Baum des Lebens, Baum der Sprache

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Zürcher Universitätsschriften 12
Baum des Lebens,
Baum der Sprache
Rede des Rektors gehalten am
Dies academicus 2010
von Prof. Dr. Andreas Fischer
L
L
Universität Zürich
Rede des Rektors zum
Dies academicus 2010
Universität Zürich
Baum des Lebens,
Baum der Sprache
Rede des Rektors
Prof. Dr. Andreas Fischer
Dies academicus 2010
Anlässlich der 177. Stiftungsfeier
der Universität Zürich
R.T. Pritchett, Die H.M.S. Beagle an der Küste Südamerikas (1860)
Abbildung 1
R E D E D E S R E K T O R S 2 010
I M D EZEMBER 1831 stach die H.M.S. Beagle vom englischen
Hafen Devonport aus in See und nahm Kurs Richtung Südamerika (Abbildung 1). Das Vermessungsschiff der Royal
Navy hatte den Auftrag, kartografisch schlecht erfasste Gebiete zu erkunden. An Bord war diesmal auch ein junger
Naturforscher namens Charles Darwin. Für ihn wurde die
fast fünfjährige Reise auf der Beagle und besonders der Aufenthalt auf den Galapagosinseln 1835 zu einem Schlüsselerlebnis. Ungefähr ein Jahr nach der Rückkehr zeichnete er
eine abstrakte Skizze in sein Notizbuch, die er mit «I think»
überschrieb und wie folgt kommentierte (Abbildung 2): «So
besteht zwischen A und B ein immens grosser Abstand, zwischen C und B ein sehr geringer und zwischen B und D ein
beträchtlicher.»1 Alles Leben, so suggeriert der berühmte
Notizbucheintrag, geht auf einen einzigen Ursprung zurück,
der in der Skizze mit der Zahl 1 markiert ist. Von hier aus
verzweigt sich das Leben in seine verschiedenen Erscheinungsformen, wobei sich Ähnlichkeiten und Unterschiede
durch den Abstand vom Ursprung und von anderen Formen
des Lebens erklären lassen. 22 Jahre später, in Darwins
Hauptwerk On the Origin of Species von 1859,2 findet sich
eine noch immer abstrakte, aber viel detailliertere Darstellung der gleichen Idee (Abbildung 3). Die konkrete, anschauliche Umsetzung zur Erklärung der Herkunft des Menschen,
die der deutsche Biologe Ernst Haeckel (1834–1919) 1874
veröffentlichte (Abbildung 4), führte schliesslich zur griffigen
Metapher vom «Baum des Lebens», die bald zum allgemein
akzeptierten Modell der Evolution organischen Lebens werden sollte.3
Fast gleichzeitig mit Darwins Origin of Species postulierte der Sprachforscher August Schleicher (1821–1868)
einen «Baum der Sprache», oder genauer gesagt, einen Baum
7
Charles Darwin, «I think» (1837)
Abbildung 2
R E D E D E S R E K T O R S 2 010
der indogermanischen Sprachen. Die Vorstellung eines
Sprachbaums findet sich zum ersten Mal in einem Aufsatz
Schleichers von 1853 mit dem Titel «Die ersten Spaltungen des indogermanischen Urvolkes» (Abbildung 5).4 Den
Stamm des Baumes bildet das «Urvolk» der Indogermanen;
nach oben hin verzweigt er sich in Äste, die die Nachfahren
der Indogermanen darstellen. Sie reichen von den Kelten im
Westen Europas bis zu den Iranern und Indern in Südasien.
Modifizierte, erweiterte Versionen des Schleicherschen Baumes finden sich in Publikationen von 1860 und 1863 (Abbildung 6).5
Beide Bäume, der Lebensbaum Darwins und der
Sprachbaum Schleichers, markieren die Ablösung des Denkschemas «Schöpfung» durch das Denkschema «Evolution».
Nach der biblischen Vorstellung sind Pflanzen, Tiere und
Menschen (samt ihrer Sprache) das Produkt eines Schöpfungsakts. Nachzulesen ist dies im 1. Buch Mose in den
Kapiteln 1 und 2.6 Interessant ist in unserem Zusammenhang
aber auch Kapitel 11, die Geschichte des Turmbaus von Babel
(Abbildung 7). Im Unterschied zur Erschaffung von Pflanzen,
Tieren und Menschen in der Schöpfungsgeschichte wird die
Schaffung von Sprachenvielfalt in der Bibel nicht als etwas
Positives, sondern als Strafe Gottes für den Übermut der
Menschen dargestellt: «Und der Herr sprach: Siehe, sie [die
Erbauer des Turms] sind ein Volk und haben alle eine Sprache.
Und dies ist erst der Anfang ihres Tuns; nunmehr wird ihnen
nichts unmöglich sein, was immer sie sich vornehmen.
Wohlan, lasst uns hinabfahren und daselbst ihre Sprache
verwirren, dass keiner mehr des andern Sprache verstehe»
(1. Mose 11,6–7).7 Ganz anders die Idee, die dem Denkschema «Evolution» zu Grunde liegt: Organismen und Sprachen
sind das Resultat eines natürlichen Entwicklungsprozesses,
9
Charles Darwin, Baum des Lebens (1859)
Abbildung 3
R E D E D E S R E K T O R S 2 010
der durch die zwei Mechanismen Variation und Selektion
gesteuert wird.
Über den Baum des Lebens wurde im Darwin-Jahr 2009
viel geschrieben; auch Nichtbiologen leuchtet seine Modellhaftigkeit für die Entwicklung der Artenvielfalt ein. Doch wie
kam die Sprachwissenschaft dazu, ebenfalls mit der Baummetapher zu operieren, und wie weit trägt sie? Diesen Fragen
will ich mich im Folgenden zuwenden.
So wie Darwin auf Ideen von Vorgängern und Zeitgenossen aufbaute, so war auch Schleicher nicht der Erste, der
die genetische Verwandtschaft von Sprachen propagierte.
