Eine gefährlich unzeitgemässe Ideologie

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10 MEINUNG & DEBATTE
Neuö Zürcör Zäitung
Mittwoch, 7. September 2016
FOTO-TABLEAU
Die Warao
im Orinoco-Delta
3/5
Wie Andres, der in der ersten Aufnahme dieser Serie vorgestellt wurde,
ist auch Arsenio ein Tida Wena: In
einem Männerkörper geboren, führt
der venezolanische Warao-Indianer
unbefangen und bestens integriert ein
eher weiblich geprägtes Leben. Im
Weltverständnis der Warao ist Transformation ein grundlegendes schöpferisches Prinzip; die Tida Wena spielen
eine Rolle in der traditionellen Spiritualität wie auch in deren modernen
Formen – etwa dem «Diosoarotu»,
einem mit christlichen Praktiken angereicherten Schamanismus. Gegenüber
Aussenstehenden, berichtet der Fotograf Alvaro Laiz, seien die Tida Wena
allerdings sehr zurückhaltend mit Auskünften über ihr Leben; sie fürchteten,
missverstanden oder für fremde Zwecke eingespannt zu werden.
ALVARO LAIZ / INSTITUTE
Salafistischer und radikaler Islam
Eine gefährlich unzeitgemässe Ideologie
Gastkommentar
von TONI STADLER
In Lausanne sieht man relativ oft voll verschleierte
Frauen, weil sie im französischen Evian in der Umgebung ihrer Sommerresidenzen nicht öffentlich flanieren dürfen. Aus einer geschützten Behausung zu
beobachten, ohne selbst beobachtet oder in ein Gespräch verwickelt zu werden, muss Musse zum
Nachdenken geben. Was halten die Frauen hinter
dem Sehschlitz von ausgelassenen jungen Schweizerinnen in Shorts und lockeren T-Shirts? Was von
Liebespaaren, die sich auf dem Trottoir küssen? Was
von gestylten Karrierefrauen in modernen Hosenanzügen, unbegleitet auf dem Weg zum Flughafen?
Dominanz der Männer
Vollverschleierte sind vom Kindesalter an, behütet
und bewacht durch ihre Eltern, in die Rolle als erste
oder zweite Gattin und Mutter hineingewachsen.
Die Vollverschleierung des weiblichen Gesichts,
lange vor Mohammed bei gewissen Nomadenstämmen der Brauch, wurde auf der Arabischen Halbinsel unter dem Islam weitergeführt und seit dem
Wirken eines der Vordenker des Salafismus, Abd
al-Wahhab (18. Jahrhundert), verschärft durchgesetzt. Nikab und Burka schützten nicht nur vor
Sand und Sonnenbrand, sondern stellten vor allem
sicher, dass Frauen während der langen Abwesenheiten des Gatten nicht mit anderen Männern in
Kontakt treten und aussereheliche Kinder zur Welt
bringen konnten.
Heute ist die vollständige Verhüllung des
Frauengesichts in der Öffentlichkeit vorwiegend im
salafistischen oder im radikalen Islam die Norm.
Diese Glaubensrichtung ist keine Randerscheinung
wie etwa jene der fundamentalistischen Christen in
den USA. Sie ist die Grundlage von Gesellschaft
und Rechtsprechung in fast einem Dutzend Ländern, darunter Saudiarabien, die Golfstaaten, der
Sudan, Somalia, Mauretanien. Typisch für den
Salafismus ist eine im Vergleich zum Rest der Welt
ungewöhnlich starke Dominanz der Männer über
die Frauen, der Eltern über ihre Kinder, des Klerus
über das Alltagsleben der Gesellschaft; dazu kommen eine Erziehung zum absoluten Gehorsam
gegenüber dem Herrscher plus ein grotesk unerbittlicher Umgang mit Gesetzesbrechern.
Insgesamt verletzen salafistische Staatsapparate
etwa dreimal häufiger Menschenrechte als das dafür oft kritisierte China. Diesen archaischen Islam
als eine zurückgebliebene, aber bald einmal von
selbst aussterbende Lehre zu betrachten, ist ein
Fehler. Seine Bedeutung nimmt bekanntlich zu.
Über die Islamische Weltliga, ein durch die saudische Regierung gesteuertes Hilfswerk, verbreitet
das Königreich, in dem andere Religionen verboten
sind, den Salafismus in der islamischen Welt und
Insgesamt verletzen
salafistische Staatsapparate
etwa dreimal häufiger
Menschenrechte als das
dafür oft kritisierte China.
bei den Migranten in der Diaspora. Die Organisation für Islamische Zusammenarbeit mit 56 Mitgliedstaaten und Sitz in Jidda blockiert im Menschenrechtsrat der Uno seit Jahren fast jede Kritik
an der Menschenrechtspraxis in salafistischen Ländern. Für Saudiarabien ist diese Organisation
offensichtlich ein Instrument, um die fundamentalistische Glaubensrichtung zu einer starken Kraft
innerhalb des Islams und damit international
akzeptierbar zu machen.
Dabei wird leichtfertig oder zynisch in Kauf genommen, dass das Gedankengut des Salafismus
(zum Beispiel: «Wer sein Leben im Kampf gegen
Ungläubige opfert, kommt ins Paradies») vom Islamischen Staat und von seinen Helfern in der Diaspora als Legitimation für Terrorschläge gegen «Ungläubige» oder moderate Muslime verwendet wird.
