MERICS China Comment Kann China bei weltwirtschaftlichem Gegenwind den Reformkurs halten? Rolf J. Langhammer, 10. November 2014 Es reformiert sich leichter bei weltwirtschaftlichem Rückenwind. Im konkreten Beispiel Chinas, das sein altes Geschäftsmodell des exportgetriebenem Wachstums schrittweise durch mehr Binnen-und Konsumorientierung ersetzen möchte, hieße das: Stabiles Wachstum in der Weltwirtschaft und ein wettbewerbsfähiger Wechselkurs würden die Übergangsfriktionen am chinesischen Arbeitsmarkt erleichtern. Diese Friktionen sind unvermeidlich. Denn Arbeiter in der Exportwirtschaft könnten angesichts unterschiedlicher Anforderungen an neue Arbeitsplätze beispielsweise in der Dienstleistungsbranche nicht ohne weiteres in diese Branche überwechseln. Zudem würde Sachkapital in den alten Branchen abgeschrieben, während frisches Kapital in den neuen Branchen aufgebracht werden müsste. Ob der hoch regulierte chinesische Bankensektor dies leisten könnte, bleibt zweifelhaft. Ökonomen nennen dieses Problem J-Kurveneffekt: Nach einer Reform müssen erst kostspielige Korrekturen und schmerzhafte Verluste realisiert werden, bevor wieder Gewinne eingefahren werden können. Bei weltwirtschaftlichem Rückenwind ist diese Übergangsphase kürzer als in Zeiten gedämpften Wachstums. Nach gedämpftem weltwirtschaftlichem Wachstum aber sieht es zurzeit aus. China stehen in diesem Kontext drei den Reformkurs behindernde Effekte ins Haus: erstens ein Einkommenseffekt. Denn bei einem weltwirtschaftlichen Wachstum von nur knapp über 3 Prozent (gegenüber 4 Prozent in den „fetten Jahren“ vor 2008) ist die Nachfrage nach chinesischen Industriegütern entsprechend gedämpft. Dazu kommt zweitens noch ein Preiseffekt in Gestalt realer Aufwertung, d.h. steigender Lohnkosten in den letzten Jahren. China ist ein im Vergleich zu konkurrierenden Produktionsstandorten wie Vietnam oder Bangladesch teurer Standort geworden. Dies kann auch durch das Drängen der chinesischen Regierung auf Ansiedlungen in peripheren Regionen Chinas nicht kompensiert werden. Denn in weiten Teilen Westchinas ist das Humankapital noch nicht so ausgebildet wie in den Küstenprovinzen. Die Arbeitsproduktivität würde daher sinken. Dieser Effekt am Arbeitsmarkt ist „träge“: er lässt sich nicht schnell beseitigen, auch nicht in China. Ein dritter Rohstoffpreis-Effekt ist zur Zeit nur in der Ferne zu erahnen, kann sich aber negativ auf Erträge und Wettbewerbsfähigkeit chinesischer Unternehmen auswirken: Sollte sich die These namhafter Ökonomen ( beispielsweise Krugman, Summers, Eichengreen) bestätigen, dass die Welt vor einer längerfristigen Wachstumsschwäche steht, dann würde China auf der Basis langfristiger, in der Vergangenheit abgeschlossener Lieferkontrakte seine Rohstoffe – gemessen am aktuellen Kassapreis – heute bereits zu teuer einkaufen. China als Rohstoffabnehmer würde hierdurch verallgemeinert gesprochen terms of trade-Verluste einfahren Am Einkommenseffekt kann China nichts ändern. Die Weltwirtschaft ist zurzeit verschiedenen Unruheherden ökonomischer wie geopolitischer Art ausgesetzt. Diese Ungewissheiten führen trotz billigen Geldes zu Investitionsattentismus. Banken sind eher bereit, ihre Bücher von Altlasten zu befreien und ihre Eigenkapitalbasis zu stärken, als neuen Branchen Kredite zu geben. China könnte womöglich etwas in Sachen Preiseffekt tun, um das alte Geschäftsmodell über die Zeit zu retten. Dazu bedürfte es einer realen Abwertung, die aber sofort wieder der internationalen Kritik an der Wechselkurspolitik Chinas („Wechselkursprotektionismus“) neue Nahrung gäbe. Wollte China real abwerten, ohne dies über nominale Lohnsenkungen zu bewerkstelligen, müsste China im großen Stil nominal abwerten. Hier aber steht China vor einem großen Hindernis: der derzeitigen Renaissance des Dollars. Zwar verfolgt China schon seit mehreren Jahren keine Bindung mehr allein an den Dollar. Aber in der Bindung an einen Korb mehrerer Währungen spielt der Dollar immer noch die ausschlaggebende Rolle. Entgegen des langfristigen Trends der Abwertung des Dollars gegenüber