Prof. Dr. Bernhard Nauck Vorlesung Erklärende Soziologie 5. Vorlesung Anthropologische Grundlagen 1 Anthropologische Grundlagen (1) Begriffsdefinitionen (2) Entstehung und Besonderheiten des homo sapiens (3) Theoretische Ansätze Berger/Luckmann) (Marx, Gehlen, Mead, (4) Biologische Evolution (Darwin) 2 1 Anthropologie • = Lehre vom Menschen • Biologische Anthropologie: Entstehung der Spezies homo sapiens, individuelle Entwicklung menschlicher Organismen, Unterschiede innerhalb und zwischen Spezies, Vererbung genetischer Merkmale, -> biologische Evolutionstheorie • Kulturanthropologie (Ethnologie, Ethnographie, Völkerkunde, Volkskunde, „cultural studies“): Untersuchung schriftloser Kulturen; Brauchtumsanalysen; kulturelle „Universalien“; -> kulturelle Evolutionstheorie • Sozialanthropologie: Existenzprinzipien der Gattung Mensch und daraus abgeleitete Schlussfolgerungen für die institutionelle Gestaltung der Gesellschaft; Tradierung von Institutionen; Reproduktion von Gesellschaft; soziale Evolutionstheorie 3 Grundbegriffe • Phylogenese • Ontogenese = = • Phänotypus = • Genotypus = Gattungsgeschichte Entwicklung der individuellen Exemplare äußere Erscheinung eines Organismus (wandelbar z.B. durch Ernährung, Lebensalter, Umwelteinflüsse) in den Genen festgelegte „Programmierung“ eines Organismus; enthält die biologischen Informationen für den Aufbau und die Entwicklung des Phänotypus 4 2 Grundbegriffe • Mutation • Homöostase = = • Hominisation = Änderung im Genotypus Regelkreissystem, das sich selbst in einem Gleichgewicht erhält gesamter Prozess der Menschwerdung im Übergang bestimmter Primatenarten auf die Hominiden bis zum homo sapiens 5 Soziobiologie • Forschungsgegenstände: Evolutionäre Durchsetzung menschlicher Verhaltensweisen; evolutionär stabile Strategien • Grundannahme: Die Verhaltensweisen setzen sich durch, die den höchstmöglichen reproduktiven Erfolg sichern • Früher geläufige Gegensätzlichkeit von Natur und Kultur wird nicht länger aufrechterhalten (Integration von Entwicklung und Sozialisation, von Vererbung und Lernen) • Bio-Marker in der empirischen Sozialforschung 6 3 Evolutionär stabile Strategien: Generationenbeziehungen • Modell des direkten Tauschs „Ich unterstütze Dich, solange Du Dir nicht selbst helfen kannst, und Du unterstützt mich, wenn ich mir nicht mehr selbst helfen kann“ • Kaskadenmodell „Ich unterstütze Dich ein Leben lang, und Du unterstützt Deine Kinder ein Leben lang“ Beide Strategien sind „gerecht“ im Sinne einer Gleichverteilung von Lasten und Gewinnen (Reziprozitätsnorm). Sind Sie auch gleichermaßen evolutionär stabil? 7 Video 8 4 Kurze Menschheitsgeschichte • Vor 15-18 Mill. Jahren: Abspaltung der Hominiden von Menschenaffen -> Ramapithecus • Innerhalb von 8-10 Mill. Jahren: Abspaltung des Australopithecus, Verlassen des Waldes und Leben in offener Savanne; Größe 80 cm, Hirngröße 450 ccm, konnte sich rasch verbreiten (Ost-Afrika über Südasien bis nach Java) • Vor 2 Mill. Jahren: Abspaltung des homo habilis, Anpassung an klimatische Änderungen (Eiszeit, Jahreszeiten – Höhlen), aufrechter Gang; Hirngröße 600 ccm • Vor 600.000 Jahren: homo erectus beherrscht Feuer; Hirngröße 1000 ccm, kräftig, untersetzt; hat sich in Afrika entwickelt – Ausbreitung in Asien und Europa • Vor 70.000 Jahren: homo sapiens, seitdem ist die genetische Ausstattung des Menschen konstant; Hirngröße 1900 ccm 9 Verbreitungswege des homo sapiens 10 5 Homo sapiens • Einzige Linie in einer langen Evolutionskette • Weiteste geographische Verbreitung (höchste Umweltanpassung) • Höchste lokale Dichte (funktionale