im supermarkt der religionen

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Modernisierung und Globalisierung haben Gesellschaften in den vergangenen Jahrzehnten tiefgreifend verändert.
Auch das religiöse Leben wurde durch diese Tendenzen stark beeinflusst. Wie sehr die Wandlungsprozesse Konfessionen
und die Religiosität der Gläubigen verändert haben, wie die Religion im 21. Jahrhundert beschrieben werden kann – das sind
Forschungsschwerpunkte von Friedrich Wilhelm Graf. Der evangelische Theologe ist Lehrstuhlinhaber für Systematische
Theologie und Ethik an der LMU.
CLEMENS GROSSE
im supermarkt der religionen
W
ährend seiner Polenreise im Mai dieses Jahres warnte Papst Benedikt XVI. bei einer Messe in Warschau vor
Abweichungen vom christlichen Glauben. Niemand dürfe das Evangelium verändern, weil es „seiner Meinung
nach zu beschwerlich für den modernen Menschen ist“. In dieser Aussage des Oberhaupts der katholischen Kirche
klingt ein Phänomen an, das moderne Gesellschaften in religiöser Hinsicht zunehmend prägt: die Kombinierbarkeit
von und das Experimentieren mit religiösen Deutungsangeboten. In Anlehnung an einen Begriff des Strukturalisten
Claude Lévi-Strauss bezeichnet Friedrich Wilhelm Graf, Professor für Systematische Theologie und Ethik, diesen
Trend als Bricolage – das „Zusammenbasteln“ einer Individualreligion aus den Elementen und Symbolen unterschiedlicher Religionen. Bricolage zeigt zum einen, dass religiöse Individualität in modernen Gesellschaften längst
die relativ homogenen Deutungsangebote der überkommenen Konfessionen durchbrochen hat und vielfältige Kombinationsmöglichkeiten offeriert. So ist es durchaus denkbar, dass ein strenggläubiger Katholik sich bei fremden
Religionen Elemente entleiht, weil er sie passend und sinnvoll findet. Bricolage zeigt zum anderen aber auch, dass
Religion und Glauben in Zeiten naturwissenschaftlich fundierter Weltbilder und der Entwicklung der weitgehend
laizistischen Demokratien in den europäischen und nordamerikanischen Gesellschaften keinesfalls im Verschwinden
begriffen sind, wie viele Religionswissenschaftler in den vergangenen 100 Jahren immer wieder meinten feststellen
zu können. Für Friedrich Wilhelm Graf ist das Postulat einer umfassenden Säkularisierung zugunsten von Wissenschaft
und Demokratie mittlerweile widerlegt: „Es gibt keine Gesellschaft ohne Religion“, sagt er. Ganz im Gegenteil erzeugten moderne Gesellschaften Orientierungsprobleme vielfältiger Art. „Auf der Suche nach Sinn hilft vielen
Menschen die Revitalisierung religiöser Deutungsangebote.“ Für Friedrich Wilhelm Graf ist Religion eine Art Software, die helfe, Sinn in das Leben zu bringen und Bricolage – um im Bild zu bleiben – eine Art ihrer benutzerdefinierten Konfiguration.
Dass aber auch die großen Konfessionen trotz gestiegener Austrittszahlen und maßgeschneiderter Individualreligionen
hierzulande offenbar nicht wirklich an Bindungskraft verloren haben, zeigt nicht zuletzt die große, weltweite Anteilnahme am Tod Johannes Pauls II. sowie die Begeisterung für den neuen Papst etwa auf dem Weltjugendtag 2005 in
Köln. Sie scheint ein Indiz dafür, dass eine „alte“, traditionelle Religionsgemeinschaft für viele Menschen ein festes
Wertesystem mit klaren Fixpunkten darstellt, ihr oberster Repräsentant fungiert als charismatische Leitfigur, die in
einer weitgehend pluralisierten Welt für Orientierung und Sinnstiftung steht und das trotz oder gerade wegen
möglicher, für manche „aufgeklärte“ Zeitgenossen antiquiert wirkender Rituale und Religionspraktiken.
