Kapitel 1 Klinische Psychologie in Vergangenheit und Gegenwart Psychische Störungen: überschreiten alle Grenzen – kulturelle, emotionale, intellektuelle, ökonomische. treffen Menschen aus allen Lebensbereichen sind Thema in vielen Romane, Filmen, Theaterstücken .... führten zur Überschwemmung des Marktes mit Selbsthilfebüchern. Klinische Psychologie ist das Fachgebiet, das sich mit der wissenschaftlichen Erforschung gestörten Verhaltens beschäftigt. Klinische Psychologen sammeln systematische Info zur Beschreibung, Vorhersage und Erklärung der Phänomene, die sie untersuchen. Info, die bei der Diagnostik und Behandlung psychischer Störungen Anwendung finden. Exkurs 1.1 Berühmte Menschen, die an psychischen Störungen litten: Angststörungen Howard Hughes, Erfinder, Unternehmer Victoria, Königin von England Samuel Johnson, Lexikograf, Schriftsteller Störungen mit Realitätsverlust Jean-Jacques Rousseau, Philosoph Vincent van Gogh, Künstler Georg III., König von England Depressive Störungen Arthur Schopenhauer, Philosoph Fréderic Chopin, Komponist Graham Greene, Schriftsteller Marilyn Monroe, Schauspielerin Rod Steiger, Schauspieler Manisch-depressive Störungen Abraham Lincoln, US-Präsident Winston Churchill, britischer Premierminister Ernest Hemingway, Schriftsteller Georg Friedrich Händel, Komponist Robert Schumann, Komponist Essstörungen Karen Carpenter, Sängerin Elisabeth I., Königin von England Störungen durch Abhängigkeit von Alkohol u. anderen Substanzen: Elvis Presley, Sänger John Belushi, Komiker Lord Byron, Dichter Judy Garland, Sängerin Edgar Allan Poe, Schriftsteller Betty Ford, US-First-Lady Tennessee Williams, Dramatiker Andere Störungen Al Capone, Gangster: progressive Paralyse, Syphilis Rita Hayworth, Schauspielerin: Alzheimer-Krankheit Was ist psychisch normal und was nicht ? Beispiel: < Miriam weint sich jede Nacht in den Schlaf. Sie ist überzeugt, dass die Zukunft für sie und ihre Töchter nur Elend bringen wird. Wenn sie schläft, träumt sie von Blut, verstümmelten Körper, Tod u. Zerstörung. Eines Morgens kann Miriam kaum aufstehen. Beschließt mit ihren Töchtern zu Hause zu bleiben. Vergewissert sich, dass alle Weg ins Haus gesichert ist. Sie hat Angst vor der Welt. > Beispiel: < Brad hört seit einem Jahr seltsame Stimmen. Er glaubt sie kommen von Wesen aus einer entfernten Region des Universums. Die Stimmen befehlen ihm, seine Arbeit aufzugeben, seine Familie zu verlassen, sich auf die bevorstehende Invasion vorzubereiten. Die Stimmen bedrohen ihn, wenn er sich den Anweisungen widersetzt. Er hält Diät, um nicht vergiftet zu werden, hat sich in eine ganz ruhige Wohnung zurückgezogen, hortet Waffen und Munition. Niemand kommt an ihn heran. > Klinische Psychologie, Ronald J. Comer, 6. Auflage, Kapitel 1 1 Die Gefühle, Gedanken und Verhaltensweisen von Miriam und Brad würden die meisten von uns als psychisch gestört, psychopathologisch, fehlangepasst, emotional gestört oder geisteskrank bezeichnen. Sind Miriam und Brad psychisch gestört und wenn ja, warum? Keine der im Laufe der Jahre vorgeschlagenen Definitionen für gestörtes Erleben und Verhalten hat sich allgemein durchgesetzt. Aber sie haben gemeinsame Merkmale: Devianz, Leidensdruck, Beeinträchtigung u. Gefährdung Erlebens- u. Verhaltensmuster, die einem bestimmten Kontext als deviant/abweichend (anders, extrem, ungewöhnlich) zu bezeichnen sind und welche die betroffene Person unter Leidensdruck setzen, sie beeinträchtigen oder so störend/dyfunktional werden, dass die betroffene Person nicht in der Lage ist den Alltag konstruktiv zu bewältigen oder sogar eine Gefahr für andere Personen darstellt. - Schwierigkeiten bei der Definition psychischer Störungen Hauptschwierigkeit: Begriff „Störung“ ist relativ u. abhängig von Normen und Werten einer Gesellschaft, die diese Gesellschaft selbst wählt, definiert u. interpretiert. Nach diesen Kriterien wird dann der Einzelfall beurteilt nach „normal“ oder „gestört“. Thomas Szas (1997), Psychiatrietheoretiker, hält die Rolle der Gesellschaft für so wesentlich, dass er den Begriff der psychischen Störung oder „Geisteskrankheit“ für unberechtigt hält, als eine Art Mythos. Für ihn sind Abweichungen, die die Gesellschaft als „nicht normal“ nennt, nur „Lebensprobleme“ u. keine Anzeichen einer inneren Störung einer Person. Er ist überzeugt: Gesellschaften erfinden den Begriff „Geisteskrankheit“, um ihre Versuche zur Kontrolle u. Änderung von Menschen zu rechtfertigen, deren ungewöhnliche Verhaltensmuster die soziale Ordnung bedrohen. Wenn ein bestimmtes Verhalten – z.B. übermäßiger Alkoholkonsum von Studenten – in einer Gesellschaft üblich ist, wird man es vielleicht nicht als ein Symptom einer Abweichung, einer Ursache von Leiden, Dysfunktionalität oder Gefährdung erkennen. In den USA sind Tausende von Studenten alkoholabhängig u. ihre Leistungen stark beeinträchtig. Ihr Problem wird aber oft nicht erkannt u. diagnostiziert werden, weil Alkoholkonsum so sehr zur Universitätssubkultur gehört, dass man ein Trinkverhalten, das von der Norm abweicht, leicht übersieht. Umgekehrt ist es schwierig eine interventionsbedürftige Störung von einer exzentrischen Persönlichkeit zu unterscheiden. Eine Frau, die mit einem Dutzend Katzen lebt, wird man eher als exzentrisch bezeichnen. Wo ist die Grenzlinie zwischen Exzentrizität u. psychischer Störung? Obwohl gestörtes Erlebens- und Verhaltensmuster den vier Kriterien – deviant, beeinträchtigend, dysfunktional, gefährdend – entsprechen müssen, sollten wir uns der Uneindeutigkeit und Subjektivität dieser Kriterien bewusst sein. Klinische Psychologie, Ronald J. Comer, 6. Auflage, Kapitel 1 2 Was ist Behandlung? Behandlung oder Psychotherapie ist ein Vorgehen mit dem Ziel, gestörtes Verhalten in normales Verhalten zu wandeln. Dieses Problem ist eng mit der Definition der psychischen Störung verknüpft. Jerome Frank (1973), klinischer Theoretiker: alle Formen der Psychotherapie haben drei wesentliche Kennzeichen: 1. Ein Leidender sucht Hilfe bei einem Therapeuten. 2. Ein ausgebildeter Therapeut, der als solcher von der Gesellschaft akzeptiert wird, wird vom Leidenden und seiner sozialen Gruppe angenommen. 3. Eine Reihe von Kontakten zwischen Therapeut und Leidendem, bei denen der Therapeut, manchmal mithilfe einer Gruppe, bestimmte Veränderungen in der Gefühlslage, den Haltungen und dem Verhalten des Leidenden zu bewirken versucht. Unterschiedliche Sichtweise der Kliniker psychische Störung = Krankheit Psychotherapie = Verfahren zur Heilung der Krankheit Personen in Behandlung = Patienten psychische Störung = Lebensproblem Therapeut = Lehrer angemessenen Verhaltens und Denkens Personen in Behandlung = Klienten In ihren eigenen Worten: IRRESEIN „Der einzige Unterschied zwischen mir und einem Verrückten ist der, dass ich nicht verrückt bin.“ Salvador Dali: „Geisteskrankheit: Dasselbe immer wieder machen und unterschiedliche Ergebnisse erwarten.“ Albert Einstein „Die Distanz zwischen Genie und Wahnsinn wird nur am Erfolg gemessen. James Bond in „Tomorrow Never Dies“ „Eines der Symptome eines nahenden Nervenzusammenbruchs ist die Überzeugung, dass die eigene Arbeit schrecklich wichtig ist. Bertrand Russel Prävalenz psychischer Störungen BRD (aus einer repräsentativen Stichprobe): Die Zwölfmonatsprävalenz, die angibt, welcher Prozentsatz der untersuchten Personen im letzte Jahr unter einer bestimmten Störung gelitten hat, lag für psychische Störungen allgemein bei 31,1 %. Für Angststörungen .... usw. In den USA leiden ebenfalls zu jeder Zeit bis zu 30 % d. Erwachsenen u. 19 % der Kinder u. Jugendlichen an ernsthaften psychischen Störungen und bedürfen........ Angesichts solcher Zahlen könnte man annehmen, dass die heutige Welt prädestiniert ist für emotionale Fehlanpassungen. Beobachter vermuten der rasche Wandel u. der technische Fortschritt für die Welt enormen Druck und emotionales Chaos bringen; auch die Gefahr eines Atomkrieges, Unsicherheit der Arbeitsplätze usw. könnten zu ungewöhnlichen Belastungen führen. Die Familie ist nicht mehr der geschützte Hort von einst, der Halt durch religiöse Gruppen, Nachbarschaft u. anderen Unterstützungssysteme nimmt ab. ABER alle Gesellschaften müssen sich mit psychischen Störungen auseinandersetzen – in der Vergangenheit ebenso wie in der Gegenwart. Da durch die bessere Ausbildung von Klinische Psychologie, Ronald J. Comer, 6. Auflage, Kapitel 1 3 Praktikern, der primären Gesundheitsversorgung die Aufdeckungsrate von Angststörungen u. Depressionen und auch allen anderen psychischen Störungen deutlich gestiegen ist, so kann man solche Störungen kaum typisch nur für die moderne Welt sehen. Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, dass Wissens- und Therapiefortschritte bei psychischen Störungen keine stetige Vorwärtsbewegung darstellen. Frühere Ansichten und Behandlungsweisen - Prähistorische Ansichten und Behandlungsweisen Bis in die Steinzeit (vor 1/2Mio Jahren) zurück galten der menschliche Körper u. der menschliche Geist als Kampfstätte äußerer Kräfte. Je nachdem ob gute oder böse Geister den Kampf gewannen, verhielt sich der Mensch sich normal oder nicht. Schädelfunde aus dieser Zeit wiesen Spuren einer Trepanation (Loch in der Schädeldeck durch ein spitzes Instrument) auf. Erste Annahme: böse Geister sollten entweichen. Spätere Annahme: Entfernung von Knochensplittern u. Blutergüssen. Frühe Schriften der Ägypter, Chinesen u. Hebräer (auch in der Bibel) führen psychische Störungen auf den Einfluss böser Geister od. Dämonen zurück. Exorzismus war auch ein übliches Verfahren zur Behandlung gestörten Verhaltens. Exkurs 1.2 Exorzismus wird noch praktiziert Er wurde vor allem in biblischen Zeiten u. dann wieder im Mittelalter durchgeführt. Meist segnet der Exorzist die verhaltensgestörte Person, trägt Stellen aus der Bibel vor u. befiehlt den bösen Geistern, den Körper zu verlassen. Um diesen Bereich außerhalb der Kirche zu regulieren u. akzeptablere Praktiken sicherzustellen, hat sich die Kirche in der letzten Zeit aktiver am Exorzismus beteiligt. Im Jahr 2000 gab es 10 offiziell von der Kirche ernannte Vollexorzisten. Durchführung eines kirchlicher Exorzismus heute: offizieller Exorzist muss Arzt konsultieren, um psychische Störungen u. körperliche Krankheiten auszuschließen. Exorzismus muss auch von einem Bischof genehmigt werden. Kliniker erachten diese Vorgehensweise als eine fehlgeleitete Behandlung psychischer Störungen. - Griechisch und römische Ansichten und Behandlungsweisen 500 v. Chr. u. 500 n.Chr. wurden eine Reihe von psychischen Störungen aufgelistet. o Melancholie – Zustand unaufhebbarer Traurigkeit o Manie – Zustand von Euphorie u. hektischer Aktivität o Demenz – ein allgemeiner geistiger Abbau o Hysterie – körperliches Leiden ohne ersichtliche körperliche Ursache o Wahnvorstellungen – offensichtlich falsche Überzeugungen o Halluzinationen – eingebildete Stimmen od. Visionen werden als real erlebt. Hippokrates: Vater der modernen Medizin; er lehrte: Krankheiten haben natürliche Ursachen. Er glaubte, dass ein pathologischer Zustand des Gehirns für gestörtes Verhalten verantwortlich sei. Er führte Krankheiten auf ein Ungleichgewicht von vier Körpersäften zurück: gelbe Galle, schwarze Galle, Blut, Schleim. Ihm zufolge verursacht ein Überschuss an gelber Galle die Manie, ein Überschuss an schwarzer Galle die Melancholie. Behandlung: die körperlich Pathologie wieder in Ordnung bringen durch ruhiges Leben, vegetarische Ernährung, Abstinenz, körperliche Bewegung, sexuelle Enthaltsamkeit, Aderlass. Aretaeus (Arzt): emotionale Probleme können gestörtes Verhalten verursachen. Galen (röm. Arzt griech. Herkunft) unterschied systematisch emotionale Ursachen (finanzielle Sorgen, Liebesentzug) von medizinischen (Kopfverletzungen, Alkoholmissbrauch). Klinische Psychologie, Ronald J. Comer, 6. Auflage, Kapitel 1 4 Röm. u. griech. Ärzte übernahmen diese Theorien u. behandelten psychische Erkrankungen mit einer Mischung aus medizinischen u. psychologischen Methoden. - Europa im Mittelalter: Die Dämonenlehre kehrt zurück Mit dem Niedergang Roms während der Völkerwanderung gingen die Kenntnisse u. das Wissen über psychische Störungen verloren. Es wurde wieder in religiösen Begriffen interpretiert, abweichendes Verhalten galt wieder als ein Anzeichen für einen Bund mit dem Satan. Dämonologische Therapien erleben im Mittelalter eine Renaissance. Am Ende des Mittelalters verlor die Dämonenlehre ihre Bedeutung. Averroes machte mit seinen Kommentaren über Aristoteles dessen Werk wieder für Europa zugänglich. Es wurden Hospitäler eingerichtet; medizinische Ansichten über psychische Störungen gewannen allmählich wieder Oberhand. Exkurs 1.3 Mond und Psyche Primitive Gesellschaften glaubten, der Mond habe magische u. mystische Kräfte; seine Phasen hätten vielfältige Vorbedeutungen. Der Mond sollte Frauen schwängern, Pflanzen wachsen lassen, Menschen verrückt machen. In der englischen Sprach schlägt sich dies heute noch in den Bezeichnungen lunatic (verrückt, wahnsinnig) und lunacy (Irresein, Wahnsinn) nieder. Auch heute vertreten noch viele Institutionen und Personen