Soziale Dienstleistungspolitik zwischen

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Heinz-Jürgen Dahme/Norbert Wohlfahrt
Soziale Dienstleistungspolitik zwischen Ökonomisierung und neuer Sozialstaatlichkeit: zu
einigen Besonderheiten der Politischen Ökonomie sozialer Dienste
1. Einleitung
Mit Bezug auf die Theoriebildung Sozialer Dienstleistungsproduktion wird in der Regel
zwischen drei Beschreibungs- und Analyseebenen unterschieden (bspw.
Flösser/Rosenbauer/Witzel 2011): Der Ebene der Organisation (wobei soziale Dienste vor
allem als professionelle, programmatisch arbeitende Organisationen betrachtet werden), der
struktur-funktionalen Ebene (soziale Dienste als Teil des wohlfahrtsstaatlichen Arrangements)
und der personen- und interaktionsbezogenen Ebene, auf der vor allem die „CoProduktivität“ der personenbezogenen sozialen Arbeit thematisiert wird, wobei diesen drei
Ebenen gewöhnlich ein relatives Eigenleben zuerkannt wird. Rudolph Bauer hat in seinem
2001 erschienenen Band über personenbezogene soziale Dienstleistungen vier begriffliche
Dimensionen von Dienstleistungen im Sozialwesen unterschieden, die in Beziehung
zueinander stehen und nicht unabhängig voneinander zu betrachten sind:
-
Die Personen oder Personengruppen, die einer personenbezogenen Sozialen
Dienstleistung bedürfen;
-
Der/die Sozialarbeiter/in, der/die fachlich für Dienstleistungen zuständig ist;
-
Die Sozialen Dienste als Arbeitgeber und institutionelle Anbieter von
Dienstleistungen; sowie
-
Das staatliche (Sozial-)Leistungssystem (Bauer, 2001, S. 80).
Von entscheidender Bedeutung ist in diesem Zusammenhang, dass sich die vier Dimensionen
nach Bauer in einem hierarchischen Verhältnis zueinander befinden (was andere Theorien
sozialer Dienste, auch wenn sie ähnliche Ebenen sozialer Dienstleistungsproduktion kennen
und unterscheiden, nicht in gleicher Weise betonen): während das staatliche
Sozialleistungssystem auf sämtliche der anderen Handlungsebenen einwirkt, ist die praktische
Dienstleistungserbringung den meisten anderen Determinanten ausgesetzt, sie vermag – so
Rudolph Bauer – „keinen Einfluss auszuüben auf die übrigen Handlungsebenen“ (ebenda, S.
83). Diese entscheidende Einsicht gilt es im Folgenden weiterzuentwickeln, vor allem, weil in
der Theoriediskussion der Sozialen Arbeit nicht selten die Fachlichkeit bzw. Professionalität
2
der Dienstleistungserbringer oder die Rolle der Nutzer sozialer Dienste (Konsumenten)
überbetont und damit sozialpolitisch wie wohlfahrtsstaatlich idealisiert werden.
Die zentrale Rolle, die sozialstaatliche Regulierungen für die Gestaltung der sozialen
Dienstleistungsproduktion darstellen, kontrastiert (oberflächlich betrachtet) mit
Entwicklungen, die in den vergangenen zwei Jahrzehnten unter dem Begriff der
Ökonomisierung sozialer Dienste (Buestrich/Burmester/Dahme/Wohlfahrt 2008) diskutiert
worden sind und in deren Zusammenhang dem Markt oder marktähnlichen Strukturen eine
prägende Funktion in der Ausgestaltung sozialer Dienste zugesprochen worden ist. Markt und
Wettbewerb gelten dabei als rationalitätssichernde Koordinationsmodi, die eine optimale
Allokation und Nutzung von Ressourcen ermöglichen (Otto/Schnurr 2000, S. 5). Dies
wiederum hat – analog zu Bauers These einer hierarchischen Beziehung zwischen
sozialstaatlicher Regulierung und personenbezogener Dienstleistungserbringung –
Auswirkungen auf die Dimensionen von Organisation und Personal: wird die Steuerung von
Organisationen stärker auf Mechanismen des Marktes ausgerichtet, dann tritt – so die Kritiker
einer marktorientierten sozialen Dienstleistungsproduktion - die professionelle
Problembearbeitung tendenziell in den Hintergrund und auf der Ebene der unmittelbaren
Beziehung von Fachkraft und Klienten wird eine schrittweise Übertragung von
Verantwortung für die eigene Daseinsvorsorge auf den Einzelnen durchgesetzt, die auch mit
moralisch-normierenden professionellen Handlungsmustern verkoppelt werden kann
(Kessl/Otto 2003).
Betrachtet man sich die organisatorischen Strukturen der Leistungserbringung, so ist ebenfalls
eine durchgreifende Transformation der am Konzept der Daseinsvorsorge orientierten
Leistungserbringung hin zu einer Sozialwirtschaft erkennbar, in deren Rahmen sich
Sozialunternehmen zunehmend renditegesteuert auf einem so definierten Sozialmarkt
bewegen und die konkrete Gestalt sozialer Dienste abhängig von unternehmerischen
Entscheidungen wird (Dahme/Wohlfahrt 2013). Markt oder marktähnliche Mechanismen – so
die zugespitzte These – ersetzen das klassische hierarchische Verhältnis von sozialstaatlicher
Regulierung des Leistungssystems und davon bestimmter organisationaler und personaler
Leistungserbringung. Durch die typisierende Gegenüberstellung von Markt und Staat als
zentrale Subjekte der Gestaltung sozialer Dienstleistungsproduktion wird eine grundlegende
Differenz der Zwecksetzung sozialer Dienste erkennbar, die mit Marx als Gegensatz zwischen
der Gebrauchswertfunktion und der Tauschwertfunktion sozialer Dienste festgemacht werden
kann. Ökonomisierte soziale Dienstleistungsproduktion ließe sich damit als ein
3
Verwertungsprozess charakterisieren, in dem mittels einer vorgeschossenen Geldsumme eine
Verwertung des eingesetzten Kapitals zum Zwecke der Erzielung eines Überschusses
stattfindet und damit Wertschöpfung betrieben wird. Es ist bezeichnend, dass die
(gemeinnützigen) Leistungserbringer des sozialen Dienstleistungssektors inzwischen mit
Bezug auf ihre wirtschaftlichen Leistungen auch von Wertschöpfung sprechen1 und sich
damit die Funktion eines Wirtschaftsunternehmens, d.h. Kapital akkumulierenden
Sozialbetriebs zuweisen. Der Gegensatz von Tauschwert und Gebrauchswert in der
Bestimmung sozialer Dienste macht sich aber noch an anderen Bestimmungen geltend, auf
die Andreas Schaarschuch schon vor längerer Zeit im Versuch einer Rekonstruktion sozialer
Arbeit als Dienstleistung hingewiesen hat:
„Das zentrale Referenzsystem des Kunden ist der Markt, das des Nutzers der Staat. Hier im
Markt herrscht das Privatrecht, dort im Staat das öffentliche Recht. Ist der Konsument mit
einer Leistung unzufrieden oder will er auf die Leistungserbringung Einfluß nehmen, so hat er
hier die Möglichkeit der Abwanderung ("exit"), dort nur die Möglichkeit der politischen
Artikulation ("voice"). Hier ist das Geld das Steuerungsmedium, dort das Recht. Kommerziell
operierende Unternehmen sind durch eine am ökonomischen Prozess ausgerichtete
managerielle Organisationsstruktur gekennzeichnet, während (sozial-)staatliche
Einrichtungen nach Maßgabe politischer Entscheidungen administrativ organisiert sind. Auf
dem Markt geht der Ausgleich des Bedarfs des Konsumenten vom Angebot aus, dessen Basis
das Produkt oder die vorgehaltene Leistung ist. Auf Seite des Staates bezieht sich der
Bedarfsausgleich auf die angemeldete oder professionell unterstellte Nachfrage, deren Basis
die Bedürfnisse des Nutzers sind. Hier ist die Dienstleistung eine Ware, bei der der
Tauschwert dominiert, dort ist sie ein Gut, im Vordergrund steht der Gebrauchswert.
