Literaturbericht 1/2013 - TIERethik - Zeitschrift zur Mensch

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LITERATURBERICHT
TIERethik
5. Jahrgang 2013/1
Heft 6, S. 169-206
Die Mensch-Tier-Beziehung unter ethischem
Aspekt
Literaturbericht 1/2013
Petra Mayr, Regina Binder, Dieter Birnbacher, Arianna Ferrari, Kathrin Herrmann, Claudia Leitner, Alina Omerbasic, Klaus Petrus, Florian L. Wüstholz
Inhalt
Vorbemerkung ................................................................................................ 170
1. Allgemeines zum Tierschutz ................................................................... 172
1.1 Andreas Grabolle: Kein Fleisch macht glücklich ...................................... 172
2. Philosophische Ethik ................................................................................ 174
2.1 Ursula Wolf: Ethik der Mensch-Tier-Beziehung ....................................... 174
2.2 Elisa Aaltola: Animal Suffering: Philosophy and Culture ......................... 177
2.3 Christopher La Barbera: States of Nature. Animality and the Polis ........... 181
2.4 Mark Rowlands: Can Animals Be Moral? .................................................. 184
3. Tierethik interdisziplinär ........................................................................ 189
3.1 Helmut Segner: Fish. Nociception and Pain. A Biological Perspective ..... 189
3.2 Markus Wild: Fische. Kognition, Bewusstsein und Schmerz. Eine
philosophische Perspektive ........................................................................ 189
4. Tiere und Gesellschaft ............................................................................. 192
4.1 Herwig Grimm und Carola Otterstedt (Hrsg.): Das Tier an sich. Disziplinübergreifende Perspektiven für neue Wege im wissenschaftsbasierten Tierschutz ................................................................................... 192
4.2 Bernd-Udo Rinas: Veganismus. Ein postmoderner Anarchismus bei
Jugendlichen?............................................................................................. 196
5. Rechtsfragen und Rechtsentwicklung .................................................... 200
5.1 Sabine Lennck: Die Kodifikation des Tierschutzrechts ............................. 200
6. Tierethik und Kulturwissenschaft .......................................................... 201
6.1 Randy Malamud: An Introduction to Animals and Visual Culture ............ 201
Literatur .......................................................................................................... 206
Literaturbericht
TIERethik, 5. Jg. 6(2013/1) | 169 |
| Petra Mayr et al.
Vorbemerkung
Die Leidensfähigkeit ist nach wie vor der Dreh- und Angelpunkt in vielen
tierethischen Positionen; sie ist zugleich auch das wesentliche Kriterium
bei der Frage des gesetzlich verankerten Tierschutzes. In dieser Hinsicht
sind auch die Ergebnisse empirischer Forschung relevant. Da sich fremdpsychische Bewusstseinszustände bestenfalls vermuten, nicht aber beweisen lassen werden, wird immer eine Unsicherheit bei der Frage bleiben,
welche Tiere wie empfinden und vor allem was sie empfinden. Für den
Großteil der Säugetiere und Vögel, um die es im Agrartierschutz geht, ist
die Frage nach der Leidensfähigkeit allerdings längst geklärt. Nun scheint
sich der Kreis, derer, die es in dieser Hinsicht zu berücksichtigen gilt,
auch auf Fische auszuweiten. Die Frage, ob sie leidensfähig sind, wird
schon seit Langem kontrovers diskutiert. In letzter Zeit gibt es immer
mehr Studien, die mit sehr unterschiedlichen Forschungsansätzen in diese
Richtung weisen.
Auch die Eidgenössische Ethikkommission für die Biotechnologie im
Außerhumanbereich hat zwei Studien zur Frage nach Bewusstsein, Kognition und Schmerzempfinden von Fischen in Auftrag gegeben. Diese
sollten sich sowohl aus biologischer als auch aus philosophischer Perspektive der Frage nähern. In seiner Untersuchung Fish. Nociception and
Pain. A Biological Perspective verweist der Biologe Helmut Segner darauf, dass bei Fischen, obgleich ihnen die Gehirnareale fehlen, die bei
Säugetieren maßgeblich an der Schmerzwahrnehmung beteiligt sind, dennoch Schmerzempfindung zwar nicht bewiesen, aber angenommen werden könne, da Fische Gehirnareale besitzen, die denen von Säugern in
funktionaler Hinsicht gleichen.
Der Philosoph Markus Wild bearbeitete die gleiche Fragestellung. In
seiner begrifflich ausgerichteten Untersuchung Fische. Kognition, Bewusstsein und Schmerz. Eine philosophische Perspektive kommt er zu
einem weiterreichenden Ergebnis als Segner. Wild zufolge ist Fischen
Schmerzempfindlichkeit in jedem Falle zuzusprechen. In einer Hinsicht
sind sich beide Autoren einig: Das Bild von Fischen muss sich ändern.
Wilds Ausführungen liefern aber auch ein anschauliches Beispiel für
die nicht unerheblichen fachdisziplinären Reibungsverluste, die aus den
je spezifischen Methoden und Begrifflichkeiten resultieren. Wild kritisiert in seiner Studie den Fischereibiologen Robert Arlinghaus, der sich
bei der Frage des Tierschutzes in der Sportfischerei auf zwei strikt getrennte Ansätze bezieht. Der Wohlergehensansatz (fishwelfare) frage, wie
stark die Gesundheit der Fische durch die Sportfischerei beeinträchtigt
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Literaturbericht
Die Mensch-Tier-Beziehung unter ethischem Aspekt |
werde und was getan werden könne, um Gefährdungen zu vermeiden.
Beim leidzentrierten Ansatz (suffering-centred approach) erscheinen
Praktiken des Sportfischens als nicht akzeptabel, da sie den Tieren unnötige Schmerzen zufügen. Der Fischereibiologe präferiert den Wohlergehensansatz, da dieser pragmatisch sei, objektiv messbare Daten liefere
und die Sportfischerei nicht in Frage stelle. Demgegenüber sei der leidzentrierte Ansatz konfliktgeladen, sorge für Spannung und verhindere den
Dialog. Wild kritisiert diese Trennung zu Recht als tendenziös. Eine solche strikte Trennung von Ansätzen, die trennen, was untrennbar ist, und
Wohlergehen und Leid als eindimensionale Kategorien betrachten, sei
nicht nur unterkomplex, sie grenze die ethische Dimension schlichtweg
aus. Wenn es um Tierschutz geht, lässt sich also das Kriterium der Leidensfähigkeit nicht wegdenken.
Die finnische Tierrechts-Philosophin Elisa Aaltola kritisiert eine
„animal welfare science“, die sich nicht am Leiden, sondern am Wohlergehen orientiert, weil sie befürchtet, dass damit die Nutzung von Tieren
als gerechtfertigt angesehen werden könne. In ihrem Buch Animal
Suffering: Philosophy and Culture verweist sie darauf anzuerkennen, dass
Tiere aufgrund ihrer unterschiedlichen phänomenologischen Anlagen
möglicherweise Schmerzen oder Leiden in anderer Weise empfinden.
Phänomenologische Ansätze wie dieser versuchen, Tiere nicht nur als
Träger bestimmter messbarer oder nicht messbarer Bewusstseinszustände
zu begreifen, sondern sie in ihrer Andersartigkeit wahrzunehmen. Vielleicht trifft Aaltola mit ihrer Vermutung den wunden Punkt: Vielleicht
sind es doch noch die Nachwirkungen von Descartes’ mechanistischer
Auffassung von Tieren, dass bei der Frage der Anerkennung von Leidensfähigkeit noch immer oft die Skepsis regiert.
Petra Mayr
Literaturbericht
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| Petra Mayr et al.
1. Allgemeines zum Tierschutz
1.1 Andreas Grabolle: Kein Fleisch macht glücklich. Mit gutem Gefühl essen und genießen
416 S., München: Goldmann, 2012, 9,95 EUR
Die Frage nach der ethisch richtigen Ernährung
scheint ein Trend geworden zu sein. Der amerikanische Schriftsteller Jonathan Safran Foer war mit
seinem Buch Tiere essen vor ein paar Jahren der
Vorreiter. Mit Gewissensbissen knüpfte die deutsche Schriftstellerin Karen Duve an. Nun fragt sich der Biologe und Wissenschaftsjournalist Andreas Grabolle: Tiere essen – oder lieber nicht?,
begibt sich auf eine ethische Entwicklungsreise und kommt zu dem Ergebnis: „Kein Fleisch macht glücklich“.
Es sind bei den meisten Büchern, bei denen die Frage des Fleischessens thematisiert wird, nicht rein tierethische Überlegungen, die das
eigene gesellschaftlich geprägte Ernährungsmodell in Frage stellen lassen, sondern vielmehr auch ökologische oder gesundheitliche Aspekte
des Verzehrs von Fleisch und anderen tierischen Produkten. Eine fleischlose Ernährung schützt nicht nur das Leben von Tieren, sondern auch
unseren Lebensraum mit seinen endlichen Ressourcen und unsere eigene
Gesundheit, so meist der Tenor. Das ist die durchaus einleuchtende Argumentation. Die Recherchen des Autors, auch das liegt ganz Trend eines
„biographischen Entwicklungstextes“, führen ihn u.a. in eine Putenmastanlage und auf einen Tierschutzkongress. Er interviewt Ernährungswissenschaftler, Landwirte, Jäger, Tierärzte, Agrarwissenschaftler, Experten
für nachhaltige Entwicklung und Tierschützer. Man gewinnt den Eindruck, dass gerade im Zeitalter mit multimedialer Informationszugänglichkeit wieder eine Form der Direktheit gesucht wird, die aus rein informeller Absicht nicht unbedingt notwendig wäre. Vielleicht ist sie aber,
neben dem Material, dass für das Buch gesammelt wird, auch für die
eigene Entscheidungsfindung bedeutsam. Vielleicht stehen solche Bücher
als Zeichen des aufgeklärten Bürgers, der sich höchstselbst Einblick in
ein System verschafft, in dem er sich einzig als umworbener, aber vielfach leider auch getäuschter Konsument sieht.
Es ist nicht nur der lockere Schreibstil des Autors, sondern auch seine
undogmatische Distanz zur eigenen fleischorientierten Sozialisation, die
das Buch lesenswert macht. „An gänzlich fleischlose Gerichte, außer
natürlich Fisch, kann ich mich nicht erinnern. Da ich Fleisch so gerne aß,
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Literaturbericht
Die Mensch-Tier-Beziehung unter ethischem Aspekt |
machte meine Mutter selbst zum Gulasch noch Hackbällchen.“ ( 14) Der
ehemalige Fleisch- und Wurst-Fan beschreibt besonders authentisch seine
biographischen Wendepunkte mal in die eine, dann wieder in die andere
Richtung. Und es sind eben diese Passagen, die das Buch für alle wertvoll
machen, die erste Zweifel an der Ernährungstradition hegen, in der sie
aufgewachsen sind. Denn erste Zweifel, so meint die Psychologie, können der Anstoß sein für zukünftige Veränderungen.
Grabolle durchforstet alles, was mit dem Thema Fleisch zu tun hat,
und liefert eine Menge Fakten. Er beleuchtet viele Aspekte und Auswirkungen des Konsums tierischer Produkte: Er zeigt, wie die lebensmittelliefernden Tiere gezüchtet, gehalten und geschlachtet werden. Er deckt
die Strukturen auf, die dazu führen, dass die industrialisierte Tierproduktion maßgeblich zur Vergrößerung des Welthungers beiträgt. Er zeigt auf,
warum in der agrarindustriellen Haltung von Tieren der Nährboden für
die Entstehung und Ausbreitung von neuen Zoonoseerregern zu sehen ist,
und erinnert daran, dass es gegen viele Erreger schon jetzt keine wirksamen Antibiotika mehr gibt. Viele Daten und Zahlen sind in Schaukästen
untergebracht. Der Autor lässt nahezu kein Feld außen vor. Philosophische Theorien zur Tierethik werden ebenso bemüht wie etwa das sozialpsychologische Erklärungsmodell des „Karnismus“ von Melanie Joy, das
zu erklären versucht, warum es uns möglich ist, eine dezidierte Auswahl
von Tieren als Nahrungsmittel zu betrachten, andere dagegen nicht.
Sein persönlicher Anstoß, letztlich vegan zu leben, ist ethischer Natur.
„Was ich esse, beeinflusst nicht nur mein eigenes Wohlbefinden, sondern
auch das von anderen – Menschen wie Tieren. Auch wenn ich unausweichlich auf Kosten anderer Lebewesen leben muss, kann ich täglich
entscheiden, wer welchen Preis dafür bezahlen muss.“ (389) Für alle, die
mehr wissen wollen über tierische und pflanzliche Nahrungsmittel und
deren Einfluss auf unsere Gesundheit, und für alle, die etwas für den
Schutz von Tieren tun möchten, ist Kein Fleisch macht glücklich eine
absolut empfehlenswerte Lektüre: ein Buch, das viele Facetten anspricht,
tradierte Handlungsmuster in Frage stellt, persönliche Unsicherheiten
auslotet, für globale Verantwortung sensibilisiert, Rücksichtnahme einfordert und damit den Menschen als moralischen Akteur in die Pflicht
nimmt. Zweifelssohne eine Pflicht, die nicht jeder und jedem behagt, und
ein Mitgefühl, das nicht jeder und jedem zu eigen ist. Aber ein Apell,
dass sich mit Verzicht manchmal mehr bewegen lässt als mit Aktivismus.
Kathrin Herrmann, Petra Mayr
Literaturbericht
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| Petra Mayr et al.
2. Philosophische Ethik
2.1 Ursula Wolf: Ethik der Mensch-TierBeziehung
185 S., Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann, 2012,
16,80 EUR
Der rechtliche Status von Tieren hat sich in den
vergangenen zwei Jahrzehnten erheblich verbessert.
