mit einer Art von Leidenschaft geliebt

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„… mit einer Art von Leidenschaft geliebt“
Theater in Altbayern, Franken und Schwaben in der Frühen Neuzeit
Manfred Knedlik
Haus der Bayerischen Geschichte
Bildnachweis
Staatliche Bibliothek Ansbach S. 46 l. u.; Haus der Bayerischen Geschichte, Augsburg, Foto
G. Voithenberg S. 24, 32 u.; Studio Buchroth, Augsburg S. 27; Universitätsbibliothek Augsburg S. 30, S. 58 r.; Historisches Museum Bayreuth S. 44; Universitätsbibliothek Bayreuth
S. 43, Titelei; Landesbibliothek Coburg S. 39 u.; Stadtarchiv Coburg S. 41 o.; Studienbibliothek Dillingen S. 29; Stadtarchiv Erlangen S. 46; Stadtarchiv Kaufbeuren S. 12; Staatliches Hochbauamt Kempten (Allgäu) S. 31 o.; Universität zu Köln, Theaterwissenschaftliche Sammlung S. 51 r.; Bayerische Verwaltung der staatlichen Schlösser, Gärten und Seen
U 1, S. 16 l., 45; Bayerisches Nationalmuseum, München S. 28, 50 u.; Deutsches Theatermuseum, München S. 10, 35–36, 38., 46 u. r., 55; Marcus Schlaf, München S. 6; Münchner
Stadtmuseum, Sammlung Graphik und Gemälde, MI/638/3 S. 37; Sammlung Bäuml, Marstallmuseum, Schloss Nymphenburg, Foto: Marianne Franke, München S. 17, 18 l.; Staatliche Bibliothek Amberg S. 11; Stadtarchiv München S. 31; Staatliche Bibliothek Neuburg
an der Donau S. 33; Museen der Stadt Nürnberg, Grafische Sammlung S. 9, 18 o. (Foto:
Richard Krauss), 22 o., 56; Stadtbibliothek Nürnberg S. 5, 21, 50 o., U 4; Stadtarchiv Passau,
Foto: Rudolf Schneider, Passau S. 48 r. o., 48 u.; Fürst Thurn und Taxis Hofbibliothek und
Zentralarchiv, Regensburg S. 40, 51 u., 52–54, 58 o.; Museen der Stadt Regensburg – Historisches Museum S. 39, 57; Staatliche Bibliothek Regensburg S. 23, 29 r.; Universitätsbibliothek Regensburg S. 32 o.; Evangelisch-Lutherische Kirchengemeinde Schweinfurt, St. Johannis S. 15; Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel 105 Eth. (1) S. 19; Stadtarchiv Würzburg S. 22, 59; Manfred Brauneck, Die Welt als Bühne, Bd. 2, S. 357 und 431 S. 16 r., 47;
Sammlung Eckhard Bernstein S. 7–8
Hefte zur Bayerischen Geschichte und Kultur 33
Herausgegeben vom Haus der Bayerischen Geschichte
© 2005 Bayerisches Staatsministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst
Haus der Bayerischen Geschichte, Augsburg
www.hdbg.de
Redaktion: Evamaria Brockhoff, Michael Herdick
Bildredaktion: Michael Herdick, Manfred Knedlik
Gestaltung und Produktion: Wolfgang Felber, Ottobrunn
Umschlaggestaltung: Wolfgang Felber, Abb.: Markgräfliches Opernhaus Bayreuth
Druck und Bindung: Aumüller Druck KG, Regensburg
Alle Rechte vorbehalten
Printed in Germany
ISBN 3-937974-06-7
Gedruckt auf umweltschonend hergestelltem Papier „Symbol Freelife Satin“
von Fedrigoni Deutschland GmbH, Unterhaching
3
Inhalt
Vorwort
4
Einführung
5
Theaterbegeisterte Laien – das Schauspiel in den Städten
Fastnachtspiele in Nürnberg
Das Theater der Meistersinger
Lateinisches und deutsches Schultheater
7
7
9
13
Schauspielkunst als Beruf – die Wanderbühnen im 17. Jahrhundert
Commedia dell’arte
Die englische Komödianten
Deutsche Wandertruppen
16
16
18
20
Sinnliche Glaubensinszenierung – die Oster- und Passionsspiele
23
Die Bühne als Kanzel – das katholische Ordenstheater
Das Jesuitentheater
Das Theater der Prälatenorden
26
26
30
Zwischen Präsentation und Repräsentation – das höfische Theater
München
Regensburg
Coburg
Bayreuth – Erlangen
Ansbach
Die geistlichen Residenzen: Würzburg – Bamberg – Passau
34
35
39
41
42
45
47
Von der Wanderbühne zum stehenden Theater
Zwischen Kunst und Kommerz – Bühnenpraxis im 18. Jahrhundert
Die Gründung von Hof- und Nationaltheatern
Bürgertheater
49
49
53
56
Glossar
60
Ausgewählte Literatur
62
4
Vorwort
Vorwort
Betrachtet man – gerade in der sommerlichen Festival-Zeit – die Theaterszene in
Bayern,so begegnet man einer Vielfalt,die so gut wie alle Spielgattungen umfasst.
Klassisches Schauspiel, Oper und Operette, Musical, Volkstheater, Szenisches und
Konzertantes. An verschiedensten Orten werden die Bretter aufgeschlagen, die
die Welt bedeuten: draußen und drinnen, im Steinbruch und im Hofgarten, auf
der Seebühne und im Stadttheater, in der „Comödihüttn“ und im Nationaltheater, im Weihefestpielhaus und im Wirtshaus. Es spielen professionelle Schauspieler und Laien, es treten Stars und Hobbyschauspieler auf, feste Ensembles und
zusammengewürfelte Truppen. Es werden alte Traditionen wiederbelebt, es wird
Neues geboten, man ist international und man ist bayerisch – oder beides zugleich: von Ludwig 2 bis Parzival, vom Schmied von Kochel bis König David, von
Agnes Bernauer bis Aida, von Winnetou bis Falco.
Dass dieses lebendige Theaterleben eine lange Tradition hat und sich aus vielfältigen Quellen speist, zeigt Manfred Knedlik mit seinem ebenso detailreichen
wie umfassenden Blick in das Theaterwesen der Frühen Neuzeit. Ausgehend von
den geistlichen Spielen der Mittelalters, die mit den zahlreich aufgeführten Passionsdramen bis in unsere Zeit reichen, wird in diesem Heft das Faszinosum der
Bühne in ihren verschiedensten Ausprägungen ausgebreitet: vom Meisterspiel
mit dem Zentrum Nürnberg über das bildungspolitisch akzentuierte Schul- und
Jesuitentheater, von den Wanderschauspielern bis zum stehenden Theater, vom
Hoftheater, das an den Fürstenhöfen seinen Glanz entwickeln konnte, bis zum
bürgerlichen Theater in den Städten und schließlich zu den „National-Bühnen“
der Aufklärung, die schließlich in die Kultur des Theaters unserer Gegenwart
führen als gesellschaftlich relevante Institution, als Stätte des „prodesse et delectare“.
Wir wünschen unseren Leserinnen und Lesern, dass sie in dieser „Kleinen
Theatergeschichte Bayerns von 1500 bis 1800“, in dieser Buntheit des Spielens
und Darstellens Bekanntes und Unbekanntes entdecken und sich bei der Lektüre
von der Faszination der Bühne berühren lassen.
Evamaria Brockhoff
Einführung
5
Einführung
Der „Schauspielhunger der Baiern“, den der katholische Aufklärer Johann Pezzl
in seiner Reise durch den Baierischen Kreis (1784) – durchaus mit kritischem
Unterton – beschrieb, bildet ein kulturelles Phänomen, das in einer kaum überschaubaren Fülle an schriftlichen und ikonografischen Zeugnissen dokumentiert
ist. Ein geistig-künstlerischer Brennpunkt waren die Haupt- und Residenzstädte,
wo dramatische, musikalische und tänzerische Aufführungen entscheidende
Akzente setzten. Im Spannungsfeld höfischer Repräsentations- und Vergnügungsinteressen mochte sich – wie in München oder Bayreuth – gar eine Theaterkultur von europäischer Geltung entwickeln. Auch im soziokulturellen Gefüge mittlerer und kleiner Städte besaß das Theater große Relevanz, sei es als Ort
politischer Selbstinszenierung, als Forum oppositioneller Meinungsäußerung
oder als gesellige Institution. Und schließlich fanden theatrale Darbietungsformen auch in Klöstern und Kollegien einen fruchtbaren Boden, wobei die geistlichen Theatermacher die Möglichkeiten des kommunikativen Mediums insbesondere für ihre gesellschafts- und bildungspolitischen Zielsetzungen zu nutzen
wussten. Über gattungsspezifische und ästhetische Entwicklungen hinaus hat
eine Geschichte des Theaters mithin die spezifischen Wirkungsinteressen und
Gebrauchsfunktionen der Bühnenkunst in den Blick zu nehmen, die vielfältigen
Beziehungen zwischen Kunst, Bühne und Leben zu beleuchten, um dem kulturellen Gegenstand Kontur und Profil zu verleihen.
Die facettenreiche Theaterkultur, die sich in der Frühen Neuzeit, also etwa
zwischen 1500 und 1800, im Gebiet des heutigen Freistaats Bayern ausbildete, hat
bislang keine übergreifende Darstellung gefunden – wenig verwunderlich, wenn
man sich die Menge der Archiv- und Bibliotheksbestände vergegenwärtigt, die
erschlossen, gesichtet und systematisch ausgewertet werden müssen. Natürlich
Die Ursprünge des berühmten Nürnberger
Schembartlaufs, eines fastnächtlichen Umzugs
der Fleischer und Messerschmiede von schlechthin theatralem Charakter, reichen in die Mitte
des 15. Jahrhunderts zurück. Ab 1475 zogen
die Schembartläufer die so genannte „Hölle“
durch die Gassen der Reichsstadt, ein Gefährt
auf Schlittenkufen, mit dessen Symbolik sie
ihre Kritik an den gesellschaftlichen und religiösen Zuständen zum Ausdruck brachten. Als
1539 der lutherische Prediger Andreas Osiander zum Opfer ihres Spotts wurde, verboten die
städtischen Behörden das närrische Treiben.
6
Einführung
Die „Münchner Morisken“, eine an der Münchner Technischen Universität entstandene Tanztruppe, begeistert mit ihren historisch exakten
„Nachbildungen“ der berühmten Figuren von
Erasmus Grasser.
So sprunggewaltig und ausdrucksstark wie hier
beim Trachten- und Schützenzug anlässlich des
Münchner Oktoberfestes im Jahr 2003 beeindrucken Gaukler und Tänzer ihr Publikum
seit Jahrhunderten.
sind Vorarbeiten auf einzelnen Gebieten geleistet. So liegen etwa zum Jesuitentheater profunde Untersuchungen vor; Detailstudien haben einzelne Genres wie
die Oper oder einzelne, besonders prominente Institutionen wie das Münchner
Hof- und Nationaltheater ins Blickfeld gerückt; Dokumentationen in orts- und
regionalgeschichtlichen Darstellungen erschließen kulturelle Entwicklungen,
wie sie sich im lokalen Raum präsentieren – jedoch fehlt eine Zusammenschau,
die Vernetzungen, Traditionen und Brüche sichtbar macht.
Eine durchgängige Geschichte des Theaters in Altbayern, Franken und Schwaben ist auch in diesem Rahmen nicht zu leisten. In einer Folge synchroner Skizzen – die weitgehend von der Chronologie bestimmt ist – können Vielfalt und
Vielschichtigkeit der historischen Spiellandschaften nur exemplarisch, mit
gezielter Schwerpunktbildung dargeboten werden. Eine Theatergeschichte für
Bayern – dies kann und soll keinesfalls zu einer „lokalpatriotischen“ Blickverengung führen. Die lokale Bühnenkunst steht in Beziehung zu größeren Kulturräumen. Stets ist sie, so singulär ihr Erscheinungsbild auch wirken mag, in
einen deutschen, in einen europäischen Kontext eingebunden; am deutlichsten
manifestiert sich das an den italienischen, englischen, holländischen und französischen Wandertruppen, die als Importeure der großen Bühnenwelt in die süddeutschen Reichsstädte kamen.
Als Ort öffentlicher Kommunikation, gleichsam als geistiger Schau-Raum,
tritt das Theater im Gemeinwesen in Erscheinung. In ihm spiegeln sich – in brisanter Aktualität – politische, gesellschaftliche und kulturelle Verhältnisse, Entwicklungen und Strukturen wider, die umgekehrt die spezifischen Ausdrucksformen der theatralen Kunst bestimmen. Eine Geschichte des Theaters hat mithin
auch die kultur-, sozial- und ideengeschichtlichen Horizonte zu erschließen, um
den Blick für das unverwechselbare Profil einer institutionalisierten Kunstübung
zu schärfen, die – um mit Goethe zu sprechen – „in dem engen Bretterhaus den
ganzen Kreis der Schöpfung“ ausschreitet.
Fastnachtspiele in Nürnberg
7
Theaterbegeisterte Laien – das Schauspiel
in den Städten
Fastnachtspiele in Nürnberg
Eingebunden in den Festkalender des ganzen Jahres, entwickelte sich das Fastnachtspiel aus den „Mummereien“, jenen karnevalesken Spielformen, die der
städtischen Gemeinschaft die Inszenierung der verkehrten Welt ermöglichten.
In lärmenden Aufzügen und Prozessionen führten die unterschiedlichsten
Schausteller, Tänzer und Musikanten Szenarien des ungezügelten Begehrens und
Genusses, der sittlichen Entgrenzung und der manifesten Gewalt vor. Die
demonstrative Unordnung, die das karnevaleske Fest prägte, machte die Brüche
und Spannungen der Gesellschaft sichtbar. Im spielerischen Vollzug von Situationen, die als bedrohlich für die städtische Kommunität anzusehen waren,
ließen sich diese Gefahren zugleich aber auch ausgleichen und überwinden. Die
öffentliche Inszenierung, das praktische Ausleben des Niedrigen, Hässlichen und
Bösen bot, somit die Möglichkeit, die Bedrohungen lachend zu bewältigen.
