Aristophanes, Die Wolken Aristophanes' Komödie "Die Wolken" ist neben Xenophons "Memorabilia" die wichtigste außerplatonische Quelle über Sokrates. "Die Wolken" sind als Quelle besonders schwerwiegend, weil sie noch zu Lebzeiten von Sokrates entstanden. Allerdings ist diese Quelle aufgrund ihres Genres nur bedingt ernstzunehmen. Die Uraufführung fand 423 v.Chr. in Athen statt 1. Das Stück errang den dritten von drei Preisen, fiel also durch. In der überlieferten überarbeiteten Version bezeichnet es Aristophanes trotzig als die "weiseste seiner Komödien" (5222 ). Die Handlung: Strepsiades, ein vom Land her nach Athen eingeheirateter Großbauer (45f), ist in Schwierigkeiten: Der Termin, an dem er seine Schulden zurückzahlen muß, rückt bedrohlich näher. Aufnehmen mußte er die Kredite, weil sein Sohn das Geld zum Fenster hinauswirft, z.B. für einen teuren Wagen. Strepsiades will nun seinen Sohn im "Denkhaus" (frontist¾rion) des Sokrates ausbilden lassen. Sein Plan ist ergebnisorientiert: Er hat gehört, man könne dort zwei Arten von "Logik" (lÒgoi) lernen - eine bessere, gerechte, und eine schlechtere, ungerechte. Der Sohn soll nun die ungerechte Logik lernen, um damit die einkalkulierten Prozesse gegen die Gläubiger gewinnen zu können (110-117). Als der Sohn sich weigert, geht Strepsiades selbst zu Sokrates. Der Empfang ist denkwürdig: Ein Schüler des Sokrates beklagt sich sofort, Strepsiades' lautes Klopfen habe eine "Fehlgeburt" seiner Gedanken ausgelöst.3 Sokrates wird als abseitiger Naturwissenschaftler vorgestellt: So mißt er die Länge von Flohsprüngen in heißem Wachs (148ff). Seine Schüler in der schäbigen Klause bringt er trickreich ums Abendessen (173ff) und zockt sie auch sonst gnadenlos ab (vgl. 494). Das Haus zu verlassen, ist ihnen verboten (198f). Sie stieren, mit der Erforschung tiefster Geheimnisse beschäftigt, gedankenversunken auf den Boden; Strepsiades erinnern sie an Trüffelschweine (187ff). Sokrates begrüßt Strepsiades von einer Art Hängematte aus - er behält gedanklich gerne den Überblick (225, 228). In einer bizarren Einweihungszeremonie für Strepsiades beschwört er die Wolken, die nun als Chor auftreten. Sokrates stellt sie als die einzigen Götter vor (365). Zeus, sagt er, gibt es nicht (366). Er glaube an keinen Gott außer "ans Chaos, die Wolken und die [beredte] Zunge, diese drei" (tÕ C£oj toutˆ kaˆ t¦j Nefšlaj kaˆ t¾n glîttan, tr…a taut…) (424). Sokrates argumentiert empirisch gegen den Einwand, Zeus sende doch wohl den Regen; dann, so Sokrates, müsse Zeus es aus heiterem Himmel regnen lassen können; erfahrungsgemäß regne es aber nie ohne Wolken (367f). Auch Donner und Blitz erklärt er ohne Rekurs auf Götter rein körperlich. Die Passage ist nur eingeschränkt zitierfähig (373410). Die Wolken bestärken Strepsiades in der Annahme, er könne bei Sokrates lernen, wie man die Gläubiger loswird. Strepsiades stellt sich leider als unglaublich dumm heraus. Er ist völlig unfähig zur Abstraktion: Geometrie hält er nur zur Durchsetzung eigener Landforderungen für sinnvoll und er erschrickt sich, wie nahe Sparta auf der Landkarte an Athen liegt (200ff). Versmaße hält er für Hohlmaße (627ff). Er will endlich "ungerechte Logik" lernen, aber Sokrates nervt ihn mit grammatischen Grundsatzunterscheidungen: In einer (unfreiwillige Aktualität 1 Alle sachlichen Angaben nach der Einleitung der Herausgeber in der Loeb-Ausgabe von Aristophanes' Komödien, (übersetzt von Benjamin Rickley Rogers) Bd. 1, London 1924, S. 262-246. 