Praktische Konsequenzen der Leidverringerung,
die daraus zu resultieren hätten, sind jedoch kaum
zu erkennen. Auch die ethische Frage nach dem
Status von Tieren wird noch immer kontrovers
diskutiert. Das ist Wolfs nüchterne Bilanz und zugleich auch ihr Ausgangspunkt für neue Überlegungen. Ihr aktuelles
Buch unterscheidet sich in dieser Hinsicht von ihrem 1990 erschienen
Werk Das Tier in der Moral. In diesem hat sie ausschließlich die philosophisch-akademische Debatte betrachtet. In der Ethik der Mensch-TierBeziehung nimmt sie neben den moralphilosophischen Positionen auch
die rechtlichen Veränderungen in den Blick, vor allem aber untersucht sie
eben jene daraus entstehenden Diskrepanzen.
Der Spannungsbogen, der moralphilosophische Betrachtungen auf ihre
Konsistenz und Praktizierbarkeit hin untersucht und vor allem in Beziehung
zu rechtlichen Neuerungen setzt, macht das Buch nicht nur aus philosophischer Warte interessant. Oft sind es gerade die Seitenpfade, die bislang unbeachtete Strukturen aufdecken und zu neuen Erkenntnissen führen. In einem
kurzen Exkurs mit dem Titel „Tierwürde ohne Rechte. Ein Blick auf die
deutschsprachige Verfassungsdebatte“ beispielsweise fasst die Autorin noch
einmal die rechtlichen Veränderungen zur Stellung der Tiere zusammen und
betont dabei, dass gesetzliche Veränderungen „starke Rechtfertigungen“
verlangen – so auch die Änderung der deutschen Verfassung.
Die Verfassungsänderung wird von Seiten vieler Tierschützer heute
aber als zu schwach in ihren Konsequenzen bewertet, obgleich sie dazu
führte, dass das Thema Tierschutz im deutschen Grundgesetz zum Staatsziel erklärt wurde. Die letztlich noch immer geringe Durchschlagkraft der
Verfassungsänderung mag aber im zentralen Grund für die Verfassungsänderung selbst zu finden sein, auf den Wolf verweist. Auslöser war das
Urteil des Bundesverfassungsgerichtes, das Anfang 2002 einem muslimischen Metzger das betäubungslose Schlachten erlaubte und damit einen
Sturm des Protestes hervorrief. Hier scheint es, dass eben jener Anlass zu
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Literaturbericht
Die Mensch-Tier-Beziehung unter ethischem Aspekt |
erklären vermag, weshalb sich die Fortschritte in der Tierschutzpraxis
trotz der neuen Verfassungsänderung in Grenzen halten. Das betäubungslose Schlachten war als ein Rückschritt hinter das deutsche Tierschutzgesetz und den Konsens, dass das Quälen von Tieren sowohl gesetzlich
verboten als auch gesellschaftlich geächtet ist, bewertet worden. Die erwünschte Aufwertung des Tierschutzes in den Status des Verfassungsrangs kann mit dem Anlass, der „lediglich“ einen Rückschritt verhindern
sollte, nur schwer erreicht werden.
Konsens gibt es in Recht und Gesellschaft darüber, dass Tiere nicht
gequält werden sollten – das, so könnte man meinen, zeigt dieses Beispiel. Dennoch hat der Status einer grundgesetzlichen Verankerung des
Tierschutzes appellativen Charakter, der darüber hinausgeht. Um eine
tierethische Position zu entwickeln, die den vielfältigen Problemen der
Ethik im Allgemeinen und dem Umgang mit Tieren im Besonderen gerecht wird, spannt Wolf einen großen Bogen. Sie widmet sich zunächst
einmal den grundlegenden Methodenfragen der angewandten Ethik und
nimmt dann philosophische Positionen in den Blick, die sich mit der Frage nach dem richtigen Umgang mit Tieren beschäftigen. Nach einer Analyse tierethischer Positionen kommt sie zu dem Ergebnis, dass die klassischen Moraltheorien, die von nur einem Grundprinzip getragen werden,
den vielschichtigen Dimensionen von Moral nicht gerecht werden können. Demgegenüber hätten Ansätze, die sich auf mehrere Kriterien beziehen und damit von mehreren Grundlagen der Moral ausgehen, eine Form
der Offenheit, die unserer Lebenswelt eher gerecht wird.
Für die Frage nach dem richtigen Umgang mit Tieren muss zunächst
geklärt werden, was Tiere zu Objekten der Moral macht. Konsens sowohl
in ethischer als auch in rechtlicher Hinsicht herrscht darüber, dass die
Empfindungsfähigkeit bei Tieren ein zentrales Kriterium ihrer ethischen
Berücksichtigung ist. Und diese Eigenschaft lässt sich, positiv betrachtet,
als die Fähigkeit bezeichnen, ein Leben in Wohlbefinden zu leben. Wolf
verweist hierbei auf ein Missverständnis in der Bewertung der Empfindungsfähigkeit von Lebewesen im aktuellen tierethischen Diskurs. Die
Tatsache, dass es Tieren gut oder schlecht gehen kann verweist nicht
etwa, wie oft angenommen wird, auf einen besonderen Status, macht
diese also nicht zu etwas Besonderem. Vielmehr sei eben jene Eigenschaft „lediglich“ als Kriterium dafür zu betrachten, was Lebewesen zu
Objekten der Moral macht. „Die heute im Focus der Tierethikdebatte
stehende Frage, ob Tiere den gleichen moralischen Status haben wie
Menschen oder einen schwächeren, sollte man nach dem gesagten besser
Literaturbericht
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| Petra Mayr et al.
in eine andere übersetzen: wie verschiedene moralische Normen, die wir
alle unterschreiben, zu gewichten sind“ (86).
In jener Gewichtungsfrage liegt ein zentrales Problem im Umgang mit
Tieren. Um nun eine Position zu entwerfen, die praktizierbare Akzeptanz
finden kann, ist es Wolf zufolge sinnvoll, einen Blick auf das Beziehungsverhältnis zwischen Menschen und Tieren zu werfen, das in rechtlicher Hinsicht bereits existiert. Eine solche Reflexion, so wird beim Lesen
des Buches deutlich, hat mehrere Vorteile. Ethische Normen, die in Gesetze geflossen sind, können zum einen als Konsens gelten, auf dem aufgebaut werden kann. Zum anderen werden ethische Normen auf diese
Weise überhaupt erst deutlicher sichtbar, und man kann sich fragen, ob
ihr rechtlicher Status zu einer Umsetzung geführt hat. Wolf fragt sich nun
also zunächst, welche Form der Rücksichtnahme Tieren gegenüber sich
in Gesetzen wiederfindet, und in einem zweiten Schritt, wie die Form der
Rücksichtnahme im Hinblick auf ihre ethische Reichweite zu bewerten
ist. Wolf umreißt hier zwei Konzeptionen: Das sind zum einen die Übernahme von Verantwortung für Tiere und zum anderen die der Betrachtung von Tieren als Mitgeschöpfe. Zunächst einmal betrachten beide
Konzeptionen Tiere als Objekte der Moral. Aber Verantwortung für ein
Lebewesen zu übernehmen, das wird schnell klar, stellt ein ungleich engeres Beziehungsverhältnis her und hat deshalb ungleich mehr Implikationen, als ihm „lediglich“ die Rolle eines Mitgeschöpfes zuzuweisen.
Beide Konzeptionen, das wird deutlich, zielen in ihrem Kern also auf
unterschiedliche ethische Verpflichtungen ab und legen damit unterschiedliche ethische Gewichtungen zugrunde.
Dem Kernproblem der Gewichtung von moralischen Normen einer Tierethik begegnet Wolf mit der Analyse der vielfältigen Beziehungen, die Menschen zu Tieren haben. Sie verweist hierbei auf die derzeit populären Ausführungen einer Zoopolis von Sue Donaldson und Will Kymlicka. Ob Menschen mit Tiergefährten zusammenleben, ob sie Tiere essen, ihnen in der
Natur begegnen, sie jagen, sie im Zoo halten oder an ihnen Medikamente
testen, macht in Bezug auf die ethische Gewichtung einen Unterschied.
Überträgt man hier wiederum die beiden juristisch verankerten Konzeptionen von Verantwortung für Tiere und ihrer Betrachtung als Mitgeschöpfe, so kommt Wolf zu folgendem Ergebnis: Für die Tiere, die in
direkter Beziehung zu uns stehen und die wir in der Gesellschaft nutzen,
sei es als Gefährten oder als Nutztiere, haben wir Verantwortung und
damit Fürsorgepflichten. Die Vorstellung einer Mitgeschöpflichkeit greife hier nicht weit genug, reiche aber in Bezug auf den Umgang mit freilebenden Tieren aus.
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Literaturbericht
Die Mensch-Tier-Beziehung unter ethischem Aspekt |
Wolf schließt ihr sehr empfehlenswertes Buch mit einem Gedanken, der
das eminent Humane des Menschen betont: „Hinter dem moralischen Kern
der Beachtung des Wohlbefindens eines jeden fühlenden Wesens steht
jedoch nicht das Ideal einer heilen Welt allgemeinen Glücks, sondern nur
die bescheidene Vorstellung, man könnte wenigstens dasjenige Leiden
vermeiden, das durch moralische Akteure in die Welt kommt.“ (170)
Petra Mayr
2.2 Elisa Aaltola: Animal Suffering: Philosophy
and Culture
272 S., Hampshire: Palgrave MacMillan, 2012,
69,99 EUR
Macht es heutzutage angesichts der vielfältigen Daten aus der ethologischen Forschung und nach der
immer reicheren Debatte in der Tierethik überhaupt
noch Sinn, ein Buch über Leiden von Tieren zu
schreiben? Ja, lautet die Antwort, nachdem man
dieses gut strukturierte, sehr informative und bereichernde Buch von der finnischen TierrechtsPhilosophin und -Aktivistin Elisa Aaltola gelesen hat: nicht nur, weil Skeptizismus gegenüber tierischem Leiden heute noch immer auf der theoretischen Ebene vertreten wird, sondern vor allem auch weil in unserer Gesellschaft das Leiden von Millionen von Tieren, die von der Tierindustrie im
Bereich der Nahrung, der experimentellen Forschung sowie der Unterhaltung systematisch genutzt werden, ignoriert wird. Das Buch möchte nicht
nur die wichtigsten Theorien und offenen Fragestellungen in Bezug auf das
Thema Leiden und Schmerzen bei Tieren kritisch erläutern, sondern es
stellt eine solide theoretische Begründung der Notwendigkeit eines empathischen Verhaltens gegenüber von Tieren sowie ein Plädoyer für mehr
aktives Engagement dar, um das Leiden von Tieren zu minimieren.
Die Autorin beginnt mit einer kurzen historischen Darlegung der
wichtigsten Positionen in der Kulturgeschichte in Bezug auf das Leiden
von Tieren. Obwohl bereits seit einigen Jahrzehnten genügend wissenschaftliche Daten gesammelt worden sind, die die Schmerzfähigkeit von
zahlreichen Tierarten bestätigen, bleibt die Frage nach dem Leiden von
Tieren immer noch kontrovers. Das, was Leiden tatsächlich ist zu definieren, bleibt schwierig, auch im menschlichen Bereich, weil es sowohl eine
physische als auch eine psychische Dimension involviert. Während die
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| Petra Mayr et al.
physische Dimension zum größten Teil auch „gemessen“ und deshalb
(durch Instrumente oder analytische Verfahren) objektiviert werden kann,
impliziert die psychische Dimension immer auch eine subjektive Komponente, die dann auch bei Menschen zuletzt immer einen unvermeidbar
unzugänglichen Teil enthält. Wenn es wahr ist, dass das Verständnis von
Leiden auch im Zusammenhang mit bestimmten kognitiven Fähigkeiten
stehen kann (und darüber streiten sich heutzutage Neurowissenschaftler,
Ethologen und theoretische PhilosophInnen), soll laut Aaltola in Kauf
genommen werden, dass Tiere gerade aufgrund ihrer unterschiedlichen
phänomenologischen Ausstattung Formen von Schmerzen und Leiden
empfinden können, die wir so gar nicht verstehen: „Instead of
concentrating on whether non-human animals share all the types of
suffering human beings are capable of, it may be worthwhile to pay attention to the specific forms of non-human suffering that thus far have gone
unnoted“ (vgl. 20). Obwohl die so genannte „animal welfare science“ die
Frage nach dem Leiden von Tieren an der Schnittstelle zwischen Theorie
und Praxis untersucht, spielt sie der Autorin zufolge heutzutage eine
problematische Rolle: Indem sie das Wohlergehen und nicht das Leiden
von Tieren ins Zentrum stellt, neigt sie dazu, die Nutzung von Tieren zu
akzeptieren und nicht grundsätzlich in Frage zu stellen (vgl. 21).
Anschließend wird die skeptische Position, die entweder das Leiden
von Tieren leugnet oder diesem eine fundamental ontologisch unterschiedliche Bedeutung im Vergleich mit dem menschlichen Leiden gibt,
kritisch erläutert. Wenn es auch wahr ist, dass ein gewisser Rest an Unzugänglichkeit des tierischen Leidens bleibt, gibt es heutzutage genügend
Evidenz dafür, dass es existiert. Außerdem trägt eine skeptische Haltung
gegenüber Leiden zu einer Marginalisierung der Subjekte bei, die leiden
können, und das gilt auch für den menschlichen Bereich. Die skeptische
Haltung verbirgt eine mechanistische Auffassung von Tieren, die grundsätzlich vom Bild des Tieres bei Descartes (das Tier als Maschine, die
nicht leiden kann) zurückgeblieben ist und die die Ausbeutung von Tieren de facto rechtfertigt. Aaltola plädiert hier für eine phänomenologische
Auffassung, die dem Tier die zentrale Rolle wiedergibt: Bei der Frage
nach dem tierischen Leiden sollte man nicht nach einem objektivierbaren
Bild von dem, was ein Tier ist, streben, sondern nach seinen erlebten
Erfahrungen. Damit wird das Tier auch in der Ethologie nicht mehr als
Untersuchungsobjekt wahrgenommen, sondern als Subjekt, das uns gegenüber steht, als „Du“ (67).