Betrachten wir den Vergesellschaftungsmodus, so besteht dieser im Kontext des Marktes im
Warentausch - auch der Arbeitsware - der den gesellschaftlichen Zusammenhang der
bourgeois mit "unsichtbarer Hand" stiftet. Im staatlichen Kontext geschieht dies auf der Basis
der Übertragung von Rechten und Pflichten als "Staatsbürger", Ziel ist der (bewußte) Bezug
auf das Gemeinwesen durch den citoyen“ (Schaarschuch 1996, S. 8).
Spätestens seit der mit dem Ende der Sowjetunion (Ende des Systemwettbewerbs zwischen
Kapitalismus und Sozialismus) auch in Deutschland sich durchsetzenden neuen
1
So argumentieren die Sozialwirtschaftsberichte der Freien Wohlfahrtspflege mit dem ökonomischen Nutzen
der Sozialwirtschaft, der sich in einer beachtlichen Wertschöpfung darstellt. Dass diese aus Steuer- oder
Sozialversicherungsmittel finanziert wird und damit aus staatlicher Sicht unproduktive Kosten darstellt,
kennzeichnet das interessengeleitete Hin und Her zwischen volkswirtschaftlichem Nutzen und sozialstaatlichen
Belastungen der Sozialwirtschaft.
4
Dienstleistungspolitik (die Implementierung Neuer Steuerungsmodelle erfolgt in deutschen
Kommunalverwaltungen seit ca. 1990) ändert sich das unter dem Stichwort Daseinsvorsorge
als bedarfsbestimmte infrastrukturelle Entwicklung sozialer Dienste verfolgte Konzept. Nicht
die (angemeldete oder unterstellte) Nachfrage bestimmt den Umfang der staatlichen
Dienstleistungsproduktion, sondern die durch Staatshaushalte vermittelte Knappheit, die
Effektivität und Effizienz in den Vordergrund stellen. Im Anschluss an die von Rudolph
Bauer formulierte zentrale sozialstaatliche Funktion bei der Gestaltung sozialer Dienste ist
also zu fragen, ob eine Orientierung an ökonomischen Bestimmungen der
Tauschwertproduktion Wirkungen erzeugt, die von einem tatsächlichen Übergang von einer
durch staatliche Rechtsetzung bestimmten Dienstleistungsproduktion zu einer marktförmigen
(und damit Wert schöpfenden) Dienstleistungserstellung sprechen lassen. Hierzu soll in einem
ersten Schritt rekapituliert werden, worin die als Ökonomisierung (Buestrich u.a. 2008)
sozialer Dienste bezeichnete Veränderung eigentlich besteht und welches sozialstaatliche
Konzept sich dahinter verbirgt.
1. Phase 1:Die Ökonomisierung sozialer Dienste als betriebswirtschaftlich definierte
Effizienzsteigerung
Auslöser der Ökonomisierung sozialer Dienste sind verschiedene parallele Entwicklungen,
die in ihrer Gesamtheit auf eine Revision sozialstaatlich verfasster sozialer
Dienstleistungserbringung herauslaufen:
-
Durchsetzung von Wettbewerb als Instrument einer effizienten Wohlfahrtsproduktion:
Ausgehend von der zu Beginn der 90er Jahre einsetzenden Verwaltungsmodernisierung nach
dem Muster des New Public Management sollen durch Wettbewerb Leistungsreserven
freigesetzt und die Kosten der sozialen Dienstleistungsproduktion eingedämmt werden (KGSt
1993, S. 22). Durch Leistungs- und Kostenvergleiche soll Markttransparenz hergestellt
werden und auf diese Weise das öffentlich finanzierte bzw. den Klienten zugängliche
Angebot gesteuert werden (Benchmarking und Outcomesteuerung). Zentrales
Steuerungsinstrument ist das so genannte Kontraktmanagement (Ziel- und
Leistungsvereinbarungen), das zur Etablierung von Auftraggeber-AuftragnehmerVerhältnissen und zur Schwächung des lokalen Korporatismus führt.
5
-
Wirkungsbezogene Steuerung sozialer Dienste:
Hierbei handelt es sich um die Ausdehnung des strategischen Controllings auf eine
evidenzbasierte Praxis sozialer Dienstleistungserstellung (Hüttemann 2006). Erweitert werden
damit die Prozesse der Leistungsmessung, in deren Rahmen politisch und administrativ
definierte Wirkungsziele überprüft und modifiziert werden. Durch ein dem sozialen
Dienstleistungssektor bislang unbekanntes Mikromanagement sollen Standards für die Arbeit
der Fachkräfte entwickelt und Interventionsformen vergleichbar gemacht werden.
-
Kommunalisierung und Dezentralisierung:
Die Aktivierung der (lokalen) Stakeholdergesellschaft ist ein zentrales Ziel der
Ökonomisierung sozialer Dienste. Dies führt zur Konzeption eines dezentralisierten
Soziastaats, der mittels Sozialraumorientierung und Vernetzung eine Reorganisation sozialer
Dienste auf lokaler Ebene herbeiführen soll. Das dem zugrunde liegende Governancemodell
(Zimmer/Nährlich 1997) soll die Definitionsmacht und Gestaltungskraft der hochgradig
organisierten Akteure im Sozialsektor schwächen und damit zur Effizienzsteigerung der
Leistungserbringung beitragen. Ergänzt wird dies durch den Prozess der Kommunalisierung,
in deren Folge sozialstaatliche Aufgaben auf die Kommunen übertragen werden.
-
Stärkung von Eigenverantwortung und Kundenorientierun:
Neben dem Konzept der „Bürgergesellschaft“ (vgl. kritisch Bauer 2009), in deren Rahmen die
Eigenverantwortung von Bürgern und Gesellschaft in den Vordergrund gerückt wird, steht
das „investment in human capital“ (Priddat 2000) im Zentrum einer auf Selbstverantwortung
abzielenden Ökonomisierung sozialer Dienste. Der Leistungsempfänger wird als Kunde
gesehen, der autonome Wahlentscheidungen zu treffen hat und für die Veränderung seiner
sozialen Lage verantwortlich ist (Aktivierungsstrategie).
-
Flexibilisierung der Beschäftigungsbeziehungen und leistungsorientierte Bezahlung:
Durch Tarifreform, neue Personalführungskonzepte und eine durchgreifende Flexibilisierung
der Beschäftigungsbedingungen sollen Personalkosten gesenkt, leistungsorientierte
Bezahlungssysteme implementiert und eine Ausweitung prekärer Beschäftigung erfolgen.
Zeitarbeit und befristete Arbeitsverträge, die Nutzung von Personenservicegesellschaften und
die Pluralisierung von Haus- und Tarifverträgen sind Instrumente einer an den Bedarfen der
Kostenträger sich orientierenden Gestaltung von Beschäftigungsbeziehungen im Sozialsektor.