Die Triebwelt des Menschen, das Wechselspiel von Sexualität und Gewalt, ist
das zentrale Thema der Nürnberger Fastnachtspiele des 15. Jahrhunderts, die in
reicher Zahl überliefert sind. Charakteristisch ist das unmittelbare Vergnügen an
Spott und derber Komik, die Fäkalisches und Obszönes nicht scheut. Zum Inbegriff der Rohheit, Triebhaftigkeit und Lasterhaftigkeit avancierte die Figur des
Bauern, sodass Fastnachtspiel und Bauernspiel beinahe synonym gesetzt werden
können. Dem städtischen Publikum wurde mit dem ländlichen Tölpel eine Kontrastgestalt präsentiert, die der Selbstverständigung über bürgerliche Wertmaßstäbe diente. Unter den mehr als 100 Fastnachtspielen gab es freilich auch etliche
Stücke, die (zeit-)politische, kirchenkritische und soziale Fragen behandelten:
Des Turken vasnachtspil, Vom babst, cardinal und von bischoffen. Die Texte sind fast
ausnahmslos anonym überliefert, lediglich zwei Namen von Handwerkerdichtern verbinden sich mit der frühen Spieltradition: Hans Rosenplüt (um 1400 bis
1460), der als Rotschmied und Büchsenmeister seit 1426 das Bürgerrecht der
Reichsstadt hatte und dem mehr als 50 Fastnachtspiele zugeschrieben werden;
sodann Hans Folz (1435/40 –1513),
Wundarzt und Drucker, der seit den
siebziger Jahren des 15. Jahrhunderts
mindestens zwölf Spieltexte schuf.
Die Einbindung in die Festkultur
der Fastnachtzeit bestimmte auch die
Aufführungspraxis. Eine Truppe von
Laienschauspielern, zumeist Handwerksgesellen,zog am Abend von Haus
zu Haus und trat vor allem in Gasthöfen auf. Ein Herold, der „praecursor“,
kündigte die Rotte an und eröffnete
das kurze Spiel (100–300 Verse) – auf
einer durch Beiseiterücken von
Stühlen und Bänken rasch improvisierten Bühne – mit einem Prolog.
Oft endete die Darbietung im allgemeinen Zutrinken von Schauspielern
und Publikum, die so gemeinsam die
karnevaleske Festfreude teilten. In der
Frühzeit dominierten die Reihenspiele, die nacheinander verschiedene Figuren – Repräsentanten eines Lasters,
einer Narrheit und so fort – auftreten
Holzschnitt zum Fastnachtspiel Das Narren
schneyden (1536/37) von Hans Sachs. Bei
den Aufführungen wurden die Narrheiten, die
der großsprecherische Arzt unter dem Gelächter
des Publikums aus dem Bauch seines Patienten
herauszog, mit Puppen dargestellt.
8
Theaterbegeisterte Laien – das Schauspiel in den Städten
Unerschöpfliches Thema für Hans Sachs war
die Ehe mit ihren täglichen Reibereien. Der
Titelholzschnitt zu seinem Fastnachtspiel Der
bös Rauch (1551), der wohl auch die Bühnenwirklichkeit beschwört, zeigt eine handgreifliche Auseinandersetzung zwischen Mann und
Frau.
und sprechen ließen, ohne ein differenziertes Spielgeschehen, wie im späteren
Handlungsspiel, zu entwickeln: So mochten zwölf Bauern darüber berichten,
wie es ihnen bei der Buhlschaft ergangen war, oder zehn Schöffen schlugen
nacheinander drakonische Strafen für einen Mann vor, der seinen ehelichen
Pflichten nicht nachkam.
Mit dem Schuhmacher Hans Sachs (1494–1576) griff einer der vielseitigsten
und produktivsten Autoren des 16. Jahrhunderts die literarische Tradition seiner
Vaterstadt auf, doch gelangte er in Form und Inhalt weit über das Nürnberger
Fastnachtspiel herkömmlicher Prägung hinaus. Nach frühen Reihen- und Gesprächsspielen (Das Hoffgesindt Veneris, 1517) entwickelte er dramaturgisch gelungene Handlungsspiele, die eine auf einen Konflikt konzentrierte, differenziert
motivierte und zielstrebig auf den dramatischen Höhepunkt zustrebende Aktion
entwerfen. Inhaltlich verzichtete er weitgehend auf die unmittelbare Demonstration vitaler Funktionen, auf Gewaltfantasien sowie auf obszöne und unflätige Beschimpfungen. Vorherrschend war nun der satirische Blick auf die Alltagswirklichkeit, auf menschliche Schwächen. Zwar markieren Motive und Figuren aus
der Überlieferung des Fastnachtspiels die Szene: der Streit zwischen Mann und
Frau, die Männerschelte, die zänkische oder ehebrecherische Frau, der Bauerntölpel, der schwangere Mann, der buhlerische Pfaffe – neu aber war bei Hans
Sachs das lehrhafte und versöhnliche Element, das vor allem in den Schlusswendungen deutlich wird. Auf sein didaktisches Anliegen wies der Handwerkerpoet
in der Vorrede zu seiner Gesamtausgabe von 1558 hin, wenn er dort erklärte, die
Fastnachtspiele seien „nützlich zu lesen, weil fast yedes stück mit einer angehenckten lehr beschlossen“ sei. Natürlich sollten die Stücke auch unterhalten
oder, mit den Worten von Hans Sachs, die „schwermütigen hertzen zu freuden ermundern“. Eine gelungene Synthese zwischen Belehrung und Kurzweil bildet
das bühnenwirksame Spiel Das Narren
schneyden (1536/37), das übrigens Goethe
1777 auf der Weimarer Hofbühne inszenieren ließ: In einem chirurgischen Eingriff
zieht der Arzt aus dem Bauch eines Patienten personifizierte Narrheiten heraus, die
für den Zuschauer des 16. Jahrhunderts
leicht als die sieben Todsünden zu erkennen waren. Immer wieder ist in den Fastnachtspielen das Bemühen zu erkennen,
dem Publikum kulturelle Wertorientierung
zu vermitteln. Der Entwurf einer stadtbürgerlichen Ethik, die dem inneren Frieden
und dem gemeinen Nutzen der urbanen
Gesellschaft dienen sollte, bestimmte
Stücke wie Der unersetlich geitzhunger
(1551), Der gstolen pachen [Schinken]
(1552) oder Der kremerskorb (1554). Konfliktlösungen in den Lebensbereichen Ehe
und Familie bot der Dichter in seinen Spielen Das heiß eysen und Das Kelberbruten
(1551) an, wenn er dort die Bereitschaft zu
Nachsicht und Versöhnung beschwor.
Als Dramatiker und als Spielleiter einer
eigenen Truppe prägte Hans Sachs die
reichsstädtische Theaterkultur. Hatte er seine Stücke anfangs noch – im Anschluss an
die ältere Tradition – in Privat- und Wirtshäusern inszeniert, so fand er später in der
säkularisierten Marthakirche, von 1556 an
im ehemaligen Predigerkloster einen festen Spielort. Nicht selten stand er selbst
mit dem kleinen Ensemble auf der Bühne.
Das Theater der Meistersinger
Dabei stellte er nach eigenem Zeugnis seine mimische Verwandlungsfähigkeit in 16
Fastnachtspielen unter anderem als Zigeuner, Bauer, Heuchler, Knecht, Henker und
Teufel unter Beweis.
Stadtbürgerliche Wertmaßstäbe prägten auch die Fastnachtspiele des Kornschreibers Peter Probst (gest. 1576). So behandelte er in dem Stück Von zwaierlai Elltern Fragen der rechten Erziehung, die soziale und moralische Regeln vermitteln
müsse, um ein friedliches Miteinander in
Familie und Gesellschaft zu gewährleisten.
Formal knüpfte Probst, der auch als Verfasser von Meisterliedern und Spruchgedichten an die Öffentlichkeit trat, weitgehend
an die Spieltradition des 15. Jahrhunderts
an.
Zukunftsweisende
Veränderungen
brachten hingegen die 36 (überlieferten)
Fastnachtspiele des Prokurators und kaiserlichen Notars Jakob Ayrer (1544–1605),
die im letzten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts entstanden. Unter dem Einfluss von
Gastspielen englischer Komödianten in
der Reichsstadt führte Ayrer die Figur des
witzigen Possenreißers, der bei den Wandertruppen als „Jan Bousset“ oder „Jan
Bouchet“ auftrat, in seine Stücke ein. Deutlich sichtbar ist dieser Bezug in Werken
wie dem Fassnachtspil der verlohrn engellendisch Jahn Posset, wo das althergebrachte
Motiv vom listigen Ehebruch mit Formen
der zeitgenössischen englischen Komödie
verknüpft wird. Neu ist ferner der zunehmende Gebrauch musikalischer Einlagen
im Spiel, der das herkömmliche Fastnachtspiel an die Gattung des Singspiels heranführte. Mit dem dramatischen Werk
Ayrers, das posthum in dem Sammelband Opus theatricum (1618) erschien, vollzog sich der Anschluss des karnevalesken Spiels an die europäische Theaterentwicklung des 16. und 17. Jahrhunderts.
Das Theater der Meistersinger
Die rhetorisch-ästhetischen Kunstübungen, die von Meistersingergesellschaften
seit dem Spätmittelalter in zahlreichen süddeutschen Reichsstädten gepflegt
wurden, stellten eine ganz wesentliche Bereicherung urbaner Kultur dar. Bei den
Meistersingern handelte es sich vorwiegend um Handwerker, vereinzelt schlossen sich auch Mitglieder der gelehrten Bildungsschicht den Singbruderschaften
an. Neben dem Dichten und – seltener – Komponieren von Meisterliedern, die
nach strengen Kunstregeln („Tabulaturen“) verfasst und in öffentlichen Wettbewerben, den Singschulen, vorgetragen wurden, widmeten sich die Meistersinger
auch der Aufführung von Theaterstücken. Frühe Gesellschaften sind in Augsburg sowie in Nürnberg bezeugt, wo der Wundarzt und Drucker Hans Folz
(1435/40–1513) für einen kräftigen Aufschwung sorgte. Mit Hans Sachs erlebte
die Meisterkunst dann im 16. Jahrhundert ihren Höhepunkt. In dichter Folge organisierten sich Meistersingergesellschaften, unter anderem in Nördlingen
Hans Sachs (1494–1576), Lithografie von
Lovis Corinth.
9
10 Theaterbegeisterte Laien – das Schauspiel in den Städten
Rekonstruktionsmodell der Meistersingerbühne
durch Albert Köster (1862–1924).
Gezeigt wird eine Szene im Palast von Konstantinopel aus der Komödie Julianus im
Bade von Hans Sachs. Als Bühne diente ein
einfaches Podium, hinten und seitlich durch
Vorhänge abgeschlossen, illusionsschaffende
Dekorationen fehlten.
(1506), München (1514), Donauwörth (nach 1517) und schließlich in Memmingen (1600); in Augsburg erfolgte 1534 eine Wiederbegründung, nachdem die Aktivitäten einer älteren Bruderschaft 1518 geendet hatten.
Der rege Spielbetrieb, der sich in vielen Städten neben den Singschulen entwickelte, war wohl nicht zuletzt durch das Bemühen um finanzielle Zuwendungen und Einnahmen veranlasst, hatten die Meistersinger doch mancherorts über
das mangelnde Interesse der Öffentlichkeit an ihren Liedpräsentationen zu klagen. Bisweilen litt die altüberkommene Sing- und Dichtpraxis derartig unter der
Theaterbegeisterung, dass konservative Mitglieder – wie etwa 1575 in Augsburg –
warnend ihre Stimme erhoben. Gleichwohl scheinen die Gesellschaften, zumindest im 16. Jahrhundert, die theatralischen „Actionen“ als gemeinschaftliche Aufgabe betrachtet zu haben. So sind die Spielgesuche, die man in Augsburg oder
Memmingen an den Rat der Stadt richtete, zum großen Teil von „ainer gantzen
Gesellschaft der Meistersinger allhie“ unterschrieben. In Nürnberg dürften sich
um 1600 mehrere Spielgemeinschaften auf die Initiative einzelner Meister hin
ausgebildet haben, die im Wettbewerb um die Gunst der städtischen Obrigkeit
standen.
Dank der überragenden Gestalt des Hans Sachs gelangte die Meistersingerbühne in Nürnberg zu unerreichter Höhe. Zu den 85 Fastnachtspielen kam eine
Vielzahl von Dramen, 70 „comedis“ und 58 „tragedis“, entstanden zumeist
zwischen 1550 und 1560, als Sachs mit einer eigenen Truppe in der seit der
Reformation säkularisierten Marthakirche und später im Predigerkloster einen
festen Spielort gefunden hatte. Als unerschöpfliche Quelle für sein dramatisches
Schaffen erwiesen sich biblische Geschichten, vornehmlich aus dem Alten Testament. Zugleich aber erweiterte er das traditionelle Stoffrepertoire, wenn er spätmittelalterliche Erzählungen aus den Volksbüchern (Fortunatus, 1553; Die schöne
Magelone, 1555), Boccaccios Decamerone, die antike Tragödie ( Jocaste, 1550;
Clitemnestra, 1554), die römische Historie nach den Gesta Romanorum oder die
griechische Mythologie zur Vorlage seiner Theaterstücke nahm.
Die Ausstrahlungskraft des Hans Sachs reichte weit über Nürnberg hinaus. So
brachten die Meistersingergesellschaften in Augsburg, Memmingen und Nördlingen seine Dramen, unter anderem die Comedi vom jungsten Gericht, mit
großem Erfolg auf die Bühne; in Augsburg suchten so „vile ansehnliche Persohnen“, wie es in einem Spielgesuch von 1567 heißt, um eine nochmalige Aufführung des heilsgeschichtlichen Spiels nach, dass man sich zu einer großräumigen Inszenierung im Freien entschloss. In der Reichsstadt am Lech wirkte mit
dem Schneidermeister und Lehrer Leonhard Sebastian Wild (gest. 1583) zudem
ein Meistersinger, der sich selbst als Dramatiker zu profilieren vermochte. Sein
Weihnachtsspiel (gedruckt 1566) beherrschte mehr als ein Jahrzehnt lang die
Bühne im Tanzhaus; sein Passionsspiel, die Tragoedi von dem Leyden unnd Sterben,
Das Theater der Meistersinger
auch Aufferstehung unsers Herren Jesu Christi (1565 erstmals aufgeführt), bildete eine
der wichtigsten Textvorlagen für das Oberammergauer Passionsspiel von 1662. Im
Jahr 1566 ließ Wild eine Sammlung von
zwölf Comedien und Tragedien im Druck
erscheinen, mit Stoffen aus der Heiligen
Schrift und der Literatur des Spätmittelalters, wie sie die Volksbücher vermittelten
(Die schöne Magelone, Die sieben weisen
Meister, Kaiser Octavian).