Aaltola skizziert eine historische Rekonstruktion unterschiedlicher
Positionen der tierethischen Debatte, die die Leidensfähigkeit der Tiere
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Literaturbericht
Die Mensch-Tier-Beziehung unter ethischem Aspekt |
als zentralen Begriff in ihrer Begründung verwendet haben. Dabei erläutert sie auch, wie die jeweiligen Theorien mit einer bestimmten Empfindsamkeit gegenüber tierischem Leiden in den jeweiligen Epochen in Zusammenhang stehen. Besonders interessant sind ihre Anmerkungen in
Bezug auf die Entwicklung der zeitgenössischen Tierschutz- bzw. Tierrechtsdebatte. Obwohl die Leidensfähigkeit einen wichtigen Teil des
Tierschutzes darstellt (indem dessen Hauptidee im Vermeiden von unnötigem Tierleid liegt), spielt es auch für die Tierrechtsbewegung aus zwei
Gründen eine entscheidende Rolle: zum einen, weil diese Bewegung
unabhängig von der Verteidigung normativer rechtlicher Positionen für
Tiere sehr aktiv war in der Denunzierung des von der Tierindustrie verursachten Leidens, zum anderen, weil die Tierrechtsbewegung neue Unterschiede im Verständnis von tierischem Leiden hervorgebracht hat, wie
u.a. den Unterschied zwischen „Tierschutz“ (animal welfarism) und
„Tierbefreiung“ (animal liberation): Die Frage lautet nicht mehr, ob das
Leiden von Tieren überhaupt zählt, sondern ob das der erste Punkt in
einer Diskussion über die Nutzung von Tieren sein sollte (vgl. 95).
Auch eine kritische Analyse der zeitgenössischen Diskussion über tierisches Leiden in der analytischen Philosophie präsentiert Aaltola. Sie diskutiert kritisch die Hauptidee des Tierschutzes und betont die Doppeldeutigkeit eines Bezugs auf „unnötiges“ Leiden. Sie plädiert für eine Auffassung,
die die Leidensfähigkeit der Tiere als zentrales relevantes Merkmal anerkennt und somit eine individualistische Perspektive gegenüber anderen
biozentrischen oder holistischen Ansätzen vertritt. Aaltola betont jedoch,
wie diese Fähigkeit immer im jeweiligen Kontext auch kritisch zu erläutern
ist. Dieser Punkt wird besonders relevant in der Diskussion über das Problem des Leidens von Wildtieren in der Natur, das heutzutage immer häufiger thematisiert wird. Gegen die Auffassung, die karnivore Tiere bzw.
Raubtiere in ihrem natürlichen Verhalten als verwerflich und damit als zu
verändernde betrachtet, argumentiert Aaltola aus einer phänomenologischen Perspektive: Im Gegensatz zu Menschen, die bei der Nutzung von
Tieren die Wahl haben, sind Raubtiere von ihrer Ausstattung her zur Jagd
bestimmt. Darüber hinaus betont sie die Notwendigkeit, gegenüber Eingriffen in die Natur vorsichtig zu sein, da diese das gesamte Ökosystem verändern können. Die Leidensfähigkeit ist für sie nicht nur passiv, sondern auch
aktiv zu betrachten, weil das leidensfähige Wesen, wenn es leidet, negative
Erfahrungen macht und darauf reagiert: „[…] suffering cannot be
pinpointed as either passivity or activity, but, rather, concerns our whole
spectrum of experience in all ist openness and potency. This duality of
sentience and suffering means that other animals are neither entirely pasLiteraturbericht
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| Petra Mayr et al.
sive, incapable creatures nor perfect agents. They, like human beings, lurk
somewhere between these two extremes“ (135).
Obwohl Aaltola sehr vertraut mit der analytischen ethischen Tradition
ist, diskutiert sie auch den Beitrag der sogenannten kontinentalen Philosophie. Sie betont die Relevanz von Autoren wie Levinas, Agamben oder
Derrida für die Anerkennung der Andersheit von Tieren als Basis für eine
genuine Ethik und somit auch als geeignete Perspektive, um die Frage
nach dem Leiden von Tieren zu betrachten. Jenseits des Mangels einer
propositionalen Sprache gibt es eine phänomenologische Welt bei Tieren,
die zu entdecken ist und die uns Menschen, vor allem in dem Ausdruck
von Leid und Schmerz, direkt anspricht. Leider bleibt hier meines Erachtens die Auseinandersetzung insbesondere mit Derrida und Agamben zu
unkritisch, indem Aaltola auf die problematischen Stellen dieser Autoren
nicht explizit verweist, wie etwa die stark ablehnende Haltung Derridas
gegenüber Vegetarismus und den mangelnden Bezug bei Agamben zu
den Implikationen der Tiernutzung.
Aaltola diskutiert drei grundlegende Elemente einer ethischen Theorie: Emotion, Empathie und Intersubjektivität. Obwohl Emotionen lange
vor allem in der analytischen Ethik kritisiert worden sind, spielen sie für
die Autorin eine entscheidende Rolle, gerade im Hinblick auf die Andersheit von Tieren: Wenn einer distanzierten ethischen Theorie zu viel
Platz gegeben wird, läuft man Gefahr, den Blick auf das tatsächliche Leiden von Tieren und somit ein Verständnis für dieses zu verlieren (vgl.
160). Da Empathie eher auf Verstand und Imagination als nur auf Emotionen basiert, funktioniert sie wie eine „Lampe“, die die Erfahrungen von
Anderen erleuchtet, und somit löst sie Vorurteile gegenüber Diversität
auf und erweitert den Horizont der eigenen Subjektivität (vgl. 167). Intersubjektivität ermöglicht dann den Schritt von der Berücksichtigung des
einzelnen Individuums zum System der Haltung und Nutzung von Tieren
und hilft somit dabei, vom Tierschutz zu Tierbefreiungs-Positionen zu
kommen.
Obwohl die theoretische Auseinandersetzung mit der ethischen Dimension ein wichtiger Bestandteil der Reflexion bleibt, gerade eine phänomenologische Perspektive, die versucht, das Tier als Anderes wahrzunehmen und zu würdigen, muss sie notwendigerweise praktische Implikationen haben (vgl. 7. Kapitel).
Die Hauptbotschaft des Buches, die im abschließenden kurzen Kapitel
enthalten ist, lautet dann: Durch Emotionen, Empathie und Intersubjektivität können wir uns an die Vielfalt der Erfahrungen von Tieren annähern
und somit die Arroganz des Menschen, der im Anthropozentrismus
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Die Mensch-Tier-Beziehung unter ethischem Aspekt |
steckt, überwinden. Solche Gefühle und Wahrnehmungen sind aber auch
in konkrete Aktionen zu kanalisieren, sowohl in Form von alltäglichen
Interaktionen mit Tieren als auch in Form von indirekter Unterstützung
bzw. Boykott von Tierindustrien (vgl. 209).
Das Buch ist für Jedermann eine empfehlenswerte Lektüre: für Skeptiker, die immer noch dazu tendieren, das Leiden von Tieren zu relativieren bzw. zu leugnen; für Aktivistinnen und Aktivisten, die philosophisch
begründete Antworten auf die vorherrschende skeptische Haltung suchen;
für die Menschen, die im Tierschutz tätig sind, um etwas für die Verminderung des Leidens von Tieren tun.
Arianna Ferrari
2.3 Christopher La Barbera: States of Nature.
Animality and the Polis
123 S., New York: Peter Lang Publishing, 2012,
66,99 EUR
Das allmähliche Verschwinden des Tieres und der
menschlichen Tiernatur aus der Gesellschaft und
der politischen Philosophie ist das Thema dieses
Buches. Der Autor stützt sich auf die Annahme
einer belebenden Kraft, der anima, welche die Natur aller Lebewesen verbindet, und damit auf die
These, dass eine scharfe Trennung zwischen Mensch und Tier nicht zu
finden sei. Ziel des Philosophen ist es, ein Umdenken in der Beziehung
zwischen menschlichem und tierischem Leben zu erreichen, um so die
Basis für einen neuen „Animal-Advocacy“-Ansatz zu erarbeiten, der sich
auf die Gemeinsamkeiten von und die Interdependenz zwischen Mensch,
Tier und Natur konzentriert. Es geht ihm insbesondere darum, den Menschen dazu aufzufordern, sich wieder auf den gemeinsamen Kern allen
Lebens und somit auf seinen „State of Nature“ zu besinnen, um sich seiner Verantwortung und Verpflichtung gegenüber seiner belebten Umwelt
bewusst zu werden.
Zunächst verdeutlicht La Barbera, welche Rolle Tiere im platonischen
Staatsideal eingenommen haben und wie sie bei Descartes zu unbelebten
und demnach zu moralisch irrelevanten Entitäten geworden sind. Anschließend untersucht er, stellvertretend an Hobbes, Locke und Rousseau,
verschiedene Konzepte des Naturzustandes – also eines Zustandes vor
aller Gesetzgebung und Zivilisation – und damit einhergehende AnsichLiteraturbericht
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| Petra Mayr et al.
ten über die Beschaffenheit, Wohlgesonnenheit oder Feindseligkeit der
menschlichen Natur.
Was hat den Menschen dazu getrieben, dem Naturzustand den Rücken zu
kehren, Gesellschaften zu bilden und sich somit von früheren Lebensformen und gewissen „animal qualities“ menschlichen Lebens abzuwenden?
Gemeinsamer Kern der meisten traditionellen Vertragstheorien besteht La
Barbera zufolge nicht nur in dem Ausschluss nicht-menschlicher Lebewesen, sondern auch in der Unterdrückung des natürlichen Charakters,
der „Tierheit“ der menschlichen Spezies. Nicht ohne auf einige damit
einhergehende Inkonsistenzen der Theorie hinzuweisen, beschreibt er,
wie Hobbes den Menschen im Naturzustand als egoistischen und feindseligen Alleingänger darstellt und somit die Dringlichkeit, sich zu seiner
eigenen Sicherheit einer Gesellschaftsordnung zu unterwerfen, unterstreicht. Die Hobbessche Darstellung der menschlichen Natur ist laut La
Barbera zu Recht zu hinterfragen und letztlich als eine „convenient fiction“ zu betrachten, welche nur dazu dient, die Gründung eines absoluten
Souveräns, des Leviathan, als „Beschützer“ des Gemeinwesens zu rechtfertigen. Auf der Fiktion einer gewaltbereiten, egoistischen Natur der
menschlichen Spezies beruhe auch Hobbes’ Distanzierung des Menschen
von der nicht-menschlichen Natur. Dies hat jedoch wenig mit der wahren
Natur des Menschen zu tun und verkennt, so La Barbera, die inhärenten
sozialen Neigungen des natürlichen Lebens. Einen ähnlichen Hang zur
exzessiven Unterwerfung und Kontrolle nicht nur der menschlichen Natur diagnostiziert der Autor auch bei John Locke. Locke zufolge können
natürliche Dinge durch „Arbeit“ in Privateigentum überführt werden,
sodass seine Eigentumstheorie einen Schlüsselpunkt markiert, seit dem
Lebewesen der außermenschlichen Natur nur noch als Objekte aufgefasst
würden, deren Leben und Bedürfnisse schlichtweg irrelevant seien und
die – abgesehen von ihrem möglichen Nutzen für den Menschen – keinen
inhärenten Wert hätten. Das Verhältnis zwischen Mensch und Natur bleibe also auch bei Locke eines von Herr und Sklave. Anders als bei Hobbes
sei der Naturzustand hier jedoch als ein Ort primitiven Friedens der Menschen untereinander zu verstehen, der den Ausgangspunkt kollektiver
Arbeit und des Zusammenhalts bilde.
Wenn sich im Naturzustand tatsächlich die Grundbedingungen einer
zumindest primitiven Form der Ethik finden lassen, dann können wir laut
La Barbera zu diesem Zustand zurückkehren und lernen, eine gütigere
Gesellschaft zu werden, frei von externen Einschränkungen und aufoktroyierten Autoritäten. Grund zur Hoffnung biete hier Jean-Jacques Rousseau. Dieser bezweifelte, dass die Herrschaft des Menschen über die Natur
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Literaturbericht
Die Mensch-Tier-Beziehung unter ethischem Aspekt |
wirklich durch ein bis dato wenig hinterfragtes Gesetz der Natur gerechtfertigt werden könne. Rousseau war La Barbera zufolge davon überzeugt,
dass die Natur des Menschen sich durch einen „ethical instinct“ und primitive politische Strukturen auszeichne, die nicht auf künstlichen Gesetzen,
sondern auf natürlichen „relationships of need“ beruhten. In diesem vorzivilisatorischen Zustand hätten auch die Bedürfnisse nicht-menschlicher
Lebewesen moralisches Gewicht. Obwohl Tiere auch hier dem Menschen
unterstellt seien, würden sie nicht mehr als bloße Objekte aufgefasst. Tiere
hätten ihren moralischen Subjektstatus in dem Moment verloren, in dem
die Rechte auf Leben, Freiheit und Eigentum zu rein menschlichen Ansprüchen im politischen Diskurs erklärt worden seien, so La Barbera. Seit
dem würden sie – im Grunde die gesamte außermenschliche Natur – als
passive Ressourcen angesehen. Ob und wie sie ihren Subjektstatus wiedererlangen können, beschäftige Umweltethiker bis heute.
In Anlehnung an Holmes Rolston III. und Donna Haraway stellt La
Barbera abschließend seinen eigenen Ansatz vor, welcher – anders als
bisherige Umweltethiken – auf der Anerkennung der Lebendigkeit, also
der anima, der außermenschlichen Natur beruht. Sowohl ein Mammutbaum als auch ein Grizzlybär haben La Barbera zufolge Interessen, nicht
weil beide empfindungsfähig sind, sondern weil sie lebendig sind. Als
Subjekte eines Lebens, als organische Systeme, deren Lebensprozesse
eher fortdauern als beendet werden sollten, können beide ihrer Umwelt
gegenüber Ansprüche erheben. Es seien zwar durchaus Situationen denkbar, in denen man die „vital interests“ eines Lebewesens übergehen könne, dies solle jedoch nur mit dem Bewusstsein geschehen, dass hier gewichtige Interessen verletzt oder gar ein Leben beendet werden.