die Meinung, dass Mondphasen das Verhalten beeinflusst u. ähnliches. z.B. scheint es plausibel, da der Mond die Gezeiten hervorrufe, er habe auch ähnliche Wirkung auf die Körperflüssigkeiten des Menschen (der zu mehr als 80 % aus Wasser besteht). Die Erhöhung der Geburtenzahl könnte so erklärt werden, dass der Mond auf das Fruchtwasser der zukünftigen Mutter wirk. Um die Annahme vom Einfluss des Mondes auf den Menschen zu testen, wurde die Wirkung von Mondphasen auf Tiere untersucht, die ja keine Erwartungen haben. In einer britischen Kleinstadt wurde eine erhöhte Anzahl von Personen mit Tierbissen gefunden, in einer anderen Stadt hat sich das nicht bestätigt. Die Debatte geht weiter, während Wissenschaftler u. Philosophen zu ergründen versuchen, ob die Ursachen für Geisteskrankheiten im Himmel oder in unserm Verstand zu suchen sind. - Die Renaissance und das Aufkommen der Irrenhäuser Der deutsche Arzt Johann Weyer spezialisierte sich auf psychische Erkrankungen; gilt heute als Begründer der modernen Psychopathologie. Schon Ende des Mittelalters (13. Jh.) wurden Irrenhäuser gegründet, wo ausschließlich geistig Gestörte aufbewahrt wurden. Das Irrenhaus wurde zu einem beliebten Ausflugsziel. In Wien wurde im 18 Jh. ein Irrenhaus – von der Bevölkerung Narrenturm genannt – gebaut. Man glaubte, dass die runde Bauform einen beruhigenden Einfluss auf geistig Gestörte hatte. Exkurs 1.4 Das Narrenschiff Die sog. Narrenschiffe – mit denen psychisch kranke Personen im Mittelalter von Hafen zu Hafen gebracht wurden oder auf die See hinaus getrieben wurden – gab es nicht. Ihre Geschichte diente zur Illustration, wie die Gesellschaft mit psychisch Kranken umging u. sie galten als Vorläufer der psychiatrischen Krankenhäuser des 19. u. 20. Jh. 1494 veröffentliche Sebastian Brant ein Buch mit dem Titel „Das Narrschiff“, in dem vier mittelalterliche Schiffe voller Menschen in der traditionellen Hofnarrentracht beschrieben werden. Das Buch enthielt u.a. auch eine Sammlung von Holzschnittillustrationen. Weil Brants Titel u. die Illustrationen so gut zu den Vorstellungen passten, die sich Historiker über die Auffassung der mittelalterlichen Welt von psychischen Störungen machten, interpretierte sie Focault als Beschreibung einer tatsächlichen Praxis: „Die Narren“ wurden auf Schiffen weggeschafft. - Das 19. Jahrhundert: Reform und moralische Behandlung Das Pariser Irrenhaus La Bicètre (für Männer) galt als Ursprung der Irrenhausreform; der Chefarzt Pinel, beeinflusst durch die humanistischen Ideen von Pussin, initiierte eine Reihe Klinische Psychologie, Ronald J. Comer, 6. Auflage, Kapitel 1 5 von Reformen: für ihn waren psychische Gestörte kranke Menschen, er verhinderte, dass sie gequält wurden, kettete sie los, gab ihnen Freiheit auf dem Anstaltsgelände, brachte sie in sonnigen Räumen unter, bot ihnen Rat und Hilfe an. Seine Methoden hatten Erfolg. Einige Erkrankte konnten nach relativ kurzer Zeit wieder entlassen werden. Pussin u. Pinel reformierten darauf hin das Krankenhaus La Salpetrière für weibliche Patienten u. erzielten auch dort gute Ergebnisse. Es folgten weitere Kliniken nach ihrem Vorbild. In Nordengland führte der Quäker William Tuke ähnliche Reformen durch. Die Methoden von Pinel und Tuke – Prinzipien der moralischen Führung u. menschlichen u. respektvollen Behandlung ihrer Zeitgenossen – wurden als moralische Behandlung bezeichnet. Zunehmen sah man psychiatrische Patienten als potenziell produktive Menschen an, die unter einer übermächtigen persönlichen Last zusammengebrochen waren. In den USA verbreitete vor allem Benjamin Rush die moralische Behandlung. Er veröffentliche die ersten amerikanische Abhandlung über psychische Erkrankungen (Medical Inquiries and Observations upon the Disease of the Mind) und veranstaltete den ersten amerikanischen Lehrgang über Psychiatrie. Die Kampagne der Bostoner Lehrerin Dorothea Dix für die Verbesserung der Lage psychisch Kranker führte zu neuen Gesetzen und zur Bewilligung von Gelder mit denen die Behandlung psychische Kranker verbessert werden sollte. Jeder Staat wurde verpflichtet, funktionsfähige, öffentliche psychiatrische Krankenhäuser zu schaffen. Ende des 19. Jh. verschlechtere sich die Situation wieder. Eine der Grundannahmen der moralischen Behandlung war die Erwartung, dass die Patienten nach menschenwürdiger Behandlung wieder gesunden