Die öffentlichen Aufführungen bedurften allerorten der Genehmigung durch
den Rat der Stadt, der im Interesse an Ruhe
und Ordnung reglementierend in die
Spielpraxis eingriff. So fielen brisante Texte, die innerstädtische Konflikte produzieren und das „gemeine Wohl“ gefährden
konnten, der Zensur zum Opfer; zu unterlassen waren auch blutrünstige Szenen wie
die Enthauptung Johannes des Täufers auf
offener Bühne, die bei „schwangeren
Weibern und andern“ Anstoß erregen
mochten. Weiterhin durfte die festgelegte
Spielzeit – in Nürnberg zwischen dem
2. Februar (Mariä Lichtmess) und dem
ersten Fastensonntag (Invokavit) bzw. dem
Weißen Sonntag – bei Androhung der Inhaftierung nicht überschritten werden.
Im Unterschied zum neuzeitlichen Illusionstheater arbeiteten die Meistersinger
mit bescheidenen szenischen Mitteln.
Dekorationen fehlten, „gesprochene Kulissen“ – in Verbindung mit einfachen, typisierenden Requisiten – sollten dem
Zuschauer die Bühnenwirklichkeit erschließen. Im und vor dem Chor der
Nürnberger Marthakirche hatte man, soweit sich die Bühne des Hans Sachs rekonstruieren lässt, ein breites Podest errichtet, das vermutlich Platz bot für eine Vorder- und eine Hinterbühne, wo die Innenraumszenen spielten. Ein ähnliches
Gerüst mochten auch die Augsburger Meistersinger in St. Martin und St. Jakob
aufgeschlagen haben, an Auftrittsorten wie dem Privathaus des Sebastian Wild
bestanden naturgemäß beschränktere Möglichkeiten. Unterhaltungsbedürfnis
und Schaulust des Publikums wurden nicht durch ein Bühnenbild befriedigt,
sondern durch das drastische Gebärdenspiel der routinierten Laiendarsteller. Insbesondere Hans Sachs versah seine Werke mit sorgfältigen Bühnenanweisungen,
die den Schauspielern, aber auch künftigen Spielleitern die Theaterarbeit erleichtern sollten. So finden sich konkrete Bestimmungen: Ödipus kratzt sich die Augen aus; Soldaten entreißen einer Mutter in dem belagerten Jerusalem ihr Kind
und schlachten es; David zieht sein Schwert und schlägt Goliath den Kopf ab –
wie diese Gräueltaten szenisch realisiert wurden, ist nicht überliefert; gelegentlich trug man wohl holzgeschnitzte Köpfe auf die Bühne, um die blutigen Folgen
der Kämpfe in krasser Manier anschaulich vorführen zu können.
Das Theaterspiel der Meistersinger diente der Unterhaltung und Belehrung
gleichermaßen. Mit Begriffen wie „nutz“, „besserung“ und „vermanung“ unterstrich Hans Sachs den didaktischen Anspruch seiner Dramenproduktion. Die
Spiele begannen und endeten mit einem Prolog und Epilog, die zumeist vom
Theaterherold, dem „Ehrnholdt“, gesprochen wurden und allenthalben Hin-
11
1560 erschien in Amberg der Druck eines
Passionsdramas, das der Nürnberger Meistersinger Hans Sachs im Auftrag der kurpfälzischen Haupt- und Regierungsstadt verfasst
hatte. Das sprachlich und dramaturgisch
gelungene Stück übte, ungeachtet seiner reformatorischen Züge, in der Folgezeit eine
beachtliche Wirkung auf katholische Spielgemeinschaften aus. Bis in die zweite Hälfte
des 18. Jahrhunderts zählte Der gantz Passion
zu den wichtigsten Textvorlagen geistlicher
Volksschauspiele im alpenländischen Raum.
12 Theaterbegeisterte Laien – das Schauspiel in den Städten
Auf der Tafel der Kaufbeurer Comoediantenund Agentengesellschaft (1691), die an einen
Flügelschrein erinnert, sind Bilder vergangener
Aufführungen und verdiente Schauspieler zu
sehen. Die selbstbewusste Darstellung kündet
vom Ansehen der Laientruppe innerhalb des
bürgerlichen Gemeinwesens. Überdies vermitteln die Miniaturen einen Einblick in die Aufführungspraxis, die offenkundig von pathetischen Gesten, üppigen Kostümen und prachtvollen Bühnenbildern bestimmt war. Dass der
lustigen Person große Bedeutung zugemessen
wurde, zeigt das Mittelbild des Triptychons.
Selbst in der Schlussszene eines biblischen
Dramas – Esther – drängt sich Hanswurst ins
Bild, als boshafter, Zoten reißender Tölpel, über
dessen Späße man herzlich lachen konnte.
Lateinisches und deutsches Schultheater
weise zur moralischen Ausdeutung des Bühnengeschehens enthielten. Auf sinnfällige Weise wollten die Theaterstücke eine praktische Lebenslehre vermitteln:
Exemplarische Tugenden wurden zur Nachahmung empfohlen, exemplarische
Laster zur Abschreckung vor Augen geführt. Im Horizont von christlichen Glaubensformen und -inhalten war die stadtbürgerliche Kunstübung auf die Unterweisung in „guten sitten und löblichen tugenden“ gerichtet, wie die Memminger
Gesellschaft in einem Spielgesuch betonte. Ein ähnlicher Handlungsanspruch
lässt sich auch in Augsburg erkennen, wo die Inszenierung des Weltgerichtspiels
von Sebastian Wild aus laienreligiösen Interessen heraus erfolgte. Erklärtes Ziel
der dramatischen Vorführung war es, die Zuschauer auf den rechten Weg zu
führen. In der Konsequenz verband sich die Spielfreude der Meistersingergesellschaften mit einem christlichen Dienstgedanken, dem wiederum ein hoher Wert
für die städtische Kommunität beizumessen war. In diesem Sinne suchten die
Meistersinger in Nördlingen 1569 um die Bewilligung nach, „gemainer statt“
und „Gott zu lob unnd ehrnn“ Komödien halten zu dürfen.
In Nürnberg bedeutete der Tod von Hans Sachs im Jahr 1576 zunächst kein
Ende der handwerklichen Theaterproduktion. Gerade in der Zeit um 1600 erwiesen sich die Mitglieder der Singschule als eifrige Schauspieler, die selbst vor
vornehmen Gästen – vor „Ehrenvest, fürsichtig und weise[n] herren“, wie es in
der 1596 aufgeführten Comedj von den Crocodil-stechen heißt – auftraten. Seit Beginn des 17. Jahrhunderts aber mehrten sich kritische Stimmen gegen Inhalt und
Darbietungsform der Spiele. Der patrizische Magistrat verfolgte die nicht selten
obrigkeitskritischen Unternehmungen der selbstbewussten Gesellschaften mit
großem Misstrauen und zunehmend erfuhren die theaterbegeisterten Laien, die
sich zudem einer starken Konkurrenz durch die englischen Komödianten ausgesetzt sahen, abschlägige Antworten auf ihre Spielgesuche. Auf Geheiß des Nürnberger Rats waren seit 1614 schließlich die Theateraufführungen der Meistersinger innerhalb der Mauern der Reichsstadt untersagt; in einem kleinen Vorort
wurde die Spieltradition noch wenige Jahre fortgeführt.
Hingegen erlebte die Schauspielkunst der Augsburger Meistersinger nach den
Wirren des Dreißigjährigen Kriegs eine neue Blüte. Bereits 1630 hatte man eine
eigene Spielstätte, den so genannten Komödienstadel in der Jakobervorstadt, erworben. Durch einen Ratsbeschluss von 1690 besaß die „Agentencompagnie“ ein
Theatermonopol, das ihr die Präsentation eines Schauspiels an jedem Montag in
der Zeit zwischen dem Bartholomäustag (24. August) und Pfingsten zugestand,
während fremde Komödianten keine Spielbewilligung erhalten sollten. Nach
1733 durften Wandertruppen dann unter Zahlung einer Abgabe an die Meistersingergesellschaft in Augsburg auftreten. Angesichts der Konkurrenz durch die
professionellen Schauspieler verloren die handwerklich-biederen Darbietungen
nun zunehmend an Attraktivität, im Jahr 1776 kam der Spielbetrieb der Agenten
schließlich zum Erliegen.
Lateinisches und deutsches Schultheater
Im Zeichen humanistischer Bildungsbestrebungen erlebte das Schultheater im
16. Jahrhundert eine intensive Pflege. Eine Reform der städtischen Lateinschulen,
die zur Erziehungs- und Ausbildungsstätte für eine geistige Elite werden sollten,
stand am Beginn der Entwicklung. Im Rahmen des Unterrichts war nun die Lektüre von antiken Texten vorgesehen, die in den Augen der deutschen Humanisten einen hohen Bildungswert besaßen. Als Muster sprachlicher Eleganz und
moralischer Vorbildhaftigkeit galt vor allem der römische Komödiendichter
Terenz. Nachdrücklich wurde die Behandlung seiner Schauspiele im Unterricht
an den Humanistenschulen vom „praeceptor Germaniae“ Philipp Melanchthon
(1497–1560), der auch maßgeblichen Anteil an der Errichtung des Egidiengymnasiums (1526) in Nürnberg hatte, „zur Lenkung der Sitten und zur Schulung
der Beredsamkeit“ empfohlen. Zu den praktischen Übungen für die Ausbildung
der rhetorischen Fähigkeiten gehörte die Aufführung der klassischen Dramen
13
14 Theaterbegeisterte Laien – das Schauspiel in den Städten
sowie der neulateinischen Komödien, die in direkter Nachahmung der Werke
von Plautus und Terenz entstanden.
Die Bildungsfunktion des Theaters erkannte auch der Wittenberger Reformator Martin Luther (1483–1546), der sich in seinen Briefen und Tischreden wohlwollend für dramatische Vorführungen im schulischen Rahmen aussprach. So sei
die Aufführung von „Comödien“ für die Einübung der lateinischen Sprache
wichtig, mehr noch: sie dienten der sozialen und moralischen Belehrung, da dort
Personen „abgemahlet und fürgestellt werden … dadurch die Leute unterrichtet,
und ein Jeglicher seines Ampts und Standes erinnert und vermanet werde“. Galten ihm die Stücke der antiken Dichter als Modelle praktischer Lebensphilosophie, so maß er doch der Dramatisierung biblischer Stoffe größere Bedeutung zu,
um Gottvertrauen, Frömmigkeit und Heilszuversicht zu wecken. Dieser Empfehlung folgend, bildete sich nach 1530 ein neuer literarischer Typus heraus, das protestantische Bibeldrama, das die neue Glaubens- und Morallehre in sinnfälliger
Weise vor Augen zu führen suchte.
Als obligatorischer Teil des Unterrichtsprogramms wurden die szenischen
Darbietungen in die Schulordnungen aufgenommen, unter anderem in Nürnberg (1510), Landshut (1562), Rothenburg ob der Tauber (1593). Neben kleinen
Dialogen in lateinischer Sprache, wie sie Sebald Heyden (1499–1561), der Rektor
der Lateinschule zu St. Sebald in Nürnberg, verfasste, brachte man meist zu Beginn oder Ende des Unterrichtsjahres große, fünfaktige Schauspiele mit Prologen
und Epilogen auf die Bühne. Die humanistischen Schulmeister, oft auch die Verfasser der Komödien und Tragödien, verfolgten zunächst die praktische Absicht,
ihren Zöglingen sprachliche Kompetenz und gewandte Umgangsformen zu vermitteln – Fertigkeiten, die gerade im Hinblick auf die spätere Berufsausübung in
Kirche, Staat und Kommune erheblichen Wert besaßen. Schon nach kurzer Zeit
spielte das Schuldrama eine wichtige Rolle im städtischen Theaterleben. Öffentliche Darbietungen im Rathaus, vor Honoratioren und auswärtigen Gästen, galten als festliche Ereignisse, die nicht nur die Leistungsfähigkeit der schulischen
Institution unter Beweis stellten, sondern in ihrem repräsentativen Anspruch
auch der Kommune zur Ehre gereichten. Da das Schauspiel unter den literarischen Medien der Frühen Neuzeit zweifellos die breitesten Publikumsschichten
erreichte, konnten sich die schuldramatischen Aufführungen vielerorts der obrigkeitlichen Förderung erfreuen. Sie galten als nützliches Instrument zur Vermittlung stadtbürgerlicher Ideale und Wertvorstellungen; je nach konfessionellem
Standpunkt des Stadtregiments ließen sich die Spiele zudem für die Verbreitung
der alten oder neuen Glaubenslehre instrumentalisieren.
In einer Vielzahl größerer und kleinerer Städte finden sich, spätestens seit der
Mitte des 16. Jahrhunderts, Zeugnisse einer ausgeprägten Spielkultur. In Passau
begründete der bedeutende Komponist Leonhard Paminger (1495–1567), der
seit 1517 als Lehrer an der Klosterschule zu St. Nikola wirkte, mit Aufführungen
römischer Komödien und neulateinischer Dramen die Tradition des Schultheaters. Namhafte Dramatiker wirkten an der 1531 eröffneten Lateinschule bei
St.Anna in Augsburg. Sixt Birck (1501–1554) war nach Studien in Erfurt, Tübingen und Basel 1536 als Rektor in seine Geburtsstadt zurückgekehrt. In seinen
Stücken, die charakteristische Stoffe des protestantischen Bibeldramas, z.B. Susanna und Judith, behandeln, verbindet sich humanistische Gelehrsamkeit mit
Glaubensunterweisung im Sinne der Reformation, mit Tugend- und Sittenlehre.
Soziale Fragen prägen den Dialog De vera nobilitate [Vom wahren Adel], in dem
Geburts- und Tugendadel gegeneinander abgewogen werden. Alt- und neutestamentliche Stoffe, darunter eine Darstellung der Schöpfungsgeschichte (Protolastus, 1545), dramatisierte der aus Rothenburg gebürtige Humanist Hieronymus
Ziegler (um 1514–1562), der bis 1548 am St.-Anna-Gymnasium wirkte. Aufgrund der betont katholischen Auffassung, die aus vielen seiner Stücke spricht,
dürfte er 1548 als Rektor an die Poetenschule in München berufen worden sein.
Als Aufführungsort diente in der Residenzstadt München nicht nur die Aula des
Ratsgymnasiums, sondern auch die Trinkstube im Rathaus. Wiederholt bot Ziegler Aufführungen seiner Dramen (z.B. Infanticidium [Der Kindermord],1553) in
lateinischer und deutscher Sprache, um eine größere Breitenwirkung zu erzielen.
