Anorexia nervosa – Wer kann was tun Diagnostischtherapeutisches Seminar Klinik für Allgemeine Innere Medizin Inselspital Bern 12.6.2008 Thomas Fischer Psychosomatik Lory Anorexie DTS 12.6.08 Fischer 1 Anorexia nervosa – Wer kann was tun Lernziele - Früherkennung, Diagnostik - Patienten motivieren - Behandlungsmöglichkeiten in der Praxis - Zuweisen: wann, wo Anorexie DTS 12.6.08 Fischer 2 Was ist zu tun? Erkennen Abklären (Mit-) Behandeln Überweisen Einweisen Anorexie DTS 12.6.08 Fischer Motivieren 3 Erkennen: Symptome • • • • • • • • Obstipation, Blähungen, Völlegefühl Schlafstörungen Kältegefühl Amenorrhoe Müdigkeit, Schwäche, Schwindel Konzentrationsstörungen emotionale Labilität, Depressivität Motorische Unruhe Anorexie DTS 12.6.08 Fischer 4 Erkennen: Verhalten • Intensive Beschäftigung mit gesunder Ernährung, Diät • übermässig Sport • Monopolisierung der Interessen • Sozialer Rückzug • Angehörige "terrorisiert" • Zwangshandlungen • Angst, zuzunehmen Anorexie DTS 12.6.08 Fischer 5 Anorexie ICD-10 • Body-Mass-Index von 17,5 oder weniger (bei Erwachsenen) • Der Gewichtsverlust ist selbst herbeigeführt durch Vermeidung von hochkalorischer Nahrung und zusätzlich mind. eine der folgenden Möglichkeiten: – – – – selbstinduziertes Erbrechen selbstinduziertes Abführen übertriebene körperliche Aktivität Gebrauch von Appetitzüglern und/oder Diuretika • Köperschemastörung in Form einer spezifischen psychischen Störung • Endokrine Störungen, bei Frauen manifest als Amenorrhoe • Bei Beginn der Erkrankung vor der Pubertät ist die Abfolge der pubertären Entwicklung gestört Anorexie DTS 12.6.08 Fischer 6 Verwandte Störungen: Wandern zwischen Essstörungen Verbindende Merkmale: - Körperschemastörung - Übermässige Beschäftigung mit Essen, Figur und Gewicht Anorexie DTS 12.6.08 Fischer 7 Abklären: Esstörung explorieren • Facts • Gewichtsverlauf, min., max. • Erbrechen, Laxantien, andere Medikamente • Sport • Vorstellungen • Wie mögen Sie ihren Körper? • Wunschgewicht? Magische Limiten? • Bereit, für Gesundheit zuzunehmen? Anorexie DTS 12.6.08 Fischer 8 Abklären: Risikofaktoren / Kofaktoren • • • • • Geschlecht Alter Kulturkreis Belastende Lebensereignisse Persönlichkeit und psychisches Befinden: • Perfektionismus • tiefer Selbstwert (angepasst, konfliktvermeidend) • Impulsivität • Depression, Angst • Familiäre Morbidität: Essstörungen, Depression, Sucht • Spezieller sozialer Druck auf Figur und Gewicht Anorexie DTS 12.6.08 Fischer 9 DD: Andere Ursachen für Gewichtsverlust? • Andere Psychiatrische Störungen (Depression, Psychose, Zwangsstörung) • Gastrointestinal (Crohn, Colitis ulc., Zoeliakie) • Endokrin (Hyperthyreose, M. Addison, HVLInsuffizienz Diabetes mellitus • Tumore • Drogenabhängigkeit Anorexie DTS 12.6.08 Fischer 10 Labor / Technik minimal • Unmittelbare therapeutische Konsequenzen: – Na,K,Cl, ev Bicarbonat – EKG (Baseline QT) – Densitometrie (n. 1J) • Abschäztung des Schweregrades, Motivation der Pat.: – Blutbild – Leber- Nierenwerte – TSH, T3 Anorexie DTS 12.6.08 Fischer 11 Mögliche Laborkonstellation • Anämie, Eisenmangel, Leukopenie • Verminderte Blutwerte von Kalium, Chlorid, Magnesium, Phosphat • Kreatininerhöhung, Hypoalbuminämie, erhöhte Leberenzyme • Hypovitaminose • Hypoglykämien • low-T3, erhöhtes Cortisol, hypophysärer Hypogonadismus • hyposmolarer Urin • Amylase und Cholesterin erhöht Oft normale Laborwerte trotz erheblicher Kachexie! Anorexie DTS 12.6.08 Fischer 12 Klinik, technische Befunde • Schuppige Haut, brüchige, schüttere Haare, Nägel, Lanugobehaarung • Veränderungen an Zahnschmelz, Zahnfleisch, Mundwinkel • Hypotonie, Bradykardie, QT-Verlängerung • Verminderte Darmmotilität, Obstipation • Kortikale Atrophie, Polyneuropathie • Osteopenie, Osteoporose Anorexie DTS 12.6.08 Fischer 13 Motivieren, Beraten 1 • Früh reagieren – Wichtigste prognostische Faktoren: • Krankheitsdauer • Später Beginn • tiefes Gewicht • psychiatrische Komorbidität • Alarmieren • Therapeutische Beziehung aufbauen – Unterschiedliche Ziele Arzt / Patientin – Ambivalenz beim Arztbesuch – Angst vor Veränderung (Aufgabe der Kontrolle) • Die Patientin und ihre Krankheit kennenlernen Anorexie DTS 12.6.08 Fischer 14 Motivieren, Beraten 2 • Mithelfen lassen • Bezugspersonen (Familie, Partner, Lehrer...) einbeziehen, beraten • Informationsmaterial (Netz, Flyer, Bücher) • Beratungsstellen (Bezugspersonen) • Ambulante Fachstellen (Abklärung, Empfehlung, Motivation) • Kliniken (Vorgespräch, Besichtigen, Probe) • "Motivieren" mit Druck • Eltern • Behörde Adressen: www.netzwerk-essstoerungen.ch Anorexie DTS 12.6.08 Fischer 15 Stabilisierung durch Krankheitsverhalten: Gewicht abnehmen SelbstAblehnung, Unruhe, Angst Innere Ruhe, Stolz Selbstakzeptanz Leere, Depression Schwäche, Angst Funktionsverlust Gewicht Auslösende Faktoren >>>>>> Unterhaltende Faktoren Anorexie DTS 12.6.08 Fischer 16 Stabilisierung durch Krankheitsverhalten: Purging / Erbrechen: Somat. Probleme Schwäche Funktionsverlust soziale Isolation Finanzprobleme Scham, Schuldgefühle Selbst-Ablehnung Unzufriedenheit mit Figur und Gewicht Selbstablehnung Unruhe, Angst Purging: Beruhigung Essanfall: Besänftigung Angst vor Gewicht Schuldgefühle Erbrechen: Spannungsabfuhr Reinigung Erleichterung Anorexie DTS 12.6.08 Fischer 17 Behandeln: Therapieziele 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. Gewicht normalisieren (0.25 – 1 kg/Wo) Risiken und Spätfolgen verhindern Essverhalten normalisieren Dysfunktionales und irrationales Denken verändern, Alternative Verhaltensweisen erlernen Körperliche und emotionale Selbstwahrnehmung verbessern Emotionale Ausdrucksfähigkeit trainieren Selbstwertgefühl und Selbstverantwortung aufbauen Aufbau adäquater familiärer Prozesse fördern Verpasste Entwicklungsschritte nachholen Anorexie DTS 12.6.08 Fischer 18 Gewicht normalisieren • • • • Feste Tagesstruktur mit festgelegten Mahlzeiten (ev. Zwischenmahlzeiten) Vereinbarte Kontrollen (Gewicht, ev. Essen, schädliche Verhaltensweisen) Support, Ermutigung Verhaltenstraining ev. mit Belohnungssystem Ernährungsberatung (begleitend) • Ev. spezielle Ernährung • • Energie-Drinks • Nasensonde (Klinik) Anorexie DTS 12.6.08 Fischer 19 Risiken und Spätfolgen verhindern 1. 2. 3. Somatisches Monitoring Knochenmineralisation: Ca, Vit. D, (Hormonersatz) Ev. Substitution von Vitaminen und Mineralien beim Gewichtsaufbau - Refeeding-Syndrom bei Beginn des Ernährungsaufbaus 4. Bei Erbrechen: Zähne versiegeln Anorexie DTS 12.6.08 Fischer 20 Psychotherapie: kaum Unterschiede in Studien • • • • • • Dysfunktionales Denken Gestörte Selbstwahrnehmung Verminderte emotionale Ausdrucksfähigkeit Vermindertes Selbstwertgefühl und Gestörte Familiendynamik Verpasste Entwicklungsschritte • • • • • • Anorexie DTS 12.6.08 Fischer Kognitive Verhaltenstherapie Achtsamkeit, Körpertherapie Familienorientierte Therapie (junge Pat.) Fokal psychoanalytische Therapie Kognitiv-analytische Therapie Standardtherapie 21 Psycho-Pharmakotherapie • Anorexie nicht pharmakotherapeutisch behandeln • SSRI (Fluctine 60mg/d) reduziert Erbrechen • Komorbidität entsprechend behandeln • Symptomatische Pharmakotherapie (Unruhe, Schlaf) Anorexie DTS 12.6.08 Fischer 22 Ambulant oder stationär? • • • • Meist mehrere, unterschiedliche Behandlungsphasen im Lauf der Erkrankung Behandlungskontinuität wichtig, Schnittstellen sind kritisch Meist Team- Behandlung / vernetzte Behandlung Oft mehrere Anläufe, Abbrüche Anorexie DTS 12.6.08 Fischer 23 Ambulante Therapie: Welche Elemente werden benötigt? EinzelPsychotherapie Kontrolle Fortlaufende Motivation Körpertherapie Vernetzung Somatisches Monitoring Struktur Beratung Re-Evaluation Systemtherapie Anorexie DTS 12.6.08 Fischer 24 Ambulante Therapie: Welche Rollenträger werden benötigt? Hausarzt Bezugsperson(en) Psychotherapeut