Freiheitsbeschränkende Massnahmen aus ethischer und rechtlicher Sicht Andreas Bachmann Ziele des neuen Erwachsenenschutzrechts Förderung des Selbstbestimmungsrechts: Vorsorgeauftrag, Patientenverfügung (Rechtliche Umsetzung der ethischen Idee des Primats der Autonomie) Stärkung der Solidarität in der Familie: Vertretung urteilsunfähiger Personen durch Ehepartner, bei medizinischen Massnahmen durch Angehörige Besserer Schutz von urteilsunfähigen Personen in Einrichtungen: Betreuungsvertrag, Regelung der freiheitsbeschränkenden Massnahmen 06.11.2013 Freiheitsbeschränkende Massnahmen 2 Ziele Massnahmen nach Mass: Beistandschaft als einzige amtsgebundene Massnahme. Vier Arten (je nach individuellen Bedürfnissen der betroffenen Person): Begleitung, Vertretung, Mitwirkung oder umfassende Beistandschaft Beseitigung von Stigmatisierungen: Keine Veröffentlichung von Massnahmen mehr; Vormundschaft, Vormund, Mündel gibt es nicht mehr Verbesserung des Rechtsschutzes bei der fürsorgerischen Unterbringung Professionalisierung des Erwachsenenschutzes: Fachbehörde (Verwaltungsbehörde oder Gericht) 06.11.2013 Freiheitsbeschränkende Massnahmen 3 Handlungsfähigkeit und Urteilsfähigkeit „Handlungsfähigkeit besitzt, wer volljährig (18) und urteilsfähig ist“ (Art. 13) Handlungsfähig sein: man kann selbständig Rechte ausüben und Pflichten übernehmen. „Urteilsfähig (…) ist jede Person, der nicht wegen ihres Kindesalters, infolge geistiger Behinderung, psychischer Störung, Rausch oder ähnlicher Zustände die Fähigkeit mangelt, vernunftgemäss zu handeln“ (Art. 16) 06.11.2013 Freiheitsbeschränkende Massnahmen 4 Begriffsklärung Geistige Behinderung: „angeborene oder erworbene Intelligenzdefekte verschiedener Schweregrade“ (Botschaft des Bundesrats, S. 7043) Psychische Störung (ersetzt den Begriff der ‚Geisteskrankheit‘): „umfasst die anerkannten Krankheitsbilder der Psychiatrie, d.h. Psychosen und Psychopathien (…), sowie Demenz, insbesondere Altersdemenz“, aber auch „Suchtkrankheit, z.B. Alkohol-, Drogen- oder Medikamentenabhängigkeit“ (S. 7043). 06.11.2013 Freiheitsbeschränkende Massnahmen 5 FbM in Wohn- und Pflegeeinrichtungen (Art. 383ff. ZGB) Einschränkung der Bewegungsfreiheit von urteilsunfähigen Personen, die gegen den Willen dieser Personen ergriffen werden (Zwangsmassnahmen). 06.11.2013 Freiheitsbeschränkende Massnahmen 6 Welche FbM gibt es? Freiheitseinschränkungen durch Regeln, die für alle gelten: ►Geschlossenes Areal 2. Freiheitseinschränkungen für einzelne Bewohner: ►Mechanische Einschränkungen der Bewegungsfreiheit (Bettgitter, Body hinten zuknüpfen, Zewidecke, Gurt, Kissen unter Matratze, Lehnstuhl kippen, Hüftprotektoren, Stillkissen, Türe schliessen) 3. Elektronische Überwachungsmassnahmen (mit Codes gesicherte Türen oder Fenster, GPS-Ortung? Klingelmatte?) 1. Rechtlich keine FbM ist: Ruhigstellen durch Medikamente 06.11.2013 Freiheitsbeschränkende Massnahmen 7 Verfassungsrechtliche Grundlage: Art. 10. Abs. 2 BV Jeder Mensch hat das Recht auf persönliche Freiheit, insbesondere auf körperliche und geistige Unversehrtheit und auf Bewegungsfreiheit. Grundrechte dürfen gemäss Art. 36 BV nur unter ganz bestimmten Umständen eingeschränkt werden (gesetzliche Grundlage, Schutz Grundrechte Dritter, Verhältnismässigkeit etc.). Ihr Kerngehalt ist ‚unantastbar‘. 