Leitfaden Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Orientiert an den Weiterbildungsrichtlinien von DGPM, AÄGP und DKPM von Paul L. Janssen, Peter Joraschky, Wolfgang Tress 1. Auflage Leitfaden Psychosomatische Medizin und Psychotherapie – Janssen / Joraschky / Tress schnell und portofrei erhältlich bei beck-shop.de DIE FACHBUCHHANDLUNG Deutscher Ärzte-Verlag Köln 2005 Verlag C.H. Beck im Internet: www.beck.de ISBN 978 3 7691 0452 3 Inhaltsverzeichnis: Leitfaden Psychosomatische Medizin und Psychotherapie – Janssen / Joraschky / Tress Leitfaden Psychosomatik.qxd 22.09.05 13:45 Seite 176 Link zum Titel: Janssen/Joraschky/ Tress: Leitfaden Psychosomatische Medizin Deutscher Ärzte-Verlag 2005 176 Somatoforme Störungen Somatoforme Schmerzstörungen C. E. Scheidt Definition Als somatoforme Schmerzstörung werden Schmerzzustände bezeichnet, die längere Zeit bestehen und durch einen physiologischen Prozess oder eine körperliche Erkrankung nicht oder nicht hinreichend erklärt werden können. Nach dieser Definition sind Schmerzsyndrome, die auf der Grundlage von Muskelverspannungen entstanden sind, den somatoformen Störungen nicht zuzurechnen. In der Praxis sind rein zentralisierte Schmerzsyndrome allerdings eher selten. Viel häufiger sind Mischbilder, bei denen periphere Prozesse (z.B. muskuläre Spannungszustände) und Schmerzzentralisierung in eine Ergänzungsreihe treten. Klinisches Bild Im Mittelpunkt des klinischen Bildes steht bei der somatoformen Schmerzstörung ein andauernder schwerer und quälender Schmerz, der in Verbindung mit emotionalen Konflikten oder psychosozialen Belastungen auftritt. Die Patienten sind selbst von einer organischen Verursachung ihrer Beschwerden überzeugt und suchen deswegen in der Regel zunächst primärmedizinisch tätige Ärzte auf. Der Schmerz ist in seiner Lokalisation häufig konstant und wird durch Bewegung oder Haltung nur wenig moduliert. Behandlungsversuche mit Analgetika sind meist ergebnislos. Von der somatoformen Schmerzstörung zu unterscheiden ist die Somatisierungsstörung. Die Schmerzen sind hierbei Teil einer fluktuierenden, im zeitlichen Verlauf und in der Lokalisation wechselnden Beschwerdesymptomatik, die neben dem Schmerz auch Sensibilitätsstörungen, sexuelle Funktionsstörungen etc. einschließen kann. Charakteristischerweise betreffen die Beschwerden bei der Somatisierungsstörung unterschiedliche Körperregionen und Organsysteme. Schmerzen stellen in diesem gemischten Beschwerdebild nur ein Teilsymptom dar. Auch die funktionellen Syndrome im Bereich der autonom innervierten Organe, die in der ICD-10 als somatoforme autonome Funktionsstörungen bezeichnet werden, können mit Schmerzen einhergehen. Dies gilt insbesondere für die funktionellen Störungen des Gastrointestinaltraktes (z.B. Colon irritabile). In Abgrenzung zur somatoformen Schmerzstörung steht im Mittelpunkt die Dysfunktion der vegetativ innervierten Organe, wobei der Schmerz eine Folge der autonomen Störung ist. Epidemiologie Die Lebenszeitprävalenz somatoformer Schmerzstörungen liegt in Deutschland bei ca. 12,3%. In der Inanspruchnahmepopulation medizinischer Einrichtungen ist der Anteil entsprechend höher: 20–40% in Allgemeinarztpraxen sowie Fachabteilungen von Krankenhäusern. Diagnose Die Diagnose einer somatoformen Schmerzstörung erfordert eine gründliche organische Diagnostik zum Ausschluss körperlicher Krankheitsursachen. Darüber hinaus sind im Rah- Leitfaden Psychosomatik.qxd 22.09.05 13:45 Seite 177 177 Somatoforme Schmerzstörungen men der psychosomatischen