Mit States of Nature bietet La Barbera einen recht kurzweiligen Einblick in die historischen Ursprünge der Mensch-Tier-Spaltung und in die
unterschiedlichen Vorstellungen von der menschlichen Natur. Besonders
deutlich sind die Gegenüberstellung von Hobbes’ und Rousseaus Auffassung des Naturzustandes und die Darstellung einerseits der Rechtfertigung des Gesellschaftsvertrags, andererseits der Bedenken ihm gegenüber. Während sich die menschliche Natur für Hobbes durch Brutalität
und Egoismus – ihren blanken Trieb nach Selbsterhaltung – auszeichnet,
dem nur die Gründung einer Gesellschaft, die Durchsetzung politischer
Ordnung und die Unterwerfung der Natur Einhalt gebieten können, sehnt
sich Rousseau nach einem Leben abseits der Zwänge und Beschränkungen der Moderne zurück – eine Sehnsucht, die sich gut 250 Jahre später
vielleicht noch verstärkt hat.
Literaturbericht
TIERethik, 5. Jg. 6(2013/1) | 183 |
| Petra Mayr et al.
La Barbera geht es bei seiner Darstellung und Diskussion der verschiedenen Konzepte des Naturzustandes und der Begründungen, warum es
Menschen als notwendig erachteten, Gesellschaften zu bilden, nicht nur
darum zu zeigen, dass sich Menschen durch den Gesellschaftsvertrag
abgesondert und in hohem Maße über die außermenschliche Natur erhoben haben. Er will zeigen, dass der Übergang in eine gesellschaftliche
Lebensform in gewisser Weise immer mit einem Verlust, genauer mit
einer Leugnung der menschlichen Tiernatur einherging. Der Mensch
müsse sich nicht nur wieder auf seine eigene Natur besinnen, sondern
auch darauf, dass er seine Lebenskraft mit der außermenschlichen Natur
teile. Die Einsicht, dass der Mensch ein Lebewesen unter anderen Lebewesen sei, könnte La Barbera zufolge dazu führen, der außermenschlichen Natur ihren moralischen Subjektstatus zurückzugeben.
Am Ende des Buches drängt sich zunehmend die Frage auf, ob La
Barberas „Vital-Ethics“-Ansatz, der stark an die Ethik Albert Schweitzers
erinnert, die vornehmliche Durchschlagskraft hat, Tieren und gar der
Flora einen unstrittigen Platz als moralische Subjekte zu sichern und den
von ihm nur am Rand kritisierten modernen Ethiken – wie denen Peter
Singers oder Tom Regans – so deutlich vorzuziehen ist. La Barbera, das
wird deutlich, vertritt also einen biozentrischen Ansatz. Einige Ausführungen dazu, wie es möglich wäre, gewisse Probleme und Schwächen, an
denen ein jeder Biozentrismus krankt, zu überwinden, hätten seiner Untersuchung sicher gut getan.
Alina Omerbasic
2.4 Mark Rowlands: Can Animals Be Moral?
272 S., Oxford/New York: Oxford University Press,
2012, 23,99 EUR
Können Tiere moralisch handeln? In der Tierethik
gilt beinahe schon der Standard, diese Frage negativ
zu beantworten. Nicht zuletzt basieren viele tierethische Positionen darauf, dass Tiere lediglich
„moral patients“ sein können. Das heißt, dass sie
zwar Objekte der Moral sein können, aber nicht
selbst auch zu moralischen Handlungen fähig sind,
während Menschen hingegen als „moral agents“, also moralische Akteure, aus moralischen Gründen handeln können und damit eine Verpflichtung haben, die Interessen von Tieren zu berücksichtigen. Der Philosoph
| 184 | TIERethik, 5. Jg. 6(2013/1)
Literaturbericht
Die Mensch-Tier-Beziehung unter ethischem Aspekt |
Mark Rowlands argumentiert nun in seinem neuen Buch Can Animals be
Moral? dafür, dass wir die Möglichkeit ernst nehmen müssen, dass auch
manche Tiere moralisch handeln können: „Animals can be moral subjects
in the sense that they can act on the basis of moral reasons, where these
reasons take the form of emotions with identifiable moral content.“ (35)
Um diese Position zu illustrieren, bedient er sich anfangs verschiedenster Beispiele aus der Tierwelt. Diese zeigen eindrücklich, dass viele
Tiere ein Verhalten zeigen, welches dem von moralisch handelnden Menschen frappant ähnelt. Tiere helfen verletzten Artgenossen, sie trauern um
verstorbene Angehörige, oder sie hungern, um anderen Schmerzen zu
ersparen. Rowlands führt diese Beispiele jedoch nicht zu dem Zweck an,
um dafür zu argumentieren, dass es sich bei solchen Wesen um moralische Akteurinnen („moral agents“) handelt. Wie viele andere ist er der
Auffassung, dass es unangebracht sei, Tiere für ihre Handlungen zu loben
oder zu tadeln. Ebenfalls gibt er den ethologischen Daten in seinem Buch
wenig argumentatives Gewicht. Stattdessen nutzt er sie als Sprungbrett,
um nach einer Möglichkeit zu suchen, die festgefahrene begriffliche
Trennung zwischen moralischen Akteurinnen („moral agents“) und solchen Wesen, die nicht die Fähigkeit zu moralischem Handeln besitzen
(„moral patients“), aufzubrechen.
Er macht damit Platz für eine dritte Kategorie, die er als moralische
Subjekte („moral subjects“) bezeichnet. Mit dieser „neuen“ Kategorie
versucht Rowlands, eine Art Zwischenstatus zu etablieren. Er will in
seinem Buch nun dafür argumentieren, dass moralische Subjekte zwar
(wie „moral patients“) nicht für ihre Handlungen ethisch verantwortlich
gemacht werden können, aber dennoch (wie „moral agents“) aus moralischen Gründen handeln können.
Die Stoßrichtung des Buches ist damit festgelegt: Es geht um begriffliche Argumente und Beziehungen. Wie hängen moralische mit motivierenden Gründen oder die Fähigkeit, eigene Gedanken zu reflektieren und
zu kritisieren, mit Normativität und Moral zusammen? Aus den Antworten, die Rowlands auf diese Fragen gibt, spinnt er ein komplexes Konstrukt, welches kaum einen Stein auf dem anderen lässt.
In dieser Hinsicht hebt sich Kapitel zwei hervor, in dem Rowlands dafür argumentiert, Tieren Emotionen mit moralischem Gehalt zuzuschreiben. Er versucht dabei, einen komplexen begrifflichen Zusammenhang zu
rekonstruieren, der nur schwer verständlich ist. Manche Emotionen sind
unangemessen, zum Beispiel, wenn ich wegen einer unbeabsichtigten
Nichtigkeit eines Freundes herumschreie. Sofern eine Emotion in einem
spezifischen Kontext jedoch angemessen ist, „spürt sie gleichzeitig eine
Literaturbericht
TIERethik, 5. Jg. 6(2013/1) | 185 |
| Petra Mayr et al.
evaluative Proposition auf“ („tracks an evaluative proposition“), welche
dadurch der Emotion moralisches Gehalt verleiht. Sehe ich zum Beispiel
jemanden mit schmerzverzerrtem Gesicht, dann ist es unter Umständen
angemessen, Mitleid zu verspüren. Ist dies der Fall, dann spürt mein Mitleid, so Rowlands’ Idee, eine evaluative Proposition auf, zum Beispiel
„Schmerzen sind schlecht“. Dadurch ist meine Emotion „moralisch aufgeladen“ („morally laden“) (69).
Rowlands geht dann auf die bereits erwähnte Unterscheidung zwischen „moral patients“, „moral agents“ und „moral subjects“ ein. Die,
wie schon oben erwähnt, neue Klassifizierung wird durch den Begriff des
„moral subject“ erweitert. Rowlands zufolge können Tiere zwar keine
„moral agents“ in dem Sinne sein, wie es Menschen sind. Aber – und hier
„kreiert“ er eine neue Kategorie – sie können Subjekte der Moral sein,
indem sie, wie im oben beschriebenen Prozess, „moralisch“ handeln können. Im Gegensatz zu „moral agents“ können sie aber nicht für ihre
Handlungen verantwortlich gemacht werden.
Dabei steht Rowlands These zur Debatte, dass moralische Subjekte
aus moralischen Gründen handeln können, ohne dass diese psychologisch
tatsächlich vom Subjekt erfasst werden, d.h. ohne dass dieses den Tieren
in einer Weise bewusst ist, wie dies bei Menschen angenommen werden
kann.
Die logischen und historischen Einwände (von zum Beispiel Kant und
Aristoteles) gegen diese These basieren auf einer Verknüpfung zwischen
der Fähigkeit, seine eigenen Motivationen zu reflektieren („scrutinize“)
und diese dadurch zu kontrollieren („control“). Rowlands nennt dies die
Reflection Condition. Nur dadurch, dass moralische Akteurinnen ihre
eigenen Motivationen kontrollieren können, erhalten diese überhaupt erst
normatives Gewicht. Da nun moralische Gründe gemäß Kant und Anderen notwendigerweise normatives Gewicht haben und Tiere nicht fähig
sind, ihre eigenen Motivationen zu reflektieren, befinden sie sich außerhalb des „space of moral reasons“ (170). Der Rest des Buches ist nun
zwei Aufgaben gewidmet: der Widerlegung dieser klassischen begrifflichen Verknüpfung und der Darstellung einer plausibleren Alternative.
Es wird argumentiert, dass die Reflektion eigener motivationaler Zustände nicht hinreichend sei, um Kontrolle über diese zu erlangen. „I shall
argue that we have no viable understanding of the way in which a subject’s ability to engage in critical moral scrutiny of its motivations could
give that subject control over those motivations.“ (154) Phänomenologisch mag es zwar so scheinen, als ob Reflektion das Subjekt mit Kontrolle über die eigene Motivation ausstatte. Jedoch impliziert diese phä| 186 | TIERethik, 5. Jg. 6(2013/1)
Literaturbericht
Die Mensch-Tier-Beziehung unter ethischem Aspekt |
nomenologische Tatsache nicht, dass dies auch tatsächlich der Fall ist,
was wiederum bedeutet, dass die Verknüpfung nur an anderer Stelle gesucht werden kann. Ein Kandidat dafür ist das metakognitive Element,
welches in der Reflektion enthalten ist. Dass Metakognition die nötige
Kontrolle bringen kann, entspringt gemäß Rowlands jedoch einer Art
magischem Denken, dem „miracle-of-the-meta“ (171). Ein typisches
Beispiel für diese Art der Magie ist gemäß Rowlands die „higher-order
thought theory of consciousness“.
Höherstufige Zustände statten niedrigstufige Zustände mit gewissen
Eigenschaften (z.B. Bewusstsein oder Normativität) aus, welche diesen
normalerweise fehlen. Auch die Idee Kants basiert auf dieser Art des
Denkens: Reflektion auf höherer Stufe stattet die Motivationen auf niedriger Stufe mit normativer Kraft aus. Nun will Rowlands jedoch zeigen,
dass dies das Problem nicht wirklich löst, sondern einfach auf die nächste
Stufe verschiebt, ad infinitum. Damit bleibt es völlig rätselhaft, wie jemals normative Kraft ins Spiel kommen könnte. „Somewhere, the miracle
tells us, we will find a level that is immune to the tribulations of the lower
order. But there are no miracles, and there is no such level.“ (187) Daraus
schließt Rowlands, dass die klassische Idee, Reflektion könne normative
Kraft generieren, schlussendlich auf Wunschdenken basiert und damit
verworfen werden muss. Dieses Kapitel ist leider etwas unklar, und es
bleibt schleierhaft, wie genau die angegriffenen Philosophen auf das
„miracle“ angewiesen sind. Schlussendlich bleibt die Vermutung, dass
neben der Metaebene auch andere Gründe bei diesen Positionen im Spiel
sind, welche aber von Rowlands außer Acht gelassen werden.
Einer letzten Möglichkeit, wie versucht wird, Tiere aus dem Kreis der
moralischen Subjekte auszuschließen, widmet er sich dann in Kapitel
acht. Da Tiere nicht Teil einer moralischen Praxis, also einer Gemeinschaft, in welcher moralische Urteile gefällt werden, sein können, so die
weitverbreitete Vorstellung, können sie auch nicht aus moralischen
Gründen handeln. Aber auch hier zeigt Rowlands, dass es keinen Grund
gibt, Tieren prinzipiell den Status als Subjekte der Moral abzusprechen.
Entweder basiert ihr Ausschluss auf einem nicht haltbaren Wittgensteinianischen Praxisbegriff, oder er bezieht sich letztendlich wieder auf das
vorhin beschriebene magische Denken. Daraus schließt Rowlands, dass
auch der letzte Versuch, Tiere nicht als moralische Subjekte zuzulassen,
scheitert.
Da in den vorhergehenden Kapiteln verschiedene Möglichkeiten, wie
Handlungen normative Kraft gewinnen können, verworfen wurden, stellt
sich nun die Frage, wie schließlich Normativität wieder ins Spiel kommt
Literaturbericht
TIERethik, 5. Jg. 6(2013/1) | 187 |
| Petra Mayr et al.
und damit moralische Handlungskraft wieder möglich wird. Hier verteidigt Rowlands einen externalistischen Konsequentialismus, welcher gewisse Handlungen aufgrund spezifischer Eigenschaften von Situationen
objektiv moralisch richtig oder falsch macht. Sofern ein Wesen einen
verlässlichen Mechanismus besitzt, welcher diese Eigenschaften „aufspürt“, spricht nichts dagegen, dieses Wesen als moralisch zu bezeichnen.
