Interaktion religiöser Rechtsordnungen - Beck-Shop

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Einleitung
Die Interaktion religiöser Rechtsordnungen mit ihrer Umwelt wird eingangs des dritten Jahrtausends ganz überwiegend als Konflikt wahrgenommen und beschrieben: In Konflikt geraten in dieser Optik primär die miteinander konkurrierenden Ansprüche staatlicher und religiöser Rechtsordnungen, wobei hier in der Wahrnehmung wiederum ganz eindeutig die Frage
nach der Vereinbarkeit der islamischen šarı̄ Ca mit der Rechtsordnung des
modernen Verfassungsstaates westlicher Prägung dominiert1 (wohingegen
die grundlegendere Frage nach der Kompatibilität jedweder religiös begründeten oder geprägten Rechtsordnung mit einem sich als säkular apostrophierenden Staat deutlich seltener gestellt wird2). Nicht minder wichtig sind
aber mögliche Konflikte zwischen unterschiedlichen Religionsgemeinschaften, die auf die Achtung und Einhaltung ihrer jeweiligen theonomen
Rechtsregime pochen3.
Unlängst hat eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs eine Familie von
religiösen Rechtsordnungen wieder in das Bewußtsein der (Fach-)Öffent1 Nur einige repräsentative Beiträge: W. Loschelder, Der Islam und die religionsrechtliche Ordnung des Grundgesetzes, in: Essener Gespräche zum Thema Staat und
Kirche 20 (1986), S. 149 ff.; J. Oebbecke (Hrsg.), Muslimische Gemeinschaften im
deutschen Recht, 2003; F. Wittreck, Religionsfreiheit als Rationalisierungsverbot,
in: Der Staat 42 (2003), 519 (551 ff.); M. Kloepfer, Der Islam in Deutschland als
Verfassungsfrage, in: Die öffentliche Verwaltung 2006, 45 ff.; M. Rohe, Islamisierung des deutschen Rechts?, in: Juristenzeitung 2007, 801 ff.; W. Bock, Der Islam
in der aktuellen Entscheidungspraxis des Öffentlichen Rechts, in: Neue Zeitschrift
für Verwaltungsrecht 2007, 1250 ff.; zuletzt S. Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008.
2 Siehe dazu als (keineswegs einhellige) Stellungnahmen E. Hilgendorf, Religion,
Staat und Recht. Zur Notwendigkeit einer Zähmung der Religionen durch das
Recht, in: ders. (Hrsg.), Wissenschaft, Religion und Recht. Hans Albert zum 85. Geburtstag, 2006, S. 359 ff.; H. Dreier, Religion und Verfassungsstaat im Kampf der
Kulturen, in: ders./E. Hilgendorf (Hrsg.), Kulturelle Identität als Grund und Grenze
des Rechts, 2008, S. 11 ff.; T. Gutmann, Christliche Imprägnierung des Strafgesetzbuchs?, ebd., S. 295 (303 ff.); G. Czermak, Religions- und Weltanschauungsrecht,
2008, Rn. 52 ff.
3 Klassische Darstellung von K. Wähler, Interreligiöses Kollisionsrecht im Bereich privatrechtlicher Rechtsbeziehungen, 1978; vgl. dazu ferner W. Wengler,
Grundprobleme des interreligiösen Kollisionsrechts, in: Festschrift Charalambos Fragistas, Thessaloniki 1967, S. 483 (484 ff.); B. Menhofer, Religiöses Recht und internationales Privatrecht dargestellt am Beispiel Ägypten, 1995, S. 39 ff.
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lichkeit gerückt, die seit jeher in beiden beschriebenen Konfliktsituationen
zugleich verhaftet sind: Das Recht der orientalischen oder – in konfessionskundlicher Terminologie – nichtchalkedonensischen Kirchen, also der Ostund Westsyrer (herkömmlich, wenn auch anfechtbar als „Nestorianer“ resp.
„Jakobiten“ bezeichnet), Armenier und zuletzt der Kopten in Ägypten bzw.
Äthiopien4. Während die Entscheidung des obersten deutschen Gerichts die
in der Bundesrepublik beantragte Scheidung einer in der Volksrepublik Syrien nach dem Recht der syrisch-katholischen („chaldäischen“) Kirche geschlossenen Ehe und damit primär den klassischen Konflikt zwischen staatlichem und kirchlichem Recht betraf5, weist die dem Fall zugrundeliegende
Möglichkeit der syrischen Christen, wirksame Rechtsakte nach den Regeln
ihrer Kirche zu vollziehen, gleichzeitig auf ihren von der islamischen šarı̄ Ca
eingeräumten und geprägten Sonderstatus hin und damit auf das latent konfliktträchtigte Verhältnis zwischen den verschiedenen religiösen Rechtsordnungen im vorderen Orient6.
Jede nähere Beschäftigung mit dem Recht dieser orientalischen Nationalkirchen7 macht zugleich deutlich, daß sich seine Interaktion mit dem Recht
anderer Religionsgemeinschaften oder solcher Hoheitsträger, die nach mo4
Näher zur Terminologie und zur Geschichte dieser Kirchen unter I.1.
Im zu entscheidenden Einzelfall hat der Bundesgerichtshof die Anwendbarkeit
der Vorschriften zur Unauflöslichkeit der Ehe (can. 853 Codex Canonum Ecclesiarum Orientalium) verneint: Bundesgerichtshof, in: Juristenzeitung 2007, 738
(740 f.); vgl. dazu die Anmerkungen von T. Rauscher, Anmerkung zu BGH, Entscheidung v. 11.10.2006 – XII ZR 79/04, in: Juristenzeitung 2007, 741 (742 f.); O.