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Beide Entwicklungen zeigen, dass moderne Gesellschaften einen hohen Grad an religiöser Pluralisierung aufweisen.
Auf der einen Seite individualisierte Religion, auf der anderen Seite geradezu das Zurückdrängen der Religionen
aus dem Privaten in den öffentlichen Raum, wo religiöse Veranstaltungen zu regelrechten Events werden: Ereignisse, die große Massen von Menschen anziehen, weil sie ihnen ermöglichen, mit anderen Gleichgesinnten eine
neue Gemeinschaft zu erleben und zu leben. „Die Formel von der ‚Religion als Privatsache‘ hatte das Interesse gespiegelt, die mit öffentlich demonstrierter Religion verbundenen Konfliktpotenziale zu neutralisieren“, erläutert
Friedrich Wilhelm Graf. Im Zuge dieser Deprivatisierung kristallisieren sich die Differenzen zwischen den einzelnen
Konfessionen stärker heraus: „Die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft vermittelt ihren Mitgliedern den
Anspruch, einer Avantgarde anzugehören. Religion hat eine enorme Integrationskraft und ist für den Einzelnen
Distinktionsmedium, um sich vom Mainstream abzusetzen.“ In der Tatsache, dass sich in pluralen Gesellschaften
der Mainstream letztlich aus vielen Gegenströmungen zusammensetzt, manifestiert sich die Konkurrenzsituation,
in der sich die verschiedenen religiösen Formen gegenüberstehen: „Religionsgemeinschaften sind heute mehr denn
je gehalten, ihr Profil zu schärfen, ja geradezu eine eigene Corporate Identity zu entwickeln“, erklärt der Theologe
und deutet damit eine wichtige Herausforderung an, der sich die Konfessionen pluraler Gesellschaften zu stellen
haben: den Gesetzen des Marktes. Friedrich Wilhelm Graf rekurriert dabei auf die Arbeiten des US-amerikanischen
Religionssoziologen Peter L. Berger zu Religious Economics. Berger beobachtet, dass sich Religionen in heutiger
Zeit zunehmend wie Unternehmen marktwirtschaftlich verhalten müssen, um „Kunden“ zu gewinnen. Er geht dabei
von der Grundannahme aus, dass es konfessionelle Identität per se nicht gibt, sondern dass sie in bestimmten
sozialen, kulturellen und religiösen Umwelten je nach Bedarf erzeugt bzw. konstruiert wird, gleichsam Sinnstiftung
auf Nachfrage.
RELIGIONEN IM WETTBEWERB
Berger konstatiert zwei Tendenzen, zunächst speziell für den „Religionsmarkt“ in den USA: die Bildung von Konsortien einerseits und das Bemühen um Autarkie andererseits. Während im Zuge der ersteren Tendenz Religionsgemeinschaften im Wettbewerb um „Kunden“ mit anderen kooperieren, eine Art strategische Partnerschaft schließen
und sich nicht selten zu neuen Kirchen formieren, grenzen sich andere im geichen Maß durch die Revitalisierung
bzw. Reformulierung alter konfessioneller Identitäten von „konkurierenden“ Konfessionen ab und festigen damit ihr
Alleinstellungsmerkmal. „In den Perspektiven einer Shared History zeigt sich, dass Zwänge normativer Abgrenzungen
vielfältige Interaktionen und Austauschbeziehungen nicht ausschlossen“, so Friedrich Wilhelm Graf. Mit dem
integrativen Forschungsansatz der gemeinsam geteilten Geschichte von Religionsgemeinschaften vermag er die
Pluralisierung von „Religionsmärkten“ unter Berücksichtigung der komplexen Spannungsfelder von Religion und
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7 Die Menschen gehen vielfach dazu über,
sich ihr Glaubensgebäude aus den verschiedensten religiösen Versatzstücken selbst
zusammenzustellen. Dieses „Zusammenbasteln“ einer Individualreligion aus den
Elementen und Symbolen unterschiedlicher
Religionen nennt Friedrich Wilhelm Graf
Bricolage, in Anlehnung an den französischen
Strukturalisten Claude Lévi-Strauss.
