Psychotherapeutische Angebote für Wohnungslose Therapieverfahren, Erfolge, Grenzen Menschenrechte und Frauenrechte Fachtagung BAGW Berlin, AG 3 14. Oktober 2014 Beate Gaupp Übersicht Rahmenbedingungen Epidemiologie Soziodemographische Daten der PatientInnen Zwei Fallbeispiele Therapieziele Therapieprinzipien und -verfahren Besonderheiten einer Praxis für wohnungslose Patienten/innen Fazit und Ausblick 2 Rahmenbedingungen -1- Psychiatrisch - psychotherapeutische Praxis 2004 - 2012 (50 % Vollzeitstelle; 50% Fortbildungsauftrag für Fachkräfte Sozialpädagogik und Verwaltung ) Die Nachfolge ist gesichert Grundlage: Kooperationsvereinbarung zwischen kassenärztlicher Vereinigung Bayerns, gesetzlichen Krankenkassen und Landeshauptstadt München (Sozialreferat) Auftrag: ambulante Versorgung psychisch erkrankter wohnungsloser Patienten/innen in der Stadt München 3 Rahmenbedingungen -2- Behandlungsermächtigung gemäß SGB V aufgrund des nachgewiesenen Mangels in der Regelversorgung für die Zielgruppe Finanzierung ärztlicher Leistungen über Fallpauschale (Abrechnung mit KVB; Rückführung an Kommune bei festem Gehalt) Behandlungen im Rahmen der Praxis und aufsuchender Arbeit in kommunalen Notquartieren und Pensionen (gewerblicher Betreiber) 4 Hintergrund: Epidemiologie Fichter Studien 90er Jahre: 90 80 70 60 50 40 30 20 10 0 Wohnungslose Menschen in Pensionen Wohnungslose in Einrichtungen freier Träger Wohnungslose auf der Straße Fichter / Fichter / Fichter et Quadflieg Quadflieg, al. 1996 1999 1997 Stichprobe Gesamtbevölkerung Oberbayern 5 Epidemiologie Fichter Studien: Lebenszeitprävalenz für psychische Störungen: 93,3 %, 1-Monats-Prävalenz 74,4% Substanzinduzierte Störungen ( ++ Alkohol) im Vordergrund Depressive und Angststörungen: hohe Prävalenz; etwas geringer schizophrene Störungen hohe Komorbiditätsraten bei der Klientel geringe Inanspruchnahme medizinischer Dienste; vorrangig: soziale Sicherung und Wohnperspektive 6 Epidemiologie SEEWOLF - Studie: Seelische Erkrankungsrate in den Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe im Großraum München (Bäuml, Jahn, Baur, Brönner et al. 2014) Lebenszeitprävalenz für psychische Störungen: 93,2 %, 1-Monats-Prävalenz 74% Vergleich: Lebenszeitprävalenz Allgemeinbevölkerung: 27,7% (Jacobi et al. 2014; zit nach Bäuml et al.) Diagnostische Verteilung (Häufigkeiten) ähnlich FICHTER Studien Persönlichkeitsstörungen (Achse II DSM IV): Antisoziale > Schizoide > Borderline PS. 7 Diagnostische Verteilung (nach ICD 10) Praxis Gaupp 2005 - 2009 (Durchschnitt) Substanzinduzierte Störungen (F1) 37,5% Schizophrene u. wahnhafte Störungen 22,7% (F2) Persönlichkeitsstörungen (F6) 18% Depressive Störungen (F3) Neurotische u. Belastungsstörungen (F4) Organische Störungen (F0): 10% 7% 3,5% 8 Diagnostische Verteilung (%) F 01 - F 07 organisch bedingte psychische Störungen F 10 Alkoholbedingte Störungen 30 F 11 - F 19 andere Abhängigkeitserkrankungen F 20 - F 25 schizophrene + wahnhafte Störungen F 31 - F 33 Depressive Störungen 25 20 15 F 41 - F 43 Neurotische + Belastungsstörungen F 60 Persönlichkeitsstörungen 10 5 andere Störungen 0 1 9 Geschlechterverteilung und Herkunft: Männer N = 502 85% Frauen N = 88 15% Deutsche PatientInnen N = 392 66% N = 198 PatientInnen mit Migrationshintergrund * 33% * Flüchtlinge, Asylbewerber, Gastarbeiter und deren Kinder, in Deutschland aufgewachsene ausländische Patienten 10 Durchschnittliches Alter 45 40 35 30 18-35 Jahre 36-54 Jahre über 55 Jahre 25 20 15 10 5 0 18-35 Jahre 36-54 Jahre über 55 Jahre 11 Soziale Beziehungen Durchschnitt