06.11.2013 Freiheitsbeschränkende Massnahmen 8 FbM und das Grundrecht auf Freiheit FbM schränken das Grundrecht auf persönliche Freiheit, namentlich Bewegungsfreiheit ein. Das kann nur dann in Frage kommen, wenn entweder die Grundrechte Dritter oder das Leben bzw. die Gesundheit der betroffenen Person erheblich gefährdet sind. Selbst in diesem Fall müssen die getroffenen Massnahmen verhältnismässig sein. 06.11.2013 Freiheitsbeschränkende Massnahmen 9 FbM als ‚Ultima ratio‘-Massnahmen Notwendige Voraussetzung dafür, dass FbM gerechtfertigt werden können, ist, dass alle Massnahmen, die die Freiheit nicht einschränken, ausprobiert oder zumindest ernsthaft in Erwägung gezogen worden sind. Gerechtfertigt sind sie nur dann, wenn sie zum Schutz bestimmter sehr wertvoller Güter wie etwa Leben oder körperliche Integrität erforderlich und geeignet sind. 06.11.2013 Freiheitsbeschränkende Massnahmen 10 Noch einmal: Freiheit Freiheit heisst: tun zu können, was man tun will. Es heisst nicht: wirklich dasjenige zu tun, was man tun will. Wichtig ist nur, dass man nicht daran gehindert wird, es zu tun. In diesem Sinn haben wir alle – auch urteilsunfähige Menschen! - ein Recht auf Freiheit. Ob ich die Freiheit habe, diesen Raum zu verlassen, hängt nicht davon ab, dass ich ihn verlasse. Vielleicht will ich niemals einen Fuss nach Draussen setzen. Meine Freiheit liegt darin, dass ich ihn verlassen kann, wenn ich es will. Wir sind also frei, wenn wir nicht davon abgehalten werden, das zu tun, was wir tun wollen. Wir sind frei, wenn uns andere nicht davon abhalten, dasjenige zu tun, was wir tun wollen. 06.11.2013 Freiheitsbeschränkende Massnahmen 11 Freiheit und Autonomie Freiheit: tun können was man will, solange man die Freiheit Dritter respektiert. Autonomie ist eine bestimmte Form dieser Freiheit: Unter bestimmten Bedingungen hat die betroffene Person bei Entscheidungen das letzte Wort, solange sie nicht Dritte zu schädigen droht. Selbstschädigung spielt keine Rolle. Nicht-autonome Freiheit: Freiheit kann auch bei erheblicher Selbstschädigung(sgefahr) eingeschränkt werden. 06.11.2013 Freiheitsbeschränkende Massnahmen 12 FbM als Zwangsmassnahmen FbM sind Zwangsmassnahmen. Wir zwingen eine Person: - Wenn sie das tun muss, was wir wollen. - Wenn wir ihr keine andere Wahl lassen. - Wenn wir keine Rücksicht darauf nehmen, was sie selbst will. Ob die Person einen autonomen (=urteilsfähigen) Willen hat, spielt hier keine Rolle. Auch Menschen mit Demenz im fortgeschrittenen Krankheitsstadium können zu etwas gezwungen werden. 06.11.2013 Freiheitsbeschränkende Massnahmen 13 Autonomie und Urteilsfähigkeit Was in der (Medizin- und Pflege-)Ethik als Autonomie oder Selbstbestimmung bezeichnet wird, deckt sich weitgehend mit dem rechtlichen Begriff der Urteilsfähigkeit. 06.11.2013 Freiheitsbeschränkende Massnahmen 14 Situative Handlungsautonomie In der Ethik (wie im Recht) geht es nicht darum, ob Person generell autonom sind, sondern darum, ob einzelne Entscheidungen autonom (=urteilsfähig) sind. Es geht um die situationsbezogene Handlungsautonomie. 06.11.2013 Freiheitsbeschränkende Massnahmen 15 Wann ist die Entscheidung einer Person autonom (=urteilsfähig)? Eine autonome Entscheidung liegt vor, wenn die betreffende Person in der Situation selbst, fähig ist 1. sich angemessen zu informieren 2. die Situation und die Folgen ihrer Handlung zu verstehen 3. auf Grund dieses Verstehens frei – ohne (inneren oder äusseren) Zwang und Manipulation – zu entscheiden. 