Familientherapeut Körpertherapie – (Gruppe) Ernährungsberatung Angehörigenberatung Klinik (Standby) Anorexie DTS 12.6.08 Fischer 25 Ambulante Therapie: Haltung und Management •Verständnis zeigen, aber Essstörung nicht gutheissen. •Eigene Gefühle äussern (respektvoll) •Klare Abmachungen, ev. auch schriftlich (Verantwortung der Patientin, Gewichtsgrenzen). •Gespräche mit Bezugspersonen können sehr hilfreich sein, aber vorher mit der Patientin absprechen. •Therapeutische Verantwortung mit anderen Fachpersonen teilen. •Kontinuität wahren Anorexie DTS 12.6.08 Fischer 26 Indikation zur stationären Behandlung • BMI < 13 kg/m2 • Medizinische Probleme – Hypokaliämie <3 mmol/l – Bradykardie <40/min – Ausgeprägte Schwäche • Rasch fallendes Gewicht • Behandlungsgeschichte • Depression, Zwänge, Suizidalität • Impulskontrollstörung • Mehrfachabhängigkeit • Soziale Isolation • Trennung des sozialen Systems erforderlich Anorexie DTS 12.6.08 Fischer 27 Stationäre Behandlung: wer kann was tun? • Psychosomatische Klinik • Fachklinik für Essstörungen • Gewichtsaufbau, somatische Komplikationen, psychologische Behandlung • Psychotherapeutische Klinik • Psychotherapie, Stabilisierung • Medizinische Klinik • Somatische Lebensgefahr • Psychiatrische Klink • Psychiatrische Lebensgefahr (Suizidalität, Kooperation) Anorexie DTS 12.6.08 Fischer 28 Fachstellen Kanton Bern Erwachsene (unvollständig) Kliniken/ Stationäre Angebote Wysshölzli Suchtfachklinik für Frauen 3360 Herzogenbuchsee Inselspital Psychosomatische Abeilung Klinik für Allgemeine Innere Medizin 3010 Bern Ambulante Fachstellen Inselspital Bern ZAEP: „Adipositas, Ernährungspsychologie und Prävention von Essstörungen“ Verein PEP Zentrum für Systemische Therapie und Beratung ZSB 3011 Bern Lindenhofspital Psychosomatische Station PSOMA 3012 Bern Berner Gesundheit, Stiftung für Gesundheitsförderung und Suchtfragen Bern, Thun, Biel, Burgdorf Klinik SGM Langenthal 4900 Langenthal Psychiatrische Poliklinik Universitätsspital Zürich Zentrum für Essstörungen, stationäre Behandlung 8091 Zürich Gesundheitsdienst der Stadt Bern Ernährungsberatung 3001 Bern n.ch e g n u r e o t s s s -e www.netzwerk Anorexie DTS 12.6.08 Fischer 29 Kinder und Jugendliche Kanton Bern (unvollständig) Kliniken/ Stationäre Angebote Fachstellen Ambulante Fachstellen Inselspital Kinderklinik Psychosomatische Abteilung 3010 Bern Kinder- und Jugendpsychiatrischer Dienst der Stadt Bern Effingerstrasse 12 3011 Bern Kinder- u. Jugendpsychiatrische Klinik Neuhaus (UPD) 3063 Ittigen Universitäre Psychiatrische Dienste Kinder- und jungendpsychiatrischer Dienst Biel-Seeland Berner Jura 2501 Biel Inselspital Sprechstunde für Ess-Störungen für Kinder Psychosomatische Abteilung des Kinderspitals Bern 3010 Bern h c . n e g n u r e o t s -ess k r e w z t e n . w w w Anorexie DTS 12.6.08 Fischer 30 Literatur Rewiews und Guidelindes Therapiestudien Fairburn CG, Harrison PJ. Eating disorders. THE LANCET 2003; 361:407-416 Fairburn CG. Evidence-Based Treatment of Anorexia Nervosa. Int J Eat Disord 2005; 37:26-30 Fichter MM: Diagnostik und Therapie anorektischer Essstörungen Fortschr Neurol Psychiat 2006: 74: 284-299 Kamber V: Essstörungen – nicht nur ein psychiatrisches Problem. Schweiz. Med. Forum 2005; 5:1195-1202 Wilson GT., Roz S. Eating disorders guidelines from NICE. THE LANCET 2005; 365: 79-81 Dare C, Eisler I, Russel G. et al Psychological therapies for adults with anorexia nervosa: randomised cotrolled trial of out-patient treatments. Br J Psychiatry 2001; 179: 216-21 Prognose Steinhausen H C., The outcome of anorexia nervosa in the 20th century. Am J Psychiatry 2002; 159:1284-93 Arbeitsgruppe Behandlungsempfehlungen des Experten-Netzwerkes Essstörungen Schweiz (ENES): Empfehlungen des ENES zur Behandlung von Menschen mit Essstörungen. März 2006. www.netzwerk-essstoerungen.ch Anorexie DTS 12.6.08 Fischer 31