Modernisierung aufzuzeigen. Er konstatiert, dass es im Bereich der Religionswissenschaft häufig zu Kommunikationsblockaden zwischen Geschichtswissenschaften und den akademischen Theologien komme. „Eine theologieabstinente Kulturgeschichtsschreibung kann bestenfalls die Außenseiten des Glaubens erfassen“, erläutert er.
Auf der anderen Seite sähen akademische Theologien ihr Forschungsgebiet häufig durch die Brille des eigenen
Glaubens. „In Sachen Religion gibt es keine neutralen Beobachter“, erklärt Friedrich Wilhelm Graf.
Die meisten Theoriemodelle, die beanspruchen, Glauben und Religionswandel wissenschaftlich zu beschreiben,
bleiben im Wesentlichen auf eine Außenperspektive beschränkt. Sie vermögen nicht zu erklären, was die Gläubigen
beim Ausleben ihrer Religiosität wirklich bewegt. „Die Außenperspektive auf religiöse Mentalitäten und der gelebte
Glaube können niemals kongruent sein“, erläutert er. „Wir wissen nicht, wie religiöses Bewusstsein funktioniert.“ Da
stellt sich die Frage, ob man religiöse Wandlungsprozesse überhaupt angemessen beschreiben kann. Friedrich Wilhelm
Graf schließt daraus, dass der Religionswissenschaft hier in der Tat Grenzen gesetzt sind, dass die Forscher nur
Näherungswerte erzielen können. Dennoch sei es möglich, umfassende Einblicke zu gewinnen, wenn Forscher bereit seien, ihr eigenes Tun immer wieder zu reflektieren und zu versuchen, andere „Theoriebrillen“ auszuprobieren.
„Als Religionsforscher muss ich mir eingestehen, dass ich den Forschungsgegenstand zwar nie ganz erkannt habe,
dass ich aber dennoch differenzierte Erkenntnisse gewinnen kann. Hierzu ein Beispiel: Es ist das größte Interesse
eines Menschen, Berge zu besteigen. Man kann ihm nachgehen und kommt ihm so ein Stück näher. Zwar bleibt eine
Grenze, da man nicht weiß, was er fühlt, wenn er den Gipfel erreicht hat. Aber man erahnt immerhin, was in ihm
vorgehen könnte. Dazu ist jedoch ein relativ komplexes Szenario von Analysevorgängen nötig.“ Friedrich Wilhelm
Graf selbst arbeitet vorzugsweise mit dem Deutungsmodell einer Shared History, bei der Elemente der Begriffs- und
Ideengeschichte einfließen. Mit Feldforschungen können die so gewonnenen Erkenntnisse weiter gefestigt und
kontextualisiert werden, von zentraler Bedeutung sei aber das Bewusstsein eines je nur orts- und zeitgebundenen
Standpunktes, das einen beständigen Perspektivenwechsel als weiterführende Aufgabe nahelegt.