Die Spur führt zu Sir William Jones (1746–1794), einem in
Indien tätigen englischen Richter. Als Absolvent einer «public school» und der Universität Oxford beherrschte er neben
dem Englischen auch das Lateinische und das Griechische;
überdies kam er in Indien mit dem Sanskrit, der ältesten
überlieferten Sprache Indiens, in Kontakt. Jones bemerkte
eine überraschende Ähnlichkeit all dieser zeitlich und geografisch weit auseinanderliegenden Sprachen. In seinem
Third Anniversary Discourse (1786) bemerkte er: «Das Sanskrit, unabhängig davon, wie alt es sein mag, hat eine wunderbare Struktur: Es ist vollendeter als das Griechische,
reichhaltiger als das Lateinische und ausserordentlich raffinierter als beide. Dennoch sind sich diese Sprachen so ähnlich, sowohl in Bezug auf die Wurzeln von Verben wie auch
in den Formen der Grammatik, dass die Ähnlichkeit kein
Produkt des Zufalls sein kann.» Und an dieser Stelle zog Jones
eine radikal neue Schlussfolgerung: «Die Ähnlichkeit ist so
gross, dass kein Philologe sie untersuchen kann, ohne zum
Schluss zu kommen, dass sie von einer gemeinsamen Quelle abstammen, die vielleicht nicht mehr existiert.»8 In der
ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde Jones’ Idee von
11
Ernst Haeckel, Stammbaum des Menschen (1874)
Abbildung 4
R E D E D E S R E K T O R S 2 010
Sprachforschern wie Franz Bopp, Rasmus Rask oder Jacob
Grimm aufgenommen, bestätigt und verfeinert.9 Die genannten Sprachen sind in der Tat verwandt, und sie gehen auf
eine gemeinsame, nicht mehr existierende Vorform zurück,
die den Namen Indogermanisch oder Indoeuropäisch erhalten sollte. Schleicher war es, der die sprachlichen Verwandtschaftsverhältnisse erstmals in der Form eines Baums der
indogermanischen Sprachen darstellte.
W AS
HABEN NUN
D ARWINS B AUM
DES
L EBENS und Schleichers
Baum der Sprache miteinander gemein, wo gibt es Unterschiede?
Gemeinsam sind ihnen drei grundlegende Ideen: erstens die Idee, dass alles Leben und alle (indogermanischen)
Sprachen auf eine Urform zurückgehen; zweitens die Idee,
dass frühere, nicht mehr «lebende» Formen auffindbar oder
wenigstens rekonstruierbar sind; und drittens die Idee, dass
die Entwicklung von der Urform bis zu den heutigen Ausprägungen nach bestimmten Prinzipien abläuft. Wenn dies alles
zutrifft, lassen sich schrittweise Stammbäume (re)konstruieren: Ausgehend von der Feststellung, dass gewisse Organismen (zum Beispiel Gorillas und Schimpansen) oder gewisse Sprachen (zum Beispiel das Sanskrit und das Altgriechische) sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede
aufweisen, werden ihre Verwandtschaftsbeziehungen methodisch bestimmt und schliesslich Vorformen konstruiert.
Dies geschieht mit Hilfe der vergleichenden Rekonstruktion
auf der Basis von überlieferten Beweisstücken. Im Fall der
Biologie sind die Beweisstücke Knochen und andere Fossilien, einschliesslich konserviertes organisches Material (man
denke an Mammute im ewigen Eis, an in Bernstein eingeschlossene Insekten oder an die in der DNA enthaltene
13
August Schleicher, Spaltungen des indogermanischen Urvolkes (1853)
Abbildung 5
R E D E D E S R E K T O R S 2 010
genetische Information). Beweisstücke der Sprachwissenschaft sind Schriftzeugnisse aus früheren Epochen. Ich will
den Prozess der vergleichenden Rekonstruktion in der
Sprachwissenschaft anhand eines stark vereinfachten Beispiels zeigen:
*IE
*ghostis
*Germ.
*gastiz
Got.
gasts
Run.
gastiR
An.
gestr
* = nicht belegt, rekonstruiert
*IE = Indoeuropäisch
Lat. = Lateinisch
Lat.
hostis
Ae.
giest
As.
gast
Got. = Gotisch
Run. = Runisch
An. = Altnordisch
Ahd.
gast
Ae. = Altenglisch
As. = Altsächsisch
Ahd. = Althochdeutsch
Das deutsche Wort Gast hat Parallelen in vielen anderen
lebenden germanischen Sprachen. In der Übersicht sind einige linguistische «Fossilien» aufgeführt, schriftlich bezeugte
Formen dieses Wortes aus dem 4. bis 12. Jahrhundert n. Chr.,
wobei die jeweils älteste belegte Form im Gotischen, Runischen, Altnordischen, Altenglischen, Altsächsischen und
Althochdeutschen aufgeführt ist.10 Mit der Methode der
vergleichenden Rekonstruktion ist es nun möglich, die nicht
belegte gemeinsame Vorform im Germanischen (*gastiz)
und, wenn wir noch weiter zurückgehen, im Indoeuropäischen (*ghostis) zu erschliessen. Historische Linguisten
verwenden dabei mehrere heuristische Prinzipien. Eines ist
die Häufigkeit: Da die meisten Formen in den altgermanischen Sprachen mit der Lauftfolge ga beginnen, kann man
15
August Schleicher, Stammbaum der indogermanischen Sprachen (1860)
Abbildung 6
R E D E D E S R E K T O R S 2 010
diese Laute auch für das Germanische annehmen. Ein zweites Prinzip kann man so formulieren: Es ist leichter, etwas
wegzulassen, als etwas hinzuzufügen; längere Formen sind
demnach aussagekräftiger als kürzere. Nach diesem Prinzip
rekonstruieren wir aus dem gotischen gasts, dem runischen
gastiR und dem altnordischen gestr ein germanisches *gastiz.
Das dritte Prinzip schliesslich ist phonetische Plausibilität:
Das gotische stimmlose s, das runische R und das altnordische
r lassen sich am plausibelsten aus einem germanischen
stimmhaften *z ableiten. Nach dem Prinzip der Plausibilität
rekonstruiert man auch das indogermanische *gh aus dem
germanischen g und dem lateinischen h. Wie in der Biologie
gibt es also auch in der Sprachwissenschaft Fossilien, und
wie in der Biologie gibt es Lücken in der Überlieferung, die
sich durch Rekonstruktion füllen lassen.
E IN
OFFENSICHTLICHER
U NTERSCHIED zwischen Biologie und
Sprache besteht in der zeitlichen Tiefe der Rekonstruierbarkeit (Abbildung 8). In der Biologie kann der Baum des
Lebens praktisch in seiner ganzen Länge rekonstruiert werden: Die ältesten Fossilien sind Stromatolithen, versteinerte
Formen von aus ein- und vielzelligen Algenarten bestehenden Bakterienfilmen, die zu den ersten photosynthetisierenden Lebewesen gehörten. Sie sind 3,45 Milliarden Jahre
alt und damit «nur» etwa eine Milliarde Jahre jünger als die
Erde selbst.11 Wir kennen den Baum des Lebens also praktisch
bis hin zu seiner Wurzel. Anders beim Baum der Sprache:
Nach dem heutigen Wissensstand entwickelten sich der
homo habilis und dann der homo erectus in Ostafrika vor zwei
beziehungsweise anderthalb Millionen Jahren. Erst viel später jedoch, beim homo sapiens vor mehr als 200 000 Jahren,
begann sich Sprache herauszubilden.12 Als dann besagter
17
Gustave Doré, Der Turm von Babel (1865)
Abbildung 7
R E D E D E S R E K T O R S 2 010
homo sapiens vor vielleicht 100 000 Jahren aus Afrika auszuwandern begann, war die Sprache Teil des Rüstzeugs, das
ihm die Besiedlung der ganzen Welt ermöglichen sollte.13
Von diesen frühen Formen der Sprache, die existiert haben
müssen, wissen wir allerdings gar nichts. Überlieferte Zeugnisse – also linguistische «Fossilien» – gibt es erst aus viel
späterer Zeit, nämlich seit der Erfindung der Schrift im Zweistromland vor rund 5000 Jahren.14 Mit den Mitteln der
vergleichenden Rekonstruktion ist es möglich, etwas über
Sprache(n) vor rund 10 000 Jahren auszusagen, aber weiter
zurück reicht unser Blick nicht. Im Unterschied zum Baum
des Lebens ist vom Baum der Sprache also nur gerade ein
Zehntel seiner Höhe sichtbar, nämlich die jüngsten 10 000
von 100 000 Jahren.15 Dies hat eine weitere Konsequenz:
Während wir den Baum des Lebens als ein zusammenhängendes Ganzes verstehen können, ist dies beim Baum der
Sprache weniger gut möglich: Linguisten gruppieren die
ungefähr 6000 Sprachen der Welt in gegen 30 verschiedene
Sprachfamilien.16 Wenn man davon ausgeht, dass sie alle
letztlich auf die Sprache des homo sapiens zurückgehen,
müsste es möglich sein, die 30 Sprachfamilienbäume zu
einem einzigen Baum der Sprache zusammenzufügen.17 Wie
dessen Stamm aussehen könnte, bleibt aber im Dunkeln.