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In der Gesamtheit der die Ökonomisierung kennzeichnenden „Module“ geht es um die
Steigerung der Effizienz sozialer Dienstleistungsproduktion nach dem Vorbild einer
privatwirtschaftlich organisierten Güterherstellung, so dass die Frage der Rentabilität des sich
herausbildenden Produktionsverhältnisses von zunehmender Bedeutung wird. Dies leitet über
in die zweite Phase der Ökonomisierung, die durch die Öffnung von Dienstleistungsmärkten
für privatwirtschaftliches Investment und die Nutzung von Anleihekapital gekennzeichnet ist.
2. Phase 2: Ökonomisierung durch privates Investment: Rentabilität als Ziel
marktorientierter sozialer Dienstleistungsproduktion
Das „ europäische Sozialmodell“ ist von Beginn an ein Modell zur Förderung der
individuellen und nationalen Wettbewerbsfähigkeit (Dahme/Wohlfahrt (Hg.) 2012a). In der
Agenda 2010 (Nachtwey 2009, Hegelich u.a. 2011) werden die von der EU propagierten
Zielvorstellungen, Europa zu einem „aktiven und dynamischen Wirtschaftsraum“ zu machen,
reproduziert und konkrete nationalstaatliche Modernisierungsmaßnahmen formuliert. Will
man die Wettbewerbsfähigkeit der Nationalstaaten in der EU forciert fördern, um Europa bis
2010 - so die Zielsetzung der Lissabon-Erklärung des Europäischen Rates vom März 2000 –
international zum führenden „wissensbasierten Wirtschaftsraum“ zu machen, dann benötigt
man eine sozialstaatliche Flankierung des entfesselten Wettbewerbs und seiner
armutspolitischen Folgen. Der Sozialstaat – so die EU und die deutsche Agenda 2010 - wird
weiterhin benötigt, um den Wandel abzufedern. Im Grünbuch Zu Dienstleistungen von
Allgemeinem Interesse der Kommission wird ausdrücklich darauf aufmerksam gemacht, dass
wirtschaftliche Tätigkeiten mit Gemeinwohlbezug, aber auch soziale Dienste, einem Wandel
unterworfen sind und deren nichtwirtschaftlicher Charakter deshalb nicht statisch
festgeschrieben werden können. Deshalb können „Aufgaben, die per se dem Staat vorbehalten
sind, Leistungen wie die Volksbildung oder die mit der Pflichtmitgliedschaft verbundenen
Grundversorgungssysteme der sozialen Sicherheit und eine Reihe von Tätigkeiten, die von
Organisationen ausgeübt werden, die hauptsächlich soziale Aufgaben erfüllen“ zu einem
späteren Zeitpunkt auch wirtschaftlichen Charakter bekommen. In jüngster Zeit lassen sich
verschiedene Instrumente und Strategien beobachten, die die Unterordnung sozialer Dienste
unter die Kriterien einer rentabilitätsgesteuerten Leistungserbringung weiter beschleunigen.
-
Social Business-Initiative der EU: Finanzierung der Sozialwirtschaft durch private
Investoren:
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Nach den Vorstellungen der Europäischen Kommission soll die Sozialwirtschaft zukünftig
durch privates Investment finanziert werden. Im „Social Business“ gewährleistet dann der
Wettbewerb unterschiedlicher Anbieter ebenso kostengünstige wie bedarfsorientierte Sozialund Gesundheitsleistungen. Folgt man den Überlegungen der EU, dann werden sich aus den
öffentlichen Sozial- und Gesundheitssektoren dynamische Zukunftsmärkte entwickeln.
-
Social Impact Bonds: anleihenfinanzierte soziale Dienstleistungsproduktion:
Soziale Bonds sind Anleihen, mit denen soziale Projekte finanziert werden. Investoren geben
Geld für einen wohltätigen Zweck und hoffen, dass die Investition langfristig eine Rendite
abwirft. Wichtig ist eine verlässliche Datenbasis, um den Erfolg der Projektarbeit zu messen.
Ein zentraler Akteur (i.d.R. staatliche Stellen) organisiert, wie und mit welcher Zielsetzung
wohltätige Verbände, Regierung und Investoren zusammen wirken vgl. Horesh
2000/Dahme/Wohlfahrt 2013b). Als Vorteile der „tradebility“ von Social Policy Bonds
werden genannt: Absprachen zwischen Kontraktgebern und Kontraktnehmern werden
verunmöglicht; Anleihen können von einer Vielzahl von Nachfragern erworben werden (von
„passive investors“, die auf Gewinn durch Weiterverkauf setzen oder von „active investors“,
die die Bearbeitung des Problems organisieren); Anleihen fördern die Suche nach Kosten
minimierenden Lösungen und Durchführungseffizienz; Anleihen verlagern das Risiko, das
durch Kontraktbruch oder Nichterfüllung entsteht, auf den privaten Sektor.
-
Social Entrepreneurship (Soziales Unternehmertum):
Gewinnorientierung und Gemeinwohlorientierung gehen im Sozialen Unternehmertum eine
Symbiose ein und damit entkoppeln sich diese neuen Hybridorganisationen von einem
Verständnis sozialer Dienste, in dem diese als ein Teil eines staatlich definierten und
finanzierten Bereichs der Daseinsvorsorge angesehen werden. Generell geht es darum,
Investoren stärker für das Feld der sozialen Dienste zu interessieren und eine weitere
Verlagerung ursprünglich staatlich verantworteter Aufgaben der Daseinsvorsorge in - wie es
so schön heißt - die Eigenverantwortung der Gesellschaft zurück zu geben. Hierzu benötigen
die Unternehmen der Sozial- und Gesundheitswirtschaft einen ordnungspolitischen Rahmen,
der ihnen mehr Handlungsfreiheit bei Rentabilitätsüberlegungen sichert. Gegenstand der
aktuellen Forderungen sind die Möglichkeit stärkerer Rücklagenbildung, die Vereinfachung
des Zugangs zu öffentlichen Projekt- und Fördermitteln, die Berücksichtigung eines
Wagniszuschlags bei der Verhandlung von Leistungsentgelten u.a.m. Verstärkt investiert
werden soll auch in die Wirkungsmessung, da Wirkungen bzw. Ergebnisse ein zentraler
8
Faktor für Finanzinvestoren ist, wenn entschieden werden muss, in welche soziale
Unternehmung man einsteigen kann, schließlich geht es dabei um Rendite und erst sekundär
um das Gemeinwohl. Dazu werden transparente und vergleichbare Informationen benötigt,
die die Kosten der Kapitalbeschaffung senken und letztlich zu einer effizienteren
Kapitalallokation beitragen. Voraussetzung dafür ist die Durchsetzung und Etablierung eines
neuen Standards für die Berichterstattung von sozialen Unternehmen, in der vor allem
Wirkung und Erfolg bilanziert werden. Daran wird gegenwärtig verstärkt gearbeitet (vgl.
Achleitner u.a. 2009), auch mit Unterstützung des Think Tanks Ashoka, der Wege sucht, das
Social Entrepreneurship-Konzept populär zu machen und in die Politik einzuführen, um
letztlich die Privatisierung sozialer Dienste auch in Deutschland zu befördern.
-
Das transatlantische Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA:
Einen Wachstumsschub erhoffen sich die beteiligten Staaten von einer weiteren
Liberalisierung der Märkte im Rahmen des Freihandelsabkommen der EU mit den
Vereinigten Staaten von Amerika. Dies gilt auch für den Bereich der sozialen
Dienstleistungen. Von der Kommune bis hin zur Europäischen Ebene sollen künftig – von
hoheitlichen Dienstleistungen wie Polizei und Justiz abgesehen – Güter, Dienstleistungen
oder Dienstleistungssysteme im Wettbewerbsverfahren ausgeschrieben werden.
Beschaffungsaufträge müssen „diskriminierungsfrei“ vergeben werden.
