Baum des Jahres: Maulbeere Georg Schramayr Gebrauchspflanzenbüro Sie ist keine Beere und braucht kein Maul Im allgemeinen Sprachgebrauch ist eine Beere eine kleine, meist saftige Frucht. Der botanische Fachbegriff der Beere ist freilich viel enger und vor allem viel genauer definiert. In der Botanik ist die Maulbeerfrucht daher keine Beere sondern eine aus vielen „Segmenten“ zusammengestellte Sammelfrucht. Jede der dicht aneinander gedrängten Einzelfrüchte hat eine weiche, saftige Außenschicht in der sich ein kleiner harter Stein befindet, der wiederum den eigentlichen Samen umschließt. Wäre die Einzelfrucht nicht so winzig, würde man bei diesem Aufbau an Steinobst denken und tatsächlich ist die Maulbeere eine Sammel-Steinfrucht. Was hat es nun aber mit dem Wortteil Maul- auf sich? Mit Schnauze oder Mund hat die Maulbeere jedenfalls nichts zu tun. Vielmehr ist das Maul ein Schreib- Hör- oder Verständnisfehler, der schon sehr, sehr lange zurückliegt. In alten römischen Agrar- und Gartentexten wird immer wieder eine Art erwähnt, die morum genannt wurde. Wir wissen heute nicht mehr, welche Pflanzenart damit ursprünglich gemeint war. Manchmalt rifft der Name auf ein ausladendes Gehölz zu, dann wieder auf das Rankengewirr eines vieltriebigen Strauches. Möglicherweise wurde der Name morum für Maulbeere und Brombeere gleichermaßen verwendet. In den wenige erhaltenen althochdeutschen Texten mit Pflanzenbezug heißt die Maulbeere noch sehr lateinnahe mōrberi und wird im Mittelhochdeutschen zu mūlber. Die Maulbeere ist eine spätere etymologische Neudeutung eines unverständlich gewordenen Begriffes. Die „schlampigen“ Weibchen Maulbeeren sind eine Gattung innerhalb der Familie der Maulbeergewächse und in Europa durch zwei Arten vertreten, die beide aus Asien stammen. Ursprüglich in Europa heimische Arten gibt es nicht. Die bei uns hauptsächlich wegen der Früchte kultivierten Maulbeeren habe mit einer Reihe von Besonderheiten aufzuwarten, die zeigen, dass trotz jahrhundertelanger Kultur noch sehr viel „Wildheit“ in dieser Pflanzengattung steckt. So ist beispielsweise die Maulbeere zweihäusig. Es gibt somit – wie bei den frühen Kiwi-Arten – rein männliche und rein weibliche Individuen. Für eine erfolgreiche Befruchtung braucht es demnach beide Geschlechter in unmittelbarer Nähe. Im scheinbaren Widerspruch dazu gibt es zahlreiche, völlig isoliert stehende Maulbeerbaum-Individuen die massenhaft Früchte produzieren. Grund dafür ist die „schlampige“ Ausbildung der Blütenkomponenten. So gibt es weibliche Bäume, die einige wenige männliche Blüten hervorbringen, gerade so viele, dass die Bestäubung gewährleistet ist. Durch die Nutzung als Kulturpflanze wurde diese ursprünglich seltene Eigenschaft regelrecht herausselektioniert. Wenn Maulbeeren aus Samen kultiviert werden, entstehen aber auch immer einige rein männliche Exemplare, die keine Früchte bringen, es sei denn sie sind wieder „schlampig“. In diesem Fall finden sich auf einem Baum mit 10 m Kronendurchmesser lediglich 10 bis 20 (Sammel-)Früchte. NÖ Baumtag 15. September 2017, Baden bei Wien Feigenblätter und Spinner-Abwehr Eine weitere Maulbeer-Besonderheit ist die Blattgestalt. Wenn die Pflanze wenig Stress ausgesetzt ist, hat das Blatt eine breit eiförmige Umrisslinie mit zahlreichen kleinen Zähnchen. Bei Verbiss oder Schnitt während der Vegetationsperiode reagiert das Laub mit tiefen Einbuchtungen, sodass im Extrem die Blattgestalt eines Feigenblattes entsteht. Die Einbuchtungen sind häufig einseitig oder unsymmetrisch und ähneln dem Fraß-Bild einer Raupe. Möglicherweise ist dieses seltsame Verhalten auf eine jahrmillionenalte Coevolution zwischen der Maulbeere und dem Seidenspinner zurückzuführen. Die Seidenraupe nutzt die Maulbeere ja als Wirtspflanze und die Bereitschaft des Schmetterlingsweibchens ihr Gelege auf Blätter mit Fraß-Bildern abzulegen ist stark