1847, Sonderausgabe 2004, 780. 16 17 20 ALBER THESEN Diana Aurenque Aurenque (48472) / p. 21 / 1.3.11 Ethos und Ethik »Sitte, Gebrauch, Einrichtung« ist; 18 zu ihm gehört also auch eine sittliche Dimension. Zweitens ist Æqo@ zugleich »jeder Ausdruck der Sitten u. Charaktere durch plastische od. pantomimische Darstellung«. 19 Zuletzt bedeutet Æqo@ »Wohnung, Wohnort, gewohnter Sitz, Aufenthalt«. 20 Gerade diese letzte Bedeutung ist für Heidegger der ursprüngliche Sinn von Æqo@. Damit sieht man deutlich, dass Heidegger die sittliche, das heißt die moralische Dimension von Æqo@ beiseitelässt. 21 Das Ethische ist für ihn nicht das Sittliche, sondern das Aufenthaltmäßige, das Wohnhafte, das jedoch keine Gewöhnung ist. Die Ethik unterscheidet sich von der Moral aber nicht nur aus etymologischen Gründen. 22 In der Tradition wird Ethik im Sinne einer normativen Disziplin im Hinblick auf das menschliche Handeln verstanden, die durch die Begründung einer Moralität die richtige Führung des menschlichen Lebens zum Ziel hat. Oder anders gesagt: Während die Ethik seit Aristoteles dasjenige philosophische Denken ist, das sich um Fragen der Eudaimonia, um die Frage nach dem besten Leben also, kümmert, dient die Moralität dazu, das ethisch gesehene beste Leben durch eine festgelegte präskriptive Dimension zu erreichen. Somit gehört zur Moral das Bestimmen von Urteilen, Regeln und Handlungen im Hinblick auf einen gewissen Gegensatz – zum Beispiel den von »gut« und »böse«. 23 Doch der Unterschied zwischen Moral und Ethik muss nuanciert werden. Denn auch durch Moral und deren Moralkatalog (zum Beispiel die Gebote Gottes) wird eine ausgezeichnete Lebensweise dargestellt, so dass dieser unter diesem Aspekt zur Ethik zu zählen wäre. Die Grenze zwischen Ethik und Moral ist, trotz der jeweiligen Unterschiede, sehr fein. Mit Aristoteles beginnt die Ethik sich in den Dienst der Verwirklichung des guten Lebens des Menschen zu stellen, und zwar so, dass dieses Leben ein ihm zugrunde liegendes Ideal hat, nämlich das theoPassow, Handwörterbuch der griechischen Sprache, 1333. Passow, Handwörterbuch der griechischen Sprache, 1333. 20 Passow, Handwörterbuch der griechischen Sprache, 780. 21 Das lateinische Wort mos, aus dem das Wort Moral entstammt, bedeutet: 1. »Wille« oder »Eigenwille«; 2. »Sitte, Gewohnheit, Herkommen, Brauch, Einrichtung, Verfahren, Mode« (Menge-Güthling, Enzyklopädisches Wörterbuch der lateinischen und deutschen Sprache, erster Teil, Berlin-Schönenberg 14 1963, 485). 22 Vgl. Ernst Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, Frankfurt a. M. 1993, 34–35. 23 Vgl. Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, 39; Marcus Düwell, Christoph Hübenthal und Micha H. Werner [Hrsg.], Ethik-Handbuch, Stuttgart 2006, 2; Jürgen Habermas, Ach Europa, Frankfurt a. M. 2008, 45. 18 19 Ethosdenken A 21 Aurenque (48472) / p. 22 / 1.3.11 Einführung retische Leben (bfflo@ qewrhtik@) 24 Die aristotelische Ethik ist eine Ethik der Glückseligkeit (e'daimonffla), in der es grundsätzlich um den Einzelnen geht. Dennoch ist das gute Leben stets innerhalb eines politischen Rahmens gedacht, da bei Aristoteles der Mensch nicht außerhalb der Polis die Glückseligkeit erreichen kann. Der Mensch ist für Aristoteles nicht nur von Natur aus ein Lebewesen mit Vernunft (z†on lgon ˛con), sondern auch ein politisches Lebewesen (z†on politikn). 25 Für Aristoteles strebt nicht nur der Mensch als Einzelner, sondern auch die Stadt als der Ort der Vielen von Natur aus nach dem Guten. 26 Beide streben die Verwirklichung des Gleichen an, auch wenn Aristoteles das politische Gute höher schätzt: »Mag nämlich auch das Gute dasselbe sein für den Einzelnen und den Staat, so scheint es doch größer und vollkommener zu sein, das Gute für den Staat zu ergreifen und zu bewahren.