Die von der EU schon seit langem verfolgte Politik einer Öffnung des Sozialbereichs für
marktwirtschaftliche Investitionen und dessen Behandlung als ein Sektor kapitalistischer
Akkumulation analog zu anderen privatwirtschaftlichen Sektoren gewinnt in der zweiten
Phase der Ökonomisierung und unter dem verschärfenden Gesichtspunkt der europäischen
Staatschuldenkrise an Fahrt (Dahme/Wohlfahrt 2013a). Auch in der EU - so die Botschaft des
Social Entrepreneurship-Programms - sollen Finanzinvestoren und Sozialunternehmen
zukünftig stärker in einen Bereich investieren können, der traditionell staatlich finanzierten
subsidiären Trägern vorbehalten war. Hierzu müssen Maßstäbe der Erfolgsmessung
entwickelt werden, Programme zur Förderung von Forschung und Entwicklung von
Sozialunternehmen aufgelegt und vorhandene Wettbewerbsschranken abgebaut werden. Die
Wirkungsmessung, ein fachlich heiß diskutiertes Konzept Sozialer Arbeit, bekommt hierdurch
eine kaum zu unterschätzende Bedeutung, weil Evidenzbasierung in einem ganz neuen Licht
erscheint: sie dient der Steuerung von Finanzinvestitionen. Die von Rudolph Bauer
9
beschriebene Vision der Bertelsmann-Stiftung nimmt damit praktische Gestalt an.2
Marktwirtschaftliche Rentabilitätsüberlegungen erhalten zunehmend Gewicht für die
Steuerung sozialer Dienstleistungsproduktion und privatwirtschaftliches Investment soll zur
Entlastung strapazierter staatlicher Haushalte beitragen. Welche Folgen hat dies für den
Tausch- und Gebrauchswertcharakter sozialer Dienstleistungsproduktion?
3. Zu den Besonderheiten kapitalistisch organisierter Dienstleistungsproduktion
Der kapitalistische Produktionsprozess ist Einheit von Arbeits- und Verwertungsprozess
(Marx, MEW Bd. 23, S. 532). Das heißt, dass vom Standpunkt des investierten Kapitals nur
diejenige Arbeit als produktiv gilt, die sich, ungeachtet ihrer Nützlichkeit und ihres konkreten
Inhalts, gegen variables Kapital austauscht, Mehrwert erzeugt und damit zum Wachstum des
vorgeschossenen Kapitals führt. Was aber ist produktive, Wert bildende Arbeit? In der
gesamten Politischen Ökonomie – auch der vor Marx – ist der Begriff des Werts das
Synonym für eine Geldsumme, die sich durch den Austausch eines Produkts realisiert. Der
Tauschwert ist damit nicht etwa als Produkt von Arbeit bestimmt, sondern als Quelle eines
Eigentums, das sich vermehren will. Wertschaffende Arbeit ist nur unter den Bedingungen
des Privateigentums zu denken, dessen staatliche Garantie es einem Besitzer möglich macht,
mit dem Produkt Geld zu verdienen (deshalb: politische Ökonomie). Wertschaffende Arbeit
ist insofern abstrakte Arbeit, weil es auf deren konkretes Ergebnis (die Nützlichkeit eines
Dings) nur als Voraussetzung ihrer Austauschbarkeit ankommt und für diese die Arbeitszeit,
die zur Produktion aufgewendet wurde, das Maß aller Dinge ist. Das in Geld gemessene
Eigentum hat im Quantum verausgabter Arbeit sein Maß. Es reicht aber nicht, dass Arbeit
verausgabt wurde – erst wenn im Konkurrenzkampf der verschiedenen Warenanbieter eine
Ware ihren Preis realisiert, wird erkennbar, dass es sich um gesellschaftlich notwendige
Arbeit gehandelt hat. Nur diejenige Arbeit ist Wert schaffend, die es einem Konkurrenten
ermöglicht, zahlungsfähige Nachfrage auf sein Produkt zu ziehen und damit Geld zu
verdienen. Die Erzeugung des Werts – die Verausgabung von Arbeitszeit – ist ausschließlich
dadurch bestimmt, das Geld, das zur Produktion aufgewendet wird, zu vermehren – Marx
2
Vgl. Bauer 2009: Versucht man, etwas Zusammenhängendes über die Motive und Zielsetzungen des Stifters
und seiner Frau in Erfahrung zu bringen, lässt sich nur ein mosaikartiges Bild einer Strategie-Mixtur aus
unterschiedlichen Elementen rekonstruieren. Strategisch zentral ist dabei das Element des bürgerschaftlichen
Engagements rsp. das der Bürgergesellschaft. Dieses wiederum ist verknüpft mit gesellschaftlichen und
politischen Reform- und Modernisierungsvorstellungen, die charakterisiert werden können durch Stichworte
wie: Entstaatlichung und Privatisierung, Globalisierung und Marktliberalisierung, Ökonomisierung und
Kommerzialisierung, New Public Management und Entlastung der Unternehmen bei Steuern und Sozialabgaben
– Stichworte, wie sie auch für die neoliberale Strategie des „Thatcherismus“ kennzeichnend waren.
10
nennt dies die Akkumulation von Kapital. Die Arbeit ist hierfür das Mittel und
dementsprechend sind die Kosten, die für die Arbeitskraft aufgewendet werden, eine Größe,
die als Schranke der Geldvermehrung wahrgenommen wird. Die Steigerung der Ausbeute des
Geldbesitzers ist an die Senkung der Kosten für die aufzuwendende Arbeit gekoppelt. Die
Einsparung von Arbeitskosten ist eine Folge des Tatbestands, dass Privateigentümer Macht
über die Arbeit besitzen und deren Effektivierung vorantreiben, um damit ihr Geld zu
vermehren.
All das trifft für die sog. unproduktive Arbeit nicht zu, was nicht heißt, dass unproduktive
Arbeit keinen Nutzen stiftet oder keinen Gebrauchswert hat. Entscheidend ist nur, dass
unproduktive Arbeit (für die selbstverständlich ein Entgelt bezahlt wird, die
arbeitsmarktpolitisch von Bedeutung ist usw.) nur stattfinden kann, insofern durch produktive
Arbeit Mehrwert geschaffen wird, der in Form von Vermögen, Einkommen oder Steuern dann
zur Finanzierung unproduktiver Arbeit eingesetzt wird.
Durch die Ökonomisierung der sozialen Dienste, insbesondere durch die in Phase 2
einsetzende Übernahme großer Teile der sozialen Dienstleistungsproduktion durch private
Investoren (in der Bundesrepublik vor allem im Bereich der Krankenhäuser wie der
ambulanten und stationären Pflege), scheint es so, als verwandele sich soziale
Dienstleistungsproduktion zur abstrakten Tauschwertproduktion, mit der Folge, dass sich die
Unterschiede zwischen einer kapitalistischen Waren- und einer kapitalistischen
Dienstleistungsproduktion nivellieren. Immer wieder stößt man in diesem Zusammenhang auf
irreführende Behauptungen wie, Senioren- und Gesundheitswirtschaft oder die Jugendhilfe
seien Wachstumsbranchen, was meistens nicht nur arbeitsmarktpolitisch, sondern vor allem
mit Blick auf die sog. Wertschöpfung behauptet wird. Das Selbstbild der Akteure der durch
die Ökonomisierungstendenzen entstandenen Sozialwirtschaft ist mittlerweile von der
Überzeugung bestimmt, dass die Sozialwirtschaft Teil des kapitalistischen
Verwertungsprozesses bzw. Teil der Wertschöpfungskette sei, und entsprechend ist die
Sozialwirtschaft vor allem durch Renditedenken und -handeln geprägt.