Ob es sich dabei bloß um ein „moral subject“ oder einen „moral agent“
handelt, ist eine graduelle Angelegenheit und hängt gemäß Rowlands
davon ab, inwiefern das Wesen fähig ist, diese Eigenschaften und ihre
Funktion im moralischen Kontext zu verstehen. „Agency, on this view,
comes in degrees – because this sort of understanding comes in degrees.“
(240)
Can Animals Be Moral? ist ein komplexes Buch, das sich primär an
Philosophinnen und Philosophie-Interessierte mit einem Faible für begriffliche Argumente und Zusammenhänge richtet. Rowlands verteidigt
seine außergewöhnliche These mit viel Argumentationsgeschick und fast
ohne Inkonsistenz. Fast? Ja, denn im Laufe der Lektüre drängen sich
doch einige Zweifel auf, ob das Konstrukt tatsächlich trägt. Zwei davon
sollen hier dargestellt werden:
Einerseits bleibt offen, inwiefern der externalistische Konsequentialismus (angenommen, man akzeptiert ihn) dem Subjekt Handlungsgründe
liefern kann, ohne dass diese irgendwie in ihm instantiiert sein müssen.
Rowlands verweist zu diesem Zweck auf die Funktion externer Gründe,
ohne dabei aber weiter auf die damit verbundene Problematik einzugehen. Es bleibt der Leserin fast nichts anderes übrig, als die Kraft externer
Gründe, dem Subjekt moralische Gründe für seine Handlungen zu liefern,
beinahe blind hinzunehmen. Insbesondere in der Dialektik des Buches,
wo die Grundlage für die objektive moralische Bewertung einer Handlung erst zum Schluss eingeführt wird, wirkt dieses Argumentationsmuster wie ein geschickt eingefädelter Taschenspielertrick.
Andererseits drängt sich die Vermutung auf, dass Rowlands selbst in
der Erklärung von Normativität und Handlungskraft dem miracle-of-themeta auf den Leim geht. Subjekte werden zu Akteurinnen, indem sie
moralische Eigenschaften zu verstehen lernen. Und dies wiederum tun sie
kraft ihrer meta-kognitiven Fähigkeiten (238–239). Warum jedoch die
meta-kognitiven Fähigkeiten dies ermöglichen, bleibt leider offen. Dies
hängt wohl auch mit den zuvor schon bemerkten Zweifeln, worum es sich
beim „miracle“ genau handelt, zusammen.
So bleibt im Endeffekt eine Mischung aus der Überzeugung, dass
Rowlands zwar ein interessantes Problem aufwirft und eine ungewöhnli| 188 | TIERethik, 5. Jg. 6(2013/1)
Literaturbericht
Die Mensch-Tier-Beziehung unter ethischem Aspekt |
che Position geschickt verteidigt, und dem bitteren Nachgeschmack, dass
dabei nicht ganz sauber argumentiert und gewisse Probleme unter den
Teppich gekehrt wurden.
Florian Leonhard Wüstholz
3. Tierethik interdisziplinär
3.1 Helmut Segner: Fish. Nociception and Pain.
A Biological Perspective
94 S., Bern: Eidgenössische Ethikkommission für
die Biotechnologie im Außerhumanbereich, 2012,
12,00 CHF
3.2 Markus Wild: Fische. Kognition, Bewusstsein
und Schmerz. Eine philosophische Perspektive
187 S., Bern: Eidgenössische Ethikkommission für
die Biotechnologie im Außerhumanbereich, 2012,
12,00 CHF
Die Frage, ob bzw. wie weit Fische über phänomenales Bewusstsein verfügen und insbesondere wie
weit sie Schmerzen fühlen können, ist nicht nur
hochgradig kontrovers, sie ist angesichts ihrer
Reichweite auch von gleichermaßen hohem wissenschaftstheoretischem und ethischem Interesse. Wissenschaftstheoretisch wirft sie die Frage nach den
Kriterien auf, an denen sich Urteile über Bewusstseinsfähigkeit bei evolutionär vom Menschen entfernten Tiergattungen orientieren können, sollen oder müssen. Ethisch
hätte eine bejahende Antwort auf die Frage Do fish feel pain? – so der
Titel eines für die Debatte wichtigen Buchs von Victoria Braithwaite
(Oxford 2010) – massive Konsequenzen für den gegenwärtig praktizierten Umgang mit Fischen: vom Sportangeln bis zum Fischfang im industriellen Maßstab, bei dem der größte Teil der Fische einen längerdauernden Erstickungstod erleidet. Eine weitere Frage (die in beiden Beiträgen
allerdings nur beiläufig aufgeworfen wird) ist die, welches Verhalten
angemessen ist, wenn für die Schmerzfähigkeit von Fischen zwar Indizien sprechen, diese aber lediglich Vermutungen begründen: Sollten wir
den Fischen den „benefit of the doubt“ gewähren und für praktische Zwecke davon ausgehen, dass Fische Schmerzen empfinden, wenn ein Haken
Literaturbericht
TIERethik, 5. Jg. 6(2013/1) | 189 |
| Petra Mayr et al.
ihr Maul oder ihre Augen durchbohrt, oder sollten wir sie, wie Vertreter
konservativer Positionen gelegentlich argumentieren, wegen des verbleibenden Restzweifels umgekehrt nur nachrangig schützen, d.h. nur so
weit, wie der Schutz nicht mit anderen, insbesondere ökonomischen Interessen konfligiert?
Hintergrund und Anlass der vorliegenden – sich komplementär zueinander verhaltenden – Bände sind die spektakulären, in der Öffentlichkeit
allerdings wenig beachteten Befunde der letzten 20 Jahre über die bemerkenswerten kognitiven Leistungen einzelner Fischgattungen. Beobachtungen und Versuche an Regenbogenforelle, Zebrafisch und anderen
haben das herkömmliche Bild der Fische als „3-Sekunden-Wesen“ mit
minimalem Gedächtnis und minimaler Lernfähigkeit erschüttert. Beide
Autoren argumentieren vor diesem Hintergrund für ein „neues Bild“ vom
Fisch als Wesen, dessen kognitive Leistungen in wesentlichen Hinsichten
denen von Säugetieren entsprechen. Die Fähigkeit, Schmerzen zu empfinden, müsse ihnen zumindest insoweit zugesprochen werden, als die
Beweislast bei denen liegt, die ihnen diese abstreiten. Fische verfügen,
wie der Berner Biologe Segner überzeugend darlegt, nicht nur über
Nociceptoren, die von außen induzierte Gewebeschäden detektieren (über
diese verfügen auch Wirbellose wie Insekten und Würmer), sondern auch
über analoge afferente Reizleitungen und dieselben an der Schmerzwahrnehmung beteiligten Gehirnareale, mit dem Unterschied allerdings, dass
Fische ähnlich wie Reptilien und Vögel keinen Neokortex aufweisen.
Dieser ist bei Säugetieren an der Schmerzwahrnehmung maßgeblich beteiligt – das Hauptargument für Skeptiker wie den amerikanischen Forscher J.D. Rose dafür, die Zuschreibung von subjektiven Schmerzempfindungen bei Fischen als Anthropomorphismus abzutun.
Wie viele andere geht Rose davon aus, dass das, was für Säugetiere gilt,
auch für alle evolutionär „älteren“ Tiergattungen gilt. Diese Annahme ist,
wie beide Autoren feststellen, bezweifelbar. Entscheidend für die Frage der
Schmerzfähigkeit ist nicht, ob ein Wesen die bei den Säugetieren notwendigen Komponenten für Schmerzempfindungen besitzt, sondern wie weit
es über Gehirnareale verfügt, die dem Neokortex bei Säugetieren in funktionaler Hinsicht äquivalent sind. Das sind möglicherweise genaue jene Areale, aus denen sich bei Säugetieren evolutionär der Neokortex entwickelt
hat, also das Pallium, das bei Fischen und Vögeln das Gehirn „nach oben
hin“ abschließt. Die Tatsache, dass zumindest Vögeln im Allgemeinen die
Fähigkeit zu visuellen und Schmerzempfindungen zugesprochen wird
(ausgehend von der Vermutung, dass der „Wulst“, der vordere Teil des
Pallium, die Funktionen übernimmt, die bei Säugetieren Teile des
| 190 | TIERethik, 5. Jg. 6(2013/1)
Literaturbericht
Die Mensch-Tier-Beziehung unter ethischem Aspekt |
Neokortex übernehmen), kann zumindest als Indiz dafür gelten, dass der
Analogieschluss vom Menschen bzw. von den Säugetieren auf andere Wirbeltiere keine genaue neuroanatomische Entsprechung erfordert. Auf der
anderen Seite sprechen Befunde bei Menschen mit Störungen oder Defiziten der betreffenden neokortikalen Funktionen dafür, dass diese zwar weder für die Wahrnehmung von Schmerzen noch für die mit Schmerzen
zusammengehenden Verhaltens- und Ausdrucksweisen notwendig sind,
wohl aber für die affektive Bewertung von Schmerz und die Furcht vor
zukünftigen Schmerzen. Das Argument, mit dem beide Autoren die Annahme von Schmerzempfindlichkeit und Schmerzaversion bei Fischen
stützen, sind angesichts dieses Patts die Befunde über die teilweise erstaunlichen kognitiven Leistungen sowohl einiger Fisch- wie einiger Vogelarten:
Zahlengedächtnis, schlussfolgerndes Denken, mentale Landkarten komplexer Wegstrecken, flexible Verhaltensanpassung an neuartige Situationen
und kooperatives Jagen, auch vorgängig zur Wahrnehmung einer geeigneten Beute („intentionales“ statt „opportunistisches“ gemeinsames Jagen)
und zusammen mit Individuen anderer Spezies. Außerdem werden bei
beiden Wirbeltiergattungen ebenso wie bei Säugetieren die Betätigung
dieser Funktionen und normale Verhaltensroutinen durch noxische Stimulationen beeinträchtigt. Insofern glauben sich beide Autoren zu der Annahme berechtigt, dass wie bei der Entwicklung und Betätigung dieser
komplexen Verhaltensweisen auch bei der Schmerzwahrnehmung eine
Beteiligung des Neokortex bei Vögeln und Fischen gleichermaßen entbehrlich ist. Allerdings zieht der Philosoph Wild weitergehende Schlussfolgerungen als der Biologe Segner. Für diesen sprechen zwar gute Gründe für
die Empfindungsfähigkeit, aber keine schlüssigen. Wild geht weiter und
hält die vorliegenden Belege für ausreichend, betont allerdings die Angewiesenheit der Debatte auf weitere empirische Forschungen. FischSchmerz sei eher ein Forschungsprogramm als gesichertes Wissen. Auch
sage die These, dass Fische Schmerzen haben können (die „Verteilungsfrage“), nur wenig darüber aus, wie sich Schmerzen für die Fische anfühlen
(die „Anfühlfrage“) – abgesehen davon, dass sie unangenehm und möglichst zu vermeiden sind. Anders als Braithwaite, die in dem abschließenden Kapitel ihres Buchs („Looking to the Future“) die sich den aus dieser
Lage ergebenden Fragen an die Praxis des Fischfangs und des Experimentierens mit Fischen zuwendet, deutet der Band von Wild diese Folgeprobleme lediglich an. Hier wäre für die Tierethik noch viel zu tun. Das Gespann Segner/Wild kann dafür als Modell einer erfolgreichen Interdisziplinarität gelten.
Dieter Birnbacher
Literaturbericht
TIERethik, 5. Jg. 6(2013/1) | 191 |
| Petra Mayr et al.
4. Tiere und Gesellschaft
4.1 Herwig Grimm und Carola Otterstedt
(Hrsg.): Das Tier an sich. Disziplinübergreifende
Perspektiven für neue Wege im wissenschaftsbasierten Tierschutz
388 S., Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2012,
39,99 EUR
Der Sammelband wird mit einem theologischen
Beitrag von Michael Rosenberger eröffnet. In seinem Text mit dem Titel „Mit Noah auf der Arche
und mit Jesus im Paradies“ wird die Mensch-TierBeziehung vor dem Hintergrund christlicher Moraltheorie als durch Empathie und Mitleid gekennzeichnet dargestellt. Das Tier wird hier zum
Mitgeschöpf erklärt, dem gegenüber man sich empathisch zu verhalten
habe, da es darauf ankomme, gemeinsam mit allen Mitgeschöpfen in
einer Welt begrenzter natürlicher Ressourcen zusammenzuleben. Dementsprechend gehe es darum, dieses Zusammenleben moraltheologisch
begründet zu ordnen. Nach den anfänglichen Hinweisen auf Empathie
und Mitleid irritiert dann allerdings die Bezugnahme zur Todesfrage, die
zur Tötungsfrage mutiert: „Das ungemein schwierige Problem der Abwägung von Gütern zwischen Mensch und Tier hat definitiv seine Spitze in
der Frage nach der Legitimität der Tiertötung: Dürfen wir Menschen –
unter der Voraussetzung maximaler Leidvermeidung – Tiere für unseren
Nutzen töten? Und wenn ja, für welchen Nutzen? Zunächst einmal müssen wir feststellen, dass es den Menschen absolut unmöglich ist, ganz
ohne die Tötung von Lebewesen (!) auszukommen.“ ( 30f.) Hier wird die
Frage, wie innerhalb eines begrenzten Ökosystems zusammen gelebt
werden soll, einseitig zulasten der Tiere aufgelöst. In hohem Maße irritierend ist dabei die moraltheologische Legitimationsstrategie, die in einem
weiteren Aufsatz des Autors Rosenberger zusammen mit Peter
Kunzmann unter dem Titel „Ethik der Jagd und Fischerei“ herangezogen
wird. In diesem erscheint die Jagd durch Lustgewinn gerechtfertigt, sodass eine nahezu „polymorph-perverse tierethische Theodizee“ der Lust
des Tötens entwickelt wird: „Mehr als viele anderen Betätigungen des
Menschen scheint es der Jagd eigen zu sein, dass sie im Jagenden starke
Emotionen hervorruft und große Lust [Hervorhebung im Original] erzeugt. Das ist keineswegs schlecht oder verwerflich, im Gegenteil: Wenn
jemand sein Handwerk mit Freude tut, ist das grundsätzlich zu begrüßen.