« 27 Das Ethische und das Politische stehen bei Aristoteles in einem engen Bezug, da das gute Leben sich nur im politischen Kontext realisiert. Die Ethik steht also von Anfang an in engem Bezug zur Politik. Dies zeigt sich deutlich, wenn man beachtet, dass Aristoteles die Ethik nicht nur als eine »politische Wissenschaft« 28 bezeichnet, sondern auch, dass die Nikomachische Ethik mit einer Überleitung zur Politik endet. 29 Doch indem Aristoteles letzten Endes das politische Leben an zweiter Stelle positioniert, 30 scheint dieses zugunsten des theoreti24 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1096a und 1178b. Die Nikomachische Ethik wird zitiert nach: Aristoteles, Die Nikomachische Ethik, übersetzt von O. Gigon, neu hrsg. von R. Nickel, Düsseldorf/Zürich 2001. 25 Aristoteles, Politik, 1253a. Die Politik wird zitiert nach: Aristoteles: Werke in deutscher Übersetzung, hrsg. von Hellmut Flashar, Band 9; übersetzt und erläutert von Eckart Schütrumpf, Darmstadt 1991. 26 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1094a: »Jede Kunst und jede Lehre, ebenso jede Handlung und jeder Entschluß scheint irgendein Gut zu erstreben. Darum hat man mit Recht das Gute als dasjenige bezeichnet, wonach alles strebt.« Vgl. auch: Aristoteles, Politik, 1252a. 27 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1094b. 28 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1094b; Vgl. auch: Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1095a–b. 29 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1181b. Ethik und Politik sind aber für Aristoteles nicht dasselbe: »Die politische Wissenschaft und die Klugheit sind als Verhalten dasselbe, doch ihr Sein ist nicht dasselbe. Von der Staatskunst ist der leitende Teil die Gesetzgebung; jene, die das Einzelne behandelt, hat den gemeinsamen Namen der politischen Wissenschaft« (Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1141b). 30 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1177b –1178a. 22 ALBER THESEN Diana Aurenque Aurenque (48472) / p. 23 / 1.3.11 Heideggers Kritik an der traditionellen Ethik schen Lebens zurückzutreten. Die Verbindung zwischen Philosophie und Ethik wird jedoch nicht preisgegeben. Denn die Philosophie mit ihrem Ideal eines theoretischen Lebens bildet zugleich eine exemplarische Lebensweise, so wie in der christlichen Religion ein Leben im Bekenntnis zu Gott und seinen Gesetzen. 31 Theoretisches Leben und exemplarische Lebensweise, das heißt Philosophie und Ethik, sind demnach nicht zu trennen. Indem Heidegger die Ethik als Ethos nur als Aufenthalt versteht, wodurch der moralische Aspekt neutralisiert wird, verliert die Ethik ihren Bezug zur Politik. Es gibt nicht mehr das, worauf die Polis und der Einzelne zusammen zustreben, das Gute fehlt. Somit beginnt man hier schon zu ahnen, dass Heideggers Ethosdenken ein entmoralisiertes und entpolitisiertes ist. 3. Heideggers Kritik an der traditionellen Ethik Es ist unmöglich, ein Verständnis des Ethischen in der Philosophie Heideggers zu finden, wenn man es als Moral versteht. Dies gründet nicht nur in seiner ablehnenden Haltung gegenüber der Unterteilung der Philosophie in unterschiedliche Disziplinen, die zugleich eine Kritik an der Verselbstständigung der Ethik zu einer Wertphilosophie bedeutet, sondern auch in seiner stets wirksamen Kritik am Theoretischen. Diese dreifache Kritik soll im Folgenden kurz erörtert werden: 1. Gegen die Teilung der Philosophie: Häufig wird diese Kritik als Deutung von Heideggers Humanismusbrief formuliert. Dennoch sollte man nicht vergessen, dass eine solche Kritik bereits andernorts anwesend ist. Bereits im SS 1920 stellt Heidegger fest, dass die »Philosophie […] keine Disziplinen [kennt]«. 32 Einige Zeit später, nämlich in der Vorlesung vom WS 1929/30, findet man ein bemerkenswertes Zitat: »Bei Platon und Aristoteles wird die Schulbildung unvermeidlich. Wie wirkt sie sich aus? Das lebendige Fragen stirbt ab.