Lateinisches und deutsches Schultheater
Nachfolger von Ziegler wurde 1554 der als Dichter und Dramatiker bekannte
Martin Balticus (um 1532 bis 1601), der in Wittenberg Schüler von Philipp Melanchthon gewesen war. Seine Bühnenstücke (z.B. Daniel und Tobias, beide 1558)
blieben Rezitation. Grundsätzlich lag bei den Darbietungen im schulischen Rahmen der Akzent auf der Deklamation des Textes, in Mimik und Gebärdenspiel
war – in erklärter Abgrenzung zu der drastischen Darstellungsweise der Meistersinger – Zurückhaltung zu üben. Die Schulaufführungen bedurften in München, wie auch andernorts, der Genehmigung des Rates; entsprechend verwies
man in den Gesuchen auf den erzieherischen Charakter der Schauspiele: „… hab
Ich ain [be]sonders Christliche, Catholische und auch andächtige Tragoediam zu
Übung meiner Jugent, auch yeder menigklichen [jedermann] zu Geistlichem
nutz angerichtet“. Eine Poetenschule in humanistischem Geist existierte auch in
Landshut, wo zwischen 1561 und 1582 Bibeldramen zur Aufführung kamen; die
Rektoren der beiden Pfarrschulen St.Jodok und St.Martin veranstalteten gleichfalls „Komödien und Tragödien aus den Evangelien“. In Nürnberg ist das Schultheater in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts vor allem mit dem Namen des
Theologen Leonhard Culmann (um 1497/98–1561), Rektor an der Spitalschule,
verbunden. Seine deutschsprachigen Dramen standen im Dienst der protestantischen Lehre. So entwarf er in der Hochzeyt Isaacs und Rebecce (1547) ein von
reformatorischen Vorstellungen geprägtes Ehemodell. In dem Christenlich
Teutsch Spil wie ein Sünder zur Buß bekert würt (1550) thematisierte er die lutherische Rechtfertigungslehre, wonach nur die göttliche Gnade (sola gratia) die Erlösung des Sünders bewirke. Auch Privatlehrer wie Lorenz Rappolt traten mit
öffentlichen Aufführungen „schön christlicher Spiele“ hervor. Seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert erhielt das Schultheater durch die vom Nürnberger Rat
gegründete Akademie (1622 Universität) in Altdorf wichtige Impulse.
Spielzeugnisse aus Altbayern, Schwaben und Franken sind in großer Fülle
überliefert – unverkennbar besaß das Schultheater neben seiner bildungspolitischen Funktion eine hohe Attraktivität für die städtische Gemeinschaft. Gerade
in kleineren Orten war es nicht selten allein die Schulbühne, die das literarische
Interesse des Publikums zu befriedigen vermochte. So ist die Regelmäßigkeit zu
erklären, mit der die Lateinschüler in Amberg, Nabburg und Weiden, in Beilngries, Berching, Dietfurt und Greding, in Mühldorf, Schongau und Weilheim, in
Rothenburg und Schweinfurt – um nur einige zu nennen – dramatische Vorführungen veranstalteten. Neben geistlichen Stoffen behandelten die Spiele im
17. Jahrhundert auch zeitgeschichtliche Ereignisse. Angeregt von der Hinrichtung des englischen Königs Karl I. im Jahr 1649, führte eine Gruppe von „fremden Studenten“ in Schweinfurt „eine tragoediam vom dekollirten [enthaupteten]
König von England Carl Stuard“ auf. Noch im 18. Jahrhundert übte sich der bürgerliche Nachwuchs auf der urbanen Schulbühne, unter den Blicken von hochrangigen Gästen, im öffentlichen Auftreten, in Eloquenz und Weltläufigkeit. Und
stereotyp begründeten die Veranstalter ihre Spielgesuche weiterhin mit dem sittlich-religiösen wie auch gesellschaftspolitischen Gewinn, den die öffentliche Darbietung verspräche: So sollte am Sulzbacher Gymnasium 1745 „zu der catholischen studirenden Jugend nuzlichem Exercitio und auch dem gemeinen Wesen
zum besten“ eine Aufführung am Ende des Schuljahrs erfolgen. Angesichts des
organisatorischen und zeitlichen Aufwands, den die Vorbereitung einer repräsentativen Inszenierung bedeutete, blieben aber obrigkeitliche Eingriffe und Verbote nicht aus, da die Stadtväter durch den erhöhten Unterrichtsausfall die
erhofften positiven Wirkungen ins Gegenteil verkehrt sahen. Überhaupt verlor
das Schultheater infolge der tiefgreifenden Strukturveränderungen, die das Theaterwesen durch die Professionalisierung des Schauspielergewerbes erfuhr, alsbald
seine vormalige Bedeutung.
15
Die lateinischen Bibeldramen Rebecca und
Susanna des späthumanistischen Philologen
und Dichters Nicodemus Frischlin (1547 bis
1590) gehörten zu den beliebtesten Stücken
für die Schulbühne. In Schweinfurt veranlasste der Magistrat sogar den Druck der beiden Stücke „in usum scholae“, zum Gebrauch
und Nutzen der städtischen Lateinschule.
16 Schauspielkunst als Beruf – die Wanderbühnen im 17. Jahrhundert
Schauspielkunst als Beruf – die Wanderbühnen im 17. Jahrhundert
Commedia dell’ arte
Gastspiele italienischer Wandertruppen, die komische Improvisationen zeigten,
bildeten im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts die Anfänge berufsmäßiger
Schauspielkunst im süddeutschen Raum. Mit der Commedia dell’arte rückte die
vitale, sinnliche Aktion des Mimen in den Mittelpunkt. Der Handlungsverlauf,
der im „canevas“, einem hinter den Kulissen angeschlagenen Szenarium, lediglich grob skizziert war, bot Raum für spontane Einfälle, für burleske Nummern
(„lazzi“) und akrobatische Einlagen. Gleichwohl folgte das Stegreifspiel gewissen
Mustern, dramaturgischen Grundsituationen und -konstellationen. Erprobte
Wirkungsmittel der Commedia dell’arte sind auch die Handlungsweisen und Eigenarten der Figurentypen („Masken“): Zum Personal gehören immer die beiden „Alten“, Pantalone, der habgierige, strenge, aber einfältige Kaufmann aus Venedig, und Dottore, ein geschwätziger, bornierter Pedant aus Bologna, denen
zwei pfiffige bzw. einfältige Diener („Zanni“) gegenüberstehen; als fünfte Maske
gesellt sich oft der Capitano, die klassische Figur des Aufschneiders, hinzu.
Die erste Nachricht über die Praxis der Commedia dell’arte in München enthält eine Festbeschreibung, die der vielseitige Hofkünstler Massimo Troiano an-
Pantalone mit Dolch, gefolgt von Zanni mit Lanze und Laterne. Auf der
so genannten Narrentreppe in der Burg Trausnitz wird der Betrachter
über vier Geschosse hinweg von lebensgroßen Figuren aus der Commedia
dell’arte begleitet, die die virtuose Komik der Spielszenen unmittelbar
vergegenwärtigen.
Bande der Italienischen Comoedianten. Kupferstich von Christoph
Weigel (1654–1725), um 1720/23.
Commedia dell’ arte
lässlich der Vermählung des bayerischen Erbprinzen Wilhelm mit Renata von
Lothringen im Jahr 1568 verfasste. Schon die Turniere zu Beginn des Hochzeitsfestes wurden durch komische Interaktionen eines „vornehmen Herrn in Venetianischer Tracht mit zwei Arlequins“ aufgelockert. Einen Höhepunkt der höfischen Lustbarkeiten bildete ein von Massimo Troiano und Orlando di Lasso – die
auch die Rollen des Capitano bzw. Pantalone übernahmen – entworfenes Stegreifspiel, dessen Handlungsgerüst in den Dialoghi überliefert ist. Die diversen Intrigen und Verwicklungen waren für die begabten Laiendarsteller Anlass, ein
Feuerwerk verbaler, mimischer und gestischer Einfälle zu entfachen. Für die Erheiterung der Gäste sorgten Verwechslungs- und Prügelszenen oder die Verkehrung sozialer Verhältnisse: Nach einem artistischen Begrüßungsritual zwischen
Pantalone (Herr) und Arlequin (Diener) kommt es zum Kleidertausch, der Ersteren in peinliche Situationen bringt; unfähig, seine Dienerrolle auszufüllen,
trumpft er zornig mit seiner adligen Herkunft auf, was ihm – dem scheinbaren
Lügner – eine Tracht Prügel einträgt.
Beeindruckt von der komödiantischen Improvisationskunst, förderte Wilhelm
auch nach seiner Übersiedlung auf die Burg Trausnitz bei Landshut die Commedia dell’arte. 1569 unterhielt eine Truppe italienischer Berufsschauspieler unter
der Leitung des Prinzipals Jacopo di Venetia die höfische Gesellschaft; auch gehörten über Jahre hinweg „Zani Springer“ zum Hofstaat. Erst der finanzielle Zusammenbruch der Landshuter Hofhaltung 1575 setzte dem Komödienspiel ein
Ende. Gleichsam als Erinnerung an den Zauber, den die spontane Erfindungskraft der Mimen entfaltet hatte, entstanden die illusionistischen Wandmalereien
(1575/79) des Alessandro Scalzi gen. Padovano in der Burg Trausnitz.
17
Der tanzende Scaramuz und die in die Lektüre eines Liebesbriefes versunkene Corine in der
von F.A. Bustelli um 1760 geschaffenen Ausformung.
Die Figur der Corine wird seit 2001, abwechselnd von großen Modedesignern farblich gestaltet, jährlich als Internationaler Buchpreis
verliehen.
18 Schauspielkunst als Beruf – die Wanderbühnen im 17. Jahrhundert
Seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert entwickelte sich der Heilsbronner Hof in Nürnberg zu einer beliebten Spielstätte für wandernde Komödianten und Artisten. Gespielt
wurde unter freiem Himmel auf einem primitiven Podium vor der Nikolauskapelle oder
– wie die auf 1623 datierte Darbietung der
„Klopffechter“ zeigt – auf einer vertieften
Fläche in der Mitte des Platzes. Der große
Hofraum der Gastwirtschaft bot günstige
Sichtmöglichkeiten für die Zuschauer, die das
bunte Treiben vom Stehparterre oder von den
umliegenden Galerien aus verfolgen konnten.
Der geizige venezianische Kaufmann Pantalone wie ihn F.A. Bustelli erlebte (um 1760).
Über 100 Jahre später erlag Kurfürst Max Emanuel dem Zauber italienischer
Komödianten. Mit den Venezianern Giovanni Nanini (1684 –1686), der eine
zwanzigköpfige Kompanie leitete, und Francesco Calderone (1687–1691) gastierten zwei Meister des virtuosen Stegreifspiels am Münchner Hof.
Fanden die Truppen der Commedia dell’arte bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts ihre wichtigsten Mäzene fast ausschließlich an den Fürstenhöfen, so erschlossen sich die Italiener in den folgenden Jahrzehnten auch das bürgerliche
Publikum der Städte. Zahlreiche Ensembles hinterließen ihre Spuren auf den
Jahrmärkten. Zugleich schöpfte das populäre Marionettentheater aus dem Fundus des virtuosen Stegreifspiels. Erstmals wird 1649 in Nürnberg von einem italienischen Komödianten berichtet, „so den Pollizinello mit kleinen Dockelein
[Puppen] agiret hat“; mit dem unverschämt redenden und handelnden Bauern
Pulcinella konnten die Zuschauer eine komische Maskenfigur in der Tradition
des älteren Arlecchino erleben. Zeugnis für die auch im 18. Jahrhundert ungebrochene Beliebtheit der sich verändernden Commedia dell’arte geben mehrere
Gastspiele italienischer Wandertruppen in Regensburg, wo die burleske Improvisationskunst der Schauspieler eine große Menge von Zuschauern in die Herberge zum Goldenen Kreuz lockte. Der Attraktivität dieser körperbetonten
Schauspielform mit ihren Tanz-, Musik- und Zaubereinlagen, deren Einfluss auf
die deutsche Bühnenkunst Theaterreformer wie Johann Christoph Gottsched
(1700–1766) zurückzudrängen versuchten, konnte sich auch die bildende Kunst
nicht entziehen: Ein Hauptwerk des süddeutschen Rokoko bilden die 16 graziösen Kleinplastiken, die Franz Anton Bustelli (1723–1763) für die Porzellanmanufaktur Nymphenburg fertigte – und aus deren Mitte der Pierrot heute beim jährlichen Bayerischen Filmpreis an darstellende Künstler verliehen wird.
Die englischen Komödianten
Eine nachhaltige Bedeutung für die Entwicklung des deutschen Theaters erlangten englische Berufstruppen, die infolge der wachsenden Konkurrenz im eigenen
Land den Kontinent bereisten und erstmals 1586/87 auch nach Deutschland
kamen. Als Verkehrs- und Nachrichtenzentren besaßen insbesondere die süddeutschen Reichs- und Residenzstädte eine immense Anziehungskraft. Von den
Die englischen Komödianten
verschiedensten Teilen des Alten Reichs aus langten die
wandernden Schauspielergesellschaften in Nürnberg (ab
1593) und Augsburg (ab 1596), in Memmingen, Dinkelsbühl, Nördlingen, München, Regensburg, Passau und
Rothenburg an, darunter die bekannten Ensembles eines
Robert Browne, Thomas Sackville, John Green, John Spencer oder Robert Reynolds, die als „Stars“ gefeiert wurden.
Eine Zäsur bildete der Dreißigjährige Krieg, der dem bunten Bühnentreiben an vielen Orten vorerst ein Ende setzte;
so findet sich in Nürnberg zwischen 1628 und 1649 kein
Hinweis auf die Anwesenheit von Wandertruppen. Erst
nach dem Westfälischen Frieden setzte ein neuerlicher
Strom der Theaterbanden ein.