Variation und (natürliche) Selektion sind die Prinzipien, nach denen sich die Äste und Zweige in Darwins Baum
des Lebens entwickeln. Als Variation bezeichnen wir die
Tatsache, dass die Angehörigen von biologischen Einheiten
nicht in all ihren Merkmalen identisch sind; auch innerhalb
einer Art sind Unterschiede zwischen den Individuen zu
beobachten. Wenn bestimmte Variationen den entsprechenden Individuen Vorteile verschaffen (etwa bei der Nahrungsbeschaffung oder Partnersuche), können sie sich über viele
19
Menschen
Dinosaurier
Amphibien
Insekten
Landpflanzen
0
Känozoikum
5000
10 000
Mesozoikum
erste schriftliche
Zeugnisse
erste rekonstruierte
Sprachen
500
Paläozoikum
1000
100 000
Jahre
Sprache des
homo sapiens?
1500
2000
Cyanobakterien
Sauerstoffproduktion
2500
3000
Bakterienfossilien
Älteste
Stromatolithen
3500
4000
Entstehung
der Erde
in Millionen
Jahren
4500
Präkambrium
Die Entstehung des Lebens und der Sprache
Abbildung 8
Vorformen
von
Sprache
R E D E D E S R E K T O R S 2 010
Generationen hinweg zu distinktiven Merkmalen verfestigen
und so zur Entstehung neuer Arten führen. Bei jenen Säugetieren, die vom festen Boden ins Wasser wechselten, boten
beispielsweise oben (statt vorne) liegende Nasenlöcher und
breite, zum Paddeln geeignete Extremitäten einen evolutiven
Vorteil: Daher finden wir diese Merkmale bei Meeressäugern wie den Delfinen und den Walen.18 Der unterschiedliche
Erfolg von Individuen mit verschiedenen Merkmalen ist
unter dem oft missverstandenen Etikett «survival of the fittest» bekannt geworden. Gemeint ist damit nicht, dass
nur die Stärksten überleben. Gemeint ist vielmehr, dass sich
langfristig in der Evolution jene Merkmale durchsetzen,
die den Individuen in einem bestimmten Lebensraum die
besten Chancen für das Überleben und die Fortpflanzung
bieten. Diesen Mechanismus bezeichnet man als natürliche
Selektion.
Die Frage ist nun, ob die Grundmechanismen der Variation und der Selektion ähnlich auch für die Evolution von
Sprachen gelten. Im Falle der Variation beziehungsweise der
Variabilität ist die Frage klar mit Ja zu beantworten: Sprache
ist inhärent variabel, und zwar von der Lautebene über die
Formebene bis hin zur Bedeutungsebene.19 Ich gebe drei
einfache Beispiele: Das englische Wort für Parkplatz (car
park) wird in England mit einem offenen langen a, in Australien und Neuseeland mit einem ganz hellen, dem ä-Laut
nahen und in Südafrika mit einem dunklen, dem o-Laut
nahen a ausgesprochen. Bei der englischen Version des Ausdrucks «die Frau, die ich liebe» haben Sprecher die Wahl
zwischen drei Varianten des Relativanschlusses: the woman
whom I love, the woman that I love, the woman I love. Und
schliesslich heisst ein Mobiltelefon in England mobile (phone),
in Amerika dagegen cell (phone). Es muss gesagt werden, dass
21
R E D E D E S R E K T O R S 2 010
die von mir genannten Varianten alles Beispiele bedingter
Variation sind; sie sind zwar bedeutungsgleich, können aber
nicht ganz beliebig verwendet werden. So sind die verschiedenen Aussprachen von car park geografisch bedingt, während sich die Formen des Relativanschlusses durch ihren Grad
an Formalität unterscheiden. Daneben gibt es aber auch
unzählige Beispiele freier Variation.20
Grundsätzlich wäre es möglich, dass die Variation stabil
bliebe, dass also Sprecher über viele Generationen hinweg
wählen könnten zwischen the woman whom I love, the woman
that I love und the woman I love. Solch stabile Vielfalt kommt
in der Tat vor. Häufig ist es aber so, dass gewisse Varianten
im Verlauf der Zeit häufiger gebraucht werden als andere,
was man im Darwinschen Sinn als Selektion und damit als
Voraussetzung für Wandel, für Entwicklung, für Evolution
bezeichnen könnte. Auf die Sprachwissenschaft übertragen
bedeutet Evolution Sprachwandel, und der Entwicklung
neuer Arten entspricht die Herausbildung neuer Sprachen.
Beim früher präsentierten Gast-Beispiel ist aus dem (rekonstruierten) indogermanischen *gh-Laut durch Variation und
Selektion im Germanischen ein *g (*gastiz) und im Lateinischen ein h (hostis) geworden. Ich gebe ein zweites, ebenfalls
lautliches Beispiel sprachlicher Evolution:21
Lateinisch
cantare
carum
caelum
centum
Italienisch
cantare
caro
cielo
cento
Spanisch
cantar
caro
cielo
cien
Französisch
chanter
chèr
ciel
cent
Man nimmt an, dass die vier lateinischen Wörter cantare
‹singen›, carum ‹lieb›, caelum ‹Himmel› und centum ‹hundert›
im klassischen Altertum mit etwa dem gleichen Anlaut k
22
R E D E D E S R E K T O R S 2 010
ausgesprochen wurden, doch zeigen die Reflexe in den
Tochtersprachen, dass es einen Unterschied (das heisst: eine
Variation) zwischen dem k vor a (cantare, carum) und dem
k vor den helleren Lauten ae und e (caelum, centum) gegeben
haben muss. Aus dieser Variation haben sich durch Selektion
die Laute der Tochtersprachen Italienisch (/ k / und / t∫ /),
Spanisch (/ k / und / ç /) und Französisch (/ ∫ / und / s /) entwickelt, und die Summe solcher Selektionsprozesse hat zur
Entstehung neuer Arten (das heisst hier: Sprachen) geführt.