gebremst. Die vorgetäuschte Anwesenheit einer oder mehrerer Schmetterlingsraupen kostet der Pflanze zwar wertvolle Photosynthesefläche, die aber durch eine höhere Blattzahl kompensiert wird. Fruchtfarbe und verwirrende Artnamen Die möglichen Fruchtfarben bei den drei in der nördlich-gemäßigten Zone vorkommenden MaulbeerArten reicht von weißlich über rosa und rot bis zu schwarzviolett. Diese große Variabilität innerhalb der Arten war dem Vater unseres modernen botanischen Namenssystems, Carl von Linné, vor fast 300 Jahren noch nicht bekannt, deshalb entschied er sich, die Fruchtfarben der ihm vorliegenden Pflanzenmuster in der Benennung zu verwenden. Die ostasiatische Maulbeere nanne er Weiße Maulbeere (Morus alba) obwohl die Art auch rotfrüchtig und häufig sogar schwarzfrüchtig sein kann. Die vorderasiatische Maulbeere bekam den Namen Schwarze Maulbeere (Morus nigra), obwohl es auch rote Formen davon gibt und die nordamerikanische Verwandte wurde zur Roten Maulbeere(Morus rubra). Von dieser, in Europa sehr selten geflanzten Art existieren auch rosarote Formen. Hätte der umsichtige und penible Forscher gewusst, wie viel Verwirrung er damit erzeugt, hätte er sicher gerne auf andere Unterscheidungsmerkmale zurückgegriffen. Sowerden schwarzfrüchtige Weiße Maulbeeren häufig alsSchwarze Maulbeeren in den Handel gebracht. Die botanischen Namen sind unverrückbar. Was liegt das pickt, sagt man im Kartenspiel und das gilt auch in der wissenschaftlichen Nomenklatur. Eine leichte Entschärfung kommt von den österreichischen Pflanzensystematikern. Sie verwenden neuerdings die deutschen Namen Weiß-Maulbeere, Schwarz-Maulbeere und Rot-Maulbeere, so dass zumindest das verwirrende Eigenschaftswort wegfällt. Kulturgeschichte am Strassenrand In Ostösterreich gibt es uralte Maulbeerbäume, deren Pflanzzeitpunkt in die Regierungszeit Maria Theresias fällt. Damals wurde versucht, eine österreichische Seidenproduktion zu schaffen und es wurden große Mengen von Bäumen gepflanzt. Mit dem geernteten Laub wurden die Seidenraupen (damals Seidenwürmer genannt) gefüttert und in eigen Kulturräumen zur Verpuppung gebracht. Wegen der notwendigen hohen Raumtemperaturen brach die Seidenproduktion aber bald wieder zusammen, lediglich einige der Maulbeerbäume zeugen noch von diesem Kulturversuch. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden erneut Anstrengungen unternommen, die Seidenproduktion als Alternativproduktion zu etablieren. In zahlreichen Auspflanzaktionen in Oberösterreich, Niederösterreich und vor allem im heutigen Burgenland wurden Straßenränder, Brachflächen und Dorfumgebungen mit Maulbeeren bepflanzt. Auch diese zweite Maulbeerinitiative scheiterte an den hohen Produktionskosten. Eine dritte Pflanzwelle folgte in der Schlussphase des Zweiten Weltkrieges. Wegen des hohen Bedarfes an Fallschirmseide und einer Sperre des Seeweges von Japan nach Deutschland wurde Feldraine, Gärten, Kirchhöfe und Brachflächen mit Maulbeere bepflanzt. Aus dieser Zeit sind noch viele NÖ Baumtag 15. September 2017, Baden bei Wien Pflanzungen erhalten. Sie überdauerten die 70 Nachkriegsjahre trotz aufgegebener Nutzung erstaunlich gut und sind durch den früheren Schnitt oft eigenwillige, knorrige Erscheinungen. Für die Seidenraupenzucht wurde ausschließlich die Weiß-Maulbeere verwendet. Im Volksmund heißen sie allerdings Echte Maulbeeren, wenn es sich um Weibchen handelt, oder Falsche Maulbeeren, wenn es Männchen sind. Die echte Schwarz-Maulbeere ist meist über kulturelle oder Handelsbeziehungen zu uns gekommen. Wegen ihres hohen Wärmeanspruches kommt sie nur im pannonischen Osten Österreichs gut über den Winter und versagt bei einer Seehöhe von 400 m. Für den Hausgarten sind Maulbeeren ein interessantes Naschobst, das allerdings in kurzer Zeit in großer Masse anfällt und nur kurze Zeit lagerfähig ist. NÖ Baumtag 15. September 2017, Baden bei Wien