06.11.2013 Freiheitsbeschränkende Massnahmen 16 16 Grundhaltung • Es ist von Urteilsfähigkeit auszugehen (auch z.B. bei dementen Menschen). • Es müssen klare Indizien vorliegen, dass jemand bezüglich einer bestimmten Entscheidung nicht mehr urteilsfähig ist. 06.11.2013 Freiheitsbeschränkende Massnahmen 17 Noch einmal Definition: Rechtlich sprechen wir von FbM nur mit Blick auf urteilsunfähige Personen. (Die Freiheit urteilsfähiger Personen lässt sich in diesem Sinn nicht einschränken.) Rechtfertigung: Nur bei urteilsunfähigen Personen können FbM unter Umständen gerechtfertigt sein. Wenn Urteilsunfähigkeit vorliegt, kann eine FbM nicht nur bei Drittgefährdung, sondern auch bei erheblicher Selbstgefährdung begründet sein. Es geht ausschliesslich um die Einschränkung der Bewegungsfreiheit. 06.11.2013 Freiheitsbeschränkende Massnahmen 18 Ethische Begründung Auch nicht-autonome (=urteilsunfähige) Menschen haben ein moralisches Recht auf (Bewegungs-)Freiheit. Dieses Recht darf aber nicht nur – wie bei autonomen Menschen – dann eingeschränkt werden, wenn die Rechte Dritter gefährdet sind (Schadensprinzip), sondern auch dann, wenn ‚bloss‘ eine (erhebliche) Selbstgefährdung vorliegt. 06.11.2013 Freiheitsbeschränkende Massnahmen 19 Ethische Begründung Denn nicht autonom (=urteilsunfähig) zu sein bedeutet: die betroffene Person hat anders als autonome Personen bezüglich allein sie selbst betreffenden Entscheidungen nicht mehr das Recht auf das letzte Wort. Dritte haben das Recht bzw. die Pflicht, stellvertretend Entscheidungen zu treffen. Basis dieser Entscheidungen sind entweder Äusserungen des autonomen Willens (z.B. Patientenverfügungen); mutmasslicher Wille oder Fürsorgeüberlegungen. Im pflegerischen Bereich, wo es nicht um Fragen von Leben und Tod geht, deckt sich der mutmassliche Wille in der Regel mit angemessenen Fürsorgeüberlegungen. 06.11.2013 Freiheitsbeschränkende Massnahmen 20 Artikel 383 „1 Die Wohn- oder Pflegeeinrichtung darf die Bewegungsfreiheit der urteilsunfähigen Person nur einschränken, wenn weniger einschneidende Massnahmen nicht ausreichen oder von vornherein als ungenügend erscheinen und die Massnahme dazu dient: 1. eine ernsthafte Gefahr für das Leben oder die körperliche Integrität der betroffenen Person oder Dritter abzuwenden; oder 2. eine schwerwiegende Störung des Gemeinschaftslebens zu beseitigen. 2 Vor der Einschränkung der Bewegungsfreiheit wird der betroffenen Person erklärt, was geschieht, warum die Massnahme angeordnet wurde, wie lange diese voraussichtlich dauert und wer sich während dieser Zeit um sie kümmert. Vorbehalten bleiben Notfallsituationen. 3 Die Einschränkung der Bewegungsfreiheit wird so bald wie möglich wieder aufgehoben und auf jeden Fall regelmässig auf ihre Berechtigung hin überprüft.“ 06.11.2013 Freiheitsbeschränkende Massnahmen 21 FbM sind: 1. Ultima ratio-Massnahmen: „(…) wenn weniger einschneidende Massnahmen nicht ausreichen oder von vornherein als ungenügend erscheinen (…)“; 2. die allein zum Schutz bestimmter sehr wertvoller Güter (Leben oder körperliche Integrität der betroffenen Person oder Dritter, ungestörtes Gemeinschaftsleben) ergriffen werden dürfen; 3. dies allerdings nur, wenn eine ernsthafte Gefahr für diese Güter bzw. im Fall des Gemeinschaftslebens eine schwerwiegende Störung besteht; 4. und die so schnell wie möglich wieder aufgehoben werden müssen. 