Der neuartige, professionelle Aufführungsstil der englischen Komödianten wurde – zumindest in der ersten Wanderzeit – von den deutschen Zuschauern geradezu als Sensation empfunden. Tief beeindruckt zeigte sich der Nürnberger Patrizier Balthasar Paumgartner in einem Brief an
seine Frau: „Die habenn so ein herrliche, guette musica,
unnd sinnd sie so perfect mitt springen, tantzen, deren gleichen ich noch nye gehoertt noch gesehen hab.“ Aufgrund
der Sprachbarriere setzten die Berufsschauspieler bei ihren
Auftritten auf Mimik und Gestik, auf akrobatische Kunststücke und komische Pantomimen. Unter großem Aufwand von Requisiten und Kostümen, mit Gesangs- und
Tanzeinlagen entfaltete man beträchtlichen Bühnenzauber,
um Aufmerksamkeit zu erregen – mit Erfolg, wie der Bericht eines zeitgenössischen Chronisten verdeutlicht;
danach hatten die Engländer in Nürnberg „etliche schone
Comedien“ gehalten und „darbey eine gute liebliche Musica gehalten. Auch allerley wölsche [italienische] tantze mit
wunderlichem vertrehen, hupfen, hinter und fur [vor] sich
springen, uberworffen und andern seltzamen geberten getrieben, welches lustig zu sehen; dahin ein groß Zulauffen
von Alten und Jungen, von Man und weibs Personen, auch
1620 erschien eine Textsammlung der Engelischen Comedien und
Tragedien, beliebten Repertoirestücken der reisenden Schauspielervon Herrn deß Raths und Doctorn geweßen“. Das körperbetonte Spiel und die oftmals grelle, drastische Darbie- gesellschaften, die auf dem Titelblatt mit dem Namen des Pickeltungsform zogen die Zuschauer in Bann. Man „murmelte“ herings warb.
und „schrie“, „seufzte“, „weinte“, „zitterte und bebte“ – wie
den Regieanweisungen zu entnehmen ist – und schreckte
auch vor blutigen Effekten nicht zurück: „laufft mit dem Kopf an die Wand, daß
das Blut unter dem Hut herfür tringet, welches mit einer Blase gar wohl gemacht
werden kann“. Selbstverständlich arbeiteten die Schauspieler mit vielerlei Illusionstricks, mit Schminke, Ochsenblut und dergleichen, doch präsentierte man
auf der Bühne durchaus ein „Theater des Schreckens“, vergleichbar mit der Praxis
öffentlicher Exekutionen, die im 16. und 17. Jahrhundert auf Marktplätzen, vor
dicht gedrängtem Publikum, theatralisch inszeniert wurden.
Hauptattraktion für die Zuschauer aber wurde die Figur des Pickelhering.
Unter diesem Namen trat der Clown, die lustige Person, auf den Schauplatz, ein
Possenreißer, derb, triebhaft, unmoralisch, der die Pausen zwischen den Akten
verkürzte und inmitten der zum Teil blutigen Szenen für „Entspannung“ sorgte.
Das Repertoire der englischen Komödianten umfasste sämtliche Zugstücke
der elisabethanischen Dramatik: Christopher Marlowes Doctor Faustus und The
Rich Jew of Malta oder Thomas Kyds Spanish Tragedy ebenso wie Shakespeares
King Lear, Julius Ceasar, Hamlet, Othello, Titus Andronicus, The Merchant of Venice
und so fort. Dargeboten wurden die Stücke nicht selten in verkürzter, verballhornter, auf die äußere Handlung reduzierter Form. Spielten die englischen
Truppen anfangs noch in ihrer Muttersprache, so brachte man bereits um 1605
deutsche Bearbeitungen auf die Bühne. Ein Aufführungsgesuch an den Rat der
19
20 Schauspielkunst als Beruf – die Wanderbühnen im 17. Jahrhundert
Stadt Rothenburg aus dieser Zeit nennt unter anderem Pyramus und Thysbe nach
Shakespeares A Midsummer Night’s Dream. Moralischen Bedenken der städtischen Obrigkeiten begegnete man mit dem Angebot, religiöse Spiele aufzuführen, wobei sich die Comedia von dem verlorenen Sohn oder die Comedia von der
keuschen Susanna besonderer Beliebtheit erfreuten. Demselben Zweck galt das
Versprechen einer Schauspielergesellschaft, die 1604 in Nördlingen um eine
Spielbewilligung nachsuchte, „den Zuhörenden, sonnderlich aber der Jugenndt
zur Furcht unndt Ehr Gottes, Auch gehorsam Ihrer Eltern, Feine Exempla Fürstellen“ zu wollen.
Kam es auch selten zu einer dauerhaften Bindung der fahrenden Truppen an
die Höfe, so wurden die Berufsschauspieler doch gelegentlich in den Dienst höfischer Repräsentation genommen. So spielte eine englische Truppe, die unter dem
Protektorat des Landgrafen Moritz von Hessen-Kassel stand, 1612 bei den großen
Festlichkeiten anlässlich der Vermählung des Ansbacher Markgrafen Joachim
Ernst mit Sophia von Solms-Laubach. Und in Regensburg brachte John Spencer
in Anwesenheit des kaiserlichen Hofstaats das Historienspiel Die Einnahme von
Konstantinopel als Prunkinszenierung mit beträchtlichem Ausstattungsaufwand
auf die Bühne.
Als letzter bedeutender Vertreter der englischen Prinzipale,die im 17.Jahrhundert mit ihren Truppen die Territorien des Alten Reichs durchzogen, kann George
Jolly ( Joris Joliphus) gelten. Über Brügge, Köln und Frankfurt erreichte er spätestens 1652/53 Nürnberg, wo er in der Zeit bis 1660 fast im Jahresrhythmus gastierte. Zu seinen Stationen gehörten weiterhin Regensburg, Augsburg, Ansbach,
Rothenburg, Schweinfurt und Windsheim. Die großen Erfolge dieser Kompanie,
der auch „Hochteutsche Personen“ angehörten, beruhten offenbar auf den Neuerungen, die Jolly dem Publikum zu bieten hatte. So hatte er niederländische
Stücke, Bearbeitungen französischer Dramen, Pastorellen und Singspiele aus Italien sowie zeitgenössische deutsche Dramen in sein Repertoire aufgenommen,
darunter Johann Rists allegorisches Friedensspiel Das Friedewünschende Teutschland, das er 1653 während des Reichstags zu Regensburg vor Kaiser Ferdinand III.
zur Aufführung brachte. Erhalten blieb ein Exemplar des Spieltextes mit handschriftlichen Eintragungen, die belegen, dass bei diesem Gastspiel – erstmals auf
deutschen Bühnen – Frauen als Darstellerinnen auftraten. Auch verfügte der
Prinzipal nach Auskunft eines Theaterzettels offenbar über eine mit Prospekten
und Kulissen ausgestattete Illusionsbühne, über nach „Italienischer Manier gezierte Theatra“. Angesichts der omnipräsenten Konkurrenz erwiesen sich diese
kostspieligen Einrichtungen als notwendig, um das Publikums halten zu können. Werbenden Charakter hatte natürlich auch die Ankündigung, bei seinem
Gastspiel in Rothenburg den „rechten Englischen Pickelhering“ zu präsentieren
und „nach Frantzösischer Manier mit rechten Frawenzimmern“ agieren zu wollen. Die Bedeutung des George Jolly für das Theaterleben in den süddeutschen
Städten ist kaum zu überschätzen, konnte doch das Publikum in seinen professionellen Inszenierungen die große Bühnenwelt Europas erleben.
Deutsche Wandertruppen
Hatten an den Produktionen der englischen Wanderbühne zunehmend auch
deutsche Akteure, wohl überwiegend Studenten und Handwerksgesellen, mitgewirkt, so bildeten sich erst in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts eigenständige Theaterbanden unter deutschen Prinzipalen aus. Dabei nutzte man anfangs
durchaus das Prädikat „Englische Komödianten“, das noch etliche Jahre als Gütesiegel galt, um beim Publikum anzukommen. Glaubte man dann, die eigene
Spielkunst hinreichend unter Beweis gestellt zu haben, reiste man unter dem
Namen „Teutsche Comoedianten“. Zu den namhaften Truppen, die im süddeutschen Raum wirkten,zählen die Ensembles von Carl Andreas Paulsen (geb.1620),
Michael Daniel Treu (um 1634–1708), Johannes Velten (1640–1692), Catharina
Elisabeth Velten (gest. 1712), die nach dem Tod ihres Mannes die Prinzipalschaft
Deutsche Wandertruppen
21
Werbewirksam kündigten die „Teutschen
Comoedianten“ unter Michael Daniel Treu
den Auftritt der lustigen Person, der in der
Tradition der englischen Wanderbühne den
Namen „Pickelhering“ trägt, als besondere
Attraktion an.
Wortreich verwies der Theaterzettel, die Neugier der Zuschauer reizend, überdies auf die
darstellerischen, musikalischen („angenehme
Music und liebliches Singen“) und szenischen
Möglichkeiten des Unternehmens, auf Dekorationen und Kostüme.
übernommen hatte, und Andreas Elenson (gest. nach 1706). Von theatergeschichtlicher Bedeutung ist die deutsche Wanderbühne durch eine erhebliche
Erweiterung des Repertoires um spanische, italienische, französische und niederländische Barockdramen.
Carl Andreas Paulsen war zwischen 1652 und 1676 ein oft gesehener Gast in
Nürnberg, wo er die Gunst des Publikums genoss. Höhepunkt war ein Gastspiel
im Sommer 1667, als er über zehn Wochen lang im Fechthaus, dem ersten städtischen Theaterbau im Alten Reich, auftrat (Abb. S. 50). In 30 Aufführungen präsentierte er sein vielschichtiges Repertoire: Komödien von Calderón und Lope de
Vega, italienische Schäferspiele wie Giacinto Andrea Cicogninis Don Gastone di
Moncada, die „Klassiker“ der elisabethanischen Dramatik: Kyd, Marlowe und
Shakespeare, die beliebten Schauertragödien Aran en Titus und Medea des Niederländers Jan Vos, dazu Stücke deutschsprachiger Autoren ( Johann Rist, Daniel
Casper von Lohenstein) sowie Komödien von Molière (Der alte Geizhals, Der eingebildete Kranke). Freilich brachte man die dramatischen Werke der Weltliteratur
meist in Fassungen zur Vorführung, die auf die Bedürfnisse der Wanderbühne zugeschnitten waren, das heißt: auf das Handlungsgerüst reduziert, mit spektakulären Szenen wie Geistererscheinungen und Teufelsauftritten, welche die
Schau- und Schauerlust des Publikums zu befriedigen vermochten.
Ein guter Ruf eilte den „Teutschen Comoedianten“ des Michael Daniel Treu
voraus, die 1668 in Nürnberg eintrafen und sogleich eine Spielbewilligung erhielten. Ein Theaterzettel versprach „etliche schöne Actiones von Comoedien,
Tragoedien und Schäffereyen, welche sie ausziehren werden mit rechten FrauenZimmer, angenehmer Music und lieblichen Singen“. Schauspiele wie Die Egyptische Olympia boten hinreichend Gelegenheit, auf der Bühne orientalischen Zauber zu entfalten. Nach einer erfolgreichen Spielzeit zog Treu im August 1669
nach München, wo es ihm gelang, als „Hofkomödiant“ in den kurfürstlichen
Dienst aufgenommen zu werden – erstes Zeugnis für die Bindung einer deutschen Schauspielergesellschaft an einen bayerischen Hof. Im St.-Georgs-Saal der
Münchner Residenz, auf einer Verwandlungsbühne aus Holz, sowie in den
Schlössern Dachau und Schleißheim bot Treu – höfischen Geschmacksmustern
22 Schauspielkunst als Beruf – die Wanderbühnen im 17. Jahrhundert
Der Kupferstich von Abraham Wolfgang Küffner (1760–1817) zeigt eine typische Spielstätte der reisenden Schauspielergesellschaften,
eine provisorisch aufgeschlagene Holzbude.
Brauch der Wandertruppen war es, die Spielzeit in einer Stadt mit einer so genannten
Ratskomödie zu beenden. Als Dank für die gewährte Spielbewilligung lud man die Ratsherren zu einer festlichen Abschiedsvorstellung, natürlich verbunden mit der Erwartung,
eine „Verehrung“, also ein Geldgeschenk, für diese repräsentative Darbietung zu erhalten.
gehorchend – italienische Pastorellen und
Ballette, aber auch eine Bearbeitung von
Shakespeares King Lear, freilich im Stil der
Wanderbühne verkürzt auf „eine materien
worin die ungehorsamkeit der Kinder gegen
Ihre Elder wirt gestraffet, die gehorsamkeit
aber belohnet“. Das Privileg eines Hofkomödianten sicherte Treu wesentliche Pfründe.
So durfte er neben seinen höfischen Verpflichtungen im Rathaussaal spielen, wo er
von den Besuchern ein Eintrittsgeld verlangen konnte.
Mit Johannes Velten, der sich 1665 der
Truppe Carl Andreas Paulsens (ab 1678 dessen Nachfolger) angeschlossen hatte, trat ein
Prinzipal mit akademischer Ausbildung auf
die Bühne. Bemerkenswert ist sein Versuch,
den literarischen Eigenwert dramatischer
Werke bei der Stückauswahl zu berücksichtigen. Im Mittelpunkt sollte ein geschlossenes
Handlungsgebäude stehen, nicht länger eine
bloße Revue bühnenwirksamer Szenen. Die
„Chur-Sächsischen Hof-Comödianten“ fanden über Jahrzehnte ihr Publikum und ihr
Auskommen; ausgedehnte Tourneen führten
Johannes Velten, ab 1693 seine Witwe Catharina Elisabeth mehrfach nach Nürnberg,
Augsburg, München und Regensburg.
Oster- und Passionsspiele
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Im beständigen Konkurrenzkampf der Truppen mochte die Verleihung eines Privilegs, das manche Sicherheiten auf den Reisen bot, einen Vorteil bedeuten. So zogen „Fürstlich Eggenbergische Hofkomödianten“, „Sachsen-Merseburgische Hofkomödianten“, „Kurfürstlich
Bayerische Komödianten“ oder „Hochfürstlich Bayreuthische Hofkomödianten“ durch die süddeutschen Reichsstädte. Nicht selten wütete ein erbitterter Streit um die Gunst der Stadtväter, die man unter
anderem mit kostenlosen Probevorstellungen zu gewinnen suchte.
Für die Gewährung einer Konzession revanchierten sich die Wandertruppen dann mit einer so genannten Ratskomödie am Ende der
Spielzeit. „Zu unterthänigen Ehren und schuldiger Danck-Bezeigung“
– so die Formulierung im Titel eines Nürnberger Programmheftes –
lud man die Ratsherren zu einer festlichen Abschiedsvorstellung. Den
Stücken war ein Vorspiel oder Prolog vorangestellt, die der Huldigung
der geladenen Gäste dienten. Im Interesse der Sympathiewerbung gestalteten die Komödianten die gesamte Aufführung als repräsentative
Feier für die Stadtväter, deren Gunst sie so zu erhalten suchten. In ähnlicher Weise wusste auch die städtische Obrigkeit die Ratskomödien
für ihre Interessen zu instrumentalisieren. Als bedeutender Teil urbaner Fest- und Theaterkultur halfen die Ehrenvorstellungen, das kulturelle Ansehen der Stadt zu vermehren.