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Literaturbericht
Die Mensch-Tier-Beziehung unter ethischem Aspekt |
Allerdings gilt es, die Aspekte der Lust oder Freude ehrlich wahrzunehmen. Denn gerade Emotionen bedürfen im moralisch guten Leben einer
ständigen Formung. Sie müssen gelenkt und gestaltet und manchmal auch
begrenzt werden, damit sie zum Guten führen. Um sie aber gestalten zu
können, muss man sie erst einmal wahrnehmen und ehrlich zugeben.“
(300) Die anfangs noch als harmonisches Zusammenleben konzipierte
Mensch-Tier-Beziehung zeigt sich hier als vollkommen ambivalent, indem wildlebende Tiere nun als Konkurrenten und Lustobjekte, aber nicht
mehr als Mitgeschöpfe erscheinen. Der Text spiegelt augenscheinlich den
Kampf mit der Sublimierung einer „Lust am Töten“, so dass der ganze
Beitrag – wohl ungewollt – zum Psychogramm einer gestörten MenschTier-Beziehung gerät.
Ziel des Buchprojektes der Herausgeber sollte es sein, „Bezugspunkte
des verantwortlichen Umgangs mit Tieren aufzuzeigen und aus Sicht
relevanter wissenschaftlicher Disziplinen systematisch zusammenzustellen.“ (11) Ein ernüchterndes Bild zur Lage des verantwortungsvollen
Umgangs mit Tieren zeigen u.a. die Beiträge von Christoph Maisack zum
Tierschutzrecht bei der Haltung von Nutztieren und von Johanna Moritz
und Erik Schmid zur Verantwortung von Behörden und Gesellschaft auf.
Maisack, Jurist und stellvertretender Landestierschutzbeauftragter von
Baden-Württemberg, moniert, dass Tierschutzbelange nicht vor Gericht
eingeklagt werden können, dass aber die Tiernutzer immer gegen ein
vermeintliches Zuviel an Tierschutz klagen könnten. In diesem Ungleichgewicht liege eine fundamentale Ursache für die Geringschätzung und
Zurücksetzung von Tierschutzbelangen beim Erlass von Rechtsverordnungen und Verwaltungsakten und -handlungen nach dem Tierschutzgesetz. Die bundesweite Einführung des Verbandsklagerechts, welches
Tierschutzvereinen ermöglicht, für die Belange von Tieren zu klagen, sei
dringend angezeigt, um dem Tierschutz die notwendige Aufwertung zu
geben und um gegen die starken wirtschaftlichen Interessen der Tiernutzer anzukommen. Maisack zeigt, dass die gängigen Haltungspraktiken
von sogenannten Nutztieren in Deutschland, Österreich und der Schweiz
gegen die Grundvorschriften zur Tierhaltung verstoßen. Zahlreiche
Grundbedürfnisse können die Tiere in den gängigen Haltungssystemen
nicht ausleben, was in Deutschland einen eindeutigen Verstoß gegen § 2
TierSchG darstellt. Dieser regelt, dass Tiere ihrer Art und ihren Bedürfnissen entsprechend angemessen zu ernähren, zu pflegen und verhaltensgerecht unterzubringen sind. Eines der vielen Beispiele für besonders
gravierende Gesetzesverstöße sei die wochenlange Fixierung von Sauen
im Kastenstand, in dem sich die Tiere nicht einmal umdrehen können.
Literaturbericht
TIERethik, 5. Jg. 6(2013/1) | 193 |
| Petra Mayr et al.
Auch wird erläutert, warum die Masthühnerhaltung mit bis zu 30 kg Lebendendgewicht pro m² tierschutzwidrig ist. Es folgen weitere Beispiele
zur Haltung von Schweinen, Hühnern und Enten. Gibt es Wege, um die
festgestellten Gesetzesverstöße zu beseitigen? Die entscheidende Schwäche des Tierschutzes liege nicht in erster Linie im materiellen Recht,
sondern das Problem sei der mangelhafte Vollzug des Rechts. In
Deutschland sei ein Verstoß gegen die gesetzlichen Grundvorschriften für
die Tierhaltung (§ 2 TierSchG) nicht einmal strafbar. Erst wenn weitere,
oftmals schwer nachweisbare Voraussetzungen (länger anhaltende oder
sich wiederholende erhebliche Schmerzen und Leiden) für eine Straftat
oder Ordnungswidrigkeit bewiesen werden können, könne gegen Tierhaltungsverstöße gerichtlich vorgegangen werden. Jedoch setze Strafe ein
Unrechtsbewusstsein und den Vorsatz voraus, was angesichts von tierquälerischen Haltungsformen, die durch untergesetzliche Rechtsnormen
gebilligt und von den Überwachungsbehörden toleriert werden, nur
schwer zu erzeugen bzw. nachzuweisen sei. Wenn die überwachenden
Behörden die Tierschutzwidrigkeit der Rechtsverordnungen zur Tierhaltung nicht erkennen, werden sie auch nicht dagegen vorgehen. Sogenannte Normenkontrollverfahren seien notwendig, um die Nichtigkeit von
Rechtsnormen durch das Bundesverfassungsgericht feststellen zu lassen.
Jedoch können nur Landesregierungen, die Bundesregierung oder ein
Drittel der Bundestagsmitglieder einen Antrag zur Einleitung des Verfahrens einreichen, nicht jedoch Tierschutzorganisationen oder gar einzelne
Tierschützer, weshalb es ein solches in Deutschland bislang nur zweimal
gab. Um den Tieren schnell und effektiv helfen zu können, fordert
Maisack neben dem wichtigsten Mittel, dem Verbandsklagerecht, auch
die flächendeckende Bestellung von Landestierschutzbeauftragten, die
auch Klagerechte gegen untätige Behörden haben, und die Bestellung von
Tieranwälten für Strafverfahren nach dem TierSchG, die die Belange der
Tiere wahrnehmen können.
Über die gesellschaftliche Verantwortung und die Wichtigkeit einer
funktionierenden behördlichen Tierschutzaufsicht, die das Tierschutzgesetz auch konsequent umsetzt, schreiben Moritz und Schmid in ihrem
Beitrag. Die Ausgangslage sei durch die Verankerung des Tierschutzes
als Staatsziel im Grundgesetz im Jahr 2002 sehr gut. Aber der daraus
resultierende Handlungsauftrag, Tiere vor nicht artgerechter Haltung, vor
vermeidbaren Schäden und vor der Zerstörung ihrer Lebensräume zu
schützen, werde bereits im Tierschutzgesetz und auch in den untergeordneten Verordnungen aufgeweicht, indem Praktiken wie z.B. das Kupieren
von Schwänzen bei Mastschweinen erlaubt seien. Diese gängigen tier| 194 | TIERethik, 5. Jg. 6(2013/1)
Literaturbericht
Die Mensch-Tier-Beziehung unter ethischem Aspekt |
schutzwidrigen Praktiken machten die Haltung von Tieren in nicht tiergerechten Haltungssystemen erst möglich.
Hinzu komme, dass das Tierschutzrecht vermehrt auf EU-Ebene diktiert werde und unzureichende Mindestanforderungen festgesetzt würden.
Um wettbewerbsfähig zu bleiben, orientieren sich die meisten Mitgliedsländer dann an den Mindeststandards aus Brüssel. Tierschutzorganisationen hätten eine wichtige Rolle beim Aufzeigen von Missständen und
Einfordern von staatlichem Handeln. Auch die Rolle anderer Interessenvertreter und der Medien wird diskutiert. Das Food and Veterinary Office, das im Auftrag der EU-Kommission kontrolliert, ob die Mitgliedsstaaten die Rechtsnormen vollziehen, sei ein wichtiges Instrument zur Verbesserung der Tierschutzaufsicht der Mitgliedsländer, da Mängel zu
Strafzahlungen führen. Beim Vorliegen von Missständen sind die Behörde und damit der Amtstierarzt zum Handeln verpflichtet. Eine Unterlassung wäre eine Straftat. Die Verfahren seien aber meist langwierig und
arbeitsintensiv und scheitern oftmals an formalen Fehlern, was häufig zu
Resignation beim Vollzugspersonal führe. Die meisten leitenden Amtstierärzte seien nur schlecht im Tierschutz ausgebildet. Auch fehlten oft
eingehende Kenntnisse des Verwaltungsrechts, die den Vollzug erst möglich machten. So seien viele Amtstierärzte angesichts der Vielzahl an
weiteren Aufgaben neben dem Tierschutz überfordert. Außerdem monieren die Autoren, dass zu wenig Personal zur Bewältigung aller Aufgaben
zur Verfügung steht. Lösungsansätze dafür, dass die Behörde und somit
die Amtstierärzte ihrer Aufgabe und Verantwortung nachkommen können, seien u.a. die Einrichtung von personell und fachlich gut ausgestatteten Tierschutz-Fachzentren, fachspezifische Fort- und Weiterbildung, die
Einrichtung von Tierschutzombudsstellen und eigene Staatsanwaltschaften für den Bereich Tierschutz. Auch dringend notwendig sei die Einrichtung einer Prüfstelle, die serienmäßig hergestellte Tierhaltungssysteme
für Heim- und Nutztiere auf ihre Tauglichkeit im Hinblick auf den Schutz
der Tiere überprüft.
Moritz und Schmid stellen richtig fest, dass dem Amtstierarzt auch in
Zukunft eine Schlüsselrolle zukommen wird. Tierärzte, die im Tierschutz
arbeiten wollen, müssten über sehr gute Fachkenntnisse verfügen, hoch
motiviert sein, über gute „soft skills“ verfügen und Konflikte aushalten
und bewältigen können. „Im Tierschutz arbeiten heißt ,dicke Bretter bohren‘.“ (373) Abschließend fordern die Autoren die Tierärzteschaft auf,
sich endlich klar zum Thema Tierschutz zu positionieren und ihrer Rolle
als berufene Schützer der Tiere endlich gerecht zu werden. Darüber hinaus treffe uns alle eine moralische Verantwortung, Tiere zu schützen. Der
Literaturbericht
TIERethik, 5. Jg. 6(2013/1) | 195 |
| Petra Mayr et al.
Schutz von Tieren sei eine Frage unseres eigenen Kulturfortschritts und
damit eine Bildungsaufgabe. „Wer den Tierschutz ernst nimmt, muss sein
Verhalten ändern – als Fleischesser und Forscher, aber auch als Tierliebhaber.“ (374)
Eine Stärke des Sammelbandes ist seine breit angelegte Auswahl an
Beiträgen unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen, wie etwa der
Philosophie, der Biologie, aber auch der Geschichtswissenschaften. Der
Sammelband Das Tier an sich geht nicht nur auf die unterschiedlichen
Beziehungs- und Nutzungsformen ein, die Menschen mit Tieren eingehen, er spiegelt zugleich auch in beispielhafter Weise die Vielfalt der
divergierenden Haltungen, die Menschen Tieren gegenüber einnehmen.
Kathrin Herrmann, Petra Mayr
4.2 Bernd-Udo Rinas: Veganismus. Ein postmoderner Anarchismus bei Jugendlichen?
311 S., Berlin: Archiv der Jugendkulturen Verlag
AG, 2012, 18,00 EUR
Was hat Anarchismus mit Postmodernismus und
Veganismus zu tun? Sehr viel, ist der Sozialwissenschaftler Bernd-Udo Rinas überzeugt. Seiner Ansicht nach sollte die anarchistische Bewegung, will
sie für künftige Generationen attraktiv bleiben,
endlich die eigenen theoretischen Annahmen hinterfragen; darin sieht der
Autor den Bezug zum Postmodernismus. Und dazu gehört, dass die einseitig auf den Menschen ausgerichtete – oder, wenn man das grimmige
Gesicht des Humanismus nimmt, speziesistische – Ideologie überwunden
werden muss, worin die Verknüpfung mit dem Veganismus zu sehen ist.
Wie man sich den Zusammenhang zwischen diesen drei -Ismen konkret vorzustellen hat bzw. wie er sich, gut postmodernistisch, konstruieren lässt, ist das eigentliche Ziel dieser Dissertation. Nach einigen allgemeinen Ausführungen zur Soziologie der Jugend(-kulturen) (Kap. I) bietet Rinas einen historisch-systematischen Überblick über die „vegane
Bewegung“ (Kap. II); er nennt die zentralen Merkmale des Postmodernismus (Kap. III.1) und diskutiert unterschiedliche Ausprägungen des
klassischen wie des „neuen“ Anarchismus (Kap. III.2). Im Anschluss
daran wird sozusagen das politische Potenzial des Veganismus entfaltet,
wobei für Rinas v.a. die Idee von Bedeutung ist, Ausbeutung und Herrschaft nicht bloß dann zu kritisieren, wenn sie Menschen betrifft, sondern
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Literaturbericht
Die Mensch-Tier-Beziehung unter ethischem Aspekt |
Unterdrückungsverhältnisse allgemein (unity of oppression) in den Blick
zu nehmen (Kap. III.3). Schließlich werden die vielfältigen und bisweilen
weit verzweigten Diskussionsstränge, die in dieser Arbeit verfolgt werden, zu der These verdichtet, dass sich der Veganismus in einen „postmodernen Anarchismus“ transformieren lässt (Kap. IV).