Kapitalistisch organisierte Warenproduktion und die neue renditefixierte soziale
Dienstleistungsproduktion sind – trotz aller anders lautenden Bekundungen – (weiterhin)
durch grundlegende Unterschiede gekennzeichnet, die sich nur durch falsche Abstraktion
nivellieren lassen. Ihr Unterschied liegt nicht nur in dem Tatbestand, dass bei
Dienstleistungen die Produktion und Konsumtion ineinander fallen (Marx, MEW Bd. 26.1, S.
136) und damit die die Ausbeutung realisierende gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit gar
nicht im Tausch ermittelt werden kann, sondern auch in der Immaterialität des erstellten
11
Produkts 3. Der Tatbestand der Immaterialität ist zwar seit langem fester Bestandteil der
ökonomischen Dienstleistungsdiskussion, aber bislang immer falsch bestimmt worden. In der
Regel ist das Produkt der geleisteten Tätigkeit deshalb auch mit noch so verfeinerten
Kontroll- und Messtechniken (die bspw. von der evidenzbasierten Soziale Arbeit propagiert
werden) nicht exakt zu messen und damit entzieht sich das professionelle Handeln einer
technologischen Steuerung. Die hieraus resultierende relative Autonomie und Unplanbarkeit
des professionellen Handelns ist für den Staat als Vermittler der professionellen
Dienstleistung ein Risiko, denn was jeweils gezahlt und gekauft wird, „ist die Dienstleistung
als solche, deren Resultat ihrer Natur nach von dem Dienstleistenden nicht garantiert werden
kann“ (Marx, MEW Bd. 26.1, S. 381). Berufliches Handeln in sozialen Diensten – soweit es
über staatliche oder sozialstaatliche Ressourcen finanziert wird – ist aus staatlicher Sicht
deshalb ein Risiko, weil die relative Autonomie dazu führen kann, dass Kosten aufgewendet
werden, denen kein produktives Resultat gegenüber steht. Die technologische Perspektive der
Effektivierung und Rationalisierung des professionellen Handelns ist damit laufender
Gegenstand der Frage, ob die staatlich verausgabten „faux frais“ auch rationell und
zweckmäßig eingesetzt werden.
Diese Diskussion begleitet den Ökonomisierungsdiskurs seit 20 Jahren, wobei betont wird,
dass man Mittel und Wege kenne, diese „faux frais“ endlich rationell einsetzen zu können.
Die Versprechungen der neuen privaten Investment- und Sozialunternehmungsstrategien sind
von gleicher Natur und auch davon bestimmt, „value for money“ liefern zu können. Die
prinzipielle Unvorhersehbarkeit der sozialen Leistungserstellung und das damit verbundene
Risiko meint man, ganz im Vertrauen auf den betriebswirtschaftlichen Zahlenpositivismus
sowie die evidenzbasierte Sozialarbeit, kalkulieren und damit ausschalten zu können.
Soziale Dienstleistungserstellung ist keine produktive, Mehrwert erzeugende Tätigkeit,
sondern eine sich gegen Revenue (Steuern, Staatsverschuldung) austauschende Arbeit, somit
nicht Wert schaffend. Unproduktive Arbeit wird aus dem gesamtgesellschaftlich produzierten
Mehrwert bezahlt und steht deshalb – im Unterschied zu investiven Entscheidungen im Wert
schaffenden Bereich – immer unter dem Signum der Kostenbegrenzung. Knappheit ist
konstitutiv für die Arbeit im sozialen Dienstleistungssektor, im Gegensatz zum produktiven
3
Karl Marx hat in einer Bemerkung zum Gebrauchswert personenbezogener Dienstleistungen deren spezifische
Unbestimmtheit hervorgehoben: „Das erheischte Arbeitsquantum, um eine bestimmtes Resultat zu erreichen, ist
ebenso konjektural wie das Resultat selbst“ (Marx, MEW Bd. 26, 1, S. 240). Geht man von diesem Begriff aus,
dann handelt der Leistungserbringer in der Klientenbeziehung in Analogie zur Erschließung eines nur
unvollständig überlieferten Textes: der persönliche Charakter der Dienstleistung erfordert Deutungen der
Angemessenheit von Dienstleistungen, weil sich diese dem Leistungserbringer nicht vollständig erschließen.
12
Sektor kapitalistischer Warenproduktion, wo mittels der Ausdehnung der Produktion versucht
wird, den Mehrwert zu steigern. Mit der Folge regelmäßiger Überproduktionskrisen, in deren
Folge der zuviel produzierte Wert vernichtet wird.
Hervorzuheben ist auch noch: Der Gebrauchswert sozialer Dienste wird – im Unterschied zur
normalen Warenproduktion - nicht durch die Nützlichkeit bestimmt, die das Produkt für das
konsumierende Subjekt hat, sondern wird staatlich (i.d.R. durch gesetzliche Regelungen)
gestiftet. Diese sind Gegenstand dauerhafter Abwägungen und Einschätzungen, welche
Dienstleistungen in welcher Qualität dazu verhelfen, eine von staatlichen Transfers
unabhängige Reproduktion zu erzielen bzw. welche Dienstleistungen erforderlich sind, um
die staatlich geforderte Sittlichkeit der bürgerlichen Verhältnisse durchzusetzen (z.B. Schutz
von Kindern und Jugendlichen). Soziale Dienstleistungen – von der Schulsozialarbeit bis hin
zur Gesundheitsförderung – sind damit nicht das Ergebnis einer zahlungsfähigen Nachfrage,
die sich auf ein spezifisches Produkt richtet, sondern durch staatliche
Nützlichkeitserwägungen geschaffene und finanzierte Investitionen4. Insofern ist ihr
Gebrauchswert nicht nur staatlich vermittelt, sondern auch staatlich bestimmt. Die
Nützlichkeit des Produkts ist durch die staatliche Entscheidung über seine Finanzierung
hergestellt, unabhängig davon, ob sich das Produkt auch für den Adressaten als nützlich
erweist. Vor diesem Hintergrund gilt es zu prüfen, welche Veränderungen mit der
Ökonomisierung sozialer Dienste mit Blick auf die Wert schaffende und Gebrauchswert
schaffende Dimension sozialer Dienstleistungen konkret herbeigeführt werden.
4. Wertschöpfung durch Fiskalpolitik? Die Ökonomisierung sozialer Dienste im
Verhältnis von privatunternehmerischer Kapitalakkumulation und sozialstaatlicher
Haushaltsökonomie
Der Umbau des bundesdeutschen Sozialstaatsmodells ist Teil eines schon seit Jahrzehnten
laufenden Großprojektes, des nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion von OECD und EU
initiierten Programms einer konsequenten Markt- und Wettbewerbsorientierung der
4
Hier knüpft die Hoffnung von Schaarschuch an, dass durch institutionalisierte Einflussmöglichkeiten der
Nutzer auf den sozialstaatlichen Erbringungskontext sozialer Dienste deren Gestaltung im Sinne des
nachfragenden Subjekts ermöglicht wird (voice-Option). Allerdings muss Schaarschuch für diese Argumentation
(kontrafaktisch) sowohl die prinzipielle Nützlichkeit sozialstaatlicher Dienstleistungen für das nachfragende
Subjekt behaupten als auch die demokratischen Einflussmöglichkeiten auf deren Gestaltung normativ so weit
nach oben zonen, dass das Ganze einen fiktiven Modellcharakter bekommt. Das ausgerechnet bei sozialen
Dienstleistungen vom nachfragenden Subjekt ein „professioneller Handlungsmodus“ ausgeht, der „die
Symmetrie des Machtverhältnisses von Nutzer und Professionellem“ zur Voraussetzung hat, ist nur als
idealistisch konstruiertes Gegenmodell zum Kunden als Nachfrager sozialer Dienste verstehbar (vgl.