Die gegenwärtige Burka-Debatte lenkt ab vom
wirklichen Problem. Die Tatsache, dass siebzig
Jahre nach der Unterzeichnung der Uno-Charta
(1945) und der Allgemeinen Menschenrechtserklärung (1948) schätzungsweise 100 Millionen Menschen in Staaten leben, wo das Gesetz des Salafismus, die Scharia, gilt, ist ein wesentlich grösseres
Ärgernis als die paar hundert voll verschleierten
Frauen auf den Einkaufsstrassen Europas.
Erinnern wir uns daran, dass es Zeiten gegeben
hat, da alle Uno-Mitglieder sich darauf einigen
konnten, dass die gleichen Menschenrechte für alle
Menschen gelten sollten. Dies nach dem Zweiten
Weltkrieg, bei der Unterzeichnung der Universellen Menschenrechtserklärung, und ein zweites Mal
nach der Auflösung der Sowjetunion, an der Weltmenschenrechts-Konferenz von Wien (1993). In
Wien bekräftigten alle Mitgliedsländer, die Einhaltung der Menschenrechte voranzutreiben.
Geschehen ist das Gegenteil. In Brunei wurde
2014 die Steinigung wieder eingeführt. Auf den
Malediven gilt wieder die Scharia als Gesetz. Die
Anzahl salafistischer Moscheen und Schulen,
finanziert durch die Golfstaaten, hat sich seit 1993
weltweit vervielfacht. Irgendwann um die Jahrtausendwende ist die moderne Welt vor der Macht der
Petrodollars eingeknickt. Wann hat ein Präsident,
ein Premierminister oder ein Uno-Hochkommissar
für Menschenrechte zum letzten Mal die Scharia
öffentlich als unvereinbar mit den Menschenrechten bezeichnet?
Die linksliberale Mehrheit in Europa und in den
USA, gefangen im politisch Korrekten, bemüht
sich, den Islam inklusive Salafismus wie irgendeine
andere Religion zu behandeln, und hat Angst davor, der Intoleranz mit Intoleranz zu begegnen.
Die internationale Geschäftswelt, welche die
schulterzuckende Akzeptanz jeder Art von Kultur,
Religion oder Lebensstil längst zum globalen Geschäftsprinzip gemacht hat, stimmt der Linken in
diesem Fall gerne zu, um keine Probleme mit Riad
zu bekommen. Schliesslich kaufen auch Salafisten
Waffen, sie fliegen Airbus und trinken Coca-Cola.
Sind Nikab und Burka zur Zielscheibe so vieler
europäischer Politiker geworden, weil sie sich aus
geschäftlichen Gründen nicht trauen, Saudiarabien
und die anderen Golfstaaten für deren Machtpolitik mit dem Salafismus als Instrument zur Rechenschaft zu ziehen?
Ächtung des radikalen Islams
Wie umgehen damit, in Europa, in der Schweiz?
Als Einzelmassnahmen sind Verhüllungsverbote
wie in Frankreich, Belgien oder im Tessin Symbolpolitik zur Mobilisation von Wählerinnen und
Wählern.
Glaubwürdiger und wirksamer wäre ein Verhüllungsverbot als Teil eines Paketes von innen- und
aussenpolitischen Massnahmen mit dem Ziel der
weltweiten Ächtung des radikalen Islams. Um die
Ausbreitung des Salafismus zu stoppen, um den
Menschenrechten im Nahen Osten Nachachtung zu
verschaffen und um den sektiererischen Bürgerkriegen in der islamischen Welt ihre Rechtfertigung
durch die Religion zu entziehen.
Also keine Finanzierung von Moscheen in
Europa durch Staaten mit salafistischen Institutionen. Keine Imame, die sich nicht öffentlich vom
Gedankengut des radikalen Islams distanzieren.
Keine Missionierung des menschenrechtsverletzenden Salafismus in Europa und anderswo.
Wirtschaftlicher Druck könnte dem nachhelfen.
Die Umstellung auf eine fossilfreie Energieversorgung wird eine Reduktion der Intensität des Handels mit den Golfstaaten möglich machen. Hunderte der grössten multinationalen Konzerne
haben sich im UN Global Compact zur Einhaltung
und zur Förderung der Menschenrechte in ihrem
Einflussbereich bekannt. Moral vor Geschäft
könnte in dieser Situation nicht nur ethisch vertretbar, sondern langfristig ertragreicher sein, denn die
moderate islamische Welt ist ein grösserer Markt
als die salafistische. Das geeignetste Forum, um den
Salafismus auf höchster Ebene zu konfrontieren,
wäre die G-20, wo Saudiarabien, mit kleinerem BIP
als die Schweiz, Mitglied ist.
Für fast alle der neunzehn übrigen Mitglieder der
Gruppe, insbesondere für China, Russland, Indonesien, ist die Ausbreitung des radikalen Islams in
ihren Ländern eine Bedrohung. Die Welt steht
heute vor der Wahl, die Macht einer gefährlich unzeitgemässen Ideologie weiter anwachsen zu lassen
oder sie in ihre Schranken zu verweisen. Nikab- und
Burka-Verbote in Europa greifen dafür zu kurz.
Toni Stadler ist Historiker, mit 25 Jahren internationaler
Arbeit bei IKRK, Uno, OECD und EDA/Deza, unter
anderem im Irak. Er ist Autor des zeitkritischen Buches
«Global Times: Roman über moderne Nomaden» (OffizinZürich-Verlag, 2015).
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