alleinstehend, keine frühere feste Partnerschaft bekannt alleinstehend, nach Trennung / Scheidung alleinstehend, verwitwet 47,5 % verheiratet, in Partnerschaft 5,0 % unbekannt / nicht erfragt 1,3 % 45,0 % 1,3 % 12 Soziale Sicherung Gehalt Durchschnitt 1,25 % Rente 11,25 % Arbeitslosengeld I 6,25 % Arbeitslosengeld II (Hartz IV) 32,50 % Sozialhilfe (SGB XII) 30,00 % Vermögen / Ersparnisse 1,25 % 17,50 % Varia, unbekannt / ∅ erfragt 13 Wohn-, Unterbringungsform Durchschnitt kommunales Notquartier / Pension / Clearinghaus Übernachtungsheim freier Träger 30,0 % 37,5 % andere niedrigschwellige Einrichtung Obdachlosigkeit (Straße) 5,0 % bei Bekannten 3,8 % mittel - + langfristiges Wohnheim 6,3 % 17,6 % 14 1. Fallbeispiel Psychotherapie: ♀ Patientin, Mitte 70, obdachlos. Lehrerin an der Realschule gewesen, vorzeitig berentet. Hat Wohnung wegen Mietschulden verloren. Weigert sich, Notunterkunft o.ä. zu beziehen. Kommt, um hier eine Psychoanalyse zu machen (war in mittlerem Lebensalter tatsächlich bei inzwischen hochbetagter Analytikerin in M.) Will Träume berichten, kennt sich in einschlägiger Literatur gut aus. - Pat. glaubt, daß ehemalige Analytikerin mit ihrer Versicherungskarte für andere Patienten abrechne. 15 1. Fallbeispiel Psychotherapie: -2- Befund: mißtrauisch im Kontakt, gleichzeitig bedürftig erscheinend. Elaborierte Sprache, Bildungsgrad erkennbar, keine formalen Denkstörungen. Inhaltlich: Hinweise auf wahnhaftes Erleben. Stimmung teilweise gereizt. Diagnose: wahnhafte Störung im Alter bei Verdacht auf neurotische Störung (Angststörung) in jüngerem Lebensalter. FRAGE: was kann / soll die Zielsetzung von Therapie sein? 16 1. Fallbeispiel Psychotherapie: -3- Verlauf: Patientin begleitet von 2006 - 2012. Sie kommt regelmäßig, ohne feste Termine einhalten zu können. Versuch medikamentöser Behandlung gescheitert. In Zusammenarbeit mit Sozialdiensten Zielsetzung einer festen Bleibe anfangs ebenfalls nicht möglich. Erst nach vier Jahren aus eigener Initiative und ⇑körperlicher Beschwerden Einzug in Frauenobdach. FRAGE: was war - psychotherapeutisch wirksam? 17 1. Fallbeispiel: was wirkt ? -4- Verlässliche Beziehung, Beziehungskontinuität soweit möglich stabiler Rahmen; der "sichere Ort" (nach L. Reddemann) Ambivalenztoleranz (für eigene widersprüchliche Gefühle und Zielsetzungen) "beeing with", Begleitung des wahnhaften Erlebens (Element des SOTERIA Therapiekonzepts) keine eingreifenden Interventionen gute Kooperation mit sozialen Diensten 18 2. Fallbeispiel Psychotherapie: ♂ -1- Mitte 50jähriger Patient, seit ca. 10 Jahren auf der Straße lebend. Früher erhebliches Alkoholproblem, seit längerem trocken. wird von Allgemeinärztin geschickt, da er unter zunehmenden körperliche Beschwerden, insbesondere Schmerzen leide und nicht länger auf der Straße bleiben wolle. Deutliche Depression. Frage: Diagnose und Therapiemöglichkeiten. Vorgeschichte: bis Ende der 90er Jahre sozial integriert (Arbeit, Beziehung), dann "alles verloren" 19 2. Fallbeispiel Psychotherapie: -2- Suchtberatungsstelle niedergelassener Psychiater "geht nicht ambulant", "zu schwierig" Klinik ("Doppeldiagnosen") rechtliche Betreuung (Rechtsanwalt) nach weiteren Klinikaufenthalten löst Betreuer Wohnung auf geschlossene Heimunterbringung Entlassung auf die Straße vorübergehend Wohngemeinschaft (Patient: "zu eng") zurück auf die Straße. 