ANDERE „THEORIEBRILLEN“ AUSPROBIEREN
Und genau hier sieht Friedrich Wilhelm Graf ein großes Manko vieler Religionswissenschaftler: So beobachteten
etwa protestantische Forscher die Geschichte ihrer Konfession oft aus der Binnenperspektive und in der häufig
parallelen Geschichte der Katholiken, Juden oder des Islam bestenfalls die Umwelt ihres Untersuchungsobjekts. Die
Gefahr hierbei ist, dass die Grenzziehungen zwischen den Konfessionen gleichsam zementiert werden und ein integrierender Blick versperrt bleibt. Der Theologe lässt den Einwand nicht gelten, die Verschiedenartigkeit der
Religionsformen mache es der Forschung schwerer, Ansatzpunkte für ihre Erklärungen zu finden. „Je bunter die Welt
der religiösen Vielfalt, desto größer ist auch die Chance der Deutung, weil man als Religionsanalytiker immer
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wiederkehrende Bestandteile entdeckt. Ein Beispiel ist Bricolage: Ich kenne viele Stoffe, aus denen sich die Menschen
ihr Religionskleid zusammennähen. Diese Art der religiösen Individualisierung bietet eine gute Chance der Analyse,
weil ich die einzelnen Elemente erkenne.“
DIE RELIGIÖSEN KONFLIKTE DER GEGENWART
Der eindimensionale Blick bei der Beurteilung von Religionen zeigt sich gerade in der Gegenwart an den Auseinandersetzungen zwischen der so genannten islamischen Welt und der so genannten westlichen Welt, gewaltsam
ausgefochten im „Kampf gegen den Terror“ der USA vor allem gegen Afghanistan und den Irak. Zur Rechtfertigung
von Terror und Krieg tauchen religiöse Topoi bei den gegnerischen Parteien auf: Bei den USA ist die Rede von der
„Achse des Bösen“, die außer Nordkorea vornehmlich Länder islamischer Kultur umfasst; auf Seiten der extremen
Exponenten des Islam spricht man im Gegenzug vom „heiligen Krieg“, von „Ungläubigen“. Der „Westen“ ist leicht
versucht, diese massiven Konflikte als den Auftakt dessen zu sehen, was der US-amerikanische Politologe Samuel
Huntington in seinem viel beachteten Buch Clash of Civilizations bereits 1996 als unvermeidlichen Kampf der Kulturen
vorhersagte. Friedrich Wilhelm Graf beurteilt diese Einschätzung vor allem als undifferenzierte und einseitige Sicht
auf den Islam aus der Warte des „Westens“. „Wir haben es hier nicht mit dem Islam und dem Christentum zu tun“,
erläutert er. „Vielmehr sind alle großen Religionen in sich derart heterogen und inneren Umgestaltungsprozessen
unterworfen, dass eine so vereinfachte Darstellung schlicht von Unkenntnis in Hinblick auf die Religionen zeugt.“ Er
betont, dass rund eine Milliarde Menschen auf der Erde, die sich als gläubige Muslime begreifen, ihren Glauben
durchaus mit unterschiedlichen Weltdeutungen und Heilsvorstellungen leben. Huntington hingegen nähme den Islam
nur von den neuen antiwestlichen und fundamentalistischen Gruppen her wahr, die in den islamischen Gesellschaften
vor allem des Nahen Ostens an die Macht gelangt sind. „Wir erleben nicht den großen Clash of Civilizations“, betont
Friedrich Wilhelm Graf. „Wir erleben Wertkonflikte, die vor allem aus unterschiedlichen Vorstellungen vom idealen
Zusammenleben resultieren. Normative Konflikte verbinden sich mit solchen ökonomischer Natur.“ So habe etwa
der Iran massive nationale Interessen, die im Medium der Religion beziehungsweise religiöser Sprache artikuliert
würden. Sobald man ein wenig genauer hinschaue, zeige sich, dass ein ähnlicher Wertekodex wie der der katholischen Kirche bemüht werde: Beispielsweise bei der Unterscheidung zwischen Rein und Unrein sowie legitimer und
illegitimer Sexualität, aber auch beim Klagen über fehlende Sitte und Anstand im westlichen Kulturraum. Sie würden
aber nicht als interne, vielleicht sogar gerechtfertigte Kritik an unserer Gesellschaft, sondern als Pauschalkritik am
Westen formuliert. Letztlich helfen solche Pauschalisierungen keineswegs, ganz gleich von welcher Seite hervorgebracht, etwaige Gräben zu überwinden. Das Gegenteil ist der Fall. „Religion ist etwas sehr Lebendiges, mithin ein
Prozess, den man nicht allzu schnell fixieren sollte.“
Prof. Dr. Friedrich Wilhelm Graf ist seit 1999 Lehrstuhlinhaber für Systematische
Theologie und Ethik an der LMU. Im gleichen Jahr erhielt er als erster Theologe
den Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Seit 2001 ist er
Ordentliches Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. 1984
übernahm er als Präsident die Leitung der Ernst-Troeltsch-Gesellschaft.
[email protected]
http://www.evtheol.uni-muenchen.de/st1/
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