Variation ist also im Baum des Lebens und im Baum
der Sprache gleichermassen anzutreffen. Ist nun aber auch
die Selektion vergleichbar? Selektion in der Biologie, wie
vorher am Beispiel der Meeressäuger gezeigt, basiert auf dem
Prinzip des evolutionären Vorteils. Ein ähnliches Prinzip
scheint für Sprachen nicht zu gelten. Ich wage die Behauptung, dass sämtliche Sprachen der Welt von ihrer Komplexität und von ihrer Funktion her grundsätzlich gleich sind, dass
man also nicht «fittere» von «weniger fitten» Sprachen unterscheiden kann. Sprachen funktionieren als Mittel der
Kommunikation, egal wie sie strukturiert sind, egal wo und
von wem sie gesprochen werden. Ob eine Sprache über
zwanzig oder vierzig Laute verfügt, ob sie bestimmte und
unbestimmte Artikel hat oder nicht, ob sie eine isolative oder
eine flektierende Sprache ist – keines dieser Strukturmerkmale lässt sich als klarer evolutiver Vor- oder Nachteil interpretieren. Keines dieser Merkmale sichert einer Sprache das
Überleben, keines führt dazu, dass eine Sprache zwar für das
südliche Afrika, nicht aber für Skandinavien geeignet wäre.
Beim Wortschatz liegen die Dinge etwas anders, denn wir
brauchen passende Wörter, um eine bestimmte Lebenswelt
mit ihren kulturellen Praktiken abzubilden und uns darin
zurechtzufinden. Hier erweisen sich Sprachen als sehr adap-
23
R E D E D E S R E K T O R S 2 010
tiv: Als englische Kolonisten Nordamerika und, etwas später,
Australien und Neuseeland besiedelten, mussten sie nicht
etwa die Sprache der jeweiligen Ureinwohner übernehmen,
um in der neuen Umgebung zu überleben. Sie mussten auch
ihr Englisch strukturell in keiner Weise anpassen. Sie mussten bloss den Wortschatz so erweitern, dass er auch für die
Benennung zusätzlicher Objekte taugte: Orts- und Landschaftsmerkmale, Fauna, Flora, indigene Gegenstände und
Gebräuche.22
Wenn bei Sprachen das Prinzip des «survival of the
fittest» also nicht gilt, nach welchem Prinzip erfolgt dann die
Selektion, die zur Herausbildung neuer Sprachen führt?
Dies ist eine der Grundfragen der historischen Sprachwissenschaft, die ich hier nicht ausführlich diskutieren,
geschweige denn beantworten kann. Verweisen möchte
ich auf den Begriff drift (Entwicklungstendenz), der vom
amerikanischen Linguisten Edward Sapir (1884–1939) geprägt wurde. Sapir betont, dass Variation an sich richtungslos ist, dass Veränderungen aber in eine bestimmte Richtung
weisen müssen, damit aus blosser sprachlicher Variation
sprachlicher Wandel wird. Er schreibt: «Drift, linguistische
Entwicklungstendenz, hat Richtung. Mit anderen Worten
wird drift nur beeinflusst von jenen individuellen Varianten,
die sich in eine bestimmte Richtung bewegen [...]. Drift
besteht darin, dass die Sprecher einer Sprache unbewusst
jene ihrer individuellen Varianten wählen, die kumulativ in
eine bestimmte Richtung weisen.» 23 Unbeantwortet bleibt
bei dieser Definition, welche Faktoren für die Auswahl jener
«individuellen Varianten» verantwortlich sind, «die kumulativ in eine bestimmte Richtung weisen». Sapir veranschaulicht das Wirken von drifts am englischen Fragewort whom,
das zunehmend durch who ersetzt wird: Aus Whom did you
24
R E D E D E S R E K T O R S 2 010
see? wird Who did you see? Der Autor interpretiert das langsame Verschwinden von whom als Resultat von mindestens
drei drifts, die er in der Entwicklung des Englischen zu erkennen glaubt: der Tendenz, den Unterschied zwischen
Subjekt und Objekt zu verwischen, der Tendenz, die Wortstellung zu fixieren, und schliesslich der Tendenz zum unveränderbaren Wort.24 Sapirs Illustration ist überzeugend,
wir sehen aber auch, dass sie uns bei der Frage nach dem
«survival of the fittest» nicht weiterbringt. Wenn das Englische in seiner Langzeitentwicklung von einer losen zu einer
festen Wortstellung übergeht, und wenn Wörter ihre
Flexionsendungen mehr und mehr verlieren, dann ist das
ein Wandel der Systematik,25 nicht aber ein Wandel hin zu
einer Sprache, die unter bestimmten Umweltbedingungen
besser funktioniert als eine andere. Die Frage, welchen Prinzipien die Selektion beim Sprachwandel folgt, muss offen
bleiben, und wir müssen akzeptieren, dass die Analogie
zwischen biologischer und sprachlicher Evolution hier an
ihre Grenzen stösst.
I CH
KOMME ZU EINEM ZWEITEN
U NTERSCHIED zwischen Biologie
und Sprache, und zwar geht es nun um die Frage, wie Einheiten (Arten, Sprachen) überhaupt definiert werden. In
beiden Gebieten geschieht Evolution durch Variation und
Selektion – zunächst in kleinsten Schritten, die dann über
längere Zeiträume hinweg zur Entstehung neuer Arten beziehungsweise Sprachen führen können: Aus dem homo
erectus entwickeln sich der homo neanderthalensis und der
homo sapiens, aus dem Lateinischen das Italienische und das
Französische. Biologen sprechen von einer neuen Art, wenn
aus Varianten einer gemeinsamen Ausgangsform schliesslich
eine Gruppe von Individuen hervorgeht, die einander in
25
R E D E D E S R E K T O R S 2 010
Körperbau, Färbung, Verhalten oder sonstigen Eigenschaften
ähnlich sind, sich aber in ihrem spezifischen Bündel von
Merkmalen deutlich von anderen Nachkommen derselben
Ausgangsform unterscheiden. Aufgrund dieser Unterschiede
kommt es in der Regel nur noch innerhalb der eigenen Gruppe zu erfolgreichen Paarungen, wodurch die Unterschiede
weiter verstärkt werden.