Untersuchung folgende Schritte zu beachten: D Anamnese der Schmerzcharakteristik und der Schmerzmodulation, D Anamnese der bisherigen Behandlungsversuche, D Anamnese schmerzmodulierender Faktoren, D biographische Anamnese zur Eruierung kindlicher Belastungsfaktoren (Misshandlung, Missbrauch), D Sozialanamnese zur Abschätzung der Krankheitsfolgen sowie sozialer Chronifizierungsprozesse, D Medikamentenanamnese. Wie bei den anderen somatoformen Störungen ist auch bei somatoformen Schmerzen der organischen Beschwerdeattribution Rechnung zu tragen. Zu rasche Deutungen der Zusammenhänge zwischen lebensgeschichtlicher Entwicklung und Symptomatik können den Aufbau und die Entwicklung einer tragfähigen Arzt-PatientBeziehung stören. D D D Beeinträchtigung der Affektwahrnehmung, (Schmerz als Äquivalent für Angst, Scham oder Depression). Erhöhte physiologische Reaktionsbereitschaft: Umsetzung von Stress in körperliche Spannungszustände. Somatosensorische Amplifizierung: Fehlbewertung der Bedeutung psychophysiologischer Reaktionen. Auslösende Faktoren D Krankheit, Unfall oder schwere psychosoziale Konflikte. Klassifikation nach ICD-10 Die somatoforme Schmerzstörung wird in der ICD-10 als eigenständiges Krankheitsbild unter der Diagnoseziffer F45.4 kodiert. Die Somatisierungsstörung (ICD10: F45.0 und F45.1) ist hiervon diagnostisch abzugrenzen, ebenso die somatoforme autonome Funktionsstörung. Ätiopathogenese Komorbidität Die ätiopathogenetischen Faktoren lassen sich zu einem zweiphasigen Entstehungsmuster ordnen: D In der ersten Phase kommt es durch kindliche Belastungsfaktoren zu einer erhöhten Vulnerabilität. D In der zweiten Phase entsteht ausgelöst durch Krankheit, Trauma oder schwere psychosoziale Belastung die Schmerzstörung. Folgende psychische Störungen stellen häufig eine Komorbidität dar und sollten bei der psychosomatischen Diagnostik somatoformer Schmerzstörungen besonders berücksichtigt werden: D Depression, D Angst, D Persönlichkeitsstörungen, D artifizielle Störungen (selbstschädigendes Verhalten). Vulnerabilitätsfaktoren D D D D Biographische Belastungsfaktoren wie Deprivation, Misshandlung, Missbrauch. Erfahrung von chronischer Krankheit in der Primärfamilie. Störungen der Bindungsentwicklung vor dem Hintergrund von früher Deprivation Unreife Konfliktbewältigungsstrategien. Behandlung Wegen der organischen Ursachenattribution wenden sich Patienten mit somatoformen Schmerzen in der Regel zuerst an primärmedizinisch tätige Ärzte. Die Frage, ob es überhaupt zu einer fachpsychotherapeutischen Behandlung kommt, hängt deswegen maßgeblich davon ab, ob die Weichen in der Primärversorgung richtig gestellt werden. Leitfaden Psychosomatik.qxd 22.09.05 13:45 178 Seite 178 Somatoforme Störungen Aufklärung und Information über die Diagnose müssen der organischen Attribution des Patienten Rechnung tragen. Es ist besonders darauf zu achten, die Schmerzsymptomatik im Kontext eines bio-psycho-sozialen Entstehungsmodells zu verstehen. Die Aufklärung über die Erkrankung stellt eine der schwierigsten Klippen im Behandlungsverlauf dar. Ggf. müssen wiederholte Gesprächstermine anberaumt werden, um eine ArztPatient-Beziehung zu etablieren, die tragfähig genug ist, um gemeinsam mit dem Patienten ein psychosoziales Krankheitsverständnis zu erarbeiten. D Primärärztliche Versorgung Ziele der Psychotherapie sind: D Linderung der Schmerzsymptomatik, D Besserung der Komorbidität (z.B. mit depressiven Symptomen), D Erarbeitung eines psychosozialen Konfliktverständnisses, D Verbesserung der