« 33 Und er fährt fort: »All das, was je aus den verschiedensten Fragen – äußerlich unverVgl. Jürgen Habermas, Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt a. M. 1999, 19: »Auch andere Weltreligionen, sogar die Philosophie mit ihrem Ideal des Wissens und der vita contemplativa, verdichten die moralische Substanz ihrer Leben zu exemplarischen Lebensformen.« 32 Heidegger, Phänomenologie der Anschauung, GA 59, 172. 33 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, 53. 31 Ethosdenken A 23 Aurenque (48472) / p. 24 / 1.3.11 Einführung bunden, aber um so mehr innerlich verwurzelt – erwachsen war, wird jetzt wurzellos, zusammengetragen nach lehr- und lernbaren Gesichtspunkten in Fächern. Der wurzelhafte Zusammenhang wird ersetzt durch die Ordnung innerhalb von Fächern und Schuldisziplinen.« 34 Darüber lässt sich Verschiedenes sagen. Auf der einen Seite wird klar, dass Heideggers Philosophie sich unmissverständlich als eine Steigerung der Fraglichkeit des Menschen bzw. des Fragens nach seinem Selbst und seiner Welt verstehen soll. Deshalb geht es der Philosophie – so Heidegger – niemals darum, eine Bequemlichkeit oder Sicherung des Lebens zu erreichen. Vielmehr kommt es darauf an, die Unsicherheit und das ständige Bedürfnis nach der Wiederholung der Selbstauslegung radikal in Kauf zu nehmen. Auf der anderen Seite sind es die Disziplinen selbst, die das wahre Denken vernichten. Heidegger ist diesbezüglich besonders energisch: »Es geht überhaupt nicht um eine Verteilung in Disziplinen, vielmehr sind die Disziplinen selbst das Problem.« 35 Die Unterteilung der Philosophie in Disziplinen muss abgelehnt werden, weil sie von Grund auf metaphysisch geprägt sind, und diese Prägung bedeutet für Heidegger, dass von hier aus das wahre Denken niemals erreicht werden kann. »Auch die Namen wie ›Logik‹, ›Ethik‹, ›Physik‹ kommen erst auf, sobald das ursprüngliche Denken zu Ende geht.« 36 Das Denken geht durch Schuldisziplinen zu Ende, weil sie das Denken in einen Betrieb verwandeln, weil sie »sich als tffcnh, als Instrument der Ausbildung und darum als Schulbetrieb und später als Kulturbetrieb eine Geltung verschafft«. 37 In der Heraklit-Vorlesung vom SS 1943 spricht Heidegger sogar von einer »Selbstentfremdung der Philosophie«, die mit der Schulteilung geschieht. 38 2. Gegen die Wertphilosophie: Wenn die Philosophie ihre Wurzel abschneidet, ihren Ursprung verlässt und sich in Schulen und Disziplinen teilt, taucht die Problematik der Werte auf. Werte bringen eine Vergegenständlichung zur Geltung, in der eine gleichförmige Zugänglichkeit dominiert. Wir müssen uns von allen Werten befreien, so Heidegger, denn die Werte lassen das Sein nicht sein. 39 Dennoch ist dies Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, 53. Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz, GA 26, 282. 36 Heidegger, Brief über den Humanismus, GA 9, 316. 37 Heidegger, Brief über den Humanismus, GA 9, 317. 38 Heidegger, Heraklit, GA 55, 228. 39 Vgl. Heidegger, Brief über den Humanismus, GA 9, 349: »Alles Werten ist, auch wo 34 35 24 ALBER THESEN Diana Aurenque Aurenque (48472) / p. 25 / 1.3.11 Heideggers Kritik an der traditionellen Ethik keine Einladung zum Nihilismus: »Das Denken gegen ›die Werte‹ behauptet nicht, daß alles, was man als ›Werte‹ erklärt – die ›Kultur‹, die ›Kunst‹, die ›Wissenschaft‹, die ›Menschenwürde‹, ›Welt‹, und ›Gott‹– wertlos sei. Vielmehr gilt es endlich einzusehen, daß eben durch die Kennzeichnung von etwas als ›Wert‹ das so Gewertete seiner Würde beraubt wird.« 40 Alle Phänomene, auch die höchsten, werden durch ihre Setzung als Wert vergegenständlicht. 41 Aber nicht nur dies, sie werden zu einer Selbstverständlichkeit gemacht, so dass die einmal höchsten und würdigsten Phänomene nun für uns zu Selbstverständlichkeiten geworden sind. Das Wertdenken ist für Heidegger also »eine Erscheinungsform der Seinsvergessenheit«. 