2 Die Ziffern geben in diesem Fall Verse nach der Verszählung der Loeb-Ausgabe an. 3 Somit geht offenbar die Hebammen-Analogie in Theätet 149ff. u.ö. tatsächlich auf Sokrates zurück. besitzenden) Unterweisung bringt er ihm völlig absurde feminine Formen griechischer Wörter bei, um der Wirklichkeit sprachlich besser gerecht zu werden (657ff). Als Strepsiades' Vorschläge, wie er seine Schulden loswerden könne, während der (wegen des Ungeziefers in Sokrates' Haus schlaflosen) Nacht immer absurder werden, wirft Sokrates ihn hinaus, erklärt sich aber bereit, dessen Sohn zu unterrichten. Der staunt nicht schlecht, daß sein Vater über Nacht Atheist geworden ist, seltsame feminine Substantivformen gebraucht und von Wolken und Flöhen faselt. Er überlegt zunächst, ihn für verrückt erklären zu lassen (844), gibt dann aber nach und geht zu Sokrates. In einem Zwischenspiel (889-1104) treten nun die zwei "Logiken" (dikaioj lÒgoj und adikoj lÒgoj) selbst auf. Die "bessere Logik" (kreitton) predigt die guten alten Werte, die man unter dem Titel "Selbstdisziplin" zusammenfassen mag. Die "niedere Logik" (¹tton) macht die bessere Logik in einer Art argumentativen Kasperletheater nieder. Im wesentlichen argumentiert sie dabei mit dem schlechten Beispiel von undisziplinierten Göttern und Helden.4 Strepsiades' Sohn hat inzwischen die niedere Logik gelernt. Nun ist Strepsiades gegen die Gläubiger gerüstet. Sein Sohn beweist ihnen rein sprachlich, daß es den Zahltag gar nicht geben könne.5 Da sie außerdem, wie ihre Flüche zeigten, an Götter glaubten, sie noch nicht einmal korrektes Griechisch könnten und offensichtlich keine Ahung von Meteorologie hätten, sei ihre Behauptung, sie hätten Geld verliehen, ohnehin nicht ernstzunehmen (11691302). Wütend ziehen die Gläubiger ab. Doch bald streiten sich Strepsiades und sein Sohn. Der Sohn verprügelt den Vater und rechtfertigt sich dabei mit niederer Logik: Wie die Eltern zur Erziehung die unvernünftigen Kinder schlagen dürften, so dürften auch die erwachsenen Söhne die wieder zu Kindern gewordenen senilen Väter schlagen (1415ff); daran sei nichts unnatürlich: auch Streithähne verschiedener Generationen kämpften gegeneinander (1425f) usw.; Zeus, an den Strepsiades inzwischen wieder glaubt, gebe es nicht (1465ff). Strepsiades rächt sich an Sokrates, indem er ihm und seinen Schülern das Denkhaus über dem Kopf anzündet: "für viele Dinge, doch am allermeisten für die Art, wie sie die Götter lästerten" (pollîn oÛneka, m£lista d' e„dëj toÝj qeoÝj æj ºd…koun) (1508f). Die Wolken, die alles eingefädelt haben, um Strepsiades einen Denkzettel zu verpassen (vgl. 1458), tanzen amüsiert und zufrieden mit ihrer Rolle von der Bühne. Einschätzung: Schon ein Vierteljahrundert vor Sokrates' Hinrichtung (399v.Chr.) zeigen die "Wolken" deutlich die beiden Vorwürfe, die im Prozeß gegen ihn zu Anklagepunkten wurden: Atheismus und schlechter Einf luß auf die jungen Leute in Athen.6 Dazu paßt gut, daß Platon seinen Sokrates in der Apologie (18b) die Anklage von 399v.Chr. als Neuauflage alter Standardvorwürfe bezeichnen läßt. Sokrates erscheint in den "Wolken" als besonders gerissener Sophist, der gegen Geld lehrt. Dieser Darstellung wird in der Apologie (z.B. 33b) ausführlich widersprochen. Sokrates verbreitet in den "Wolken" seine Lehrmeinungen als angebliche Weisheiten und geniest die kritiklose Verehrung durch seine Schüler. Vom 4 Durchaus konsequent schlägt Platon in Pol.III 387d-392a vor, daß den jungen Wächtern im Idealstaat solche Geschichten von den Göttern gar nicht mehr erzählt werden sollten. 