Schmerzbewältigung, D Verbesserung der Affektwahrnehmung und der Affektdifferenzierung. Folgende Schritte der Behandlung können in der primärärztlichen Versorgung durchgeführt werden: D Aufklärung und Information über die Erkrankung, D Erarbeitung eines psychosozialen Krankheitsverständnisses, D nichtbeschwerdekontingente Anberaumung von Folgeterminen, D antidepressive medikamentöse Behandlung (SSRI, Trizyklika), insbesondere wenn ausgeprägte Komorbidität mit depressiven Beschwerden besteht, D andere nicht invasive Verfahren der Schmerzbehandlung wie Krankengymnastik und Akupunktur je nach Schmerzsyndrom, D Eruierung auslösender psychosozialer Konflikte sowie belastender Lebensereignisse, ggf. unter Verwendung eines Schmerztagebuches. Fachpsychotherapie Eine Überweisung in Fachpsychotherapie ist indiziert, wenn D die Symptomatik über mehr als 3 Monate therapieresistent ist, D ausgeprägte psychische Komorbidität besteht, D D D ausgeprägte psychosoziale Konfliktsituationen vorhanden sind, Hinweise auf Störungen der Persönlichkeitsentwicklung aufgrund kindlicher Traumatisierung vorliegen, erhebliche psychosoziale Chronifizierungsrisiken bestehen (Verlust des Arbeitsplatzes und dauerhafte Berentung), ein multimodales Behandlungskonzept indiziert ist, das üblicherweise im Rahmen einer stationären psychotherapeutischen Behandlung angeboten werden kann. Es können unterschiedliche Therapieverfahren zum Einsatz kommen: kognitiv-behaviorale Psychotherapie, tiefenpsychologische und analytische Psychotherapie, beide jeweils einzeln oder in der Gruppe. Die differenzielle Indikationsstellung für diese unterschiedlichen Psychotherapieverfahren sollte durch einen Fachpsychotherapeuten geschehen. Literatur Egle UT (2003) Somatoforme Schmerzstörung. In: Egle UT et al. (Hrsg.), Handbuch chronischer Schmerz. Grundlagen, Pathogenese, Klinik und Therapie aus biopsychosozialer Sicht, 555–562. Schattauer, Stuttgart, New York Hartkamp N (2002) Anhaltende somatoforme Schmerzstörung (ICD 10 F 45.4). Quellentext somatoforme Störungen 6. In: Henningsen P et al., Somatoforme Störungen. Leitlinien und Quellentexte, 159–186. Schattauer, Stuttgart, New York Leitfaden Psychosomatik.qxd 22.09.05 13:45 Seite 179 179 Hypochondrische Störungen P. Henningsen Definition Eine hypochondrische Störung ist dann gegeben, wenn ein Patient weniger unter somatoformen Körperbeschwerden selbst leidet als unter der sich darauf beziehenden ängstlich getönten Ursachenüberzeugung, z.B. der Vorstellung, an einem Hirntumor oder an AIDS erkrankt zu sein. Die Ursachenbefürchtung persistiert trotz nachgesuchter gegenteiliger Versicherung der Ärzte und kann mit Vermeidungsverhalten und vermehrtem Kontrollieren der vermeintlichen Krankheitszeichen einhergehen. Der Unterschied zu anderen somatoformen/funktionellen Störungen liegt also darin, was den wesentlichen Leidensdruck verursacht: das Erleben der Beschwerden oder die sich daran knüpfenden Kognitionen und Angstaffekte. Epidemiologie Hypochondrische Störungen finden sich bei ca. 5% der Patienten der Primärversorgung. Klassifikation Hypochondrische Störungen besetzen wegen des gleichzeitigen Vorliegens von funktionellen Körper- und Angstsymptomen nosologisch eine Zwischenstellung zwischen den somatoformen und den Angststörungen. Offiziell werden sie in der ICD-10 allerdings den somatoformen Störungen zugeordnet. Eine hypochondrische Störung nach ICD-10 F45.2 wird diagnostiziert beim Vorliegen von D D einer länger als 6 Monate anhaltenden Überzeugung vom Vorhandensein wenigstens