Schaarschuch, 2003, S. 164).
13
nationalen Volkswirtschaften. In allen OECD-Ländern stehen seitdem Steuersenkung,
Privatisierung, Deregulierung, Schaffung von Wettbewerb im Bildungs-, Sozial- und
Gesundheitssektor ganz weit oben auf der Modernisierungsagenda, ebenso die Durchsetzung
von mehr (individueller) Eigenverantwortung (vgl. Dingeldey/Rothgang 2009, Lehndorff
2012, Dahme/Wohlfahrt 2012b). In Deutschland sind seit der Reform der Pflegeversicherung
Mitte der 90er Jahre die Sozialgesetze Gegenstand fortwährender Reformen. Sozialpolitik – so
die explizite Begründung der Sozialstaatsreformen im Rahmen der Agenda 2010 – ist
Standortpolitik und soll einen Beitrag dazu liefern, den Wirtschaftsstandort Deutschland für
Investoren attraktiv zu machen, die Lohnkosten der Unternehmen zu senken und die
öffentlichen Ausgaben nicht weiter ansteigen zu lassen. Die europäische Staatsschuldenkrise
wirkt dabei sowohl mit Blick auf die Entlastung der Sozialhaushalte als auch mit Blick auf die
Forcierung von Wachstumsimpulsen verschärfend. Der Rationalisierungsdruck, der in Folge
dessen auf den sozialen Dienstleistungssektor ausgeübt wird, ist Resultat
haushaltsökonomischer Abwägungen: Der Aufwand des aus staatlicher Revenue gezahlten
Betrags für soziale Dienstleistungen soll verringert werden und zugleich soll
privatwirtschaftliches Kapital für die Produktion sozialer Dienste mobilisiert werden. Dies ist
allerdings an die Voraussetzung gekoppelt, dass das investierte Kapital sich verzinst und diese
Verzinsung höher ist als die Durchschnittsrendite für Kapitalanlagen auf dem Finanzmarkt.
Die Investition in eine soziale Dienstleistung wird damit zu einer spekulativen Anlage des
Finanzkapitals, dessen Verwertung dann gelungen ist, wenn sich das angelegte Kapital
gewinnbringend verzinst. Allerdings ist der Ausgangs- und Endpunkt der Kapitalinvestition
die staatliche Entscheidung darüber, ob für das entsprechende Investment eine staatliche
Nachfrage besteht, die als Sicherheit der Kapitalanlage fungiert. Der Staat spart auf diese
Weise kurzfristig zu investierende Mittel, mobilisiert privates Kapital für soziale
Dienstleistungen und koppelt dies mit Anforderungen an die Wirksamkeit der
sozialstaatlichen Programme. Dies ist im Übrigen aber kein originäres Problem der
Erbringung sozialer Dienstleistungen, sondern eines, mit dem sich auch kommerzielle
Dienstleistungen auseinandersetzen müssen. Der Unterschied besteht darin, dass
„Wirkung“ hier, dem rein wirtschaftlichen Zweck „Gewinn“ folgend, schlicht ökonomisch, d.
h. im Sinne von „Verkaufsfähigkeit“ definiert wird. Dieser Maßstab – alles ist qualitativ „gut“,
was sich verkaufen lässt, vulgo Gewinn erbringt5 – kann und soll auf staatliche Weisung hin
5
Das kann unter Gebrauchswertaspekten dann auch qualitativ Minderwertiges sein. Gerade im DiscountSegment wird viel Geld verdient, weil die Verkäufer mit ihren Angeboten auf die Massennachfrage eines
Publikums treffen, das sich qualitativ Besseres nicht leisten kann. Eine Entwicklung, die sich auch in bestimmten
14
bei sozialen Dienstleistungen in dieser rudimentären Form nicht gelten. Hier kommt es,
abgesehen von den zu berücksichtigenden Kosten bei der Dienstleistungserbringung, eben
primär auf deren „Gebrauchswert“ an: Die jeweilige Leistung soll bzw. muss auf gesetzlicher
Basis mit der dargestellten Zielrichtung am/für das Klientel verrichtet werden und dafür lässt
man sich die Entwicklung entsprechender Messverfahren sowie die Durchführung von
Evaluationen und Leistungsvergleichen wiederum einiges kosten. 6
Die Tatsache, dass die marktwirtschaftlichen Funktionsprinzipien offenbar regelmäßig und
dauerhaft „Hilfebedürftigkeit“ auf Seiten des Klientel und d. h. entsprechenden
Handlungsbedarf im Bereich sozialer Dienste und Einrichtungen generieren, sind dem
Sozialstaat deshalb an und für sich Anlass genug, sich als souveräner „Dienstleister“ seinem
abhängigen Klientel mit seinem „Angebot“ in einer Weise - und notfalls eben auch mit
Zwang 7 - zur Verfügung zu stellen, die dessen behaupteten Kundenstatus in letzter
Konsequenz praktisch negiert8. Ein Umgang, den sich kein wirklicher Kunde gefallen lassen
müsste, weil er im Maße seiner Zahlungsfähigkeit die Wahl hat und damit eine echte ExitOption (Kaufzurückhaltung, Umtausch, Anbieterwechsel etc.) besitzt.
Soziale Dienstleistungen entspringen ihrem Grunde und ihrer spezifischen Ausgestaltung
nach einer souveränen sozialstaatlichen Zwecksetzung, die dieser den
„Nachfragern“ gegenüber als seinen Anspruch geltend macht, ohne dass die Wünsche und
Interessen der so „Begünstigten“, analog der Kundenorientierung im Rahmen einer regulären,
rein marktlich vermittelten Dienstleistungsbeziehung, dabei inhaltlich den wirklichen
Bereichen des Sozialsektors (z. B. der ambulanten Pflege) andeutet, wie etwa der in den Medien und in der
Politik heftig diskutierte, (vorläufig?) gescheiterte Markteintritt des Billiganbieters „McPflege“ belegt.
6
Rudolph Bauer hat vorausschauend auf den hierin eingeschlossenen Zusammenhang von Ökonomisierung und
Bürokratisierung hingewiesen: „“Weniger Staat“ im Sinne der Deregulierung bezweckt ordnungspolitisch „mehr
Markt“, bedeutet aber noch keinesfalls „weniger Bürokratie“. In Verbindung mit der Deregulierungspolitik setzt
die restriktive Haushaltspolitik v.a. dort an, wo der Staat bisher regulierend eingegriffen hat, um die
gesellschaftlichen Folgen der marktwirtschaftlich-kapitalistischen Produktionsweise zu korrigieren, also in der
Sozialpolitik. Sozialleistungen werden rechtlich entsichert („dereguliert“), und ihr monetärer Umfang wird
eingeschränkt. Zum Anderen verbindet sich die Deregulierungspolitik mit der Erwartung, dass neue, private
Ressourcen erschlossen werden können und dass die nicht mehr oder vermindert aus staatlichen Mitteln
bezuschussten Leistungen warenförmig durch oder über den Markt bereitgestellt bzw. erworben werden“ (Bauer,
2001, S. 207).
7
In der Praxis der Sozialen Arbeit ist man sich dieser Umstände – wenn auch ohne explizite Benennung ihrer
Gründe – als einer Voraussetzung professionellen Handelns bewusst und geht pragmatisch mit ihnen um. So
etwa, wenn die Problematik „Sozialer Arbeit in Zwangskontexten“ (Kähler 2005) thematisiert und gefragt wird,
„wie unerwünschte Hilfe erfolgreich sein kann“ bzw. wie mit nicht-motivierten Klienten zu verfahren ist
(Gehrmann/Müller 2007)?