würden. Aber viele benötigten weiterführende Therapien, die damals noch nicht zur Verfügung standen, und blieben bis zu ihrem Tod hospitalisiert. Diese Krankenhäuser wurden wieder zur Langzeitverwahrung. - Das frühe 20. Jahrhundert: Somatogene und psychogene Sichtweisen Wettstreit zwischen somatogener Sichtweise (psychische Störungen haben physische Ursachen) u. psychogener Sichtweise (psychische Störungen habe psychologische Ursachen) Somatogene Sichtweise hat eine mind. 2400 Jahre lange Geschichte. Im späten 19. Jh wurde der Ansatz, dass gestörtes Verhalten auf einen krankhaften Zustand des Gehirns und einem Ungleichgewicht der Körpersäfte beruht (Hippokrates) wieder akzeptiert. (siehe Abb. 1.1. Galls Phrenologie S. 15) Die Bemühungen des 19. Jh. gestörtes Verhalten nicht in Begriffen der Dämonenlehre zu fassen, waren nicht immer wissenschaftlich begründet. Ein Ansatz nannte sich Phrenologie. Nach Franz Joseph Gall (1758-1828) und seinen Anhängern besteht das Gehirn aus unterscheidbaren Teilen, die jeweils für einen anderen Persönlichkeitsaspekt zuständig sind. Die Phrenologen versuchten die Persönlichkeit zu messen, indem sie die Erhebungen und Einbuchtungen des Schädels einer Person abtasteten. Einige Einteilungen/Bezeichnungen: Hinterkopf unten: Fortpflanzungstrieb, Kinderliebe Schläfe: Farbensinn, Tonsinn, Zahlensinn, Kunstsinn Stirn über der Nasenwurzel: Erziehungssinn, Personensinn Der deutsche Forscher Emil Kraepelin schrieb ein Lehrbuch, in dem er physische Faktoren für psychische Störungen verantwortlich macht. Er entwarf das erste System zur Klassifikation gestörten Verhaltens; identifizierte verschiedene Syndrome oder Symptomgruppen, führte ihre organischen Ursachen auf und diskutierte ihren zu erwartenden Verlauf. Von Bedeutung waren auch biologische u. anatomische Entdeckungen. Vor allem die Erkenntnis, dass die progressive Paralyse die Folge einer Syphilis-Erkrankung ist. Dies ließ vermuten, dass vielleicht alle psychischen Störungen auf organische Faktoren zurückzuführen Klinische Psychologie, Ronald J. Comer, 6. Auflage, Kapitel 1 6 wären. Es entstanden zahlreiche medizinische Therapien, u.a. die Lobotomie (chirurgische Durchtrennung von Nervenfasern des Frontallappens im Gehirn), die sich meist als unwirksam erwiesen. Erst Mitte des 10. Jh. wurden wirksame Medikamente entdeckt. Psychogene Sichtweise: Hauptgrund gestörten Erlebens u. Verhaltens liegen in der Psyche Cicero: psychische Störungen können körperliche Leiden verursachen. Galen: psychische Störungen werden durch Angst, Liebeskummeru. andere psychologische Einflüsse ausgelöst. Durch die Hypnose gelang diese Sichtweise Ende des. 19. Jh. an Bedeutung. Hypnose: ein bewusst induzierter, tranceähnlicher psychischer Zustand, in dem ein Mensch extrem beeinflussbar wird. Anwendung als Heilmittel erstmals 1778. In Paris behandelte Anton Mesmer (österr. Arzt) Patienten mit hysterischen Störungen mit einer ungewöhnlichen Methode. Seine Patienten saßen in einem verdunkelten Raum, Musik spielte in der Mitte stand eine Wanne mit Chemikalien, aus denen Eisenstäbe herausragten.. Mesmer erschien in einem prächtigen Gewand, zog die Stäbe heraus u. berührte die betroffenen Körperteile des Patienten – einigen Patienten half dies. Diese Behandlung, der sog. Mesmerismus war so umstritten, dass Mesmer aus Paris ausgewiesen wurde. Die Weiterentwicklung des Verfahrens wurde als Neurohypnose bezeichnet u. auf Hypnose verkürzt wurde (vom griechischen hypnos für „Schlaf“) Es gab zwei konkurrierende Theorien. Die einer Schule glaubt, dass hysterische Störungen in erster Linie durch Suggestionskraft verursacht werden, die andere Schule glaubt, dass sie komplizierte physiologische Ursachen haben. Bernheim u. Liébault zeigten, dass bei normalen Personen unter Hypnose hysterische Störungen hervorgerufen werden konnten. Sie bewiesen, dass ein psychischer Prozess – die hypnotische Suggestion – eine physische Funktionsstörungen sowohl verursachen als auch heilen konnte. Der Wiener Arzt Josef Breuer bemerkte, dass seine hypnotisierten Patienten manchmal frei von hysterischen Symptomen erwachten, wenn sie unter Hypnose über ihre Traumen gesprochen haben. Freud entwickelt diese Theorie weiter zur Psychoanalyse, nach der zahlreiche normale und gestörte psychische Funktionsweisen psychogenen Ursprungs sind. Er nahm an, dass gestörtes Erleben