20 2. Fallbeispiel Psychotherapie: -3- Biographisches: aus anderer Großstadt stammend, Vater Alkoholiker, die Kinder geprügelt ("es ist schade um jeden Schlag, der daneben geht"), Mutter mit Kindern auf die Straße geflohen im Jugendalter Tuberkulose, wiederholt stationär, seit 15.Lj. Alkohol ("Beruhigungsmittel"). Heim für "schwer Erziehbare", zurück nach Hause. Mit 18 vom Vater herausgeworfen auf die Straße ("da war ich frei") (Straße = Symbol für die Flucht vor dem Vater / Autoritäten / eigene Autonomie) 21 2. Fallbeispiel Psychotherapie: -4- in der Folgezeit wiederholt kleinere Eigentumsdelikte, Jugendstrafen, hier zuletzt Handwerkerlehre. Anschließend aber keine anhaltende Berufstätigkeit, Alkohol zunehmend (bis Abstinez vor einigen Jahren = Ressource) Befund: zurückhaltend in Kontakt und Erzählung, eindeutig depressiv, erschöpft, hoffnungslos, keine Zukunftsperspektiven. Somatische Beschwerden im Vordergrund. Möchte keine Antidepressiva (schlechte Erfahrungen, "unwirksam") Reflektiert, intelligent 22 2. Fallbeispiel Psychotherapie: -5- Diagnosen: chronifizierte depressive Störung, Z.n. Alkoholabhängigkeit, allgemeinmedizinisch: COPD, LWS Syndrom, chronisches Schmerzsyndrom Zielsetzung: Vermittlung in Notunterbringung als erster Schritt, begleitende Psychotherapie zur Behandlung der Depression (Medikamente zunächst abgelehnt) Existenzsicherung i.R. SGB XII (Patient zu Therapiebeginn noch in SGB II) in Zusammenarbeit mit Sozialpädagogik / Verwaltung 23 2. Fallbeispiel Psychotherapie: -6- Verlauf (2005 - 2009): zwei Therapieabbrüche nach wenigen Stunden ("wenn ich über meine Vergangenheit rede, muss ich wieder trinken") Schuldgefühle wegen der Kosten einer kommunalen Unterbringung ("habe ja nichts geleistet") mit Hilfe der weiterhin konsultierten Allgemeinärztin aber 2 x Wiederaufnahme Therapie möglich. Ziel nurmehr "weg von der Straße". Mit Unterstützung der Verwaltung (Begleitung zum Wohnungsamt, Einzelzimmerattest, Gutachten dauerhafter Arbeitsunfähigkeit) Vermittlung in Wohnen erfolgreich 24 2. Fallbeispiel Psychotherapie: -7- FAZIT aufdeckende, konfliktzentrierte Therapie angesichts der Schwere und Komplexizität der Erkrankung nicht möglich; Autodestruktivität als -dysfunktionale, aber subjektiv wirksame- Bewältigungsstrategie mit Reinszenisierungen traumatisierender Erfahrungen (Reenactments, van der Kolk 1989) muss gerechnet werden. Therapieabbrüchen kann aber mit aktiver Intervention begegnet werden Korrektur von ursprüngl.Therapiezielen erforderlich 25 Therapieziele - Zusammenfassung Beziehungsaufbau und -kontinuität: Sicherheit, Bindungsangebot, Verläßlichkeit, Toleranz Krankheitswahrnehmung und -verständnis fördern Symptomreduktion; Gesundheitszustand und Lebensqualität bessern Entdeckung und Pflege erhaltener oder verschütteter Ressourcen ( Resilienz) Psychosoziale Reintegration (soweit als möglich) in Kooperation mit Sozialarbeit und Verwaltung: soziale Kontakte, Wohnung, Arbeit26 Therapieprinzipien und Haltung -1- größtmöglicher Grad an Struktur ("der beste Therapeut ist nichts wert ohne überschaubaren Rahmen" (J. KÖRNER1998) aktive Haltung (nicht "abwarten") psychotherapeutische Begleitung, „fördernder Dialog“ (Leber, 1988), Containment (Bion 1992), "Being with" (Therapiekonzept SOTERIA) Verständnis für die Externalisierung innerer Konfliktdynamiken der Patienten in der ArztPatienten-Beziehung 27 Therapieprinzipien und Haltung -2- motivierende Gesprächsführung (Miller und Rollnick 2002); fragende Beziehung (Bauriedl 1985) Bifokaler Therapieansatz (Rauchfleisch, 1998): soziale Realität und Erleben / Verhalten im Focus der Behandlung Reflexion / Bewußtsein für eigene Motive, Konflikte, Verstricktheit etc. von TherapeutInnen in der Interaktion (interaktive "Gegenübertragung" (KÖRNER) 28 Therapieprinzipien und Haltung -3- Ambivalenztoleranz für eigene (widersprüchliche) Gefühle und Zielsetzungen) ergänzende somatische Diagnostik und Therapie in einer allgemeinmedizinischen Praxis für wohnungslose Patienten ggf. begleitende Psychopharmakotherapie gute Zusammenarbeit mit übrigen Diensten, die Patient/in in Anspruch nimmt; Interdisziplinarität 29 Besonderheiten einer psychiatr.