5 Die Benennung dieses Tages klingt im Griechischen etwas paradox: der erste Tag des Monats heißt ungefähr "Altneutag" (enh te kai nea). 6 Vgl. zur Widerlegung dieser Vorwürfe Apologie 18a - 31c, Xenophon Memorabilia Buch I passim. fragenden, seines eigenen Wissens unsicheren Sokrates der platonischen Frühdialoge fehlt bei Aristophanes jede Spur. Sind nun die Wolken ein Hetzstück gegen Sokrates, das mit einem kaum versteckten Mordaufruf endet? Nimmt man den Text ernst, so könnte man das meinen. Doch das ist bei einer Komödie wohl kaum die richtige Interpretationsmethode, gerade wenn in ihr so grotesk geblödelt wird wie in den "Wolken". Den wichtigsten Hinweis zur Interpretation der "Wolken" gibt Platon. Obwohl die Hinrichtung Sokrates' ihn zu einer extrem kritischen Einstellung gegenüber Athen gebracht hat, 7 hat er Aristophanes seine Komödie offenbar nicht übelgenommen. Denn er hat im Symposion die berühmte Rede über die Kugelmenschen (189a-193d) ausgerechnet Aristophanes in den Mund gelegt.8 Platon wußte wohl:9 In der Komödie wird bewußt übertrieben und verdreht, auch um mit dem besseren Wissen des Publikums zu spielen. Es mag ein Gag gewesen sein, ausgerechnet den armen Sokrates als Supersophisten auf die Bühne zu bringen. Sokrates wird zwar als gerissen dargestellt, aber die eigentliche Witzfigur der Handlung ist Strepsiades. Vielleicht könnte man so weit gehen, zu sagen, Aristophanes stelle nicht Sokrates dar, sondern das Sokratesbild der Athener in übertriebener Form (nämlich Sokrates aus der verzerrten Perspektive des besonders dummen Atheners Strepsiades). Dann hätte Aristophanes beabsichtigt, daß die Athener beim Anblick der "Wolken" weniger über Sokrates lachen als über sich selbst. Und, lacht man in der Komödie auch gern ein bißchen über sich selbst, so mag der Autor hier dem Publikum doch etwas zuviel zugemutet haben. Diese Interpretation würde nicht nur erklären, wieso das Stück durchgefallen ist. Sie ließe auch dessen Schluß in anderem Licht erscheinen: nicht als Mordaufruf, sondern als geradezu visionäre Warnung, daß nur die Allerdümmsten einen Sokrates umbringen würden.10 N.St. 9/97 7 Vgl. z.B. das Gleichnis vom Staatsschiff (Pol. 488a-489a), das selbst nicht komödiantischer Züge entbehrt. In dieser Rede wird die Frage, nach dem Ursprung und Wesen der Liebe mit folgendem Mythos beantwortet: Es gab in der Urzeit kugelförmige Menschen mit je vier Armen und Beinen, die dann auf göttlichen Beschluß entzweigeteilt wurden. Seitdem strebten sie danach, ihre andere Hälfte (wieder-)zufinden. Liebe wird also hier als Streben nach genau einem vorbestimmten Partner gedeutet. 9 Nach der im 3. nachchristlichen Jhdt. entstandenen Anekdoten- und Zitatesammlung "Leben und Lehren berühmter Philosophen" von Diogenes Laertius, dessen 3. Buch eine Art Platon-Biographie darstellt, war Platon als junger Mann selbst (erfolgloser) Stückeschreiber. Dafür spricht, daß sein Werk aus Dialogen besteht, die ebenso lebendig geschrieben wie virtuos komponiert sind. 10 Sokrates war nicht der erste Philosoph, der unter den Athenern zu leiden hatte. So hatten diese einige Jahrzehnte zuvor einen gewissen Anaxagoras zum Verlassen der Stadt gezwungen, weil dieser (z.B. laut Apologie 26d/e) gelehrt hatte, die Sonne sei ein - glühender - Stein. Anaxagoras' Art der wissenschaftlichen Erklärung ist der des Sokrates in den "Wolken" auffallend näher als die Frage-Methode des platonischen Sokrates. 8