u. Verhalten einem Konflikt zw. psychologischen Prozesse auf einer unbewussten Ebene entspringt. Er behandelte vor allem Patienten mit Angstproblemen oder Depressionen. Diese Methode half kaum bei Patienten mit schweren psychischen Störungen. Exkurs 1.5 Psychiatrie im Nationalsozialismus 1933: Ernennung Hitlers zum Reichskanzler; politische Kampagne gegen die „Entartung des Volkes“ u. die „Verbesserung der Rassenhygiene“ führte zum Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, durch welches „erbkranke“ Mensch zwangssterilisiert werden konnten. Erbkrankheiten waren: angeborener Schwachsinn, Schizophrenie, zirkuläres Irresein, erbliche Fallsucht, Chorea Huntington, erbliche Blindheit od. Taubheit, schwere körperliche Missbildungen – und auch schwerer Alkoholismus u. asoziales Verhalten. Bis zum Jahre 1945 kam es neben Zwangssterilisierungen zu Vernichtungsmaßnahmen gegen erwachsene psychiatrische Patienten, zur Tötung psychiatrischer Kranker durch Hitlers „Gnadentoderlass“ im Rahmen der „Euthanasie-Aktion (T4)“ durch Kohlenmonoxid-Vergiftung, zur Vernichtung jüdischer Patienten, zur Kindereuthanasie durch Luminalinjektion u. Nahrungsentzug, zur Vernichtung Patienten jüdischer Herkunft in Gaskammern. Klinische Psychologie, Ronald J. Comer, 6. Auflage, Kapitel 1 7 Aktuelle Entwicklungen Heute gibt es mehr Theorien, Behandlungsmethoden und Kontroversen. Umfragen ergaben: 43% glauben, psychische Störungen würden von den Betroffenen selbst erzeugt 35% glauben, psychische Störungen seien das Ergebnis sündhaften Verhaltens 19% sehen mangelnde Willenskraft oder Selbstdisziplin las Ursache an. - Therapeutische Versorgung schwerer psychischer Störungen In den 1950er Jahren wurden eine Anzahl psychotroper Medikamente entdeckt, deren Anwendung zu einer signifikanten Besserung von Patienten führten. antipsychotische Medikamente: gegen verwirrtes u. verzerrtes Denken antidepressive Medikamente: heben die Stimmung schwer depressiver Menschen anxiolytische Medikamente: lösen Angst, dämpfen Spannung u. Angst. Das Aufkommen der Medikamente führte zu einer Destinstitutionalisierung (Auflösung der psychiatrischen Großeinrichtungen) In Deutschland werden , anders als in vielen anderen Ländern, Menschen mit schweren u. mittelschweren psychischen Störungen auch heute noch häufig stationär behandelt. Die Patienten können dadurch dem belastenden Alltag entfliehen und ungehindert ihre Störung ausheilen. Andere Kliniker sind der Ansicht, der Patient solle nicht aus seinem Alltagskontext herausgerissen werden. In schweren Fällen wäre ein kurzer stationärer Aufenthalt durchaus sinnvoll, mit ambulanter, psychotherapeutischer, medikamentöser Weiterbetreuung. Der gemeindepsychiatrische Ansatz ist für zahlreiche Patienten sehr hilfreich, jedoch gibt es in den USA zu wenige dieser Einrichtungen. So erhalten nur 40% der Menschen mit schweren Störungen ausreichende medizinische Behandlung. Der Rest landet meist in schäbigen Pensionen und auf der Straße. In Deutschland gab es 1999 fast 300 allgemeine psychiatrische Tageskliniken mit 5200 Behandlungsplätzen. Die häufigsten Diagnosen: Schizophrenie, affektive Störungen. - Therapeutische Dienste für weniger schwere psychische Störungen Heute werden Menschen mit schweren psychischen Störungen weitgehend ambulant behandelt. Die Mehrzahl der Psychotherapeuten rekrutiert sich aus der Psychologie. Die Dichte der Therapeuten schwankt beträchtlich. Standen 2003 in Sachsen-Anhalt fünf Psychotherapeuten für 100.000 EW zur Verfügung, waren es in Bremen 52,9. Die Dauer der Psychotherapie hängt von der Art der Behandlung ab: im Durchschnitt 160 Stunden bei der Psychoanalyse, 44 Stunden bei der Verhaltenstherapie. In Deutschland gibt es auch viele psychosoziale Beratungsstellen und Ambulanzen. In den USA entwickelten Krankenversicherungen das managed care program: die Versicherten haben weitgehend Kontrolle über die Behandlung; die Versicherungsfirmen bestimmen über die Therapeuten, unter denen der Kranke wählen kann, über die Kosten, die Anzahl der Sitzungen, für die der Patient das Geld rückerstattet bekommt. Dabei stützen sich die Versicherungen auf Ergebnisse der evidence-based medicine wissenschaftlicher Nachweis verschiedener Therapiemethoden bei den einzelnen Störungsbildern. - Zunehmende Bedeutung der Prävention von Störungen und der Förderung psychischer Gesundheit