-psychotherap. Praxis für wohnungslose Patienten Patienten Diagnostisch Mehrfachbelastung der Patienten: Soziale Notlage(n) und psychisches Problem / Erkrankung Überdurchschnittlicher hoher Anteil an Abhängigkeitserkrankungen / schizophrenen Störungen / Persönlichkeitsstörungen (vorwiegend v. Borderline-Typ) Mehrfachdiagnosen (Komorbidität psychiatrische wie somatische Erkrankungen) 30 Besonderheiten einer psychiatr.-psychotherap. Praxis für wohnungslose Patienten Patienten Biographisch: Gehäuftes Vorkommen von frühen Traumatisierungen in der Familie (emotionale Vernachlässigung / psychische und physische Gewalt / familiäre Disharmonie) Extremtraumatisierung bei Kriegsflüchtlingen Psychologisch: Bindungsstörungen, Störungen der Affektregulation. Defizite in der Autonomieentwicklung 31 Besonderheiten einer psychiatr.-psychotherap. Praxis für wohnungslose Patienten Patienten fragiler Selbstwert, unreife Konfliktbewältigungsstrategien, geringes Vertrauen in Selbstorganisationsfähigkeiten; geringe Selbstfürsorge Vorwiegen früher Abwehrmechanismen: Verleugnung, Spaltung, Projektion, projektive Identifizierung "Identifikation mit dem Aggressor", „böse Introjekte“, Autodestruktivität 32 Besonderheiten einer psychiatr.-psychotherap. Praxis für wohnungslose Patienten Patienten Biologisch: erhöhte Stressvulnerabilität, chronische Stressreaktion, erhöhte Infektanfälligkeit bei Schwächung des Immunsystems Infolge ⇑Risikoverhaltens erhöhte Anfälligkeit für (somatische) Erkrankungen Soziale Mehrfachbelastung: geringe Schulbildung, fehlende Berufsabschlüsse, Langzeitarbeitslosigkeit 33 Besonderheiten einer psychiatr.-psychotherap. Praxis für wohnungslose Patienten Patienten Verhalten im professionellen Kontext: oft hohe Bedürftigkeit / Ansprüche an Unterstützung von außen - bei gleichzeitiger Ablehnung von Hilfsangeboten (Abhängigkeits-/Autonomiekonflikt) Bewältigung ihres Alltags hat für Patienten häufig Priorität, Zugang zur „inneren Welt“ oft versperrt 34 Besonderheiten einer psychiatr.-psychotherap. Praxis für wohnungslose Patienten Therapeuten Klärung von therapeutischer Haltung und Rolle erforderlich: "Lokomotivführer" versus "Reisebegleiter" / paternalistisch versus partnerschaftlich Hohe emotionale Belastung für Therapeuten / alle Mitarbeiter in einer Praxis für Wohnungslose, wenn Hilfsangebote nicht angenommen werden können oder Fehlschläge in Therapien sich entwickeln 35 Besonderheiten einer psychiatr.-psychotherap. Praxis für wohnungslose Patienten Therapeuten Identifizierung mit Klienten, „Ansteckungsgefahr“ (z.B. Depressivität) Ohnmachtgefühle, Risiko der Resignation und des „therapeutischen Nihilismus“ Risiko negativer (aggressiver) Gegenübertragungen wenn Abwehrmechanismus der projektiven Identifizierung vorherrschend 36 Besonderheiten einer psychiatr.-psychotherap. Praxis für wohnungslose Patienten Praxisorganisation, Arbeitsabläufe Praxisorganisation: offene Sprechstunde versus Bestellpraxis was tun, wenn Leerläufe: angemeldete Patienten kommen nicht in die Sprechstunde was tun, wenn Notfall während einer Psychotherapiestunde? Zeitaufwand pro Patient insgesamt hoch 37 Besonderheiten einer psychiatr.