Welche Kriterien verwenden Linguisten, um den Übergang von blossen Varianten zu einer neuen Sprache zu definieren? Wann wurde aus dem Vulgärlatein des frühen Mittelalters das Altfranzösische, das Italienische und das Spanische, wann aus dem Germanischen das Altenglische, wann
– wenn überhaupt – wird aus dem in Amerika gesprochenen
Englisch eine eigene Sprache, das Amerikanische? Die Linguistik stützt sich bei der Abgrenzung eigenständiger Sprachen hauptsächlich auf drei Kriterien: strukturelle Unterschiede, die sich beschreiben lassen; die gegenseitige Verständlichkeit (mutual intelligibility) innerhalb einer Sprechergruppe beziehungsweise die fehlende Verständlichkeit über
die Sprachgrenze hinweg; und schliesslich das Selbstverständnis und der politische Wille einer Sprachgemeinschaft.
Das erste Kriterium, die strukturellen Unterschiede,
entspricht etwa dem distinktiven Bündel von Merkmalen in
der Biologie. Für die anderen beiden Kriterien ist eine biologische Analogie schwieriger oder gar nicht zu finden. Die
gegenseitige Verständlichkeit wäre vielleicht mit der Paarungsfähigkeit in der Biologie vergleichbar. Zu einer bestimmten Art gehören all diejenigen Lebewesen, die sich
fruchtbar miteinander paaren können; eine gemeinsame
Sprache sprechen all diejenigen, die sich im Medium dieser
Sprache gegenseitig verständigen können. Doch bei genauerem Besehen taugt dieses Kriterium weniger, als es auf den
26
R E D E D E S R E K T O R S 2 010
ersten Blick erscheinen mag: Schweden und Norweger verstehen sich recht gut, obwohl sie eigentlich zwei verschiedene Sprachen sprechen. Umgekehrt verstehen sich Norddeutsche und Walliser kaum oder gar nicht, obwohl beide
dieselbe Sprache (nämlich Deutsch) sprechen. Hier kommt
nun das dritte Kriterium ins Spiel: Für die Definition einer
Sprache kommt es auch auf das Selbstverständnis einer
Sprachgemeinschaft an. Dazu gehört das Bekenntnis zu einer gemeinsamen Sprache, dazu gehören unter Umständen
aber auch gemeinsame politische Grenzen sowie der politische Wille, eine Gemeinschaft sprachlich zu legitimieren.26
Die Holländer in Südafrika sprachen jahrhundertelang
Holländisch beziehungsweise eine Variante des Holländischen. Erst 1925 wurde durch einen politischen Willensakt
aus dem Holländischen die neue Sprache Afrikaans. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Situation auf der
Iberischen Halbinsel (Abbildung 9): Aus linguistischer Sicht
werden dort drei romanische Sprachen gesprochen: das
Portugiesische, das Spanische und das Katalanische. Unter
General Franco wurden die sprachlichen Minderheiten unterdrückt, und es war zeitweise verboten, Katalanisch zu
schreiben oder sogar zu sprechen. Erst nach dem Tod Francos
im Jahr 1975 erlangte das Katalanische seine Autonomie
zurück und hat seit 1979 sogar den Status einer kooffiziellen
Sprache.27 Nicht immer führt politische Selbständigkeit und
Nationalstaatlichkeit jedoch zur Etablierung selbständiger
Sprachen: Deutschland, Österreich und die (deutschsprachige) Schweiz sind durch die gemeinsame Standard- und
Schriftsprache Deutsch verbunden; den nationalen Grenzen
entsprechen keine sprachlichen. Diese Beispiele zeigen, dass
bei der Frage nach der Distinktivität von Sprachen ein Faktor
mitspielt, den es in der Biologie so nicht gibt: die Selbstde-
27
FRANKREICH
ANDORRA
SPANIEN
Spanisch
POR
PO
RTUGAL
BALEAREN
Katalanisch
Baskisch
Galicisch
0
100
200km
Portugiesisch
Die Sprachen auf der Iberischen Halbinsel (vereinfacht)
Abbildung 9
RUMÄNIEN
SERBIEN
BOSNIENHERZEGOWINA
MONTENEGRO
BULGARIEN
KOSOVO
MAZEDONIEN
Slavische
Sprachen
ALBANIEN
Albanisch
GRIECHENLAND
0
100
200km
Rumänisch
Die Sprachen auf dem Balkan (vereinfacht)
Abbildung 10
R E D E D E S R E K T O R S 2 010
finition und das Bewusstsein einer Gruppe, eine gemeinsame
Sprache zu sprechen, die sich von anderen Sprachen unterscheidet.
E INE
DRITTE
D IFFERENZ zwischen biologischen Arten und
Sprachen betrifft ihre Vermischbarkeit beziehungsweise Hybridisierung. Hybridisierungen zwischen verschiedenen biologischen Arten kommen zwar vor, sind aber selten; wenn
sie vorkommen, sind die entstehenden Nachkommen in der
Regel weniger lebensfähig, unfruchtbar oder beides. Maulesel und Maultiere, die aus Kreuzungen von Pferd und Esel
entstehen, sind bekannte Beispiele für unfruchtbare Hybriden und damit für die begrenzte Möglichkeit der wechselseitigen genetischen Beeinflussung zwischen verschiedenen
Arten. Zumindest im Tierreich sind Hybriden also meist
evolutive Sackgassen. Anders verhält es sich bei den Sprachen. Sie können sich unabhängig von ihrer «genetischen»
Herkunft ohne Schwierigkeiten durch gegenseitigen Kontakt
auf vielfältige Weise beeinflussen und tun das auch oft.
Sprachkontakte und ihre Konsequenzen sind den Linguisten
seit langem vertraut. In der historischen Sprachwissenschaft
unterscheidet man heute sogar explizit zwischen dem klassischen, genetischen und dem durch Kontakt bewirkten
Sprachwandel.28 Beispiele für kontaktbedingte, klar nichtgenetische Sprachentwicklungen sind Entlehnungen, Angleichungen im Rahmen von Sprachbünden oder die Pidginund Kreolsprachen.
Die einfachsten Produkte von Sprachkontakten sind
Entlehnungen. Ihre Art und ihr Umfang hängen von Länge
und Intensität des Kontakts ab, nicht aber von der genetischen Nähe der Sprachen. Die Wörter Kaffee, Kakao und Tee
beispielsweise sind alles Lehnwörter, und zwar aus dem
29
KUBA
Spanisch
DOMINIKANISCHE
REPUBLIK
JAMAIKA
HAITI
0
PUERTO
RICO
250
500 km
Englisch und
jamaikanisches
Kreol
Französisch
und
haitianisches
Kreol
Die Sprachen in der Karibik (vereinfacht)
Abbildung 11
SCHOTTLAND
SchottischGälisch
NORDIRLAND
ISLE OF
MAN
REPUBLIK
IRLAND
IrischGälisch
ENGLAND
WALES
W
ALES
Walisisch
Kornisch †
0
100
200km
Manx †
Die keltischen Sprachen auf den Britischen Inseln (vereinfacht)
Abbildung 12
R E D E D E S R E K T O R S 2 010
Arabischen (via das Türkische), aus dem Aztekischen (via das
Spanische) und aus dem Chinesischen (via das Malaiische).
