Kapitel 6 - Das klassische Griechenland: Athen und die Polis Folge zunächst die Perser vertrieben wurden. Die ionischen Städte bildeten untereinander ein Bündnis und richteten gleichzeitig einen Hilfeappell an die übrigen griechischen Stadtstaaten, insbesondere an Athen. Die Athener entsandten 20 Schiffe, mit deren Hilfe die ionischen Kolonien weitgehend befreit werden konnten. Doch in der ersten entscheidenden Schlacht gegen die daraufhin eiligst herbeigerufenen persischen Truppen wurden 494 v. Chr. alle griechischen Schiffe versenkt und die Bewohner Ioniens vertrieben. Das Ereignis bezeichnete den Beginn des eigentlichen Konfliktes, der 448 in einen vorläufigen Friedensschluss unter dem Athener Perikles mündete, tatsächlich aber erst mit dem Alexanderfeldzug um 330 und der Zerstörung des persischen Reiches endete. Nach der Niederlage der Griechen organisierten die Perser nunmehr einen bespiellosen Eroberungsfeldzug, der die nördlichen Regionen Thrakien (dem heutigen Bulgarien) und Mazedonien sowie im Süden die Kykladen unter persische Vorherrschaft brachte. Schließlich landeten die Perser in Attika, der Landschaft Athens und bedrohten die Stadt. In Eilnachrichten erbaten die Athener von Sparta Hilfe, und obwohl diese zu spät kam, schlugen die Athener in einem aufreibenden Kampf die persischen Truppen in der legendären Schlacht bei Marathon – ca. 40 km vor den Toren Athens. Die Nachricht vom Sieg wurde durch den berühmten Marathonlauf übermittelt, an den heute noch die olympische Disziplin erinnert. 480 startete dann der nächste persische König eine Großoffensive, in 6.4 Die Brücke über den Dimensionen, wie sie die Welt bis dahin noch nicht geseHellespont hen hatte. Er versammelte den Berichten zufolge über 160000 Soldaten und über 1200 Schiffe, die den Hellespont, den Bosporus und die Dardanellen durch eine zusammenhängende Schiffsbrücke übersprangen, so dass die Truppen ohne umständlichen Fährverkehr trockenen Fußes auf die andere Seite gelangten. Eine diplomatische Großoffensive hatte zudem das Feld in den Anrainerstaaten bestellt und die Vormachtstellung über große Teile Zentralgriechenlands gesichert; der Übermacht sollte dadurch der Rücken gestärkt werden. Allein die Athener und Spartaner stellten sich ihnen entgegen. Es gibt in diesem Zusammenhang für die Identitätsbildung der klassischen Antike und die Konstitution einer spezifisch europäischen Geschichtsschreibung neben der Schlacht bei Marathon zwei zentrale Schlachten, die fast mythologischen 94 Kapitel 6 - Das klassische Griechenland: Athen und die Polis Charakter gewonnen haben, beide 480. Die erste ist die Schlacht bei den Termopylen, in der sich die zahlenmäßig hoffnungslos unterlegenen Spartaner unter Leonidas den Persern gegenüber sahen, wohl wissend, dass sie sämtlich untergehen würden. Es war eine symbolische Schlacht, die bis zum Tod ausgefochten wurde, eine Schlacht, die nicht gewonnen werden konnte, die aber gerade darum moralisch siegreich ausging, weil von ihr eine besondere Symbolwirkung ausging. Zwar fielen in dieser Schlacht tatsächlich fast alle Spartaner, doch hielten sie den Siegeszug und Vormarsch der Perser auf – eine Säule wurde später errichtet mit den Worten: „Wan- 6.5 Relief zweier Krieger, Persepolis, 5.Jhd. v. Chr. derer, kommst du nach Sparta, so sage, du habest uns liegen gesehen wie das Gesetz es befahl“. Diese Säule huldigte nicht nur dem Heroismus der Spartaner, sondern wurde als Motiv und Topos durch die ganze europäische Literatur- und Kunstgeschichte tradiert, um schließlich im Nationalsozialismus missbraucht und verstümmelt zu werden. Heinrich Böll hat in der Nachkriegszeit, diesen