8
Sozialstaatliche Interventionen sind seit einigen Jahren programmatisch darauf gerichtet, vorrangig die
individuelle Funktionsfähigkeit der Arbeitskraft (Stichwort: „Beschäftigungsfähigkeit“) als i. d. R.
ausschließlicher Erwerbsquelle in der arbeitsmarktlichen Konkurrenz sicher- bzw. wiederherzustellen. Dabei
erscheint die Subjektivität der Klienten (ihr „Wollen“ bzw. „Nicht-Wollen“) vielfach sogar als Hindernis, das
„bearbeitet“ werden muss. Man würde den Kontakt Sozialarbeiter – Klient schlicht um das sozial- bzw.
ordnungspolitisch Wesentliche verkürzen, wenn man sie einfach analog dem „freien Markt“ als eine langfristig
gedeihlich zu gestalteten Dienstleistungsbeziehung betrachtet, in der auf die „Wünsche des Kunden eingegangen
wird“, weil man dessen Zahlungsfähigkeit abschöpfen will.
15
Ausgangspunkt oder Maßstab des Handelns abgäben. Das Angebot an sozialen
Dienstleistungen entspringt auch nicht wirtschaftlichen Kalkulationen, denn über die
entsprechende Zahlungsfähigkeit verfügen die Hilfebedürftigen nicht, weshalb die Nachfrage
nach diesen Leistungen überwiegend oder ausschließlich staatlich gestiftet ist. Auch der
sachliche Umfang sozialer Dienstleistungen folgt weder wirtschaftlichen Abwägungen noch
individuellen Präferenzen der sog. Nachfrager oder Nutzer. denn Art und Umfang dieser
Leistungen sind in zwölf Sozialgesetzbüchern bis ins Detail gesetzlich geregelt, also vorab
festgeschrieben.
Indem der Sozialstaat soziale Dienste (von der Gesundheit bis zur Pflege) im Rahmen einer
von ihm finanzierten und seinen Regelungen unterworfenen Gemeinwirtschaft betreibt, wird
zugleich deutlich, dass diese sich einer privatkapitalistisch bestimmten Geschäftskalkulation
prinzipiell entziehen. Soziale Dienste sind – wie andere Bereiche staatlich organisierter
Infrastrukturpolitik auch – Dienste des Staates an der von ihm durchgesetzten und
garantierten Konkurrenzgesellschaft, die aus sich heraus die notwendigen
Versorgungsleistungen nicht zustande bringen würde. Dabei verfolgt der Sozialstaat durchaus
auch im Bereich der sozialen Dienstleistungen das Anliegen, die von ihm durchgesetzten
Versorgungsleistungen als Geschäftssphäre zu organisieren. Das Beispiel des
„Gesundheitsmarktes“ zeigt, dass die Versorgung mit Zahlungsfähigkeit nicht der privaten
Nachfrage der Konsumenten überlassen bleibt, sondern das Geschäft mit der Gesundheit nur
dadurch funktioniert, dass ein Teil des Lohneinkommens der erwerbstätigen Bevölkerung
zwangskollektiviert wird. Die Gewinne der Pharmaindustrie, Ärztehonorare und
Krankenhausbudgets sind nicht das Ergebnis einer privatkapitalistisch kalkulierten
Geldanlage, sondern sozialstaatlich hergestellter Zahlungsfähigkeit. Die Ökonomisierung
sozialer Dienste erweist sich damit als Ergebnis einer veränderten sozialstaatlichen
Kalkulation: sie dient (bzw. soll dienen) der Entlastung der öffentlichen Haushalte von den
finanziellen Aufwendungen für die soziale Infrastruktur, indem aus Steuermitteln finanzierte
Dienstleistungen an private Unternehmen überführt werden, die an der Erzielung von
Unternehmensgewinnen ausgerichtet sind und ihre Investitionen nicht durch „Staatsknete“,
sondern aus eigenen Mitteln vornehmen. Die Nutzung privaten Anleihekapitals stellt den
vorläufigen Höhepunkt dieser politökonomischen Abwägungen staatlicher sozialer
Dienstleistungspolitik dar. Aus staatlicher Sicht bleibt dabei die Funktionserfüllung der in
unternehmerische Souveränität überführten sozialen Dienstleistungsaufgaben ein
entscheidendes Kriterium der Ökonomisierung. Dies erklärt den parallel zum „Social
Entrepreneurship“ verfolgten Zweck der Wirkungsorientierung und die enge Verkoppelung
16
von Privatisierungsanstrengungen mit Systemen der Wirkungskontrolle und
Evidenzbasierung.9
5. Schlussbemerkung: die ideologisch-idealisierende Rahmung sozialer Dienstleistungspolitik
– Leitbilder und Leitkonzepte
Ein Charakteristikum sozialer Dienstleistungspolitik ist ihre normative Rahmung durch
sozialstaatlich produzierte Leitbilder und Leitkonzepte. So hat in Deutschland unter dem
Stichwort der Subsidiarität „die Abwertung Sozialer
Dienstleistungsprofessionalität…Geschichte und Methode“ (Bauer 2001, S. 203). Der
Rückgriff auf Familie und Ehrenamt als billige Ressourcen einer durch Spardiktate
gekennzeichneten Dienstleistungspolitik wird als Gegenentwurf zur „Expertokratie“ und
Stärkung von Zivil- und Bürgergesellschaft gekennzeichnet und damit idealisiert (vgl. Olk
1986). Die rot-grüne Schröder Regierung hat in konsequenter Verfolgung dieser Logik ihre
Politik des Sozialstaatabbaus als Stärkung von Subsidiarität und gesellschaftlicher
Verantwortung gedeutet: „Den Bürgern wird in dieser Zivilgesellschaft ein Stück
Subsidiarität und Selbstbestimmung zurückgegeben. Das verlangt die Bereitschaft zur
Eigenverantwortung, es verlangt auch einen Staat, der sich darauf konzentriert, die
Bedingungen für Gerechtigkeit zu schaffen und die Infrastruktur gesellschaftlicher Solidarität
zu garantieren“ (Schröder 2000). Schröders Beispiele einer so aktivierten Zivilgesellschaft
sind ehrenamtliches Engagement im Kultur- und Sozialbereich, in der unentgeltlichen
Schulung im Umgang mit der Computerkommunikation, in Selbsthilfe- und
Unterstützungsgruppen der Gesundheitsversorgung, aber auch in der Erhaltung und
Erneuerung der Städte. „Es liegt in der Natur der Sache, dass die zivile Bürgergesellschaft
sich am ehesten in der eigenen Kommune, im eigenen Stadtviertel manifestiert. Hier ist das
zivilgesellschaftliche Beziehungsnetz am dichtesten und am leichtesten überschaubar.
Andererseits ist die Gestaltung des gesellschaftlichen Raumes, die Schaffung und Erhaltung
lebenswerter und bewohnbarer Städte eine ganz vorzügliche Aufgabe für die
Zivilgesellschaft“ (Schröder 2000). Parallel zur Propagierung der sog. „zivilen
9
Die Bertelsmann Stiftung ist in der Bundesrepublik der zentrale Think Tank dieses
„Entstaatlichungsprogramms“. Der gesamte Bereich öffentlich organisierter Gemeinwirtschaft wird daraufhin
überprüft, inwiefern er in private Unternehmenstätigkeit überführt werden kann. Dies reicht von der
Bildungspolitik bis hin zu – siehe Vorbild USA – der Kommerzialisierung des Gefängniswesens. Nur als
Randbemerkung soll in diesem Zusammenhang darauf hin gewiesen werden, dass die öffentlich gezahlten Löhne
und Gehälter regelmäßig als Schranken gelingender Ökonomisierung behandelt werden: sie gilt es zu
differenzieren und branchengerecht neu zu gestalten. Das wird zum staatlichen Dilemma, wenn ihm immer
größere Teile des in sozialen Dienstleistungen beschäftigten Personals als Sozialfälle („Aufstocker“) gegenüber
treten.