-psychotherap. Praxis für wohnungslose Patienten Praxisorganisation, Arbeitsabläufe hoher Zeitaufwand bei Besuchen in Notunterkünften (Fahrtzeit, Gestaltung des Settings); Patienten sind bei angemeldeten Besuchen z.Tl. nicht anzutreffen zeitintensives Beratungsangebot für sozialpädagogische Fachkräfte erforderlich Risiko: Konkurrenzen zwischen Professionen hinsichtlich therapeutischer / pädagogischer Konzepte 38 Besonderheiten einer psychiatr.-psychotherap. Praxis für wohnungslose Patienten Praxisorganisation, Arbeitsabläufe Zusammenarbeit mit Allgemeinarzt /-ärztin in Praxisgemeinschaft ist günstig (somatische Abklärung, Fallbesprechungen, gegenseitige Überweisungen) Kenntnisse über und Einbindung von TherapeutInnen in Organisationsstrukturen + Arbeitsabläufe der Wohnungslosenhilfe sind hilfreich (Sozialmedizin) 39 Fazit -1- In einer niedergelassenen Praxis für Psychiatrie und Psychotherapie ist Psychotherapie für wohnungslos gewordene Patienten/innen grundsätzlich möglich, nicht aber i.S. Richtlinienpsychotherapie wesentliche Zielsetzung ist die Verbesserung von Lebensqualität und soziale Reintegration (Beziehungen, Wohnen, Arbeit) Methodisch werden Elemente stützender und konfliktzentrierter Therapie kombiniert (Bifokaler 40 Ansatz), Fazit -2- Beziehungskontinuität ist wesentliches Element "Es ist die Beziehung, die heilt" (Kernberg) Entscheidend für mögliche Therapieerfolge sind Haltung, Selbst-Reflexivität, Belastbarkeit von TherapeutInnen und ein "langer Atem" durch das Überwiegen sog. „Frühstörungen“ mit psychischen „Strukturdefiziten“ bei frühkindlichen Traumatisierungen / Bindungsstörungen und unreifen Abwehrmechanismen / Konfliktbewältigungsstrategien der Klientel entsteht 41 Fazit -3- für Therapeuten ein besonderes Belastungspotential. Risiken für TherapeutInnen (und KlientInnen) können sich entwickeln in Form von Identifizierungen, Ohnmachtsgefühlen, negativen Gegenübertragungsreaktionen etc. im Vergleich zur psychotherapeutischen „Regelversorgung“ kommt es häufiger zu Therapieabbrüchen seitens der PatientInnen 42 Fazit -4- im Rahmen einer modifizierten "Abstinenzregel" ist es aber möglich, Patienten („verlorene Kinder“) nach Therapieabbruch „zurückzuholen“ (anrufen, schreiben, Kooperation mit sozialen Diensten) Grenzen sind gesetzt durch die Praxisorganisation einer gemischt psychiatrisch / psychotherapeutischen Klientel mit der Notwendigkeit der Versorgung von Notfällen. Eine störungsfreie „Bestellpraxis“ i.S. der Richtlinienpsychotherapie niedergelassener TherapeutInnen ist kaum möglich. 43 Fazit -5- Gute Kenntnisse von Therapeuten über die Systeme der sozialen Wohnungslosenhilfe und der Verwaltung (beispielsweise SGB II, Jobcenter), verbindliche Kooperationsbeziehungen, die Anerkennung unterschiedlicher beruflicher Rollen und Verfahren tragen dazu bei, individuelle wie strukturelle Spaltungen zu identifizieren und zu bearbeiten 44 Fazit -6- Im Raum München (1,4 Mill. Einwohner) sind laut KVB ca. 850 ÄrztInnen für Psychiatrie und Psychotherapie, FachärztInnen für psychotherapeutische Medizin und psychologische PsychotherapeutInnen niedergelassen (Quelle: KVB Internetauftritt 2010). Ende 2010 befanden sich ca. 2500 Personen in akuter Notunterbringung von Stadt und freien Trägern; davon 300 Personen auf der Straße. (Quelle: Stadt München) Das Kontingent von einer halben Arztstelle für wohnungslose PatientInnen spricht für sich. Ausblick 45 -1- im Sinne der Primärprävention von bio-psychosozialen Belastungs- und Risikofaktoren in Kindheit und Jugend und deren pathogene Auswirkungen