Elwan/B. Menhofer, Scheidungswunsch versus in Syrien geltendes Recht der unierten Ostkirchen?, in: Das Standesamt 2007, 325 ff. sowie P. Scholz/R. Krause, Später Sieg der Freiheit: Die Kehrtwende der Rechtsprechung zu unscheidbaren ausländischen Ehen, in: Familie und Recht 2009, 1 ff., 67 ff. – Siehe im Vorfeld der Entscheidung zur Anwendung religiöser Rechte durch staatliche Gerichte noch Wähler,
Kollisionsrecht (Fn. 3), S. 319 ff.; W. Wengler, Staatlicher ordre public gegenüber
kirchlichem Recht und Prüfung staatlicher Gesetze unter religiösem Recht, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts 36 (1987), 67 ff.; Menhofer, Religiöses Recht (Fn. 3),
S. 19 ff., 39 ff.; E. Jayme, Religiöses Recht vor staatlichen Gerichten, 1999,
S. 25 ff. sowie T. Rauscher, Bis dass der Tod euch scheide?, in: IPRax 2006,
140 ff.
6 Konkret schreibt hier das (staatliche) Recht der Volksrepublik Syrien (detaillierte Nachweise bei Elwan/Menhofer, Scheidungswunsch [Fn. 5], S. 326 f.) einen
Zustand fort, der auf Rechtsakte des osmanischen Reiches zurückgeht (näher D.
Zaffi, Das millet-System im Osmanischen Reich, in: C. Pan/B. S. Pfeil [Hrsg.], Zur
Entstehung des modernen Minderheitenschutzes in Europa, 2006, S. 132 ff.), die
wiederum ihrerseits den Minderheitenstatus nichtmuslimischer Gruppen nach den
Regeln des islamischen religiösen Rechts kodifizieren; zu diesem dhimmı̄- oder
milla-System näher I.2.
7 Vgl. dazu die ausführlichen Bibliographien am Eingang jedes Abschnitts unter
III.
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dernem Verständnis als „staatlich“ angesprochen werden müßten, eben nicht
umstandslos auf den ‚Konflikt‘ herunterbrechen läßt8. An die Seite, wenn
nicht an die Stelle solcher Auseinandersetzungen treten vielmehr über weite
Strecken der historischen Entwicklung Prozesse des geistigen Austauschs,
der Rezeption und Assimilation von Rechtsregeln und -praktiken, aber auch
Anleihen hinsichtlich der argumentativen Begründung von einzelnen Auslegungsergebnissen9.
Diese Bandbreite an Interaktionsprozessen, in die religiöse Rechtsordnungen involviert sein können, soll in der vorliegenden Studie anhand des Beispiels der Regelungen zum sog. Zinsverbot in den Rechtssammlungen der
orientalischen Nationalkirchen exemplarisch illustriert werden. Dies geschieht in der Hoffnung, ein differenzierteres Bild zu gewinnen, das die Begegnung religiös geprägter Rechtssysteme nicht vorschnell auf Konfrontationsszenarien reduziert.
Das Zinsverbot bietet sich als Objekt einer solchen Untersuchung aus wenigstens drei Gründen an. Erstens kennt das religiöse Recht aller drei großen Offenbarungsreligionen Verbote des „Wuchers“, so daß nach Problemlage und Lösungsansätzen zumindest ein Grundbestand an Gemeinsamkeiten als Voraussetzung einer möglichen Interaktion gegeben ist. Die
kirchenrechtlichen Sammlungen der verschiedenen orientalischen Nationalkirchen sind zweitens bislang nicht zum Gegenstand einer eingehenden
Analyse im Hinblick auf ihre Aussagen zur Legitimität des Zinsnehmens
gemacht geworden10. Eine solche soll im folgenden unternommen werden;
besonderes Augenmerk gilt dabei der Frage, ob in den einschlägigen Texten
– sei es in der theoretischen Begründung oder der praktischen Handhabung –
Rezeptionen „fremder“ Zinsdoktrinen zu verzeichnen sind. Eine solche
Übernahme ist – dies der dritte Grund – aufgrund der einzigartigen historischen Situation dieser Kirchen und ihrer Rechtssammlungen besonders
wahrscheinlich, befinden sie sich doch in geographischer wie geistiger Hin8 Eine erste Übersicht über die Vielfalt der interkonfessionellen wie interreligiösen Beziehungen verschaffen die Darstellungen von J. Joseph, Muslim-Christian
Relations and Inter-Christian Rivalries in the Middle East. The Case of the Jacobites
in an Age of Transition, Albany 1983, S. 3 ff. sowie A. Ducellier, Chrétiens
d’Orient et Islam au Moyen Age VIIe–XVe siècle, Paris 1996.
9 Man mag hier auch von Rechtstransplantation sprechen; zu diesem Konzept
jüngst im souveränen Überblick G. M. Rehm, Rechtstransplantate als Instrument der
Rechtsreform und -transformation, in: Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht 72 (2008), 1 ff.
10 Daß eine solche Darstellung ein Desiderat der Forschung ist, unterstreicht
A. E. Laiou, The Church, Economic Thought and Economic Practice, in: R. F. Taft
(Hrsg.), The Christian East. Its Institutions & its Thought. A Critical Reflection,
Rom 1996, S. 435 (440, 448).
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