Dass das Deutsche mit keiner der genannten Gebersprachen
verwandt ist, spielt keine Rolle. Unter einem Sprachbund
versteht man eine Gruppe von Sprachen, die nahe beisammen in einer Region gesprochen werden und auffällige
Ähnlichkeiten aufweisen, die sie von anderen Sprachen unterscheiden. Im Unterschied zu einer Sprachfamilie sind die
in einem Sprachbund vereinten Sprachen jedoch genetisch
nicht oder nur entfernt verwandt. Bekanntestes Beispiel ist
der Sprachbund auf dem Balkan, dem eine Reihe von ganz
unterschiedlichen (indogermanischen) Sprachen angehören
(Abbildung 10): das Albanische, das Rumänische (eine romanische Sprache) sowie slawische Sprachen wie Mazedonisch
oder Bulgarisch. Im Rumänischen und Albanischen, aber auch
im Bulgarischen und Mazedonischen findet sich als Merkmal
der nachgestellte Artikel. Auf Rumänisch heisst lup ‹Wolf›,
lupul dagegen ‹der Wolf›, dies parallel zum Albanischen, wo
qen ‹Hund›, qeni dagegen ‹der Hund› heisst. Die Verbreitung
dieses Merkmals ist nicht durch genetische Verwandtschaft
bedingt, sondern allein durch geografische Nähe und
intensiven Kontakt. Eine maximale Beeinflussung über genetische Grenzen hinweg zeigt sich bei den sogenannten
Pidgin- und Kreolsprachen, die aus einer Vermischung von
mindestens zwei nicht verwandten Sprachen hervorgehen.
Beispiele dafür sind das auf dem Englischen basierende Kreol
von Jamaika und das auf dem Französischen basierende Kreol
von Haiti (Abbildung 11). Entlehnungen, Sprachbundphänomene und Kreolsprachen sind Beispiele von Hybridisierung.
In der Biologie ist sie eher selten und noch seltener von
weitreichender Bedeutung, bei Sprachen kommt sie jedoch
sehr häufig vor und ist eher die Regel als die Ausnahme.
31
R E D E D E S R E K T O R S 2 010
N OCH
EIN
W ORT
ZUM
V ERSCHWINDEN
UND
A USSTERBEN . Biolo-
gische Arten verschwinden, wenn sich die Umwelt so rasch
verändert, dass die Zeit für Anpassung durch Variation und
Selektion fehlt. Das wird besonders dort deutlich, wo der
Mensch relativ abrupt in die Natur eingreift. So hat zum
Beispiel die Einschleppung von Ratten, Katzen, Ziegen, Eseln
und auch fremden Pflanzenarten die Umwelt einiger Galapagosinseln so schnell und stark verändert, dass manche
einheimische Arten, die Darwin bei seinem Besuch 1835 noch
vorfand, heute ausgestorben sind. Gilt dies auch für Sprachen? Im Gegensatz zu Organismen existieren Sprachen ja
nicht aus sich selbst heraus, und sie perpetuieren sich auch
nicht durch Fortpflanzung. Sprachen leben dadurch, dass
Gemeinschaften von Sprechenden sie als Muttersprachen
verwenden und an ihre Nachkommen weitergeben. Sprachen
«sterben», wenn es keine Menschen mehr gibt, die sie sprechen. Dies kann eintreten, wenn ethnische Gruppen aussterben oder vernichtet werden. In vormaligen Kolonien wie
Nordamerika oder Australien verschwanden viele indigene
Sprachen, weil die sie sprechenden Völker ausgerottet wurden. In Australien zum Beispiel gab es beim Eintreffen der
Engländer rund 200 verschiedene Sprachen. Heute sind rund
50 von ihnen ausgestorben, weitere 100 sind vom Verschwinden bedroht.29 Häufiger sterben Sprachen aber an dem, was
Linguisten als Sprachwechsel bezeichnen: Hier werden Gesellschaften von Sprechenden nicht physisch dezimiert,
sondern sie geben – freiwillig oder unfreiwillig – ihre eigene
Sprache auf und übernehmen eine andere. In grossen Teilen
der Britischen Inseln etwa wurden noch vor tausend Jahren
verschiedene keltische Sprachen gesprochen (Abbildung 12).
Zwei davon sind mittlerweile ausgestorben: das in Cornwall
gesprochene Kornische (zuletzt gesprochen im 18. Jahrhun-
32
R E D E D E S R E K T O R S 2 010
dert) und das auf der Isle of Man gesprochene Manx (zuletzt
gesprochen im 20. Jahrhundert). Drei weitere keltische
Sprachen leben noch, doch geht die Zahl ihrer Sprecher
ständig zurück: das Irisch-Gälische in der Republik Irland,
das Schottisch-Gälische im Nordwesten Schottlands und das
Walisische in Wales.30 Auch in diesen Fällen lässt sich der
Niedergang teilweise auf Verfolgung, Unterdrückung und
Ausrottung, teilweise aber eben auch auf Sprachwechsel
zurückführen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts sprach man in
Irland noch weitgehend Gälisch. 1801 wurde die Insel Teil
des Vereinigten Königreichs.31 Im 19. Jahrhundert führte eine
Kartoffelseuche zu Hungersnöten, die viele Todesopfer forderten und zahlreiche Iren zur Auswanderung zwangen. Die
Zahl der Sprecher des Gälischen wurde damit durch äussere
Gewalt vermindert. Dazu kam, dass viele der in Irland bleibenden Iren durch Sprachwechsel zum Englischen übergingen, unter anderem weil die Unterrichtssprache in der 1831
eingeführten Volksschule nur Englisch war. In der Republik
Irland wird das Irisch-Gälische zwar heute noch gesprochen,
es ist aber eine gefährdete Minderheitensprache.32
I CH
KOMME ZUM
S CHLUSS . Evolution führt zu Vielfalt: Aus
einzelligen Lebewesen haben sich unzählige Arten von Pflanzen und Tieren entwickelt, aus der «Ursprache» des homo
sapiens die rund 6000 verschiedenen Sprachen, die heute
auf der Welt gesprochen werden. Die organische Vielfalt,
die Biodiversität, ist eine funktionelle Notwendigkeit: Es ist
kaum vorstellbar, dass die ganze Welt von einer einzigen
Pflanzenart bedeckt oder von einer einzigen Tierart bewohnt
wird; die Pflanzen- und Tierwelt variiert in einer Weise,
die als Anpassung an die jeweiligen geografischen, klimatischen und sonstigen ökologischen Bedingungen verstanden
33
August Schleicher, Stammbaum der indogermanischen Sprachen (1863)
Abbildung 13
R E D E D E S R E K T O R S 2 010
werden muss. Die verschiedenen Arten erfüllen in ihrer
jeweiligen Umwelt spezifische unverzichtbare Funktionen,
z. B. als Nahrung, Raubfeind, Krankheitserreger oder Symbiont. Auch Sprachen haben sich durch Evolution entwickelt,
doch gibt es im Unterschied zur organischen Welt bei der
Sprache keine funktionelle Notwendigkeit für Vielfalt. Es ist
mindestens theoretisch denkbar, dass auf der ganzen Welt
nur eine einzige Sprache (mit regional verschiedenen Dialekten) gesprochen würde. Um im Bild zu bleiben: Von den
6000 Sprachen sind 5999 nach rein biologisch-evolutionären
Begriffen verzichtbar. Die Vielfalt der Sprachen, dessen bin
ich mir als Linguist natürlich bewusst, ist jedoch auf einer
anderen Ebene höchst bedeutsam. Sprachen sind Ausdruck
und Träger der kulturellen Diversität, die ein zentrales Kennzeichen der menschlichen Lebensformen auf dieser Welt ist.