Einladungsheft zu einer Ratskomödie in Regensburg, 1711.
Sinnliche Glaubensinszenierung –
die Oster- und Passionsspiele
Die theatralische Bearbeitung der Leidens- und Auferstehungsgeschichte Christi
hat im deutschen Sprachraum eine lange Tradition. Erwachsen sind die geistlichen Spiele des Mittelalters aus der Liturgie der römischen Kirche. Ihre Keimzelle war der Ostertropus „Quem quaeritis“, der in Form eines Wechselgesangs die
Auferstehungsbotschaft verkündete. Im Besuch der drei Marien am leeren Grab
war die Möglichkeit zur dramatischen Ausgestaltung der lateinischen Osterfeier
angelegt, der sich weitere Episoden (Benachrichtigung der Jünger, Apostellauf,
Erscheinung des Auferstandenen vor Maria Magdalena) hinzufügen ließen. Die
szenische Darstellung des Ostergeschehens ließ das pastorale Bestreben erkennen,
dem Volk, das der lateinischen Kirchensprache nicht mächtig war, die christliche
Heilslehre bildhaft vor Augen zu führen. Bis in die Mitte des 16. Jahrhunderts, als
der Gesang von Tropen durch das Konzil von Trient unterbunden wurde, waren
die liturgischen Osterfeiern eine beliebte Form religiöser Unterweisung. Das so
genannte Regensburger Osterspiel (vor 1542), eine Folge von 11 lateinischen Gesängen und 17 deutschen „Szenen“, gibt schon eingangs seine pädagogische Absicht zu erkennen, wenn ein Engel mit den Worten auftritt: „Merckhendt was
dies spil bedeut, Christus unser schöpffer und gott, Nach dem Er gelitten hatt den
todt, Durch welchen mir arme sünder sind worden gottes kinder“.
Neben dieser einfachen Form einer dramatischen Osterfeier im Kirchenraum
entwickelten sich bald umfangreichere Oster- und Passionsspiele. Mit der Erweiterung des Stoffes – der bisweilen die gesamte Heilsgeschichte umfasste – wurde
der theatralische Moment stärker betont. Die Zahl der Mitwirkenden wuchs in
die Hunderte, als Spielort für die volkssprachigen Aufführungen, die sich mitunter über mehrere Tage erstreckten, dienten nun die Marktplätze der Städte. So
setzte man 1460 in Memmingen, auf dem heutigen Weinmarkt, ein zweitägiges
24 Sinnliche Glaubensinszenierung – die Oster- und Passionsspiele
In Oberammergau setzte man die Passion
Christi im 18. Jahrhundert mit beträchtlichem
Ausstattungsaufwand in Szene. Insbesondere
die sorgfältig gearbeiteten Kostüme aus teuren Materialien, wie hier Gewand und Kopfbedeckung des Hohenpriesters Kaiphas, übten
große Faszination auf das Publikum aus.
Passionsspiel in Szene. Aus dem letzten Viertel des 15. Jahrhunderts stammt eine
bis zur Säkularisation im Augsburger Benediktinerkloster St. Ulrich und Afra
aufbewahrte Spielhandschrift. Der Text setzt ein mit der Beratung der Juden, gefolgt vom rührenden Abschied Christi von Maria (Bethanienszene); das Abendmahl, die Ölbergszene und der ausführlich dargestellte Leidensweg schließen
sich an; nach der Auferstehung begibt sich Christus in die Vorhölle, um die dort
wartenden Gestalten aus dem Alten und Neuen Testament zu erlösen; mit dem
Grabbesuch der Frauen endet das Spiel. Die „Augsburger Passion“, die in ihrer
Testgestalt – insbesondere der stark betonten Rolle der Gottesmutter – den Einfluss franziskanischer Geistigkeit spiegelt, zählt zu den wenigen spätmittelalterlichen Spielen, die noch in späterer Zeit eine beträchtliche Ausstrahlungskraft
entwickelten.
Bedeutete das Einsetzen der Reformation auch vielerorts einen Bruch mit
überkommenen Frömmigkeitsformen, so brachte man doch im süddeutschen
Raum weiterhin das Leiden und Sterben Christi auf die Bühne. Eine Belebung
des geistlichen Spiels bedeuteten insbesondere die dramatischen Kunstübungen
der Meistersinger. 1565 wurde in Augsburg eine Passion des Lehrers Sebastian
Wild aufgeführt, die 1566 in Druck erschien: Ein schöne Tragedj, auß der heyligen
schrifft gezogen, Von dem Leyden und sterben, auch aufferstehung unsers Herren Jesu
Christi. Ganz offensichtlich verfolgte das Stück eine moralische Wirkungsabsicht, wobei neben der Aufführung auch das gedruckte Wort seine Wirkung
entfalten sollte: Mit „nutz“ und „besserung“ sei es zu lesen und zu hören, wie der
Verfasser im Titel bekundete. Eine rege Tradition bildete sich auch in Kaufbeuren
heraus. Neben der Vita Christi des Augsburger Meistersingers Daniel Holtzmann,
die man 1581 im reichsstädtischen Kornhaus inszenierte, boten die Passions-,
Oster- und Auferstehungsspiele des Prädikanten Michael Lucius (1562) und des
Lateinschulmeisters Johannes Brummer (1586) dem Publikum auf wirkungsvolle Weise religiöse Unterweisung. Im Auftrag des Amberger Magistrats verfasste
Hans Sachs 1558 „nach dem Text der vier Evangelien“ ein geistliches Schauspiel
mit dem Titel Der gantz Passion. Überaus bemerkenswert ist die Tatsache, dass gerade das Stück des reformatorischen Autors, der in der strengen Konzentration
auf den Ernst der biblischen Begebenheiten ganz dem Geist Luthers folgte, in
hohem Maße auf das Passionsspiel im katholischen süddeutsch-österreichischen
Raum einwirkte.
Als sinnliche Frömmigkeitsübung wurde die dramatische Inszenierung der
Passion Christi auch in den Dienst der Gegenreformation gestellt. Einen entscheidenden Anstoß gaben erneuerte Orden wie die Franziskaner und Kapuziner, die sich unter Rückgriff auf überkommene Bräuche und Kultformen um die
Intensivierung der religiösen Praxis in der Papstkirche bemühten. Zu den eindrucksvollsten Visualisierungen des Leidens und Sterbens Christi zählten die
Karfreitagsprozessionen. Die von den Gläubigen bei diesen Bußumzügen mitgeführten oder auf Tragebühnen und Wagen transportierten Gemälde, hölzernen
Figuren, Marter- und Bußwerkzeuge, die von Laienspielern vorgestellten „lebenden Bilder“, die „Sprüche“ und dramatischen Spieleinlagen ergaben eine Figuralprozession von schlechthin schauspielartigem Charakter. Auf die leidenschaftliche Anteilnahme der Bevölkerung und auf ihren blutigen Bußernst deuten die
zahlreichen Gruppen von Kreuzträgern, Geißlern und „Ausgespannten“, die sich
an den Umzügen beteiligten. Die Übergänge zwischen den theatralisch ausgestalteten Prozessionen und eigenständigen Passionsdramen in künstlerischer
Durchformung – mit allegorischen Prologen, Parallelhandlungen und musikalischen Zwischenspielen – waren fließend. Im oberpfälzischen Kemnath erfolgte
offenbar ein Wechsel zwischen szenisch-dialogischen Ölbergandachten, eigenen
„Oelbergs-Exhibitiones“, die die biblische Geschichte im Garten Gethsemane
dramatisch nachvollzogen, Karfreitagsumzügen mit variablen Vorführungen
und in sich geschlossenen Passionskomödien, die vom Beginn der eigentlichen
Leidensgeschichte mit der Beratung der Schriftgelehrten, dem Verrat des Judas
und der Gefangennahme auf dem Ölberg über die Verhandlungen vor dem
Hohen Rat und Pilatus, über Kreuzweg, Kreuzigung und Tod bis zur Grablegung
reichten. Gespielt wurde auf den Marktplätzen, an verschiedenen Handlungs-
Oster- und Passionsspiele
orten während der Prozession oder auf einem festen „Theatrum“, einer Podiumsbühne vor der Kirche oder dem Rathaus. Aus dem intensiven Kontakt zwischen
Zuschauern und Spielern erwuchs eine – gleichsam liturgische – Gemeinschaft,
die allen Beteiligten die Möglichkeit zum gläubigen Nachvollzug des Leidens
Christi bot.
Vom Ende des Dreißigjährigen Kriegs bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts erlebten die geistlichen Spiele eine Blütezeit. In Städten und Märkten, doch
auch in vielen Dörfern wurde der Leidensweg Christi mit allen Mitteln barocker
Theaterkunst vorgeführt; über 175 Spielorte sind in den heutigen Regierungsbezirken Ober- und Niederbayern, Oberpfalz und Schwaben bezeugt. Bisweilen
fanden die volkstümlichen Glaubensinszenierungen selbst das Interesse der
bayerischen Landesfürsten. So berichtete der Weilheimer Stadtpfarrer Johann
Aelbl, Verfasser der wirkungsmächtigen Tragoedia Passionis. Traurige Spill des
bittern Leidens und Sterbens unseres lieben Herrn einigen Erlösers, Haylands und
Seligmachers Jesu Christi, von einem Besuch Wilhelms V. im Jahr 1600; und auf
Befehl seines Nachfolgers Maximilian I. wurden der Spielgemeinschaft später sogar Kostüme aus dem „Churfürstlichen Operahaus“ in München zur Verfügung
gestellt.
Unter den Passionsspielen des 17. und 18. Jahrhunderts finden sich nur vereinzelt originäre Schöpfungen, meist lassen sich für die überlieferten Spielhandschriften mehr und weniger umfangreiche Übernahmen aus älteren Texten feststellen. Die älteste überlieferte Textfassung der Oberammergauer Passion von
1662 zeigt – um ein Beispiel herauszugreifen – im Wortlaut viele Übereinstimmungen mit dem spätmittelalterlichen Passionsspiel von St. Ulrich und Afra
sowie der1566 gedruckten Passionstragödie des Augsburger Meistersingers Sebastian Wild; für die Aufführung von 1674 erweiterte man den Text um Verse aus
einem Auferstehungsspiel (Comedia Resurrectionis Domini) des Johann Aelbl, das
seinerseits unter anderem auf dem protestantischen Spiel Das lyden unsers Herren
Jesu Christi (1545) des Zürichers Jacob Rueff basierte. Trotz der vielfältigen Verbindungslinien mochten in den Dramen auch landschaftliche Eigenarten zur
Geltung kommen; nur selten überliefert sind Beispiele urwüchsiger Volkssprache, wie sie wohl allerorten von den Teilnehmern der geistlichen Veranstaltungen gepflegt wurden: „Furt, furt, an’s Kreuz, an’s Kreuz mit dir! Moanst wohl
gar, wir gehn mit dir zum Bier? Moanst, wir gehn zum Zisibecken? A braune Maß
Bier tät dir wohl schmecken, A Batzenlaible a dazua, Wenn ich no g’nuag gebn
thua? Moanst, wir thuon dir Küchlen bachen – I will dir’s mit der Pritsch glei anderst machen!“ – so die drastischen Spottverse der Schergen, die Jesus auf seinem
Schmerzensweg in Mittenwald begleiten.
Bereits in der Mitte des 18. Jahrhunderts überragte Oberammergau, wo die
fromme Darbietung auf ein Gelübde des Jahres 1634 zurückging, durch seine
Anziehungskraft und Ausstrahlung alle Passionsspielorte. In einem Spielgesuch
an Kurfürst Maximilian III. Joseph von 1770 führten die Gemeindevorsteher aus,
dass in den vorausgegangenen Spielzeiten 1740, 1750 und 1760 bis zu 14000 Personen den Aufführungen zugesehen hätten: Aus „Bayern, Tyroll, Schwaben und
dem Reich, item aus den Stätten München, Freysing, Landshut, Innspruckh und
Augsburg“ seien die Besucher herbeigeströmt. Die ersten Aufführungsnachrichten stammen aus dem Jahr 1674; seit 1680 spielte man jeweils zum vollen Jahrzehnt, spätestens seit 1720 auf einer barocken, auf perspektivische Wirkung hin
angelegten Kulissen- und Vorhangbühne. Mit Pater Ferdinand Rosner (1709 bis
1778) aus dem Benediktinerkloster Ettal schuf ein Dichter eine grundlegende
Neufassung des Spiels, eine Passio Nova, die den Titel Bittereß Leyden, Obsiegender
Todt, und Glorreiche Auferstehung des Eingefleischten Sohn Gottes trägt und nahezu
8500 Verse umfasst. Zur Betrachtung der sich in der Opfertat Christi offenbarenden Liebe Gottes, zu Buße und Umkehr möchte er die Zuschauer anregen. Weithin stand Oberammergau im Blickpunkt, vielerorts diente das fromme Spiel als
Vorbild und Anregung. In Kiefersfelden und Oberaudorf, in Freising, Tölz, Dachau und Pfarrkirchen übernahm man den Oberammergauer Spieltext und auch
für die berühmten Tiroler Passionsspiele von Erl und Thiersee wurde die Passio
Nova zum Leitbild.
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26 Die Bühne als Kanzel – das katholische Ordenstheater
War das geistliche Schauspiel im Zuge der durch das Konzil von Trient (1545
bis 1563) ausgelösten Erneuerung der katholischen Kirche über Generationen
hinweg gefördert worden, so rückte der hohe Klerus seit Beginn des 18. Jahrhunderts zunehmend von theatralischen Vorführungen der Leidensgeschichte
Christi ab. Die Kritik entzündete sich an der Veräußerlichung der volkstümlichen Spielformen, an angeblichen oder tatsächlichen Entgleisungen und Missbräuchen, letztlich aber bot – beeinflusst vom aufklärerischen Zeitgeist – ein veränderter katechetischer Ansatz den Anlass für die massiven Angriffe, da man nun
auf eine rein verbale Vermittlung des Heilsgeheimnisses setzte. Auf Drängen der
geistlichen Oberbehörden verstärkte sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auch die staatliche Reglementierung der Passionskomödien und Karfreitagsprozessionen. Am 31. März 1770 erging ein kurfürstliches Generalverbot für
die geistlichen Spiele „in Anbetracht, daß das große Geheimnis unserer geheiligten Religion keineswegs auf die Bühne gehöre.“ In vielen Gemeinden kam es
noch lange Zeit zu Auseinandersetzungen zwischen der spielfreudigen Bevölkerung auf der einen Seite und dem „aufgeklärten“ Stadtpfarrer sowie den geistlichen und weltlichen Behörden auf der anderen Seite, letztlich aber bereiteten
die obrigkeitlichen Kontrollen dem sensitiven Frömmigkeitsstil am Ausgang des
18. Jahrhunderts ein weitgehendes Ende. Eine Ausnahme bildete Oberammergau, wo nach einer einmaligen Pause im Jahr 1770 bereits zur nächsten Spielzeit
1780 ein neues Privileg erteilt wurde.