42 3. Kritik am Primat des Theoretischen: Heidegger ist seit seinen philosophischen Anfängen überzeugt, dass der Zugang zur Faktizität und damit zu den Grundstrukturen des faktischen Lebens nicht durch ein theoretisches Erkennen möglich ist. Für den jungen Heidegger muss die Philosophie als Phänomenologie deshalb hermeneutisch vollzogen werden, weil nur so das Verborgene der Bedeutsamkeit, das aus der jeweiligen Situation des je eigenen menschlichen Daseins stammt, enthüllt werden kann. Heideggers Auffassung des faktischen Lebens in Bezug auf dessen Bewegung zeigt nicht nur den wesentlichen dynamisch-historischen Charakter der Faktizität, sondern auch die unvermeidbare Verunsicherung, die das faktische Leben in seinem Seinscharakter ist. Wenn man dies vor Augen hat, wird verständlich, dass Heidegger die Moralität nicht positiv bewerten konnte, insofern ihr normativer Charakter per se keine Fraglichkeit erlaubt. Deshalb hat Gadamer völlig recht, wenn er Heideggers Schweigen zur Ethik von es positiv wertet, eine Subjektivierung. Es läßt das Seiende nicht: sein, sondern das Werten läßt das Seiende lediglich als das Objekt seines Tuns – gelten«. Heideggers Absage an die Werte wird auch in Sein und Zeit deutlich: »Auch die Werttheorie, mag sie formal oder material angesetzt sein, hat eine ›Metaphysik der Sitten‹, das heißt Ontologie des Daseins und der Existenz, zur unausgesprochenen ontologischen Voraussetzung. Das Dasein gilt als Seiendes, das zu besorgen ist, welches Besorgen den Sinn der ›Wertverwirklichung‹ bzw. Normerfüllung hat« (Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, 388–389). 40 Heidegger, Brief über den Humanismus, GA 9, 349. 41 Vgl. Heidegger, Brief über den Humanismus, GA 9, 349: »Aber das, was etwas in seinem Sein ist, erschöpft sich nicht in seiner Gegenständlichkeit, vollends dann nicht, wenn die Gegenständlichkeit den Charakter des Wertes hat.« 42 Santiesteban, Die Ethik des »anderen« Anfangs, 65. Ethosdenken A 25 Aurenque (48472) / p. 26 / 1.3.11 Einführung einem bloßen Versäumnis zu unterscheiden versucht. Heidegger hat die Ethik nicht vernachlässigt, sondern sie aus Gründen vermieden. 43 Zweifelsohne zieht sich Heideggers kritische Einstellung gegenüber der traditionellen Ethik durch sein gesamtes Denken. Bereits in der Kriegsnotsemester-Vorlesung behauptet er, dass das »ethische […] Bewußtsein« eine »Objektivierung« sei, 44 weil sie durch den Anspruch objektiver Gesetzlichkeit geleitet wird. Heideggers Absage an jede Verallgemeinerung verbindet sich mit seiner Kritik an der Objektivierung. Durch diese wird auch der Mensch zum bloßen Gegenstand innerhalb eines erkennend-theoretischen Bereiches. Gegen diese anthropologisch-wissenschaftliche Abgrenzung des Menschen bzw. gegen die subjektivistische Tendenz, das menschliche Dasein als Gegenstand von Forschung zu konzipieren, entwickelt Heidegger seine eigene Bestimmung der Philosophie und des Menschen. Gerade gegen jede Art von Fixierung richtet sich die Einführung der »formalen Anzeige« 45 als der Methode der phänomenologisch-hermeneutischen Philosophie des jungen Heidegger. Heideggers Kritik am Theoretischen wird auch in seinem Spätdenken wirksam. Hier wird sie jedoch vor allem im Zusammenhang mit der Sprache behandelt. Die metaphysische Sprache ist diejenige, die nach dem Wesen aller Seienden niemals im Lichte der Wahrheit des Seins fragt. Diese ursprüngliche Dimension, welche die Urquelle aller Wesensbestimmungen ist, bleibt im »ersten Anfang« der Philosophie verborgen. 