Sie sind gleichzeitig Merkmale von Identität, weil Gemeinschaften sich durch Sprache ihrer selbst vergewissern. Ohne
Sprachendiversität gäbe es weniger kulturelle Vielfalt und
weniger kulturelle Identität. Dies zu vertiefen, könnte Gegenstand einer weiteren Rede sein.33
35
R E D E D E S R E K T O R S 2 010
Anmerkungen
1
Meine Übersetzung. Original (zitiert nach Paul H. Barrett, Peter U. Gautrey, Sandra Herbert, David Kohn and Sydney Smith [transcr. and ed.],
Charles Darwin’s Notebooks, 1836–1844: Geology, Transmutation of Species,
Metaphysical Enquiries [Cambridge: British Museum / Cambridge University Press, 1987], S. 36): «Thus between A & B immens gap of relation, C &
B the finest gradation, B & D rather greater distinction. Thus genera
would be formed.»
2
Der vollständige Titel des Werks lautet On the Origin of Species by Means
of Natural Selection or The Preservation of Favoured Races in the Struggle for
Life (London: John Murray, 1859). Das «On» fiel ab der 6. Ausgabe (1872)
weg.
3
Ernst Haeckel, Anthropogenie oder Entwicklungsgeschichte des Menschen,
3. umgearbeitete Auflage (Leipzig: Verlag von Wilhelm Engelmann,
1877).
4
August Schleicher, «Die ersten Spaltungen des indogermanischen Urvol-
5
August Schleicher, Die Deutsche Sprache (Stuttgart: J. G. Cotta’scher
kes», Allgemeine Zeitschrift für Wissenschaft und Literatur, August 1853.
Verlag, 1860); ders., Die Darwinsche Theorie und die Sprachwissenschaft:
Offenes Sendschreiben an Herrn Dr. Ernst Häckel, a.o. Professor der Zoologie
und Director des zoologischen Museums an der Universität Jena (Weimar:
Hermann Böhlau, 1863).
6
In den Kapiteln 1 und 2 ist Sprache nicht erwähnt, wohl aber in der
zweiten Version der Schöpfungsgeschichte, die sich im Kapitel 3 findet:
«Da bildete Gott der Herr aus Erde alle Tiere des Feldes und alle Vögel
des Himmels und brachte sie zum Menschen, um zu sehen, wie er sie
nennen würde; und ganz wie der Mensch sie nennen würde, so sollten
sie heissen. Und der Mensch gab allem Vieh und allen Vögeln des Himmels und allen Tieren des Feldes Namen; [...].» Alle Bibelstellen sind nach
der Zürcher Bibel von 1961 zitiert.
7
Temporär rückgängig gemacht wird die babylonische Sprachverwirrung
durch das Pfingstwunder (Apostelgeschichte, Kapitel 2): «Und als der Tag
des Pfingstfestes endlich da war, waren sie [die Apostel] alle an einem
Ort beisammen. Und plötzlich entstand vom Himmel her ein Brausen,
wie wenn ein gewaltiger Wind daherfährt, und erfüllte das ganze Haus,
worin sie sassen. Und es erschienen ihnen Zungen, die sich zerteilten,
wie von Feuer, und es setzte sich auf jeden unter ihnen. Und sie wurden
alle mit dem heiligen Geist erfüllt und fingen an, in andern Zungen zu
reden, wie der Geist ihnen auszusprechen gab. [...] Als aber dieses Getöse
37
R E D E D E S R E K T O R S 2 010
sich erhob, lief die Menge zusammen, und sie wurde verwirrt; denn jeder
hörte sie in seiner eignen Sprache reden.»
8
Meine Übersetzung. Original (zitiert nach David Crystal, The Cambridge
Encyclopedia of Language [Cambridge: Cambridge University Press, 1987],
S. 296): «The Sanskrit language, whatever be its antiquity, is of a wonderful structure; more perfect than the Greek, more copious than the Latin,
and more exquisitely refined than either, yet bearing to both of them a
stronger affinity, both in the roots of verbs, and in the forms of grammar,
than could possibly have been produced by accident; so strong, indeed,
that no philologer could examine them all three, without believing them
to have sprung from some common source, which, perhaps, no longer
exists.»
9
Franz Bopp, Vergleichende Grammatik des Sanskrit, Zend, Griechischen,
Lateinischen, Litthauischen, Altslawischen, Gothischen und Deutschen (Berlin: Ferdinand Dümmler, 1833–1852); Rasmus Rask, Über das Alter und die
Echtheit der Zend-Sprache und des Zend-Avesta, und Herstellung des ZendAlphabets; nebst einer Übersicht des gesammten Sprachstammes, übersetzt
von Friedr. Heinrich von der Hagen (Berlin: Duncker und Humblot, 1826);
Jacob Grimm, Deutsche Grammatik (Göttingen: Dieterich, 1819–1834).
10
Das – heute nicht mehr gesprochene – Gotische ist durch eine von
ca. 400 n. Chr. stammende Bibelübersetzung dokumentiert; Runisch ist
belegt durch Runeninschriften in Skandinavien vom 4. bis zum 8. Jhdt.;
die ältesten erhaltenen altnordischen Texte in lateinischer Schrift stammen aus dem 12. Jhdt.; Altenglisch ist vom 7. Jhdt. an belegt, Altsächsich
und Althochdeutsch vom 8. Jhdt. an.
11
Vgl. den Führer zur Ausstellung «Der Baum des Lebens: Vielfalt und
Einheit», die – kuratiert von der Universität Zürich, der ETH Zürich und
«Life Science Zürich» – vom 4. bis 6. September 2009 in der Halle des
Hauptbahnhofs Zürich stattfand, S. 36f.
12
Damit sich Sprache entwickeln konnte, mussten neben einem gut
entwickelten Gehirn auch gewisse physiologische Bedingungen erfüllt
sein: Eine Rolle spielen beispielsweise die Lage des Kehlkopfs, wie sie nur
bei aufrecht gehenden Primaten vorkommt, sowie die Form des Zungenbeins, das die Bewegung der Zunge kontrolliert.
13
Vgl. Jean Aitchison, The Seeds of Speech: Language Origin and Evolution
(Cambridge: Cambridge University Press, 1996), Kap. 5 «The family tree».