Die Bühne als Kanzel –
das katholische Ordenstheater
Das Jesuitentheater
Als Bildungsinstrument im Sinne ihres gegenreformatorischen Auftrags nahm
das Theater in den Schulen der 1540 gegründeten Gesellschaft Jesu einen hohen
Stellenwert ein. In der Verbreitung, Förderung und Festigung des katholischen
Glaubens lag ein wesentlicher Akzent der dramatischen Bemühungen des Ordens. Wichtige Impulse empfing die jesuitische Theaterarbeit vom Humanismus.
Eine gediegene Ausbildung der Jugend, eine solide Kenntnis der antiken Klassiker und die vollständige Beherrschung der lateinischen Sprache in geschriebener
und gesprochener Form galten der Gesellschaft Jesu als unerlässlich, um den notwendigen Reformen innerhalb der römischen Kirche zum Erfolg zu verhelfen.
Mit anderen Worten: Das Wohl der katholischen Religion beruhte nach ihrer
Überzeugung auf der unablässigen Bekämpfung von geistiger Trägheit und Verelendung. Insbesondere das Theater erschien – analog zur Praxis an den protestantischen Gelehrtenschulen – als ein vorzüglich geeignetes Medium, um auf
spielerische Weise humanistische Inhalte zu vermitteln und lebenspraktischen
Unterricht zu erteilen. Durch die Mitwirkung an den dramatischen Vorstellungen sollten die Schüler bzw. Studenten, wie der jesuitische Pädagoge, Philologe
und Dramatiker Jacobus Pontanus (1542–1626) schrieb, ihre lateinische Sprachfähigkeit schulen, ihr Gedächtnis trainieren, ihr Urteilsvermögen ausbilden, an
Weltgewandtheit und Lebenserfahrung gewinnen und letztlich zu „mündigen“
Christen erzogen werden. Im Sinne dieser pädagogischen Prinzipien waren die
Lehrer daran interessiert, dass möglichst viele Schüler aller Altersstufen an den
Aufführungen beteiligt waren.
Zu diesen schulisch-humanistischen Anliegen traten in der Frühzeit der jesuitischen Theaterpflege religiös-propagandistische Interessen. Als Medium konfes-
Das Jesuitentheater
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Virtuos setzten die Jesuiten die traditionellen
theatralischen Wirkungsmittel ein. Neben kostbaren Gewändern und Requisiten wurden
auch illusionistische Bühnenbilder verwendet.
Für die Aufführungen standen in den Kollegien mehrere Prospekte zur Verfügung, die
ganz allgemein Waldlandschaften, Parkanlagen, Stadtplätze oder das Innere von Palästen vergegenwärtigten.
sioneller Selbstvergewisserung gewann das Theater praktischen Wert. Die Bühne
avancierte zum Ort, wo man in der Auseinandersetzung mit der protestantischen
Lehre eine klare Position beziehen konnte, ohne freilich in aggressive Polemik zu
verfallen. Vielmehr versuchte man, unter Einsatz ästhetisch-illusionistischer Mittel, die katholischen Christen in ihrem Glauben zu bestärken, die unsicher und
schwankend oder sogar abtrünnig Gewordenen zum alten Glauben zurückzuführen. Der äußere Rahmen der Aufführungen wurde immer anspruchsvoller.
Der spätmittelalterlichen Simultanbühne, einem einfachen Podium in der Aula
oder im Hof des Kollegs, folgte über einige Zwischenstufen die Kulissenbühne
mit einer raffinierten Dekorations- und Maschinentechnik. Der Spielraum war
gegliedert in Vorder-, Mittel- und Hinterbühne, vervollkommnet durch die Oberbühne mit Flug- und Schwebevorrichtungen und die Unterbühne mit Versenkungen – in ihrer Dreistufung wurde die jesuitische Bühne zum Modell eines
christlichen „theatrum mundi“, zum Welttheater mit irdischem Handlungsraum, Himmel und Hölle. Die Kunst der Inszenierung, prächtige Kostüme und
Dekorationen, Musik und fantastische Bühneneffekte verstärkten die Wirkung
der dargebotenen Stücke, wichtiger noch: Sie boten gerade den nicht lateinkundigen Zuschauern optische und akustische Signale, weckten Affekte und Emotionen, die für die religiöse Botschaft empfänglich machten. Berühmt gewordenes Beispiel für die publikumswirksame Dramaturgie des Jesuitentheaters ist die
Tragödie Cenodoxus des vielseitigen Dichters Jacob Bidermann (1578–1639). Das
Stück über den großen Gelehrten von Paris, den Selbstgefälligkeit, übertriebene
Eigenliebe und geistiger Hochmut, „superbia“, ins ewige Verderben führen, erlebte 1602 in Augsburg seine Premiere. 1609 folgte die Erstaufführung in München, im Kolleg St.Michael. Nach einem späteren Zeugnis sollen einige Hofleute
über das Schicksal des Protagonisten so erschüttert gewesen sein, dass sie sich
anschließend zu ignatianischen Exerzitien zurückzogen; die Bekehrung, „conversio“, des Hauptdarstellers und dessen Eintritt in den Jesuitenorden verdeutlichen
die religiöse Dimension jesuitischen Bühnenschaffens auf prägnante Weise. Auch
in Passau zeigte sich die Bürgerschaft 1614 nach einer Freilichtaufführung vor
dem Dom offensichtlich so tief beeindruckt, dass der Rat den Cenodoxus auf
seine Kosten wiederholen ließ.
Im Herzogtum Bayern, maßgeblich gefördert von den Wittelsbacher Landesherren, in den Fürstbistümern Augsburg, Eichstätt und Passau, Bamberg und
Würzburg wie auch in den Reichsstädten Augsburg und Regensburg entfalteten die Jesuiten ein reiches Theaterleben. Zahllose Periochen, gedruckte
28 Die Bühne als Kanzel – das katholische Ordenstheater
Die Aufführungen von Jacob Bidermanns
Cenodoxus hinterließen bei den Zuschauern
einen tiefen Eindruck. Bezeugt sind Bekehrungen und Klostereintritte. Ein Mitwirkender der
Ingolstädter Inszenierung von 1617, Freiherr
Johann Hector von Schad, stiftete 1659 ein
Glasgemälde mit der Darstellung des „Cenodoxus judicatus“ für die Kartause Prüll bei
Regensburg.
Programmhefte in deutscher Sprache (oder auf deutsch und lateinisch), die den
nicht humanistisch gebildeten Zuschauern das Verständnis erleichtern sollten,
geben davon Zeugnis. Die Dramentexte selbst sind dagegen selten gedruckt worden, sie sind meist nur in Sammelhandschriften überliefert. Das Verfassen der
Stücke gehörte zu den Aufgaben des Professors der Humanitas oder der Rhetorik, der beiden obersten Klassen des Gymnasiums. Die Autoren, die auch für die
Inszenierung verantwortlich waren, blieben zumeist anonym, galt es doch, die
kollektive Leistung der Schule und des Ordens in den Vordergrund zu stellen.
Die Dramenstoffe entstammten überwiegend der „Historie“, nach zeitgenössischem Verständnis also der Bibel, vor allem dem Alten Testament, der Kirchenund Ordensgeschichte, den Heiligen- und Märtyrerlegenden; hinzu kam das Bildungsreservoire der antiken Literatur. Oft handelt es sich um kompilierende
Tagesprodukte von geringer dichterischer Qualität, bisweilen aber dürfen die
Schöpfungen hohen literarischen Rang beanspruchen. An erster Stelle sei noch
einmal an Jacob Bidermann erinnert, dessen Stücke im virtuosen Zusammenspiel ernster, komischer und allegorischer Szenen eine ungeheure Kraft entfalteten; allein schon die Tatsache, dass 1666 eine Sammelausgabe seiner geistlichen
Spiele (Ludi theatrales) – eine Seltenheit in der Geschichte des Jesuitentheaters –
erschien, bezeugt seine singuläre Stellung. Begabte Dramatiker waren ferner Jakob Gretser (1562–1625), dessen bedeutendstes Stück Udo, die Geschichte des
Teufelsbündlers und späteren Magdeburger Erzbischofs, den die Fürbitte Mariens errettete, 1598 in München und Ingolstadt zur Aufführung kam; Matthäus
Rader (1561–1634), zusammen mit Gretser wohl der Verfasser eines großen Freilichtspiels, das die Weihe der Münchner Michaelskirche feierte; Georg Stengel
(1584–1651) mit Theaterspielen zu Ehren des Dillinger Universitätsgründers
Kardinal Otto von Waldburg (1614) und anlässlich der Kanonisierung der beiden
Ordensheiligen Ignatius und Franz Xaver (1622); Andreas Brunner (1589–1650),
der den Weg zum volkssprachlichen Meditationsdrama markiert (Dramata
sacra); Jacob Balde (1604–1668) mit einer gelungenen Dramatisierung des alttestamentlichen Jepthe-Stoffes; und schließlich Johannes Paullinus (1604–1671),
der mit den Oratorien Philothea und Theophilus in Konkurrenz zur allmählich
vordringenden italienischen Oper zu treten suchte.
Blieb die katechetische Ausrichtung jesuitischer Theaterarbeit über zwei Jahrhunderte hinweg im Wesentlichen unverändert, so zeichnen sich doch in gewissen Phasen „weltliche“ Ausprägungen ab. Überliefert ist eine Reihe von Stücken,
die zu zeitgeschichtlichen Ereignissen meinungsbildend Stellung bezogen. In
Würzburg brachten die jesuitischen Zöglinge in Anwesenheit des Kaisers Ferdinand II. das biblische Stück Daniel auf die Bühne, das in vielfacher Allusion auf
die Gefährdung des Reichs durch den böhmischen Aufstand von 1618 Bezug
nahm. Die Bilderfeindschaft des byzantinischen Kaisers Leo Isauricus war Thema
eines 1627 in Amberg gezeigten Spiels mit dem Titel Cultus Imaginum vindicatus.
Nach drei Jahrzehnten kalvinistischer Herrschaft war dem Publikum die (verhasste) Praxis des Bildersturms, der Zertrümmerung von Altären und Heiligenfiguren in den Gotteshäusern, durchaus vertraut. Mit der exemplarischen Bestrafung der Bilderschänder auf der Bühne vermochte die dramatische Inszenierung
an die Sympathien der Bevölkerung zu appellieren und so die intendierte konfessionspolitische Wirkung zu erzielen. Den katholischen Verbund zwischen den
Häusern Habsburg und Wittelsbach feierte das anspielungsreiche Bibelstück
Nabuchodonosor aus der Feder Andreas Brunners, das 1635 anlässlich der Hochzeit des Kurfürsten Maximilian mit Erzherzogin Maria Anna, der Tochter Ferdinands II., gegeben wurde. Der Sieg über die Türken bei Wien (1683) und Budapest (1686) stand im Mittelpunkt eines in Würzburg aufgeführten allegorischen
Friedensspiels Viennae obsidio victoriarum felix partus; und eine Huldigung an das
habsburgische Kaiserhaus bedeutete 1740 das Historiendrama Carolus V e gloriosissimo orbis monarcha Augustus Dei servus.
In einzelnen katholischen Residenzstädten erfüllte die Ordensbühne zugleich
die Funktion eines Hoftheaters. Mit großem Schaugepränge veranstalteten die
Kollegien Theateraufführungen, die den höfischen Festen repräsentativen Glanz
verliehen. Als 1568 der bayerische Erbprinz Wilhelm Prinzessin Renata von Loth-
Das Jesuitentheater
ringen heiratete, inszenierte
man in München unter freiem
Himmel den Samson des Niederländers Andreas Fabricius;
die Musik der Chöre hatte der
Hofkapellmeister Orlando di
Lasso komponiert, dem Wunsch
des fürstlichen Hauses nach angemessener
Repräsentation
dürften die Anspielungen auf
die Tugend und den Glauben
des regierenden Herzogs Albrecht V. entsprochen haben. Zu
prunkvollen Spektakeln gerieten die szenischen Darbietungen des Josaphat (1573), des
Constantinus Magnus (1574 und
1575) und der Hester (1577),
aufgeführt auf öffentlichen Plätzen, mit einem Massenaufgebot
an Schauspielern und Statisten:
Im Konstantin-Drama traten
mehr als 1 000 Darsteller auf,
Mit der Komödie Otto Redivivus des profilierten
darunter 400 Reiter in römi- Theaterautors Georg Stengel (1584–1651), die 1614
scher Rüstung; an der Inszenie- in Dillingen anlässlich der feierlichen Überführung
rung des alttestamentlichen der Gebeine des Universitätsstifters Kardinal Otto
Esther-Stoffes wirkten sogar Truchsess von Waldburg aufgeführt wurde, brachten
2000 Akteure mit. Für die üppi- die Jesuiten die Geschichte von der Gründung, der
ge Ausstattung sorgte der Her- hoffnungsvollen Entwicklung und der gegenwärtigen
zog, der Kostüme, Tapisserien, Blüte der Hochschule auf die Theaterbühne. Über das
Geräte und Geschirr aus seinen ehrende Gedächtnis an den Universitätspatron hinaus
Hofhaltungen herbeischaffen bot die prunkvolle Darbietung die Möglichkeit zu
ließ. Als Höhepunkt der katholi- wirksamer Selbstdarstellung.
schen Festkultur in der Residenzstadt München darf die Aufführung eines Dramas zur Einweihung der Jesuitenkirche St. Michael am 7. Juli 1597 gelten, das den Triumph des Erzengels
Michael als Patron der vom Satan bedrängten Kirche darstellte. Im Sinne der gegenreformatorischen Zielsetzungen des frühen Jesuitentheaters verkündete die
Tragikomödie, die einen großen Bogen zwischen apokalyptischen Visionen und
realhistorischen Ereignissen spannte, den gegenwärtigen Sieg der römischen Kirche in Bayern – bühnenwirksam in Szene gesetzt, mit beträchtlichem Aufwand
an Personal, darunter 900 Schüler des Jesuitengymnasiums, mit Chören und
Instrumentalisten, mit kostbaren Dekorationen, mechanischen Verwandlungen
und pyrotechnischen Kunststücken. Die multimediale Inszenierung entsprach
nicht nur dem Selbstverständnis der triumphierenden Papstkirche; mit ihren
festlichen Aufzügen und Huldigungen, die Elemente höfischer Entrées und
Trionfi aufnahmen, mochte sie auch den repräsentativen Ansprüchen des bayerischen Herzogshauses genügen. Die Tradition jesuitischer Huldigungsspiele
reicht bis in die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts. Anlässlich der Inthronisation
des Kardinals Philipp von Wittelsbach brachten die Schüler des Regensburger
Jesuitengymnasiums 1597 das von dem italienischen Jesuiten Stefano Tucci
verfasste Drama Christus Iudex auf die Bühne; 1619 wurde Kaiser Ferdinand II.
bei seinem Besuch in Würzburg mit der Aufführung der Tragikomödie Daniel
geehrt; und in Passau feierte man 1689 den Regierungsantritt des Fürstbischofs
Johann Philipp von Lamberg mit zwei prunkvollen Aufführungen, denen Chöre
und Ballette besonderen Glanz verliehen.