46 Dieser kennt kein »Ereignis« und somit auch nicht dessen »Verweigerung«, 47 die aber die geschichtliche Quelle aller Wahrheit des Seienden sind. Darüber hinaus gründet die metaphysische Sprache in der Wahrheit des Seienden und nicht in der des Seins, so dass ihre Seinsvergessenheit und Seinsverlassenheit unvermeidbar ist. Die Philosophie als das sich besinnende Denken muss ihre eigene Sprache zurückerlangen, die für Heidegger mit dem Dichten ursprünglich verbunden ist. Nur durch das dichterisch sich besinnende Denken kann es also einen wahren Bezug auf die Phänomene durch das Wort geben. 48 Vgl. Gadamer, Ethos und Ethik, 367. Heidegger, Die Idee der Philosophie, GA 56/57, 105. 45 Heidegger, Einleitung in die Phänomenologie der Religion, GA 60, 63. 46 Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 185. 47 Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 29. Vgl. auch: Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, 267. 48 Siehe das VII. Kapitel dieser Arbeit. 43 44 26 ALBER THESEN Diana Aurenque Aurenque (48472) / p. 27 / 1.3.11 Worauf weist das Ethische in Heideggers Philosophie hin? Für den Moment ist vor allem festzuhalten, dass man sowohl in Heideggers Frühwerk als auch in seiner Spätphilosophie eine Kritik am Theoretischen findet, in der seine Absage an jede Form von Objektivität und kategorialer Bestimmung gründet. Daraus ergibt sich, dass Heidegger jegliche Normativität, jede Begrenzung des menschlichen Handelns durch eine moralische Gesetzlichkeit ebenso wie die Setzung von Werten ablehnt und die Ausbildung einer eigenen Ethik kritisiert. Sein Denken kann – so viel wird hier klar – kein Weg zu einem zu erreichenden Guten sein, sofern das Gute in herkömmlicher Weise im Sinne eines Wertes verstanden wird. 4. Worauf weist das Ethische in Heideggers Philosophie hin? Nun müssen wir uns darüber verständigen, was unter dem »Ethischen« in Heideggers Denken zu verstehen ist. Das damit Gemeinte geht zurück auf das »Ethos«. Ethos heißt – wie Heidegger häufig anmerkt– »das Wohnen des Menschen, sein Aufenthalt inmitten des Seienden im Ganzen«. 49 Es ist jedoch bereits hier entscheidend, im Auge zu behalten, dass Ethos, verstanden als Aufenthalt, sich immer auf eine gewisse Verbindlichkeit bezieht. Dies wird klar, wenn man beachtet, dass aufenthaltlos zu sein gerade auf den Zustand einer Entwurzelung hinweist. Ein Mensch aber, der entwurzelt, ohne Aufenthaltsort ist, ist ein Mensch, der nirgendwo steht und seine eigene Lage nicht zu verstehen vermag. Es gibt aber »kein Verstehen ohne Abstand« 50 und keinen Abstand ohne einen Stand, eine eigene Position. Jeder verständliche Zugang zu einem Sachverhalt setzt voraus, dass sich das Begegnende in ein Gegenüber bringen lässt. Das Gegenüberstehen ist Ausdruck einer Relation, eines bestimmten Verhältnisses, in dem das eine (das Begegnende) und das andere (dem das Begegnende begegnet) auftauchen. Ein solches Verhältnis wäre unmöglich ohne einen Aufenthalt, der das Bestehen eines Abstands ermöglicht. In dieser Überlegung wird deutlich, dass die Rede von einem Ethos auf eine gewisse Verbindlichkeit hinweist, durch die ein verständiger Zugang zu vielfältigen Phänomenen Heidegger, Heraklit, GA 55, 214. Vgl. auch: Heidegger, Brief über den Humanismus, GA 9, 356. 50 Günter Figal, Gegenständlichkeit. Das Hermeneutische und die Philosophie, Tübingen 2006, 30. 49 Ethosdenken A 27 Aurenque (48472) / p. 28 / 1.3.11 Einführung (wie den Dingen, anderen Menschen und letztlich der Gesamtheit der Welt) möglich ist. 51 Im Laufe dieser Untersuchung wird gezeigt, dass zu Heideggers Philosophie nicht nur ein Ethosdenken, ein Nachdenken über den Aufenthalt des Menschen, wesentlich dazugehört, sondern dass dieses Ethosdenken, das nach der wahren Verbindlichkeit für den Menschen fragt, auch als eine Suche nach dem angemessenen Aufenthalt des Menschen zur Geltung kommt. Wenn es darüber hinaus eine exemplarische Weise des menschlichen Aufenthaltes, des Ethos, gibt, wie zu zeigen sein wird, dann hat dieser Gedanke eine richtunggebende Dimension, richtunggebend, weil das exemplarische Ethos etwas ist, das es zu suchen gilt. Es ist nicht so, dass wir von Natur aus das angemessene Ethos schon hätten. Ethos ist eigentlich ein Werden, das geschichtlich, existierend geschieht. Das »Wohnen« »müssen« wir, wie Heidegger häufig sagt, »erst lernen«. 