Der gemeindepsychiatrische Ansatz führt schließlich zur Prävention, d.h. nicht warten bis sich psychische Probleme einstellen, sondern vorbeugend soziale Bedingungen, die psychologische Probleme hervorrufen können, vermeiden zu helfen bzw. zu lindern. Z.B. Armut, Gewalttätigkeit, Arbeitslosigkeit. Klinische Psychologie, Ronald J. Comer, 6. Auflage, Kapitel 1 8 Auf der anderen Seite untersuchten Forscher das Ausbleiben von negativen Zuständen – psychologische wellness. Diese hängt nicht so sehr ab vom Reichtum, dem Ausbleiben körperlicher Erkrankungen, sondern vielmehr von Persönlichkeitscharakteristika u. Einstellungen. Glückliche Menschen sind typischerweise, optimisch u. liberal eingestellt, haben mehrere enge Freundschaften, ein hohes Selbstwertgefühl, das Gefühl ihr Leben unter Kontrolle zu haben. Man nimmt an, dass diese Eigenschaften die Entstehung von Störungen verhindern können. !! Zahlen die für sich sprechen „Wie gut war ihr bisheriges Leben?“ 13% geben an, das „bestmögliche“ Leben geführt zu haben. 37% meine, ein „sehr gutes“ Leben geführt zu haben. 33% sagen, ein „gutes“ Leben geführt zu haben. 15% geben an, ein „einigermaßen gutes“ Leben geführt zu haben 2% meinen, ein „schlechtes“ Leben geführt zu haben. Wallis 2005 Die Zuwanderung von Personen unterschiedlicher ethnischer Herkunft hat vor allem in den USA zur Schaffung einer mulitkulturellen Psycholgie beigetragen. Dies ist auch in den westlichen Industrieländern von Bedeutung. Klinische Psychologien haben daher größere Sensibilität gegenüber Patienten anderer Kulturen und die Schaffung kultursensibler Therapien gefordert. - Aktuelle führende Theorien und Repräsentanten der Versorgung. Vor den 1950er Jahren war die psychoanalytische Perspektive mit ihrer Betonung auf unbewusste psychische Probleme als Verursacher abnormen Verhaltens dominant. Es folgte die Entdeckung wirksamer psychotroper Medikamente. Die Forschungserfolg der Neurowissenschaften in den letzen zwanzig Jahren haben der somatogenen oder biologischen Sichtweise neue Beachtung verschafft. Aus der Psychoanalyse entwickelte sich die humanistisch-existenzielle gesprächstherapeutische Bewegung. Unabhängig davon die verhaltenstherapeutische u. kognitive Behandlung. Vor 1999 wurde in Deutschland Psychotherapie ausschließlich von Psychiatern ausgeübt. Heute werden auch psychologischen Psychotherapeuten approbiert u. von der gesetzlichen Krankenversorgung anerkannt. Die Ausbildung u. Approbation zum psychologischen Psychotherapeuten setzt voraus: ein Diplom bzw. einen Master of Science der Psychologie, anschließend eine dreijährige Ausbildung in einer psychologischen Ambulanz für Psychotherapie oder psychiatrischen Abteilung mit erfolgreicher Absolvierung einer Staatsprüfung. Aber nur die Teilnahme an fortgesetzten Weiterbildungsmaßnahmen sichert die Anerkennung durch die gesetzliche Krankenversorgung. Auch andere Berufsgruppen, wie Sozialarbeiter, Sozialpädagogen, Heilpraktiker, Mitarbeiter in sozialpsychiatrischen Einrichtungen tragen zur psychotherapeutischen Versorgung bei. Σ Zusammenfassung Was ist eine psychische Störung Als psychische Störung gelten im Allgemeinen solche, die in einem bestimmten Kontext abweichend, beeinträchtigend oder gefährlich sind bzw. Leidensdruck erzeugen. Jedes Verhalten muss jedoch in dem Kontext betrachtet werden, in dem es auftritt, und das Konzept der Abnormität hängt von den Normen und Werten des jeweiligen gesellschaftlichen Zusammenhangs ab. Klinische Psychologie, Ronald J. Comer, 6. Auflage, Kapitel 1 9 Was ist Behandlung? Therapie ist ein systematischer Prozess, der Menschen bei der Bewältigung ihrer psychischen Schwierigkeiten hilft. Typischerweise bedarf es dazu eines Patienten, eines Therapeuten und einer Reihe von therapeutischen Kontakten. Wie wurden psychische Störungen in der Vergangenheit erachtet und behandelt? Die Geschichte der psychischen Störungen reicht bis zu den Ursprüngen der Menschheit zurück. Prähistorische Gesellschaften Prähistorische Gesellschaften erachteten gestörtes Verhalten wahrscheinlich als das Werk böser Geister. Es gibt Anzeichen, dass man in der Steinzeit die Trepanation, eine primitive Form der Gehirnoperation, anwandte, um auffälliges Verhalten zu behandeln. Die Menschen früherer Gesellschaften versuchten auch, die bösen Geister durch Exorzismus auszutreiben. Griechen- und Römerzeit