14
Die älteste bekannte Schrift ist die sumerische Keilschrift von etwa
15
«Our earliest written records [of any language] are around 5000 years
3000 v. Chr.
old, though most are more recent. By comparing different early
38
R E D E D E S R E K T O R S 2 010
languages, we can reconstruct what some languages may have been like
up to 10 000 years ago, according to the standard view. Yet language
must have evolved at least 50 000 years ago, and most researchers
propose a date around 100 000 years ago.» (Aitchison, The Seeds of Speech
[wie Anmerkung 13], S. 4).
16
Nach David Crystal (The Cambridge Encyclopedia of Language
[Cambridge: Cambridge University Press, 1987], S. 294f.) unterscheidet
man weltweit 29 Sprachfamilien.
17
Vgl. Merritt Ruhlen, The Origin of Language: Tracing the Evolution of the
18
Vgl. Ausstellungsführer (wie Anmerkung 11), S. 204f.
19
Für die Evolution relevante Variation in der Biologie ist genetisch bedingt,
Mother Tongue (New York: John Wiley, 1994).
Variation in der Sprache durch die Sprachproduktion. Man vergleiche
Ferdinand de Saussures Unterscheidung zwischen langue (dem potentiell
festen Sprachsystem) und parole (der potentiell variablen Realisation):
«En séparant la langue de la parole, on sépare du même coup: 1° ce qui
est social de ce qui est individuel; 2° ce qui est essentiel de ce qui est
accessoire et plus ou moins accidentel.» (Ferdinand de Saussure, Cours de
linguistique générale [1915] [Paris: Payot, 1982], S. 30).
20
Variation ist der zentrale Gegenstand der Soziolinguistik.
21
Zitiert nach James M. Anderson, Structural Aspects of Language Change,
Longman Linguistics Library 13 (London: Longman, 1973), S. 18.
22
In Kolonien gesprochene Sprachen der jeweiligen Kolonialländer sind
freilich auch ein Beispiel dafür, dass Sprache nicht nur adaptiv ist, sondern als Instrument kultureller Hegemonie selber neue Realitäten schafft.
23
Meine Übersetzung. Original (zitiert nach Edward Sapir, Language:
An Introduction to the Study of Speech [1921] [London: Granada, 1963],
S. 155): «The linguistic drift has direction. In other words, only those individual variations embody it or carry it which move in a certain direction,
just as only certain wave movements in the bay outline the tide. The drift
of a language is constituted by the unconscious selection on the part of
its speakers of those individual variations that are cumulative in some
special direction.»
24
Sapir, Language (wie Anmerkung 23), S. 156–170.
25
In der Sprachwissenschaft werden Unterschiede in der Systematik von
26
Auf den Punkt gebracht wird diese politische Legitimierung einer Sprache
Sprachen unter dem Stichwort Typologie untersucht.
durch den vom Linguisten Max Weinreich (1894–1969) in Umlauf gebrachten Aphorismus: «A language is a dialect with an army and a navy»
(1945, ursprünglich auf Yiddisch).
39
R E D E D E S R E K T O R S 2 010
27
Kooffizielle Sprachen sind in Spanien auch das historisch gesehen mit
dem Portugiesischen verwandte Galicische und das mit den romanischen
Sprachen nicht verwandte Baskische. Zu den auf der Iberischen Halbinsel
gesprochenen Sprachen vgl. Georg Bossong, Die romanischen Sprachen:
Eine vergleichende Einführung (Hamburg: Buske, 2008).
28
Vgl. Sarah Grey Thomason und Terrence Kaufman, Language Contact,
Creolization, and Genetic Linguistics (Berkeley: University of California
Press, 1988).
29
Tom McArthur (ed.), The Oxford Companion to the English Language
30
Dazu kommt das Bretonische in Frankreich.
31
Erst 1912, nach einem langen Freiheitskampf, erlangte der grössere Teil
32
Gestärkt wird es durch die Tatsache, dass es neben dem Englischen
(Oxford: Oxford University Press, 1992), s.v. «Australian Languages».
Irlands, die heutige Republik Irland, wieder die Unabhängigkeit.
Nationalsprache der Republik Irland ist und als solche in den Schulen
unterrichtet wird. Für die Mehrzahl der Iren ist das Gälische nicht
Muttersprache, sondern in der Schule gelernte Zweitsprache.
33
Folgenden Personen danke ich für Anregungen, Ratschläge
und konstruktive Kritik: Dr. Peter Collmer, Prof. Dr. George Dunkel,
Dr. Sandra Engler, Prof. Dr. Heinz-Ulrich Reyer, Prof. Dr. Carolus van
Schaik.
40
R E D E D E S R E K T O R S 2 010
Bildnachweis
Abb. 1
Abb. 2
R.T. Pritchett, Die H.M.S. Beagle an der Küste Südamerikas (1860), Keystone.
Charles Darwin, Notebook B, Transcr. by Kees Rookmaaker, Darwin Online,
http://darwin-online.org.uk.
Abb. 3
Charles Darwin, On the Origin of Species by Means of Natural Selection or
the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life (London: John
Murray, 1859), zwischen S. 117 und S. 118.
Abb. 4
Ernst Haeckel, Anthropogenie oder Entwicklungsgeschichte des Menschen,
3. umgearbeitete Auflage (Leipzig: Verlag von Wilhlem Engelmann, 1877),
Tafel XV, zwischen S. 526 und S. 527.
Abb. 5
Robert J. Richards, «The Linguistic Creation of Man: Charles Darwin, August
Schleicher, Ernst Haeckel, and the Missing Link in Nineteenth-Century
Evolutionary Theory», in Matthias Dörries (Hrsg.), Experimenting in Tongues:
Studies in Science and Language (Stanford: Stanford University Press, 2002),
S. 35.
Abb. 6
August Schleicher, Die Deutsche Sprache (Stuttgart: J. G. Cotta’scher
Verlag, 1860), S. 81.
Abb. 7
Abb. 8–12
Abb. 13
Gustave Doré, Der Turm von Babel (1865), istockphoto.
UZH, Grafische Umsetzung: Peter Schuppisser, Philipp Tschirren, Zürich.
August Schleicher, Die Darwinsche Theorie und die Sprachwissenschaft
(Weimar: Hermann Böhlau, 1863), Faltdiagramm am Ende des Buches.
41
IMPRESSUM
Herausgeberin
Beauftragte
Publishing
Gestaltung
Titelbild
Druck
Auflage
Erscheinungsdatum
Adresse
Zürcher
Universitätsschriften Nr. 12
Universitätsleitung
der Universität Zürich
Dr. Peter Collmer,
Dr. Sandra Engler
Kommunikation
Roger Nickl (Redaktion)
Atelier Versal, 8044 Gockhausen
Peter Schuppisser Tschirren
Ursula Meisser
NZZ Fretz AG, Schlieren
2700
April 2010
Rektorat der
Universität Zürich,
Künstlergasse 15, 8001 Zürich
Telefon 044 634 22 11
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