52 Er betont immer wieder, dass wir uns immer schon in der Welt befinden; wir haben immer schon einen bestimmten Aufenthalt. Dennoch geht es darum, zu dem uns vertrautesten Ethos der Selbstverständlichkeit und Blindheit einen Abstand zu gewinnen, das aus den Selbstverständlichkeiten der alltäglichen Routine und dem Vergessen des Seins erwächst, damit wir uns die Welt und uns selbst eigens aneignen können. Ohne Abstand verlieren die Phänomene – Dinge, Menschen und das eigene Selbst – ihren Eigenwert. Heidegger ruft uns nicht erst in seinem Spätdenken zu einem bestimmten Aufenthalt auf. Sein Ethosdenken erscheint nicht erst als Ausdruck der Gegenbewegung gegen die herrschende Abstandslosigkeit im Zeitalter des »Ge- Wenn Zygmunt Bauman die heutigen für ihn vorherrschenden Lebensformen des Vagabunden und des Touristen moralisch kritisiert, gründet seine Kritik gerade darin, dass sich beide – Vagabund und Tourist – jeweils auf ihre eigene Weise nicht an etwas binden können: »Was die Lebensformen von Vagabund und Tourist nicht enthalten müssen und wovon sie meistens sogar entschuldigt sind, ist die lästige, behindernde, spaßverderbende, schlafraubende moralische Verantwortung« (Zygmunt Bauman, Postmoderne Ethik, Hamburg 1995, 360–361). Den Touristen aber schätzt Zygmunt Bauman am wenigsten, da dieser – im Gegenteil zum Vagabunden – seine entwurzelte Situation selbst wählt. Das heißt, er entscheidet sich dafür, so viel wie möglich von der Welt zu sehen, bloß um exotische Erfahrungen zu sammeln, sich aber nicht um die Welt zu kümmern. In der Kompromisslosigkeit des Touristen lässt sich »eine schlechte Nachricht für die Moral« erkennen (Bauman, Postmoderne Ethik, 361). 52 Heidegger, Bauen Wohnen Denken, GA 7, 163. 51 28 ALBER THESEN Diana Aurenque Aurenque (48472) / p. 29 / 1.3.11 Worauf weist das Ethische in Heideggers Philosophie hin? stells«, 53 der technischen Unmittelbarkeit und beständigen Verfügbarkeit. Vielmehr zeigt sich die Anwesenheit eines Ethosdenkens bereits in seiner frühen Phase. Schon den jungen Heidegger leitet die Frage nach der Verwurzelung des Menschen. Der Mensch soll sein eigentliches Ethos wiederentdecken. In dieser Entdeckung des Eigenen, das nur aus einem wahren Wohnen kommen kann, realisiert sich das genuine, auf das Sein bezogene Ethos des Menschen. Gerade diese Einheit und Kontinuität des heideggerschen Denkens in Bezug auf das Ethische soll im Laufe der Untersuchung nachgewiesen werden, ohne die wesentlichen Wandlungen und Akzentveränderungen seines Denkwegs zu vernachlässigen. Einleitend lässt sich auch sagen, dass das exemplarische Ethos in engem Zusammenhang mit Heideggers Auffassung von Wahrheit steht. Der genuine Aufenthalt des Menschen geschieht nur in der Nähe von Wahrheit. Und da die Wahrheit für Heidegger nicht nur auf das Unverborgene, sondern zugleich auf das Verborgene hinweist, realisiert sich das genuine Ethos nur dann, wenn es in der inneren Spannung der Wahrheit selbst, auf dem Boden ihres Verständnisses als Kampf gebildet wird. Das exemplarische Ethos ist streng genommen kein Ethos, das in der Wahrheit feststeht, so als ob Wahrheit bloß Beständigkeit wäre. Ganz im Gegenteil: Da Wahrheit für Heidegger ein Kampf, das Strittige schlechthin ist, wird das exemplarische Ethos durch das »polemische« Wesen der Wahrheit selbst legitimiert. Diese Verknüpfung von Ethos und Wahrheit durchzieht Heideggers gesamtes Denken. Doch es gibt eine leichte, aber bedeutungsvolle Akzentverschiebung im Verständnis von Wahrheit in Heideggers Denken, die erhebliche Konsequenzen für das Denken des Ethos hat. Heideggers Nachdenken über das Ethos kommt im Laufe seines Denkweges in vielfältiger