Missbrauch vor Augen, dem klassischen Spruch noch einmal eine Kurzgeschichte mit dem Titel: „Wanderer kommst du nach Spa …“ gewidmet: Die Verstümmelung des Satzes spricht von der Verstümmelung einer Tradition. Der Tod wurde freilich damals als Heldentod angesehen und die wenigen Überlebenden grämten sich zu Tode oder töteten sich selbst aus Scham, davongekommen zu sein. Immerhin gestattete die Schlacht den Athenern einen Zeitgewinn, sie konnten ihre Flotte zusammenzustellen und sich der riesigen Armada von persischen Schiffen bei Salamis, südlich von Athen, 6.6 Perikles römische Nachbildung des entgegenstellen. Erneut waren sie dem Gegner hoffOriginals, 5.Jhd. v. Chr. nungslos unterlegen; es war wiederum eine Schlacht, die nicht gewonnen werden konnte, die aber aus Selbstachtung geführt werden musste: Immer wieder gibt es in der Weltgeschichte Augenblicke, da man eher den Tod als die Unterwerfung wählt, weil die Zurwehrsetzung, die Opposition etwas mit Identität, mit Selbstbestimmung, d.h. mit der Verkörperung einer Lebensform und der Auffassung von Humanität zu tun hat, ohne die zu leben, wie man glaubt, unmöglich wäre. Man muss sich zudem die Bedeutung der Schlacht klar 95 Kapitel 6 - Das klassische Griechenland: Athen und die Polis machen: Wäre sie verloren gegangen, wäre Griechenland zur persischen Satrapie depraviert, es hätte die Klassik nie gegeben und Europa wäre nicht das geworden, was es ist. Was aber geschah ist ein Lehrstück griechischer Auffassung von Maß und Hybris. Denn allein die Zahlenmenge, die Aufrüstung von über 1200 Schiffen auf persischer Seite, das Aufgebot an Menschen, die Überquerung des Hellespont und vieles mehr erschien den Griechen als Frevel, auch deswegen, weil der persischen Übermacht auf griechischer Seite nur 324 Schiffe entgegenstanden, was keinen fairen Kampf erlaubte. Doch in dem Augenblick, als die persischen Schiffe dicht nebeneinander in die Meerenge von Salamis vor den Hafen Piräus einfuhren, um die zurückgezogenen Griechen vernichtend zu schlagen, kam ein Sturm auf, der die persischen Schiffe derart ineinander trieb, dass viele sich ineinander verhakten, sich beschädigten und untergingen. Dies war der buchstäbliche Kairos, die „günstige Gelegenheit“, den die Griechen nutzten, um über die versinkenden Perser herzufallen und sie derart vernichtend zu schlagen, dass, wie die zeitgenössischen Berichterstatter schrieben, das Meer bei Salamis sich rot färbte. Der Tragiker Aischylos hat dieser Schlacht durch seine Tragödie Die Perser ein Denkmal gesetzt – eine Tragödie, die ihre Dramatik daraus bezieht – und darin bezeugt sich zugleich die spezifische Auffassung von Humanität der Sieger – dass sie am Persischen Hof spielt und den Augenblick der Nachricht von der vernichtenden Niederlage erzählt. III. Die Polis Dem persischen Expansionstreben wurde in der Schlacht von Salamis ein Ende gesetzt. Der Sieg über Persien besiegelte jedoch umgekehrt die Vorherrschaft Athens, das seither im griechischen Bund unbestritten den Ton angab. Zwar gab es danach noch weitere Auseinandersetzungen; aber die persischen Angriffe endeten mit dem Friedensvertrag unter dem Athenischen Führer Perikles 448, der schließlich den persischen Schiffen jeden Zugang zum Mittelmeer untersagte. Hier begann das„goldene Zeitalter“ des Perikles, der als Staatsmann die Geschicke der Stadt über mehrere Jahrzehnte lenkte. Es ist die Zeit der Hochblüte der griechischen Kultur, die Zeit der eigentlichen Klassik, die Zeit der großen Tragiker Aischylos, Sophokles und später Euripides und es ist die Zeit des Phidias, des großen Architekten, Baumeisters und Bildhauers des klassischen Griechenland. 96