Differenzierung, Arbeitsteilung, Spezialisierung) • Höchste Variabilität und Plastizität sozialer Organisation • Verlässliche Übertragung und Speicherung komplexer und abstrakter Informationen • Nahezu unbegrenzte Fähigkeit zur Manipulation und Ausbeutung der natürlichen und sozialen Umwelt • Verhalten und Sozialorganisation ist genetisch praktisch nicht determiniert • Höchste Fähigkeit des Lernens • Selbstreflexivität (Identität) • Beinahe unendliche Fähigkeit zur Stilisierung der Individualität 11 Physiologische Besonderheiten des homo sapiens • Wirbeltier, Säugetier, Warmblut, Primat • Bipedie, großer beweglicher Kopf, großes Hirnvolumen, bewegliche Hände mit opponierbaren Daumen, Sprechorgane, Fehlen eines Fellkleides, langes Leben, bisexuelle Fortpflanzung, aufrechter Gang, Kommunikationsapparat (Sprechorgane) • Hohe Umweltunabhängigkeit -> besonders leistungsfähiger Homöostase-Mechanismus • Hohes Aktivitätsniveau in der Anpassung an die Umwelt • Enorm leistungsfähiges Hirn – schnellere und flexiblere Anpassung • Lernfähigkeit, Bewusstsein, Fähigkeit zur Symbolisierung abstrakter Denkinhalte und Kommunikation beliebiger 12 Informationen 6 Modell der Evolution der Bipedie Die Stadien a bis f werden vom Schimpansen repräsentiert. Die Stadien g bis i sind Stadien der Hominiden-Evolution im engeren Sinne 13 Besonderheiten der Reproduktion • Keine biologischen Zyklen • Biologische und sozio-kulturelle Frühgeburt • Hohe Investitionen der Eltern (und Verwandten) in Nachwuchspflege und Sozialisation • Lange parasitäre Lebensweise des Nachwuchses im Verhältnis zur Lebenszeit • Konzentration auf wenige, „qualitativ hochwertige“ Nachkommen • Notwendigkeit von Altruismus in Kleingruppen 14 7 Frage-Pause 15 Kultur • erlerntes, sozial angeeignetes, über Lernen, Imitation oder Unterweisung tradiertes und strukturiertes Wissen; • kollektiv verbreitete Gewohnheiten, Lebensweisen, Regeln, Wert- und Wissensbestände von Individuen einer Population 16 8 Soziabilität und Sozialität • Soziabilität = Fähigkeit zur Aufnahme und zum Erhalt sozialer Beziehungen • Sozialität = Angewiesenheit auf soziale Steuerung des Verhaltens (Unterstützung, Anerkennung, Kontrolle), bewirkt durch soziale Interaktion mit interessierten Interaktionspartnern (Empathie) • Sozialität und Soziabilität bedingen und ergänzen einander – haben gemeinsame evolutionäre Grundlagen -> physiologische Ausstattung, intellektuelle Fähigkeiten und kulturelle Fertigkeiten • Sozialität und Soziabilität sind nur denkbar vor dem Hintergrund der Ablösung der Verhaltenssteuerung von genetischen/ instinktiven Fixierungen -> führt zu nahezu beliebigen sozialen Beziehungen, aber auch zu Notwendigkeit von Komplexitätsreduktion (soziale Steuerung) 17 Soziabilität und Sozialität • Sozialität ist nicht oder nur begrenzt durch korporative Akteure erfüllbar • Soziabilität verlangt konkrete Interaktion mit identischen und interessierten Personen, die an der jeweils individuellen Geschichte des Akteurs unmittelbar beteiligt sind und sich daran erinnern • Sozialität und Soziabilität können für einander auch Gefährdung sein -> Soziabilität erlaubt Aufnahme und Unterhalt sozialer Beziehungen, gestattet aber auch deren Ausbeutung; Empathie kann auch strategisch angewandt werden • „Am Beginn der Entwicklung zum Menschen stand sicher nicht der Krieg aller gegen alle im Vordergrund. Es blieb, angesichts der äußeren Umstände, sprich: der extremen Knappheiten, nicht viel anderes übrig als die Kooperation in kleinen und insulierten Gruppen…“ (Esser 1996: 164) 18 9 Theoretische Ansätze zur soziologischen Anthropologie • • • • Marx (Materialismus) Gehlen (Institutionalismus) Mead (Symbolischer Interaktionismus) Berger/Luckmann (Wissenssoziologie) 19 Marx‘ Beitrag • Entwicklung des Menschen und der menschlichen Gesellschaft steht in Kontinuität der natürlichen Evolution und weist keinen qualitativen Sprung auf • Grundlage der menschlichen Existenz ist die Notwendigkeit zur kontinuierlichen Lösung von alltäglichen Problemen durch materielle Produktion • Menschliche Besonderheiten dabei: Werkzeuggebrauch, Zusammenwirken, Bewusstsein • Menschliche Gesellschaften sind das – unintendierte – Ergebnis der unter Restriktionen stattfindenden materiellen Reproduktion zur Erfüllung grundlegender physischer Bedürfnisse • Dabei gehen Menschen notwendigerweise gesellschaftliche Verhältnisse ein – also typisch arbeitsteilige soziale Beziehungen und institutionelle Regelungen 20 10 Gehlens Beitrag • Die Anpassung des Menschen an seine Umwelt erfolgt durch Handlungen und ist nicht durch biogenetische Steuerung fixiert. • Der Mensch ist ein Mängelwesen, das ohne soziale Unterstützung nicht existenzfähig ist. • Der Mensch weist eine extreme Weltoffenheit und Plastizität auf. • Diese Mängel bzw. Möglichkeiten machen Institutionen zur Verminderung der sonst unverarbeitbaren Überfülle an Selektionsmöglichkeiten notwendig und möglich. • „Institutionen fungieren folglich als unentbehrliche, die Instinktsteuerung ersetzende, stabilisierende Gewalten und als der Rahmen, innerhalb dessen der instabile, informations- und affektüberlastete menschliche Organismus die erforderliche Orientierung und Organisation findet.“ (Esser 1996: 172) 21 Meads Beitrag • Anpassendes und problemlösendes Handeln ist immer an konkrete Interaktionen gebunden, die sich nur über Zeichen koordinieren lassen. • Die Bedeutsamkeit von signifikanten Symbolen, die Fähigkeit zur Impulshemmung und die besonderen Steuerungsleistungen des menschlichen Wahrnehmungs- und Kommunikationsapparates sind die Grundlagen der Koordination menschlicher Gemeinschaften. • Wissen und Sprache (und Empathie) sind die beiden zentralen Mechanismen der Markierung, Ordnung und Objektivierung menschlicher Handlungszusammenhänge. 22 11 Berger/Luckmanns Beitrag • Menschen haben keine artspezifische Umwelt – sie sind durch Weltoffenheit gekennzeichnet • Menschen schaffen mit ihren Handlungen externalisierte Folgen • Institutionen sind stabile, sozial definierte Umwelten zur Eingrenzung der natürlichen Instabilität • Wissen und Sprache sind zentrale Mechanismen der Stabilisierung • Wissen muss über Lernen erworben werden – es ist immer schon gesellschaftlich vorgegeben, ist aber unbegrenzt kulturell formbar 23 Grundprinzipien der Evolution • 3 Einheiten der Evolution: Organismen, Population, Umwelt • Grundlage der Homöostase: (1) Produktion der Lebensgrundlagen, (2) Reproduktion der Population (Saldo aus Absterben und Fortpflanzung) • Bedingungen: Einsatz von (viel) Energie + Knappheit von Ressourcen • Konkurrenz um Ressourcen zwischen Populationen und zwischen Organismen • Reproduktion der Gattung erfolgt durch Überleben von Organismen in einer spezifischen Umwelt („fitness“ ist kontextspezifisch!) 