Weise zur Sprache. Es ist dabei nicht so, dass sein Ethosdenken allein durch seine expliziten Äußerungen über das Ethos (zum Beispiel als Aufenthalt, als Ort des Wohnens oder auch als Haltung) zu verstehen ist. Vielmehr liegt dieses Denken Heideggers Philosophie so tief zugrunde, dass es meistens unbemerkt bleibt. Diese Arbeit ist daher auf der Spur dieses Ethischen. Ethische Spuren lassen sich überall erkennen: Beispielsweise findet man ein Nachdenken über das Ethos schon in Heideggers Aufforderung zur Verwurzelung im Ur53 Heidegger, Die Frage nach der Technik, GA 7, 20. Ethosdenken A 29 Aurenque (48472) / p. 30 / 1.3.11 Einführung sprung. Während diese Verwurzelung für den jungen Heidegger durch das rechte Verweilen in der faktischen Situation (Jeweiligkeit) oder auch durch das Sichaufhalten im Augenblick geschieht, vollzieht sie sich für den späteren Heidegger in anderer Weise, etwa durch die Rückkehr in die Heimat oder auch durch die Anerkennung des Wesens der Polis. Heideggers Ethosdenken drückt sich aber auch (implizit und explizit) in der Unterscheidung zwischen uneigentlichem und eigentlichem In-der-Welt-sein, zwischen Halt und Haltung, technischem und dichterischem Wohnen sowie zwischen Gestell und Geviert aus. Der Spur von Heideggers Ethosdenken zu folgen, erfordert deshalb zunächst, sich mit seinem gesamten Denken intensiv zu beschäftigen und dessen Hauptzüge deutlich zu machen. Denn nur mit einem klaren Verständnis seiner Philosophie lassen sich die Spuren des Ethos erkennen, und zwar nicht isoliert, sondern als konstitutive Elemente des ethischen Wesens von Heideggers Denken. 5. Gliederung der Untersuchung Die vorhandene Arbeit gliedert sich in drei Hauptteile, die jeweils aus Unterkapiteln bestehen, die nicht nur eine chronologische, sondern, wichtiger noch, auch eine systematische Einheit bilden. Der erste Teil mit dem Titel Der Aufenthalt im Handeln richtet das Augenmerk auf die Entwicklung der Philosophie des jungen Heidegger von 1919 bis Sein und Zeit. Dabei wird deutlich, dass Heidegger bereits in dieser Phase seines Denkens ein Ethosdenken auszubilden beginnt, in dem das philosophische Ethos als der exemplarische Aufenthalt des Menschen zum Vorschein kommt. Da dieses Ethosdenken, so meine Interpretation, mit seinem Verständnis der Wahrheit verknüpft ist, gehört zu dieser Ausarbeitung des Ethosgedankens ein eigener, vom späteren Ethosdenken verschiedener Ansatz, der in diesem Teil herausgearbeitet werden soll. Das erste Kapitel beschäftigt sich mit dem Verhältnis von Faktizität und Philosophie, wie es der junge Heidegger zwischen 1919 und 1923 entwickelt. Durch die Herausstellung der zentralen Thesen der phänomenologischen Hermeneutik der Faktizität kann gezeigt werden, dass sie einerseits tatsächlich ein ethisches Moment enthalten und andererseits die Hermeneutik der Faktizität in ihren zentralen Aufgaben nicht ohne das in ihr enthaltene ethische Moment angemessen konzipiert werden kann. Das zweite Ka30 ALBER THESEN Diana Aurenque Aurenque (48472) / p. 31 / 1.3.11 Gliederung der Untersuchung pitel arbeitet die Konturen des Ethos im Denken des jungen Heidegger deutlicher heraus, und zwar im Blick auf seine Aneignung der praktischen Philosophie des Aristoteles. Für das Ethosdenken Heideggers spielen Begriffe wie »Phronesis« (yrnhsi@) und »Kairos« (kair@) eine entscheidende Rolle, die es zu verdeutlichen gilt. In der das dritte Kapitel leitenden Frage geht es um die Möglichkeit des Ethischen in Sein und Zeit. Es soll deutlich werden, dass das Ethische innerhalb des Projektes einer Fundamentalontologie als ein Überrest von Heideggers Hermeneutik der Faktizität zu interpretieren ist. Der zweite Teil dieser Arbeit mit dem Titel Das Ethos und die Wahrheit des Seins versucht das Ethosdenken Heideggers nach Sein und Zeit zu klären. Dass es sich hierbei nicht um einen Bruch