Im Grunde sind Rinas’ Thesen nicht neu. Möglichkeiten und Grenzen
einer postmodernistischen Umdeutung des klassischen Anarchismus werden seit vielen Jahren u.a. unter dem Stichwort „Postanarchism“ ausführlich diskutiert. Auch gibt es bereits seit geraumer Zeit einen Zweig der
Tierrechts- oder – genauer – der Tierbefreiungsbewegung, der einen dezidiert herrschaftskritischen Ansatz vertritt und für den die vegane Lebensweise zumindest auf der persönlichen Ebene ein Akt der Solidarität
mit allen empfindsamen Lebewesen darstellt. Rinas’ Anspruch besteht
denn auch primär darin, den theoretischen Rahmen zu setzen, innerhalb
dessen Konzepte wie „Postanarchismus“ und „Veganarchismus“ fruchtbar aufeinander bezogen werden können. Ob ihm dies tatsächlich gelingt,
ist jedoch zu bezweifeln.
Zwar befasst sich Rinas recht ausführlich mit dem Postmodernismus
im Allgemeinen, doch fehlt eine eingehende und vor allem kritische Auseinandersetzung mit postanarchistischen Ansätzen etwa von Todd May,
Saul Newman oder Lewis Call, um (neben Richard Day, den Rinas summarisch nennt) bloß die bekanntesten anzuführen. Dieses Defizit dürfte
auch darauf zurückzuführen sein, dass sich Rinas weitgehend auf Literatur verlässt, die in deutscher Sprache verfügbar ist. So oder so wäre es
interessant gewesen zu erfahren, wie Rinas den Vorwurf an den postmodernistischen Anarchismus, er sei geschichts- sowie theoriefeindlich,
bewertet und allenfalls kontert. Denn davon hängt auch ab, inwieweit
Konzepte, die der anarchistischen Tradition entlehnt sind, in einem modifizierten Theorierahmen überhaupt noch verfügbar sind. Rinas selbst
scheint der Meinung zu sein, dass dem so ist, wie er (in Anlehnung an
Day) am Begriff der Solidarität zu zeigen versucht ( 150, 173, 203, 269).
Solidarisches Handeln entspringe nämlich der Einsicht, dass es einen
Zusammenhang gebe zwischen den eigenen Privilegien und der Unterdrückung Anderer und dass zu diesen „Anderen“ eben auch nichtmenschliche Tiere gehörten. Diese Neudeutung des Begriffs der Solidarität lässt
sich aber auch ohne postmodernistische Umwege bewerkstelligen. Man
hat ‚lediglich‘ Argumente dafür zu liefern, dass nichtmenschliche Tiere
zu den Kandidaten von Entitäten gehören, die durch die Ausübung meiner Privilegien geschädigt werden können.
Literaturbericht
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| Petra Mayr et al.
Und damit zu einem zweiten Punkt, der in Rinas’ Arbeit zwar immer
wieder angedeutet, aber kaum ausgearbeitet wird: Welche Gründe sollten
AnarchistInnen eigentlich haben, ihre Thesen und Begrifflichkeiten auf
den außerhumanen Bereich auszuweiten? Aus Sicht der VeganerInnen
(zumindest, wie Rinas sie porträtiert, s.u.) bietet sich hier der Rekurs auf
basale Grundsätze der traditionellen Moralphilosophie an, wie z.B. das
Gleichheitsprinzip (wie das Peter Singer vorschlägt) oder die Verleihung
moralischer (sowie juridischer) Rechte auf der Basis der Zuschreibung
eines intrinsischen Werts (wie das Tom Regan im Sinn hat). Gegenüber
beiden Ansätzen dürften AnarchistInnen jedoch ihre Vorbehalte haben.
Was letzteren betrifft, sind sie bekanntlich skeptisch gegenüber dem Begriff des Rechts. Für viele sind Rechte bloß ein Instrument in den Händen
mächtiger Ideologien oder Instanzen (wie z.B. des Staates), mit denen
Herrschaftsverhältnisse weiter zementiert werden. Und was ein auf alle
Tiere ausgeweitetes Gleichheitsprinzip à la Singer angeht, sind viele
AnarchistInnen der Ansicht, es werde hier der Mensch auf eine biologische Entität reduziert (auf ein Wesen mit Empfindungsfähigkeit), womit
außer Acht gerate, was uns in erster Linie ausmache, nämlich: dass wir
primär soziale Lebewesen seien. Nicht, dass es gegen diese traditionellen
Auffassungen keine Einwände gibt: So wurde (von Feministinnen wie
Carol Adams oder von Anarchisten wie Brian A. Dominick) scharfe Kritik an traditionellen Moraltheorien geübt und Konzepten wie Gerechtigkeit, gleiche Rücksichtnahme, Rechte oder Würde eine Ethik der Fürsorge und des Mitgefühls gegenübergestellt. Oder es wurde (z.B. von Ted
Benton) zu zeigen versucht, dass auch (viele) nichtmenschliche Tiere ein
ausgeprägtes soziales Leben führen. Schließlich gibt es Ansätze (wie z.B.
denjenigen des Anarchisten Bob Torres), welche extreme Formen der
Ausbeutung an den Besitzstatus von Lebewesen knüpfen und eine Ausweitung von Begriffen wie Herrschaft oder Unterdrückung auf nichtmenschliche Tiere damit begründen, dass diese Lebewesen nach wie vor
Eigentum des Menschen seien bzw. deren Wert auf eine ökonomische
Größe reduziert werde. Auch in diesem Fall wäre es interessant gewesen
zu sehen, wie Rinas solche Ansätze beurteilt, zumal sie ganz konkret
Argumente liefern für seine These, der (soziale) Anarchismus habe die
eigenen Annahmen kritisch zu reflektieren – Argumente, die in Rinas’
Arbeit weitgehend fehlen.
Schließlich ein dritter Punkt: Rinas ist sich zwar bewusst, dass er von
einem reichlich eingeschränkten Verständnis von „Veganismus“ ausgeht.
Dennoch muten einige seiner Aussagen etwas irreführend an – so etwa,
wenn er den Veganismus als eine dezidiert nicht-anthropozentrische Le| 198 | TIERethik, 5. Jg. 6(2013/1)
Literaturbericht
Die Mensch-Tier-Beziehung unter ethischem Aspekt |
bensweise porträtiert. Zumindest für Menschen, die aus überwiegend
gesundheitlichen oder ökologischen Gründen vegan leben (und das sind,
wenn man empirischen Studien aus den USA glauben will, nicht wenige),
trifft dies so nicht zu. Und auch jene, die vornehmlich ethische Gründe
für ihren Veganismus anführen, vertreten nicht schon eo ipso einen antispeziesistischen oder gar herrschaftskritischen Standpunkt – genau diese
Art von Veganismus aber hat Rinas ausschließlich im Blick. Geht man
davon aus, dass die Zahl vegan lebender Menschen in vielen Ländern
nach wie vor im Promillebereich liegt, dürften die von Rinas gemeinten
„AnarchoveganerInnen“ de facto einen äußerst kleinen Kreis ausmachen.
Für sich genommen ist das nicht weiter schlimm; allenfalls wird damit
die These vom Veganismus als zukunftsweisendem Lebensstil arg relativiert. Systematisch eher ins Gewicht dürfte die Tatsache fallen, dass der
Veganismus gerade von jenen Menschen aus der Tierbefreiungsbewegung äußerst scharf kritisiert wird, die eine herrschaftskritische Position
vertreten. Für sie (die selber vegan leben) ist der Veganismus zunächst
bloß ein individueller lifestyle ohne politische Dimension. Einer der
Gründe besteht darin, dass sie den Speziesismus gerade nicht als persönliches Vorurteil betrachten, das sich mit einigen philosophischen Argumenten kurieren lässt (wie das die von Rinas immer wieder erwähnten
Moralphilosophen Singer und Kaplan meinen), sondern als Teil einer
Ideologie, die in unserer Kultur fest verankert ist und die (wie der Soziologe David Nibert herausgearbeitet hat) einer ganz bestimmten Verwertungslogik folgt, die darauf angelegt ist, empfindsame Lebewesen in ökonomisch rentable Konsumgüter zu transformieren. Mit anderen Worten
sieht es danach aus, als ob der (auch ethisch motivierte) Veganismus
selbst für jene Menschen nicht von herausragender politischer Bedeutung
ist, die Rinas primär im Auge hat. Was im Grunde nicht weiter tragisch
ist, denn kaum jemand vertritt wirklich die Ansicht, dass der Veganismus
für alles und jede das allein selig machende Mittel ist – dies, und zum
Glück, auch für den Anarchismus nicht.
Klaus Petrus
Literaturbericht
TIERethik, 5. Jg. 6(2013/1) | 199 |
| Petra Mayr et al.
5. Rechtsfragen und Rechtsentwicklung
5.1 Sabine Lennck: Die Kodifikation des Tierschutzrechts
321 S., Baden-Baden: Nomos, 2012, 79,00 EUR
Die Autorin setzt sich in ihrer 2010 an der
rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität
Salzburg entstandenen und als Band 8 der vom
Verlag Nomos herausgegebenen Reihe „Das Recht
der Tiere und der Landwirtschaft“ veröffentlichten
Dissertation Die Kodifikation des Tierschutzrechts.
Modellvorstellungen aus rechtsvergleichender Perspektive mit den Tierschutzgesetzen des deutschsprachigen Raumes,
Neuseelands und Südafrikas auseinander. Dabei entwickelt sie auf der
Grundlage der daraus gewonnenen Erkenntnisse ein Modell für ein neues
Tierschutzgesetz der Republik der Seychellen. Die Arbeit vermittelt nicht
nur einen akribisch recherchierten Überblick über Entstehung, Aufbau
und Regelungsinhalt der behandelten Tierschutzgesetze, sondern beleuchtet auch die wichtigsten privatrechtlichen Bestimmungen, die für die
Mensch-Tier-Beziehung von Bedeutung sind. Grundlegende Fragen wie
die Verankerung des Tierschutzes als Rechtsgut im Verfassungsrang und
die Diskussion über die Möglichkeit, (bestimmten) Tieren Rechtspersönlichkeit bzw. subjektive Rechte zuzuerkennen, werden wiederholt aufgegriffen, jedoch nicht dogmatisch vertieft.
Im Rahmen ihrer Untersuchung gelangt die Autorin zu dem Schluss,
dass das österreichische Tierschutzgesetz „schon beinahe als mustergültig“ zu betrachten sei. Dies mag zwar auf das Tierschutzgesetz selbst
zutreffen, doch müssten schon die Verordnungen, insbesondere die für
die Nutztierhaltung geltenden Mindestanforderungen, die aus der Betrachtung völlig ausgeklammert werden, dieses Ergebnis relativieren.
Zwar fließen die Verordnungen deshalb nicht in die Untersuchung ein,
weil der (intensiven) Nutztierhaltung auf den Seychellen keine Bedeutung zukommt, doch zeigt diese Lücke in unbeabsichtigter Weise auch,
dass die Qualität einer Tierschutzgesetzgebung keineswegs allein auf der
Grundlage des jeweiligen Tierschutzgesetzes, sondern stets nur unter
Einbeziehung der Durchführungsbestimmungen und unter Bedachtnahme
auf die Rechtswirklichkeit, d.h. auf die Effektivität der Vollziehung, beurteilt werden kann.
| 200 | TIERethik, 5. Jg. 6(2013/1)
Literaturbericht
Die Mensch-Tier-Beziehung unter ethischem Aspekt |
Im Hauptteil der Untersuchung unternimmt die Autorin den Versuch, ein
neues Tierschutzgesetz („Modellgesetz“) für die Republik der Seychellen
zu entwerfen. Obwohl wiederholt betont wird, dass gerade die Gesetzgebung im Bereich des Tierschutzes auf die jeweiligen regionalen Gegebenheiten, z.B. auf besondere kulturell bedingte Tierschutzprobleme, und
auf die ökonomische Bedeutung verschiedener Arten der Tiernutzung
Bedacht nehmen müsse, entspricht der im Anhang I abgedruckte Gesetzesentwurf über weite Strecken dem österreichischen Tierschutzgesetz.
Schließlich muss im Hinblick auf den Titel der Arbeit auch die Frage
aufgeworfen werden, ob ein Tierschutzgesetz, das sich wie das österreichische auf die Regelung „allgemeiner“ Tierschutzangelegenheiten beschränkt und daher weder Tierversuche noch den Transport von Tieren
regelt, als „Kodifikation“ des Tierschutzrechts bezeichnet werden kann,
die definitionsgemäß den Anspruch erheben müsste, die Rechtsmaterie
abschließend zu regeln.
Trotz des durchaus interessanten Ansatzes der Rechtsvergleichung
mutet die theoretische Bemühung, einen Gesetzesentwurf im „Elfenbeinturm“ zu entwickeln, insgesamt etwas realitätsfern an. Die Arbeit sei
dennoch all jenen empfohlen, die sich einen aktuellen Überblick über die
Rechtslage im Bereich des Tierschutz- bzw. auch des Tierrechts in Österreich, Deutschland und der Schweiz verschaffen möchten und an rechtsvergleichenden Betrachtungen interessiert sind.
Regina Binder
6. Tierethik und Kulturwissenschaft
6.1 Randy Malamud: An Introduction to Animals and Visual Culture
176 S., Basingstoke: Palgrave Macmillan, 2012,
35,78 EUR
In einer veritablen Tour de force vergegenwärtigt
Randy Malamuds Studie, wie sehr unsere von modernen Bildmedien geprägte Kultur auf Tier-Repräsentationen setzt und welch düsteren Auswirkungen damit einhergehende Praktiken nicht nur
auf tierliches Image und Wohlergehen im Konkreten, sondern insgesamt auf unser Verständnis von Welt und Natur haben
können. Das Werk – Teil einer mittlerweile beachtlichen Anzahl von
Literaturbericht
TIERethik, 5. Jg. 6(2013/1) | 201 |
| Petra Mayr et al.
Publikationen aus der von Andrew Linzey und Priscilla N. Cohn herausgegebenen Tierethik-Reihe des Verlags Palgrave Macmillan in Zusammenarbeit mit dem Oxford Centre for Animal Ethics – versteht sich als
Plädoyer für eine ‚ethisch akkuratere‘ Haltung gegenüber nichtmenschlichen Tieren und damit auch als Hinterfragung der Allmacht, die
Menschen sich gerade im visuellen Zugriff auf Tiere anmaßen.