auf das Erwachsenenalter müssen wissenschaftlich fundierte "frühe Hilfen" (z.B. Nationales Zentrum (NZFH), SAFE (LMU München), First Steps (Brüssel) implementiert werden. Die Politik, insbesondere die Kommunen, haben die Aufgabe (Sekundärprävention) durch gezielte Wohnungsbauprogramme und 46 Ausblick -2- Wohnraumversorgung für schwächere Bevölkerungsschichten Wohnungslosigkeit zu verhindern / zu verringern im Sinne der Tertiärprävention bei psychisch erkrankten wohnungslosen PatientInnen ist eine größere Anzahl psychotherapeutisch tätiger ÄrztInnen zu gewinnen, die bereit und fähig sind, die mehrfach belastete Klientel im Rahmen des Möglichen zu behandeln. Ein Konzept nur auf Richtlinienpsychotherapie ausgerichteter Versorgung muss revidiert werden 47 Ausblick -3- zwischen kommunaler und verbandlicher Wohnungslosenhilfe, öffentlicher Verwaltung und medizinischem Versorgungssystem müssen intelligente und wirksame Verknüpfungen und Kooperationsbeziehungen hergestellt werden (Beispiel: Projekt MOTIWOHN, Prof. Salize, Mannheim & Freiburg 2013) 48 Ausblick -4- Handle in deinem Verantwortungsbereich so, daß du mit dem Einsatz all deiner Ressourcen immer beim jeweils letzten beginnst, wo es sich am wenigsten lohnt Klaus Dörner 2003 Das Heil der Welt liegt nicht in neuen Maßnahmen, sondern in einer anderen Gesinnung.” Albert Schweitzer 49 Verwendete und weiterführende Literatur -1- Bion, Wilfred (1992): Elemente der Psychoanalyse. Burkhardt-Mußmann, C. (2013). "ERSTE SCHRITTE" – Ein Integrations- und Frühpräventionsprojekt für Kleinkinder mit Migrationshintergrund. Analytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie, 44 (3): 381-399.Frankfurt/Main, Suhrkamp. Leber, Aloys (1988): Zur Begründung des fördernden Dialogs in der Psychoanalytischen Pädagogik. In: Iben, G. (Hg.): Das Dialogische in der Heilpädagogik, Mainz, S. 41 - 61 Kernberg, Otto (1993): Narzißtische Persönlichkeitsstörungen. Frankfurt, Suhrkamp Körner, Jürgen (1998) Behandlungsgeschichten erzählen, In: Lindauer Texte, Heidelberg, Springer 50 Verwendete und weiterführende Literatur -2- Körner, Jürgen(1998): Der konstruktive Umgang mit der Abwehr. Vorlesung Lindauer Psychotherapiewochen. Auditorium Netzwerk. In: www.auditorium-netzwerk.de/. Miller, William und Rollnick, Stephen (2002) Motivierende Gesprächsführung. Freiburg, Lambertus. Rauchfleisch, Udo (2004) Menschen in psychosozialer Not. Göttingen, Vandenhoeck und Ruprecht. Ruf, Gerhard Dieter (2005): Systemische Psychiatrie. Ein ressourcenorientiertes Lehrbuch. Stuttgart, Klett-Cotta. Sachsse Ulrich (Hg) (2004) Traumazentrierte Psychotherapie. Stuttgart und New York, Schattauer 51 Verwendete und weiterführende Literatur -3- Salize, Hans Joachim (2013): Versorgungsbedarf und Versorgungsrealität in der Psychiatrie. Zentralinstitut für seelische Gesundheit, Mannheim. In: www.dgppn.de/fileadmin/user...06.../salize_HS_Versorgung.pdf SOTERIA Zwiefalten (2009): Milieutherapeutische Einrichtung für Menschen in psychotischen Krisen. ZfP Südwürttemberg. In: www.zfp-web.de/uploads/media/Soteria_-_StationsKonzept_01.pdf Urban, Martin und Hartmann, Hans-Peter (Hg.) (2005): Bindungstheorie in der Psychiatrie. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 52 Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit ! 53 Dr. med. Beate Gaupp Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie vormals Psychiatrisch-psychotherapeutische Praxis für wohnungslose Patienten und Patientinnen in München Edmund Husserl Str. 18 81245 München Tel. 089 / 864 37 96 Mail: [email protected] 54