mit seinem früheren Ethosdenken handelt, sondern um eine leichte Akzentschiebung, die in einem Bezug zu Heideggers radikalisiertem Wahrheitsverständnis steht, wird im vierten und fünften Kapitel herausgearbeitet. Das vierte Kapitel hat die Entwicklung der heideggerschen Philosophie nach der Veröffentlichung von Sein und Zeit bis um 1932 zum Hauptthema. Obwohl das während dieser Zeit angestrebte Projekt einer »Metaphysik des Daseins« von Heidegger bald fallen gelassen wird, bleiben doch die dabei gestellten Fragen nach der »Haltlosigkeit« oder »Nichtigkeit« des Daseins und die Einführung der Begriffe »Weltentwurf« und »Weltbildung« von entscheidender Bedeutung für sein späteres Ethosdenken. Im fünften Kapitel wird die entscheidende Frage nach der zuvor nur angedeuteten, aber nicht ausführlich ausgearbeiteten heideggerschen Auffassung der Wahrheit vor und nach Sein und Zeit erörtert. Dabei entdecken wir, dass, gerade weil beim jungen Heidegger die Wahrheit im praktischen Umgehen mit etwas zur Geltung kommt, das exemplarische Ethos als Verweilen bei dem, was zu tun ist, geschieht. Nur der Mensch, der bei dem verweilt, was er tut, hat einen wahrhaften Zugang zu den Phänomenen. Später aber wird das Umgehen mit etwas nicht mehr als paradigmatisch für die Wahrheitserfahrung verstanden. Die ursprüngliche Wahrheit ist die »Wahrheit des Seins«, die durch den künstlerisch-dichterischen Seinsentwurf zum Ausdruck kommt. Dieses Kapitel gibt insofern einen Ausblick auf Heideggers spätere Auffassung von Ethos. Im sechsten Kapitel wird Heideggers Ereignisdenken betrachtet, um dessen ethische Dimension zu verdeutlichen. Heidegger setzt auch hier die Philosophie in Bezug zu einer Rettung und Erweckung des Menschen. Die Möglichkeit einer Überwindung der Metaphysik und ihres techEthosdenken A 31 Aurenque (48472) / p. 32 / 1.3.11 Einführung nischen Ethos erfordert, dass der Mensch seinen »Aufenthalt im Sein« übernimmt. Die explizite Ausarbeitung dieses Ethos wird in der Wendung vom »dichterischen Wohnen« ausgedrückt, welches das Hauptthema des siebten Kapitels ist. Aus Heideggers Verständnis des Wesens der Kunst als Dichtung ergibt sich der dichterische Seinsentwurf oder das dichterische Wohnen als die Weise, wie der Mensch im Geviert wohnen soll. Dadurch kann sich die Überwindung der heutigen Zeit der »Heimatlosigkeit« und »Bodenlosigkeit« vorbereiten. Nur im dichterischen und besinnlichen Denken kann es die Möglichkeit einer Haltung geben, in der dem entwurzelten Menschen eine neue »Bodenständigkeit« angeboten werden kann. Der dritte und abschließende Teil mit dem Titel Ist das philosophische Ethos ein entpolitisiertes, einsames Ethos? Heideggers Philosophie, die Anderen und die Gemeinschaft soll sich dann zuletzt mit dem bisher noch nicht analysierten Verhältnis zwischen dem eigentlichen Ethos und dem anderen Menschen beschäftigen. Im achten Kapitel wird sowohl Heideggers Verständnis des Daseins als Mitsein als auch Lévinas’ Kritik daran betrachtet. Die Frage nach der Möglichkeit einer ethischen Intersubjektivität in der Struktur des Mitseins ist der Dreh- und Angelpunkt dieses Kapitels. Im neunten Kapitel wird gezeigt, dass das heideggersche Ethos ein entpolitisiertes Ethos ist. Dies zeigt sich in Heideggers Denken gegen Ende der zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre besonders deutlich: Denn selbst wenn sein Denken aus politischen Gründen »politisch« wird, ist diese »Politik« völlig unpolitisch. Schließlich wird im zehnten und letzten Kapitel nicht nur Heideggers Misstrauen gegenüber der Öffentlichkeit dargestellt, sondern auch der Frage nach der Möglichkeit einer eigentlichen Öffentlichkeit nachgegangen. Dabei wird entdeckt, dass es dem Ethosdenken Heideggers nicht nur um das philosophische Ethos des Einzelnen geht, sondern auch um dasjenige der Gemeinschaft. 32 ALBER THESEN Diana Aurenque