einer ernsthaften körperlichen Krankheit als Ursache für vorhandene Symptome, auch wenn wiederholte Untersuchungen keine ausreichende körperliche Erklärung erbracht haben; einer ständigen Weigerung, den Rat und die Versicherung mehrerer Ärzte zu akzeptieren, dass den Symptomen keine körperliche Krankheit zugrunde liegt. Spezielle Diagnose und Differenzialdiagnose Eine hypochondrische Störung muss abgegrenzt werden von: D allgemeinen, wechselnden hypochondrischen Befürchtungen: Diese kommen auch unabhängig von Körperbeschwerden vor und sind in ihrer Ausprägung stark persönlichkeitsabhängig. Es wurde daher auch schon dafür plädiert, die Diagnose einer hypochondrischen Persönlichkeitsstörung einzuführen. D vorübergehenden hypochondrischen Beschwerden: Vorübergehende hypochondrische Beschwerden sind relativ häufig und haben, wenn sie sich zurückbilden, eine gute Prognose. Daher muss die Diagnose hypochondrische Störung für die Fälle mit mehr als 6-monatiger Dauer der Beschwerden reserviert bleiben. D hypochondrischem Wahn: Das Abgrenzungskriterium zum hypochondrischen Wahn ist die Leitfaden Psychosomatik.qxd 22.09.05 13:45 180 Seite 180 Somatoforme Störungen D D Fähigkeit des Patienten, sich zumindest kurzfristig, z.B. nach entsprechender Versicherung eines Arztes, von seiner Ursachenüberzeugung zu distanzieren. Patienten mit einem hypochondrischen Wahn halten an ihrer Ursachenüberzeugung fest, selbst eine kurzfristige Distanzierung erfolgt nicht. Im Einzelfall können sich fließende Übergänge von hypochondrischer Störung zu hypochondrischem Wahn ergeben. Zwangsstörung: Die Befürchtungen und auch die Zwangshandlungen im Rahmen einer Zwangsstörung beziehen sich auf künftig eintretende Krankheiten und andere schädigende Ereignisse, im Rahmen einer hypochondrischen Störung auf die Überzeugung, bereits erkrankt zu sein. Krankheitsphobie: Eine Krankheitsphobie als Sonderform einer spezifischen Phobie ist dann zu diagnostizieren, wenn die phobische Vermeidung von allen Reizen, die an Krankheiten oder eine bestimmte Krankheit erinnern, im Vordergrund des Beschwerdebildes steht. D D Die Wirksamkeit kognitiv-behavioraler Psychotherapien ist zur Behandlung hypochondrischer Studien empirisch belegt, auch für die Wirksamkeit interpersonell orientierter Psychotherapieformen gibt es entsprechende Hinweise. Die mit dem Patienten im Voraus vereinbarte Verweigerung immer neuer Versicherungen von Ärzten und Angehörigen, dass keine ernsthafte Krankheit vorliege, ist ein wirksames Therapieprinzip, das einer Exposition bei Angststörungen entspricht. Es sollte aber nur geplant im Rahmen einer entsprechenden Psychotherapie unter Einbeziehung aller wichtigen Bezugspersonen durchgeführt werden, nicht ad hoc, z.B. in Folge einer negativen affektiven Reaktion auf das wiederholte Nachsuchen des Patienten um entsprechende Versicherungen. Als ergänzende Maßnahme kann – auch dann, wenn keine depressive Störung vorliegt – die Gabe eines Antidepressivums, vorzugsweise eines Serotonin-Wiederaufnahmehemmers, sinnvoll sein. Literatur Hypochondrische Störungen treten häufig, aber nicht, wie früher angenommen, immer im Verlauf depressiver Störungen auf. Spezielle Therapie hypochondrischer Störungen D Es gelten die allgemeinen Hinweise zur Therapie somatoformer Störungen (s. S. 156). Henningsen P (2002) Hypochondrische Störung (ICD 10 F 45.2). Quellentext zur Leitlinie somatoforme Störungen 4. In: Henningsen P et al. Somatoforme Störungen. Leitlinien und Quellentexte, 115–134. Schattauer, Stuttgart, New York