24 12 Biologische Evolution = Fortschreitende (ungerichtete, „zufällige“) Veränderung der Genotypen (und darüber auch der Phänotypen) • Mechanismen: Mutation und Selektion (zumeist letal wg. fehlender Umweltanpassung); differentielle Reproduktion • Träger der Evolution sind nicht Organismen, sondern Gene Reproduktiver Erfolg • ist nicht nur abhängig von der Leistungsfähigkeit einzelner Organismen gegenüber anderen • erfolgt nicht nur durch zahlreiche Nachkommen, sondern auch durch geringe Mortalität der Nachkommen, durch höhere Chancen der Fortpflanzung 25 Biologische Evolution ist langsam, aber sicher! alter Genotyp alter Phänotyp genetische Mutation differentieller Vorteil letal Selektion neuer Genotyp neuer Phänotyp (biologische Ebene) (behaviorale Ebene) 26 13 Tradigenese • Menschen können lernen -> Anpassung des Phänotyps an Umwelt unter Konstanz des Genotyps (kurzfristige, flexible Anpassung) = Tradigenese (Anpassung über Wissensvermittlung) • Verhalten unabhängig von biologischer Ebene • Lernen als Mutation und Selektion von erfolgreichem Wissen • Risiko: Übertragung und Erinnerung gelernter oder lernbarer Inhalte wird instabil, da Ablösung von Sicherheit genetischer Programmierung (Weltoffenheit) 27 Die tradigenetische Evolution ist schnell, aber unsicher! alter Genotyp alter Phänotyp „trial and error“ Erfolg „error“ Lernen alter Genotyp neuer Phänotyp (biologische Ebene) (behaviorale Ebene) 28 14 Vergleich • Biogenetische Evolution: kein zeitraubendes Lernen; keine Unsicherheit, ob Lernen in erfolgreiches Verhalten umgesetzt werden kann • Tradigenetische Evolution: schnellere und flexiblere Anpassung möglich; größere Unabhängigkeit und höheres Aktivitätsniveau • Vielfalt der in Koexistenz lebenden Arten nimmt zu • Evolution bedeutet nicht Fortschritt, sondern immer nur Anpassung an den status quo einer gegebenen Umwelt 29 Conditio humana – die Natur des Menschen 1. Restriktionen 2. Maximierung im Rahmen der Restriktionen als Selektionsregel 3. Kurzfristige Orientierungen der Anpassung vs. langfristige Folgen 30 15 1. Restriktionen Ressourcenknappheit – menschliches Handeln als Wahl zwischen Alternativen unterliegt immer Restriktionen • Natürliche (= objektive Knappheit der Ressourcen) und soziale Restriktionen (= Normierung, Institutionalisierung) • Ressourcen (Zeit; ökonomisches, kulturelles, soziales Kapital) • Soziale Restriktionen meist in Form von Verfassungen (Institutionen) und als Definition der Situation = soziale Regeln „Die sozialen Regeln einer Verfassung oder einer Definition der Situation grenzen ganz bestimmte Ausschnitte von natürlich und technisch möglichen Alternativen aus, heben bestimmte Alternativen besonders hervor und rahmen auf diese Weise die Handlungssituation in typischer und orientierender Weise.“ (Esser 1993: 221) 31 2. Maximierung als Grundregel der Selektion Innerhalb der natürlichen und sozialen Restriktionen besteht eine Vielzahl von Alternativen, zwischen denen gewählt werden muss • Maximierung heißt nicht notgedrungen Egoismus, sondern auch Altruismus, Investitionen in soziale Kooperation und Stärkung der Gemeinschaft • Maximieren heißt auch: Beachten und Nutzen der institutionellen Vorgaben, weil häufig nur dann individuell erfolgreiches Handeln möglich ist 32 16 3. Kurzfristige Orientierung und langfristige Folgen • • Handeln ist meist kurzfristig orientiert - weil kurzfristige Erwartungen präziser sind und die Eintretenswahrscheinlichkeit besser abgeschätzt werden kann - weil kurzfristige Orientierung (in der Regel) die evolutionär erfolgreiche Strategie ist Kollektive Folgen meist als unintendiertes, aggregiertes Ergebnis des an Nahzielen und unmittelbarer Problemlösung orientierten Handelns 33 Literaturhinweise • Berger, Peter L. & Luckmann, Thomas (1977). Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie (5. Aufl.). Frankfurt: Fischer. • Dawkins, Richard (2000). Das egoistische Gen. Reinbek: Rowohlt. • Harris, Marvin (1989). Kulturanthropologie. Ein Lehrbuch. Frankfurt/New York: Campus. 34 17 Begleitlektüre: H. Esser: Soziologie, Kap. 8 - 12 35 18