Gegen Ende des 17. Jahrhunderts setzte der allmähliche Rückzug des Jesuitentheaters aus der höfisch-politischen Öffentlichkeit ein. In seiner ursprünglichen Form als rhetorische Schulübung aber wurde das Schauspiel bis zur
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Baldes Jephtias, 1637 in Ingolstadt uraufgeführt, kann als einer der Höhepunkte barocker
Dramatik in Deutschland gelten. In einer
monumentalen Tragödie, die der klassisch antiken Ästhetik verpflichtet war, brachte der
jesuitische Autor die alttestamentarische Erzählung vom jüdischen Feldherrn Jephte, der aus
Gehorsam gegen Gott die eigene Tochter opfern
muss, auf die Bühne. Das Amberger Textbuch
(1654) zählt zu den seltenen Einzeldrucken
eines Jesuitendramas, als Anhang sind sogar
die Noten aller Chorpartien enthalten.
30 Die Bühne als Kanzel – das katholische Ordenstheater
In einer Reihe theoretischer Werke setzten sich
jesuitische Autoren mit der Spielpraxis des Ordens auseinander. 1727 erschien in München
die Dissertatio de actione scenica des Franciscus Lang (1654–1725), dem auch als Verfasser von Kongregationsdramen, der so genannten Meditationes, Beachtung gebührt.
In seinem Büchlein über die Schauspielkunst
entwickelte er unter anderem Regeln für die
„Darstellung der Affekte“, für Gestik, Mimik
und Gang des Darstellers. In den Figurinen
fanden seine Bestimmungen sinnlichen Ausdruck.
Aufhebung der Gesellschaft Jesu im Jahr 1773 weiterhin gepflegt. Theoretische
Bemühungen um die Bühnenkunst, um Aufführungsstil und poetische Grundlegung, wie sie Franciscus Lang (1654–1725) mit seiner Dissertatio de actione scenica oder Ignaz Weitenauer (1709–1783) mit seiner Ars poetica vorlegten, zeugen
von der ungebrochenen Wertschätzung des Theaters. Vorsichtig öffnete man sich
den Strömungen der Zeit, der Aufklärung, der Empfindsamkeit und dem Patriotismus, auch die Pflege der Muttersprache gewann langsam an Bedeutung. Selbst
nach der Aufhebung des Ordens überlebte das jesuitische Schultheater an einigen Orten. So war das Regensburger Kolleg in ein bischöfliches Gymnasium umgewandelt worden, wo die ehemaligen Ordensangehörigen, nicht zuletzt wegen
Personalmangels, wiederum mit Bildungs- und Erziehungsaufgaben betraut waren. Bis zum Ende des Jahrhunderts führten sie mit ihren Zöglingen kontinuierlich Schau- und Singspiele zum Schuljahresschluss auf, die auch auf einen
berühmten Besucher große Faszination ausübten. In seiner Italienischen Reise
schrieb Goethe über das Theatererlebnis: „Ich verfügte mich gleich in das Jesuitenkollegium, wo das jährliche Schauspiel durch Schüler gegeben ward, sah das
Ende der Oper und den Anfang des Trauerspiels. Sie machten es nicht schlimmer
als eine angehende Liebhabertruppe und waren recht schön, fast zu prächtig gekleidet. Auch diese öffentliche Darstellung hat mich von der Klugheit der Jesuiten aufs neue überzeugt. Sie verschmähten nichts, was irgend wirken konnte, und
wußten es mit Liebe und Aufmerksamkeit zu behandeln.“
Das Theater der Prälatenorden
Eine reiche Theaterkultur brachten nicht allein die Jesuitenkollegien hervor. Mit
zunehmender Intensität widmeten sich seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert
auch die alten Orden, die Augustinerchorherren, Zisterzienser und Prämonstratenser, vor allem aber die Benediktiner, dem Theaterspiel. Im Bau eigener Theatersäle, in Ottobeuren, Weyarn, Ettal, Prüfening oder Fürstenfeld, fand die Liebe
der Prälatenklöster für szenisch-musikalische Darbietungen ihren sinnfälligen
Ausdruck. Mit unzähligen Aufführungen leisteten sie bei einem breiten Publikum kulturelle Aufbauarbeit, allein für Ottobeuren lassen sich im 18. Jahrhun-
Das Theater der Prälatenorden
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Der repräsentative Theatersaal in Ottobeuren,
mit den von Franz Joseph Siegler geschaffenen
Deckenfresken „Komödie“ und „Tragödie“
(1724/25), zeugt von der großen Bedeutung
des klösterlichen Theaterbetriebs.
dert über 100, für Benediktbeuern und Weyarn über 70 Theaterproduktionen
nachweisen. Die Vielzahl der erhaltenen Periochen, Textbücher und Spielhandschriften zeugt von der vielgestaltigen Blüte des klösterlichen Theaters, an der
auch kleinere Konvente Anteil hatten.
Viele Anregungen bot zunächst die Theaterkultur der Jesuiten, doch bald
suchten die Dramatiker der Prälatenorden nach eigenen Ausdrucksformen.
Natürlich hatte das Bühnenspiel – im Sinne der religiösen Botschaft – weiterhin
seine didaktische und pädagogische Kraft zu entfalten. Man wollte christliche
Moralvorstellungen veranschaulichen, aber im Licht der Gnade eines barmherzigen Gottes, den Milde und Verständnis für menschliche Schwächen charakterisieren, nicht Zorn und Unerbittlichkeit. Oft standen daher die tragischen, aber
auch komischen Züge des menschlichen Lebens im Mittelpunkt der Dramen. So
fügte Wolfgang Rinswerger (1658–1721) aus dem Kloster Tegernsee, später Abt in
Michelfeld, in seine Historien und Heiligenspiele urwüchsige Szenen in heimatlicher Mundart ein; heitere Zwischenspiele und deutsche Liedeinlagen prägten
die Dramen des Wessobrunner Klosterhistorikers Coelestin Leuthner (1695 bis
1759) – zwei Beispiele für die Volkstümlichkeit und Bodenständigkeit des Benediktinertheaters. Die Stücke schöpften ihre Stoffe aus der Bibel, der Kirchen- und
Profangeschichte und der Mythologie, gleichermaßen beliebt waren Allegorien,
Legenden und Moralitäten.
Einfluss auf die altbayerischen und schwäbischen Benediktinerklöster gewann
das überaus rege Theaterleben an der 1622 gegründeten Ordensuniversität in
Salzburg. Nahezu 600 Aufführungen auf den akademischen Bühnen im 17. und
18. Jahrhundert sind bezeugt. Bei vielen Mönchen war während der Studienzeit
die Begeisterung für das Theater erwacht. Mancher hatte an der Hohen Schule als
„Pater comicus“, als Bühnendichter und Spielleiter, gewirkt und diese Tätigkeit später in seinem Professkloster fortgesetzt. Oddo Guzinger (um 1617–1679)
In den Klöstern der alten Orden boten oft
Jubiläen der Prälaten den Anlass für musikalisch-szenische Darbietungen. Literarisch begabte „Hausdichter“ schufen festliche Arrangements, die gleichermaßen der Unterhaltung
und Huldigung des Geehrten dienten. Aus
Benediktbeuern ist die prachtvoll ausgestattete
Handschrift eines allegorischen Festspiels mit
dem Titel Felix connubium [Glückliche Vermählung] überliefert, das die Mitglieder des
Konvents 1744 zum Jahrtag der Wahl von Abt
Leonhard Hohenauer auf die Bühne brachten.
32 Die Bühne als Kanzel – das katholische Ordenstheater
Als Bühnendichter brachte der spätere Abt
Rupert Kornmann, während seiner Schul- und
Studienzeit in Amberg und Salzburg mit der
barocken Theaterkultur der Jesuiten und Benediktiner in Berührung gekommen, das Stiftstheater in Prüfening zu reicher Entfaltung.
Literarisch ausnehmend produktiv, verfasste er
eine Reihe von Gratulations- und Huldigungskantaten, Fastnachtspielen sowie Schulkomödien, die über den festlichen Rahmen hinaus
zur Auseinandersetzung mit der eigenen Zeit
gerieten.
Ferdinand Rosner (1709–1778), Professor der
Poesie und Rhetorik in der Benediktinerabtei
Ettal, später als „Pater comicus“ am Freisinger
Lyzeum für das Theaterwesen verantwortlich,
schuf 1750 eine wirkungsmächtige Neufassung
des Oberammergauer Passionsspiels.
und Marian Wimmer (1725–1793) aus Seeon, Placidus Seiz (1671–1732), der
spätere Abt von Ettal, Wolfgang Rinswerger, der Andechser Placidus Scharl
(1731–1814) oder Rupert Kornmann (1757–1817) aus Prüfening zählen zu den
begabtesten Dramatikern. Eine fruchtbare Pflegestätte fand das szenisch-musikalische Spiel auch an dem 1697 eröffneten fürstbischöflichen Lyzeum in Freising,
das von der Bayerischen Benediktinerkongregation unterhalten wurde. Der
berühmteste Dichter war Ferdinand Rosner (1709–1778), der Schöpfer des Oberammergauer Passionsspieltextes von 1750, der hier mehr als ein Jahrzehnt wirkte;
auch in seinem Heimatkloster Ettal verfasste er eine Reihe von Stücken, die von
den Zöglingen der dortigen Ritterakademie aufgeführt wurden.
Das Theater der Prälatenorden ist Schul- und Klostertheater. Das heißt, das
Theaterspiel war zum einen – dem Vorbild der Jesuitengymnasien folgend – ein
wichtiger Bestandteil des Unterrichts, ein Bildungsfaktor, der gleichermaßen der
moralischen Belehrung wie der Schulung zu freiem Sprechen und gewandtem
Auftreten als Vorbereitung auf das spätere Berufsleben diente. Zum anderen sollten die kleinen Gratulations- und Huldigungsstücke, die als „Kammertheater“
innerhalb der klösterlichen Gemeinschaft zur Aufführung gelangten, der Erbauung und Belustigung der Kommunität dienen. In manchen Stiften wirkten
literarisch begabte Mönche als „Hausdichter“, wie der Augustinerchorherr Anselm Manhardt (1680–1752) in Rottenbuch, der eine Vielzahl geistlicher Schauund Trauerspiele – bedeutend seine Theatralische Vorstellung, Von dem Bitteren
Leyden und Sterben Deß Ewigen Sohn Gottes Christi Jesu – hinterlassen hat.
Als Fixpunkt der schulischen Theaterdarbietungen kristallisierten sich die so
genannten Ends- oder Finalkomödien heraus, mit denen das Schuljahr seinen
festlichen Abschluss fand; im Anschluss an die Vorstellungen, die meist in die ersten Septembertage fielen, wurden die besten Schüler jeder Klasse mit einer Buchprämie belohnt. Die Zöglinge der Klosterseminare traten dabei in Anwesenheit
geladener Gäste, darunter hochstehenden und einflussreichen Persönlichkeiten,
auf die Bühne – eine entsprechende Praxis pflegte man unter anderem in Ottobeuern, Ettal, Benediktbeuern und Prüfening. Mit diesen aufwändigen Inszenierungen am Ende des Schuljahrs pflegten die Prälatenklöster eine repräsentative
Kultur nach außen, die ihr öffentliches Erscheinungsbild maßgeblich prägte.
Die „Recreationes“, die ehrbare und maßvolle Unterhaltung versprachen, bildeten einen relativ festen Spieltermin in der Fastnachtszeit. Sie waren öffentlich
und hatten meist großen Zulauf aus der Umgebung. Besonderer Beliebtheit
erfreuten sich die „Schlittaden“, wie sie am Freisinger Lyzeum – in der Tradition
jesuitischer Schlittenfahrten (unter anderem in Augsburg, Dillingen, Eichstätt,
Landshut, München und Straubing) – abgehalten wurden. Bei diesen Faschingsvergnügungen handelte es sich um choreografische Umzüge auf prunkvoll ausgestatteten, mit mythologischen oder allegorischen Figuren versehenen Pferdeschlitten, die in jedem Jahr einem anderen übergreifenden Programm folgten.
Programmatische Flugschriften, abgefasst in deutscher Sprache, erläuterten einer
breiteren Öffentlichkeit Sinn und Zweck der bildhaften Darbietungen.
Anlässe und Gelegenheiten zum Theaterspiel boten für den Konvent bestimmte biografische Stationen oder Jubiläen des jeweiligen Abtes. Zu seinem
Namenstag oder Geburtstag, zum Jahrestag seiner Wahl oder Weihe brachte man
kleine Singspiele, einen „Applausus musicus“ oder eine Kantate auf die Bühne,
die gute Wünsche enthielten und dem Lobpreis des Gefeierten dienten. Inspiration fand die klösterliche Fest- und Gelegenheitsliteratur in der zeitgenössischen
Pastoraldichtung, wie das Kleine Schäferspiel zeigt, das 1790 zum Gedenken an die
Wahl des Abtes Maurus Hermann von Weißenohe aufgeführt wurde: Die
Arien, Duette und Chöre, die die „Hirtenfeier“ umrahmten, beschworen das Bild
einer friedlichen, harmonischen Welt herauf, die mit der klösterlichen Gemeinschaft zu identifizieren war.
Repräsentative Festanlässe boten auch die Gedenktage der Stiftsgeschichte.
Zum Programm der Jubiläumsfeiern gehörte bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts – als Teil der klösterlichen Erinnerungskultur – die Aufführung von
Theaterstücken. Selbstverständliche Anlässe für szenische Darbietungen waren
die Tausendjahrfeiern der Reichsabtei Ottobeuern (1766) oder die „Tausend-
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