17
Bürgergesellschaft“ wurde auf der Kommunalebene das Leitbild der
„Bürgerkommune“ beschworen. „Man hofft, durch den stärkeren Einbezug der Bürger
Politik(er)verdrossenheit abbauen, Engagement fördern und die gravierenden
Haushaltsprobleme reduzieren zu können. Im Kern geht es bei der Bürgerkommune darum,
aufbauend auf dem Leitbild der kundenorientierten Verwaltung, das freiwillige Engagement
zu fördern und die Bürger stärker an kommunalen Planungsprozessen zu beteiligen. Damit
zielt die Bürgerkommune auf eine Neugestaltung des Kräftedreiecks zwischen Bürgern,
Kommunalvertretung und Verwaltung“ (Bogumil/Holtkamp/Schwarz 2003: S. 7).
Der politische Wille, die Aufwendungen für soziale Dienstleistungen zu begrenzen, wird als
ein Dienst an der Gesellschaft oder dem vernachlässigten Kunden vorgetragen, dem endlich
die Rechte zurück gegeben werden, die ihm bislang entzogen wurden. Der polit-ökonomische
Inhalt von Eigenverantwortung – die Rückverlagerung von Risiken der
„Lebensbewältigung“ an die von Erwerbsarbeit abhängigen Konkurrenzbürger – verwandelt
sich im Lichte normativ konstruierter Leitbilder in das, was die ideologische Grundlage aller
politischen Eingriffe in die Konkurrenzgesellschaft darstellt: das Bemühen um die Schaffung
von mehr Gerechtigkeit.
Ausgehend von den steigenden Kosten in der Eingliederungshilfe für Menschen mit
Behinderung (aber inzwischen in nahezu allen Bereichen sozialer Dienstleistungspolitik) ist
das der Agenda 2010 zugrunde liegende Aktivierungskonzept in ein neues Leitkonzept
sozialer Dienstleistungspolitik überführt worden, das den politischen Gerechtigkeitsanspruch
radikalisiert: Inklusion. Der Sozialstaat, der Inklusion zum Leitprinzip seiner sozialstaatlichen
Maßnahmen erhebt, will Wirtschaft, Gesellschaft und Leistungsträger aktivieren. Er will seine
Leistungen so gestalten, dass sie ausschließlich aktivierenden Programmen zur Verfügung
stehen und er will Teilhabe zur Bedingung öffentlich geförderter Maßnahmen machen. Er
fordert damit von seinen Staatsbürgern, dass sie sein Prinzip „gleiche Rechte für alle“ auch
anerkennen und auch dann praktizieren, wenn es ihren Eigeninteressen entgegen steht. Er
mutet seinen Bürgern damit auch zu, ihre im Recht gefasste Gleichheit als Staatsbürger
jenseits ihrer Partikularinteressen zur Maxime ihres Handelns zu machen, und ergänzt das
Leitbild der Inklusion um das der Akzeptanz von Unterschiedlichkeit (Diversity). Inklusion
verfolgt deshalb konsequent die Philosophie des Vorrangs der Regelsysteme. Kinder aus
„schwierigen sozialen Verhältnissen“ sollen möglichst früh in eine Kita, Ganztagsschulen
sollen helfen, dass Schülerinnen und Schüler ihre Schulaufgaben unter Betreuung erledigen
können, Jugendliche mit „herausforderndem Verhalten“ sollen in den Schulen gehalten
werden und Erziehungshilfen vermieden werden. Im Anschluss an die Schule soll die
18
Vermittlung in ein Ausbildungsverhältnis erfolgen, notfalls mit öffentlicher Unterstützung.
Sondersysteme sollen soweit wie möglich abgebaut und durch Kooperation der Regelsysteme
ersetzt werden. Kein Abschluss ohne Anschluss heißt das politisch formulierte Ideal einer
Aktivierung der mit Bildung, Erziehung und Arbeitsvermittlung beauftragten Institutionen
und der Sozialstaat lässt keinen Zweifel daran, dass er diese Baustellen in die gewünschte
Richtung umzubauen gedenkt. Das wirkt für die so aktivierten Institutionen herausfordernd,
sie machen sich aber trotz aller Bedenken das Prinzip einer funktionell bestimmten
Sozialpolitik, die Teilhabe fordert und fördert, zu Eigen, wenn sie ihr Handeln unter die
Überschrift stellen: „Keiner darf verloren gehen“.
Der politikidealistische Charakter dieses Leitkonzepts ist offensichtlich: durch die Schaffung
gleicher Rechte soll das, was der Politik als „soziale Ausgrenzung“ gegenüber tritt, korrigiert
und überwunden werden. Die politische und ökonomische Gleichberechtigung soll die Folgen
einer Konkurrenzgesellschaft kompensieren, in der gleichzeitig die Kluft zwischen Armut und
Reichtum stetige Zuwächse zu verzeichnen hat.10 Schlussendlich führt diese normative
Idealisierung sozialer Dienstleistungspolitik dazu, dass gesellschaftlicher Ausschluss
(„Exklusion“) gar nicht mehr als eine Folge kapitalistisch organisierter
Konkurrenzverhältnisse wahrgenommen wird, sondern als Verletzung der rechtlichen
Ankerkennung im Prinzip gleichberechtigter Staatsbürger. So idealisierend sie auch angelegt
sind – folgenlos bleiben diese Leitbilder und Leitkonzepte nicht. In dem Maße, in dem die
Sozialpolitik der Gesellschaft Eigenverantwortung auferlegt, wird auch der Blick auf die
Gewinner und Verlierer der Konkurrenzgesellschaft verändert: die Verachtung der als
„Harzer“ Prekarisierten korrespondiert mit einer Aufwertung privater Hilfetätigkeit, die unter
dem Stichwort „charity“ so etwas wie einen Verpflichtungscharakter erfolgreich vermehrten
Privateigentums annimmt. So transportieren die Leitbilder und Leitkonzepte der sozialen
Dienstleistungspolitik (wie Bürgerkommune, Inklusion) einen neuen Gerechtigkeitsanspruch,
an dem die im sozialen Dienstleistungssektor tätigen Organisationen und Individuen
zukünftig ihr Handeln ausrichten und begründen (sollen). Und damit bewahrheitet sich ein
weiteres Mal die einleitend erwähnte These von Rudolph Bauer, dass die „praktische
10
Schon Marx hat diesen Idealismus politischen Handelns gegenüber den „sozialen Gebrechen der
Gesellschaft“ im Auge gehabt und kritisiert: „Der politische Verstand ist eben politischer Verstand, weil er
innerhalb der Schranken der Politik denkt. Je geschärfter, je lebendiger, desto unfähiger ist er zur Auffassung
sozialer Gebrechen. (…) Das Prinzip der Politik ist der Wille. Je einseitiger, das heißt also, je vollendeter der
politische Verstand ist, umso mehr glaubt er an die Allmacht des Willens, umso blinder ist er gegen die
natürlichen und geistigen Schranken des Willens, umso unfähiger ist er also, die Quelle sozialer Gebrechen zu
entdecken“ (MEW 1, S. 401f.).
19
Dienstleistungserbringung“ durch das sozialstaatliche Leistungssystem bestimmt wird und
dort seine (auch ideelle) Prägung erhält.
20
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