06.11.2013 Freiheitsbeschränkende Massnahmen 22 Beispiele Sturzgefahr Weglaufgefahr Aggressives Verhalten (Gewalt gegen Mitbewohnende oder Pflegende) Bestimmte Formen der Pflegeverweigerung 06.11.2013 Freiheitsbeschränkende Massnahmen 23 Aus ethischer Sicht: Güterabwägung (Erwartete) Gewinn an Sicherheit vs. Grad des zugefügten Zwangs Grundhaltung: Eher mehr als weniger Risiko zulassen 06.11.2013 Freiheitsbeschränkende Massnahmen 24 Sicherheit Um eine FbM rechtfertigen zu können, muss klar sein, welche Gefahr(en) durch diese Massnahme ausgeschaltet bzw. reduziert werden soll(en); insbesondere ob es sich hierbei tatsächlich um eine ernsthafte Gefahr für die zu schützenden Güter handelt. Um dies zu klären, sind folgende Fragen zu beantworten: - Woher weiss ich, dass Gefahren bestehen? (Ist bereits etwas vorgefallen?) - Welche Gefahren bestehen für die Bewohnerin (oder andere Personen)? - Wie gross könnte der Schaden für die betreffende Person sein? - Wie gross ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Schaden eintritt (das Risiko)? 06.11.2013 Freiheitsbeschränkende Massnahmen 25 Zwang und Verhältnismässigkeit Wieviel Zwang braucht es, um die Gefährdung der Bewohnerin hinreichend zu reduzieren? Der Zwang sollte so klein wie möglich, aber so gross wie nötig sein. 06.11.2013 Freiheitsbeschränkende Massnahmen 26 Gerechtfertigte FbM Eine FbM ist zulässig, wenn: die Gefahr (bzw. das Risiko) mit Blick auf die zu schützenden Güter grösser ist als der Zwang (Ausmass des Zwangs, Dauer) 06.11.2013 Freiheitsbeschränkende Massnahmen 27 Aber: Selbst wenn die Gefahr eine FbM rechtfertigt, sind Möglichkeiten ins Auge zu fassen, die den Zwang so klein wie möglich halten. Sinnvoll ist es, drei Fragen in den Blick zu nehmen: 1. Kann die FbM verfeinert werden? Bestehen Möglichkeiten, das Wohlergehen der Bewohnerin zu erhöhen? 2. Gibt es Möglichkeiten, den Zwang zu begrenzen? 3. Wurden alle Möglichkeiten überdacht, die FbM zu vermeiden und durch eine andere Massnahme zu ersetzen? 06.11.2013 Freiheitsbeschränkende Massnahmen 28 Artikel 384 (Schutz vor Missbrauch) „1 Über jede Massnahme zur Einschränkung der Bewegungsfreiheit wird Protokoll geführt. Dieses enthält insbesondere den Namen der anordnenden Person, den Zweck, die Art und die Dauer der Massnahme. 2 Die zur Vertretung bei medizinischen Massnahmen berechtigte Person wird über die Massnahme zur Einschränkung der Bewegungsfreiheit informiert und kann das Protokoll jederzeit einsehen. 3 Ein Einsichtsrecht steht auch den Personen zu, welche die Wohn- oder Pflegeeinrichtung beaufsichtigen.“ 06.11.2013 Freiheitsbeschränkende Massnahmen 29 Artikel 385 „1 Die betroffene oder eine ihr nahestehende Person kann gegen eine Massnahme zur Einschränkung der Bewegungsfreiheit jederzeit schriftlich die Erwachsenenschutzbehörde am Sitz der Einrichtung anrufen. 2 Stellt die Erwachsenenschutzbehörde fest, dass die Massnahme nicht den gesetzlichen Vorgaben entspricht, so ändert sie die Massnahme, hebt sie auf oder ordnet eine behördliche Massnahme des Erwachsenenschutzes an. Nötigenfalls benachrichtigt sie die Aufsichtsbehörde der Einrichtung. 3 Jedes Begehren um Beurteilung durch die Erwachsenenschutzbehörde wird dieser unverzüglich weitergeleitet.“ 06.11.2013 Freiheitsbeschränkende Massnahmen 30 Wichtig • Die Kompetenz bei Entscheiden über eine FbM liegt rechtlich ausschliesslich bei der entsprechenden Pflegeinstitution. • Das Einverständnis der Angehörigen ist nicht erforderlich. 06.11.2013 Freiheitsbeschränkende Massnahmen 31 Wer darf FbM anordnen? Muss in einem internen Reglement festgelegt werden. Entscheid kann der Direktion vorbehalten bleiben, aber auch an eine/n Abteilungsleiter/in delegiert werden (Botschaft des Bundesrats, S.7040). 06.11.2013 Freiheitsbeschränkende Massnahmen 32