Ärzte der Griechen- und Römerzeit entwickelten aufgeklärtere Sichtweisen psychischer Störungen. Hippokrates führte gestörtes Verhalten auf ein Ungleichgewicht der vier Körpersäfte – schwarze Galle, gelbe Galle, Blut und Schleim – zurück. Die Therapie bestand in der Korrektur der zugrunde liegenden physischen Pathologie durch Ernährung und Lebensweise. Das Mittelalter Im Mittelalter kam man wieder auf die dämonologische Erklärung gestörten Verhaltens zurück. Psychische Störungen wurden als das Werk des Teufels angesehen. Als sich das Mittelalter seinem Ende näherte, verloren die Dämonenlehre und ihre unmenschlichen Behandlungsmethoden allmählich ihre Vormachtstellung. Medizinische Sichtweisen psychischer Störungen gewannen an Bedeutung und viele Menschen mit psychischen Störungen wurden in Hospitälern behandelt. Die Renaissance In der Renaissance verbesserte sich die Betreuung der psychisch Gestörten weiter. Eine Reihe christlicher Hospitäler widmete sich der humanen Behandlung solcher Menschen. In der Mitte des 16. Jahrhunderts wurden Menschen mit psychischen Störungen in Irrenhäusern verwahrt. Das 19. Jahrhundert Im 19. Jahrhundert besserte sich die Versorgung der psychisch Kranken. Die sog. Bewegung der moralischen Behandlung ging von Philippe Pinel in Paris aus. Ähnliche Reformen setzte in England William Tuke in Gang. In den USA war Dorothea Dix in Massachusetts die Speerspitze einer Bewegung, die psychisch gestörten Menschen gesetzliche Rechte und Schutz gab und staatliche Krankenhäuser zu ihrer Betreuung durchsetzte. Leider zerfiel das System im späten 19. Jh., und die Krankenhäuser verwandelten sich wieder in die Verwahrungsanstalten, in denen die Insassen nur eine Minimalversorgung erhielten. Frühes 20. Jahrhundert. An der Wende zum 20. Jh. erlebte die somatogene Sichtweise erneut einen Aufschwung; psychische Funktionsstörungen wurzelten danach in körperlichen Ursachen. Diesen Umschwung lösten die Arbeiten des deutschen Mediziners Emil Kraeplin und die Erkenntnis, dass die progressive Paralyse von einer organischen Krankheit, der Syphilis, verursacht wird, aus. Im selben Zeitraum entstand auch die psychogene Sichtweise, wonach die Hauptursachen von gestörtem Erleben und Verhalten psychologisch sind. Besonders wichtig war dabei die Anwendung der Hypnose bei Patienten mit hysterischen Störungen. Sigmund Freuds psychogene Behandlungsmethode, die Psychoanalyse, wurde schließlich weithin anerkannt und beeinflusste zukünftige Generationen von Praktikern. Aktuelle Entwicklungen In den letzten 50 Jahren haben sich das Verständnis und die Behandlung gestörten Erlebens und Verhaltens stark gewandelt. Die 1950er Jahre brachten die Entdeckung der neuartigen psychotropen Medikamente, die die Gehirnfunktionen beeinflussen und viele Symptome psychischer Störungen lindern. Ihr Erfolg führte zur Politik der Deinstitutionalisierung, in deren Rahmen Hunderttausende Klinische Psychologie, Ronald J. Comer, 6. Auflage, Kapitel 1 10 Patienten aus den staatlichen psychiatrischen Krankenhäusern entlassen wurden. Ein Ergebnis dieser Bewegung war, dass sich der Schwerpunkt der Hilfe für psychische gestörte Menschen in den ambulanten Bereich verschob. Präventionsprogramme gewinnen zunehmend größeren Einfluss; der Bereich der multikulturellen Psychologie hat Einzug in die Sichtweisen und Behandlung psychischer Störungen bei ethnischen Minoritäten gehalten. Letztlich bestehen eine Anzahl unterschiedlicher Sicht- und Vorgehensweisen im Bereich der klinischen Psychologie. Zum Nachdenken 1. Gab es in der letzten Zeit Episoden des Massenwahns? Könnten das Internet, Kabelfernsehen und andere Arten der modernen Kommunikationstechnik eine spezielle Gefahr für das Auftreten und die Verbreitung von Verhaltensstörungen darstellen? 2. Welche dämonologischen Erklärungen und Behandlungen gibt es auch heute noch, zusätzlich zum bösen Blick und dem Exorzismus? Warum werden sie aufrechterhalten? 3. Ein Kriterium für psychische Störungen ist der Leidensdruck. Was glauben Sie, ist bei Menschen, die wegen ihrer abweichenden Verhaltensmuster in psychiatrische Kliniken eingewiesen werden, der häufigste Grund für die Einweisung – die Belastung der Patienten oder die der Umgebung? Was, glauben Sie, ist der wichtigste Grund für ambulante psychologische Therapie? Klinische Psychologie, Ronald J. Comer, 6. Auflage, Kapitel 1 11