Randy Malamud, Professor für englische Literatur an der Georgia State University in den USA, hat sich bereits mit seinen Büchern Reading
Zoos: Representations of Animals and Captivity (1998) und Poetic Animals and Animal Souls (2003) sowie als Herausgeber von A Cultural
History of Animals in the Modern Age (2007) einen einschlägigen Namen
gemacht. Über kulturwissenschaftliche Fachbereiche hinaus bekannt mag
ihn schließlich das Vorwort gemacht haben, das er für den von Linda
Kalof und Amy Fitzgerald herausgegebenen multidisziplinären Band The
Animals Reader (2007; vgl. dazu die Rezension in ALTEX 25.4, 2008)
verfasste. Auch der Fotokünstlerin Britta Jaschinski, deren Tierbilder den
Animals Reader eröffnen und strukturieren, begegnen wir in An Introduction to Animals and Visual Culture an prominenter Stelle wieder: Jaschinski liefert nicht nur abermals das Cover-Bild (ein Beluga-Wal, fotografiert im Aquarium), sondern auch fünf weitere der insgesamt 16 Abbildungen, mit denen Malamud seine Studie illustriert. Die meisten Bilder
stammen aus Jaschinskis Fotoserie Zoo (1996). Aus den Konvergenzen
mit Malamuds Schwerpunktsetzungen sind, wie Malamud selbst thematisiert, diverse gemeinsame Projekte entstanden (vgl. S. 50), und viel Aufmerksamkeit widmet er Jaschinski denn auch im vorliegenden Werk – als
Repräsentantin eines „ethically potent endpoint of animal photography“
(61).
Angelegt als Kombination aus „close-up case studies and broader
theoretical hypotheses about what these portrayals mean“ (4) besteht An
Introduction to Animals and Visual Culture aus insgesamt sieben Kapiteln, deren Einteilung keinem einheitlichen Klassifikationsschema folgt:
„1. Introduction: Framed Animals“ – „2. Famous Animals“ – „3. Photographic Animals“ – „4. Film Animals“ – „5. Pornographic Animals“ –
„6. Zoo Animals“ – „7. Weird Animals“. Angeschlossen sind Anmerkungen und eine Bibliografie – beide Bereiche erstaunlich knapp gehalten –
sowie ein sehr genau gearbeiteter, hilfreicher Index. Jedes Kapitel ist
damit in sich geschlossen und gut für sich allein lesbar (tatsächlich sind
nicht näher ausgewiesene Teile des Buchs bereits als Artikel in Zeitungen, Zeitschriften und Sammelbänden erschienen); wer allerdings eine
Einführung im herkömmlichen Sinne erwartet, die behutsam, ausgewo| 202 | TIERethik, 5. Jg. 6(2013/1)
Literaturbericht
Die Mensch-Tier-Beziehung unter ethischem Aspekt |
gen und sukzessiv vertiefend Themen, Problemstellungen, Begrifflichkeiten, Theorie-Werkzeuge und Forschungslandschaft aufbereitet, wird enttäuscht werden.
Ausgeblendet bleibt so mancher Star der kulturwissenschaftlichen
Animal Studies. Kann ein Einführungswerk zu Tieren und visueller Kultur Donna Haraways Anmerkungen etwa zum Zusammenhang von Sehen
und Ansehen, von respecere und Respekt so völlig ignorieren? Sollte
Jacques Derridas tierethische Fragestellungen re-animierender Blickwechsel mit „seiner“ Katze nicht zumindest einen Satz wert sein? Angeschlossen wird hingegen an Michel Foucaults bekannte, in Überwachen
und Strafen getroffene Gleichsetzung von Vision und Macht. Und als
Gewährsmänner eines Ideals „for the ecological and cultural prosperity of
animals“ (46) werden wiederholt und etwas einseitig Deleuze und
Guattari bemüht: Das ‚wirkliche‘ – im Sinne von: authentische, ganzheitliche – Tier sei immer ‚multipel‘ (vgl. 11, 36), wild, im ‚Pack‘ unterwegs
und in Transformation begriffen (vgl. 46-47). Hier lassen sich Zweifel
daran anmelden, wie vereinbar Deleuze und Guattari mit einer Argumentation sind, die immer wieder puristisch auf einer ‚Essenz‘ des Tieres
besteht. Vor allem aber erzeugt ein derartiger Referenzrahmen ein antivisuelles Moment, das moderne Bildtechnologien prinzipiell unter Verdacht stellt. Der Akt des framing selbst – technischer Terminus für
Kadrierung, die Definition des Bildausschnitts – wird Gefangennahme,
Domestizierung und Verfremdung gleichgesetzt: „We do not like to think
much about wild, natural animals because we have just about extinguished wildness and nature. We prefer our animals framed, domesticated,
dressed up for our spectacles.“ (72)
Man mag in Malamuds Fokus auf Zoos, Gefangenschaft und
Inauthentizität eine Fortführung, ja Radikalisierung der einflussreichen
Thesen des Schriftstellers, Malers und Kunsthistorikers John Berger aus
den späten 1970ern sehen, die Anfang der 1980er-Jahre unter dem Titel
Why look at animals? zusammengefasst publiziert wurden. Wie Berger
führt Malamud die Dynamik zwischen Tieren und visueller Repräsentation auf unser Verhältnis zur Natur zurück, und wie Berger insistiert er
auf dem prägenden Einfluss visueller Repräsentation für unser Naturverständnis. Bergers ebenso berühmte wie pessimistische Konfiguration von
Tieren als Schwundformen der technischen Moderne, die das Verschwinden ‚realer‘ Tiere aus der Kultur des Kapitalismus mit ihrem Ersatz durch
Repräsentationen und Artefakte in Verbindung setzt, findet sich bei Malamud nicht nur gebührend gewürdigt („Berger launched into fascinating
rambles about all the improper ways in which people looked at aniLiteraturbericht
TIERethik, 5. Jg. 6(2013/1) | 203 |
| Petra Mayr et al.
mals“, (84) – sie durchläuft gleichsam eine medienhistorische Aktualisierung durch stets skeptische Verweise auf neue und neueste Bildformate
und
-praktiken, die sich zwischen uns und die Natur drängen: „All
these beeping, blinking, omnipresent media supplant a direct engagement
with the natural world and its creatures.“ ( 73) Und sie erfährt Zuspitzung
durch eine Argumentation, die rigide zwischen (wenigen) akzeptablen
und (vielen) nicht-akzeptablen Formen der Visualisierung von Tieren
unterscheidet und sich bisweilen gar einem „ethos of not seeing“ (114)
verschreibt.
So gibt es kaum visuelle Praktiken, die vor Malamuds Sichtung bestehen: Jaschinskis zookritisches Oeuvre; fotografische und filmische
Dokumentationen über das Leid in Tierfabriken; „Wildlife“-Tierfilme,
die auf Distanz und Subversion von Sehererwartungen setzen. All dies
aber markiert Malamud als Nischenprogramm; den hoffnungsvollen Weg
in den Mainstream westlicher Popularkultur sieht er allein HollywoodProduktionen im Bereich der „animated movies“ nehmen, mit Zeichentrickfilmen, die wie Ratatouille, Chicken Run, Happy Feet oder Bee
Movie auf die Inwertsetzung tierlicher Integrität und auf ökologische
Botschaften setzen. Insgesamt jedoch sieht er „visual animals“ in unserer
Kultur einer gewaltigen Trivialisierungs-, Verzerrungs- und Vernichtungsmaschinerie unterworfen: ein Pessimismus, der im abschließenden
Kapitel „Weird Animals“ – also ‚seltsame, unheimliche Tiere‘ – kulminiert.
Hier manifestiert sich aber auch noch einmal ein notorischer toter
Winkel in Malamuds Perspektive: Wo Spektakel und framing unter Generalverdacht stehen, kann ein anders gelagertes, tierethisch relevantes
Problem nicht adäquat reflektiert werden – das Problem der Ausblendung
von Tiertötung und Tierquälerei in unseren Gesellschaften. Die eminente
Bedeutung technisch fabrizierter und in Zirkulation versetzter Bilder, um
Anliegen des Tier-Aktivismus (von Singer bis PETA) zu positionieren,
skizziert Malamud in gerade einmal einem Absatz im Kapitel zu
„Famous Animals“ an; das Argument wird später nicht weiterentwickelt.
Wo dann aber im Kapitel „Weird Animals“ die Rede auf zeitgenössische
Kunstformen kommt, die Aspekte des Tiertötens und -verwertens (vom
Schlachten bis zum Experimentieren) eben auf spektakuläre Weise zum
Thema machen, reagiert Malamud mit Abblocken: Die für ihn unethischen Vorgehensweisen sanktioniert er gar durch Aberkennung des
Künstlerstatus – Kaliber wie Eduardo Kac, Damien Hirst, Pinar Yolaçan
sind für Malamud dann eben nur „artists“ unter Anführungszeichen. Wie
kurz Malamuds Argumentation etwa im Fall der biokybernetischen Kunst
| 204 | TIERethik, 5. Jg. 6(2013/1)
Literaturbericht
Die Mensch-Tier-Beziehung unter ethischem Aspekt |
von Kac greift, weiß, wer die einschlägigen Studien von Steve Baker (den
Malamud immerhin zitiert), W.J.T. Mitchell oder jüngst Giovanni Aloi
(Art and Animals. London: Tauris 2012) heranzieht.
Zusammenfassend: Malamuds Buch macht betroffen – und das ist ja
wohl auch ein intendierter Effekt. Seine vehemente Botschaft vermittelt
es anschaulich, wortgewandt, erfrischend selbstreflexiv, mitunter mit
bereichernden Ausflügen in die Literatur, speziell die Dichtkunst. Besonders spannend ist das Werk dort, wo es historisch ausholt und auf die
zentrale Beanspruchung von Tieren gerade am Beginn der technischen
Moderne verweist – etwa bei den Ausführungen zur Chronofotografie des
Fotopioniers Eadweard Muybridge. Die versprochenen close-up-Fallstudien geraten jedoch recht ungleich; vieles bleibt eher kursorisch behandelt. Und in die Betroffenheit ob des wirkungsvoll vermittelten schieren Ausmaßes an menschlicher Grausamkeit und Ignoranz im Umgang
mit Tieren mischt sich schließlich auch Ungeduld, wenn allzu rasch von
physischer auf symbolische Gewalt (und umgekehrt) geschlossen wird:
Sieht Malamud das populäre und weitestgehend belanglose „The Infinite
Cat Project“ im Internet (Katzen beim Betrachten von PC-Bildschirmen
mit Bildern von Katzen) ernsthaft als „logical culmination“ (38) von
Edisons Kurzfilm Electrocuting an Elephant aus dem Jahr 1903? – Ein
lesenswertes Buch, doch gerade wo es als Introduction zum Thema Tiere
und visuelle Kultur gelesen wird, sei ergänzende, ausgleichende Begleitlektüre anempfohlen.
Claudia Leitner
Literaturbericht
TIERethik, 5. Jg. 6(2013/1) | 205 |
| Petra Mayr et al.
Literatur
Aaltola, Elisa (2012). Animal Suffering: Philosophy and Culture. Hampshire: Palgrave
MacMillan, 272 S., ISBN-13: 978-0230283916, 69,99 EUR
Grabolle, Andreas (2012). Kein Fleisch macht glücklich. Mit gutem Gefühl essen und
genießen. München: Goldmann, 416 S., ISBN-13: 978-3442173167, 9,95 EUR
Grimm, Herwig/Otterstedt, Carola (Hrsg.) (2012). Das Tier an sich. Disziplinübergreifende Perspektiven für neue Wege im wissenschaftsbasierten Tierschutz. Göttingen:
Vandenhoeck & Ruprecht, 388 S., ISBN-13: 978-3525404478, 39,99 EUR
La Barbera, Christopher (2012). States of Nature. Animality and the Polis. New York:
Peter Lang Publishing, 123 S., ISBN-13: 978-1433115677, 66,99 EUR
Lennck, Sabine (2012). Die Kodifikation des Tierschutzrechts. Baden-Baden: Nomos,
321 S., ISBN-13: 9783832969424, 79,00 EUR
Malamud, Randy (2012). An Introduction to Animals and Visual Culture. Basingstoke:
Palgrave Macmillan, 176 S., ISBN-13: 978-1137009838, 35,78 EUR
Rinas, Bernd-Udo (2012). Veganismus. Ein postmoderner Anarchismus bei Jugendlichen? Berlin: Archiv der Jugendkulturen Verlag AG, 311 S., ISBN-13: 9783940213716, 18,00 EUR
Rowlands, Mark (2012). Can Animals be Moral? Oxford/New York: Oxford University
Press, 272 S., ISBN-13: 978-0199842001, 23,99 EUR
Segner, Helmut (2012). Fish. Nociception and Pain. A Biological Perspective. Bern:
Eidgenössische Ethikkommission für die Biotechnologie im Außerhumanbereich.
Beiträge zur Ethik und Biotechnologie, Band 9, 94 S., ISBN: 978-3905782080,
12,00 CHF, Gratis-Download: www.ekah.admin.ch
Wild, Markus (2012). Fische. Kognition, Bewusstsein und Schmerz. Eine philosophische
Perspektive. Bern: Eidgenössische Ethikkommission für die Biotechnologie im
Außerhumanbereich. Beiträge zur Ethik und Biotechnologie, Band 10, 187 S., ISBN:
978-3905782097, 12,00 CHF, Gratis-Download: www.ekah.admin.ch
Wolf, Ursula (2012). Ethik der Mensch-Tier-Beziehung. Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann, 185 S., ISBN-13: 978-3465041610, 16,80 EUR
Korrespondenzadresse
Dr. phil. Petra Mayr
Deisterstraße 25 B
31848 Bad Münder am Deister
E-Mail: [email protected]
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Literaturbericht
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