den wichtigsten Währungen wertet der Dollar in jüngster Zeit gegenüber dem Euro und anderen Währungen auf. Diese Bewegung wird erklärt durch die wirtschaftlichen Turbulenzen und Schwächen im Euro-Raum, die Erwartung einer geldpolitischen Umkehr in den USA und durch die ungebrochene Attraktivität des Dollars als Fluchtwährung in ungewissen Zeiten. Das Gewicht des Dollars im Währungskorb der chinesischen Devisenverwaltung und Währungspolitik ist nicht bekannt. Aber China könnte versucht sein, das traditionell hohe Gewicht des Dollars zu verringern, um unabhängiger von der amerikanischen Notenbankpolitik zu werden. Sich aber vom Dollar in Zeiten der Aufwertung dieser Währung zu lösen, hieße anderen Währungen, die gegenüber dem Dollar abwerten, ein höheres Gewicht zu geben. Chinas Währungspolitik müsste also eine nominale Abwertung gegenüber dem Gesamtkorb von Währungen anstreben, um seiner Exportindustrie eine Atempause zu verschaffen. Der alte Konflikt mit den USA um manipulierte Wechselkurse und versteckte Exportsubventionen erhielte dadurch neue Nahrung. Allerdings käme ein schwächerer RMB der chinesischen Regierung auch bei der Sanierung von – in heimischer Währung – überschuldeten kommunalen Haushalten und staatseigenen Betrieben entgegen. Denn die Abwertung würde den currency mismatch zwischen niedrig verzinsten Devisenreserven im Ausland und Verpflichtungen in eigener Währung verringern. Der Wert der Devisenreserven in nationaler Währung stiege an. Einkommens- und Preiseffekte sind nicht die einzigen Windmaschinen, die Gegenkräfte für die chinesische Wirtschaft produzieren. Die Unsicherheit, ob, wie und wann die lange 2 erwartete Liberalisierung des heimischen Finanzmarktes (und damit das Ende der finanziellen Repression in China) eingeleitet wird, kann zusammen mit der Unsicherheit über die Preisentwicklung im Immobilienmarkt nachfragehemmend wirken. Sicher ist nur eines: China wird die Finanzmarktreformen mit großer Vorsicht und in kleineren Schritten über einen längeren Zeitraum strecken. Am Ende aber sollten drei Ergebnisse stehen: Erstens müssen Sparern attraktivere Anlageangebote gemacht werden, um Kapital zu mobilisieren und dauerhaft zu binden. Zweitens müssen Kleinbetriebe und private Haushalte von den Reformen unmittelbar profitieren; Kapital darf nicht mehr vorzugsweise staatseigenen Betrieben und kommunalen Projekten zugeleitet werden. Drittens sollte ein von Marktkräften bestimmter Finanzmarkt zu hard budget constraints für alle Marktteilnehmer beitragen; überschuldete Akteure (einschließlich Banken, kommunalen Verwaltungen und staatlich kontrollierten Betriebe) müssten einen geordneten Insolvenzprozess durchlaufen. Diese drei Anforderungen aber muten unter den gegenwärtigen Bedingungen nahezu utopisch an. Sie könnten zwar den Übergang zu einem binnenorientierten Wachstum unterstützen, hätten aber sichtbare Kosten in Form von – zumindest vorübergehend – deutlich niedrigeren Wachstumsraten. Deshalb ist mit so einschneidenden Reformschritten kurzfristig nicht zu rechnen. Zu stark bläst bereits der Gegenwind, als dass die chinesische Regierung die Risiken und Konflikte, die von einem deregulierten Finanzmarkt ausgehen, in Kauf nehmen könnte. Der Start der Finanzmarktreformen kann am ehesten auf der Mobilisierungsseite von Kapital gesucht werden: durch attraktivere, gesicherte Anlageprodukte für Kapitalgeber und Sparer. Denn dort dürften die Friktionen geringer sein als auf der Allokationsseite: Denn die staatsnahen Kredit- und Kapitalnehmer, die bisher von Vorzugsfinanzierungen profitiert haben, werden all ihre politischen Verbindungen spielen lassen, um eine für sie bedrohliche Finanzmarktliberalisierung zu verhindern oder zumindest zu bremsen. Chinas politische Führung hat Ressourcen und Erfahrung im Umgang mit wirtschaftlichen Schwächeperioden. Einer anhaltenden weltwirtschaftlichen Schwäche aber gegenzusteuern, ohne die klar benannten und notwendigen Strukturreformen im eigenen Lande aus den Augen zu verlieren, wird zu den allerschwierigsten Aufgaben für die Führung gehören. 3