1 Reform und Reformen im Kloster Studientag der Kath. Akademie Berlin: Tradition und Reform Unser Kloster in Alexanderdorf gehört nicht zu den altehrwürdigen, traditionsreichen Benediktinerinnenklöstern wie etwa die Abtei auf dem Nonnberg in Salzburg oder die Abtei St. Walburg in Eichstätt. Die Anfänge unseres Klosters liegen bei einer Gruppe von Rot-KreuzSchwestern in Berlin, die 1919 eine Wohnung in der Nähe des Hedwigskrankenhauses bezogen, wo die jungen Lernschwestern ihre krankenpflegerische Ausbildung erhielten. ANNEMARIE SCHALLER, Mitglied des Gründungskuratoriums, und MARIA QUELING, der zeitweise die Leitung der jungen Schwesternschaft oblag, hatten während des I. Weltkrieges in Belgien als Hilfsschwestern vom Roten Kreuz gearbeitet und dort die (1872) von Beuron gegründete Benediktinerabtei Maredsous kennengelernt. Bei Namen wie Beuron oder Maredsous klingt sofort die sog. „Liturgische Bewegung“ an. Wir denken an P. GÉRARD VAN CALOEN OSB, den ersten Novizen von Maredsous (unter Abt PLACIDUS WOLTER), der 1882 erstmals ein Laienmissale (lat./frz.)1 veröffentlichte, wobei er Anregungen aus dem Hauptwerk „L’année liturgique“ des Solesmenser Abtes PROSPER GUÉRANGER OSB (18051875) einarbeitete. 1883 hatte VAN CALOEN auf dem Eucharistischen Kongreß in Liege mit seiner Forderung, die Kommunion der Gläubigen sollte in der Messe stattfinden, für heftigen Widerspruch gesorgt, weil man dies als Störung der Andacht während der Messe und als Verunehrung des Sakraments empfand. VAN CALOEN machte zudem innerhalb des Benediktinerordens von sich reden, indem er aufgrund seiner Studien zum Mittelalter die missionarische Dimension, die apostolische Sendung, des Mönchtums, neu ins Licht zu rücken versuchte. Unvergessen bleibt neben dem vor wenigen Jahren seliggesprochenen Abt COLUMBA MARMION OSB (1858-1923) auch P. LAMBERT BEAUDUIN OSB († 1960), der nach Erfahrungen in der Arbeiterpriesterbewegung in Maredsous eingetreten war und auf dem Katholikentag 1909 in Mecheln das später berühmt gewordene – und durchaus mißverständliche - Wort geprägt hatte: „Il faut démocratiser la liturgie“ – Man muß die Liturgie dem Volk zurückgeben!2 1 Zwei Jahre darauf, 1884, erschien das lat.-dt. Meßbuch des Beuroner Benediktiners Anselm Schott OSB, das bis 1921 bereits 22 Auflagen erlebte. Vgl. MAAS-EWERD, T., Die Krise der Liturgischen Bewegung in Deutschland und Österreich, Regensburg 1981, 52f. 2 Dieses sog. „Mechelner Ereignis“ wird in der Literatur meist als Beginn der „Liturgischen Bewegung“ angesehen, die Rezeption ihres Anliegens auf gesamtkirchlicher Ebene durch die Enzyklika Pius’ XII. Mediator Dei (1947) als ein gewisser (kein Ende bedeutender) Abschluß. Zu den geistesgeschichtlich-theologischen Voraussetzungen der Liturgischen Bewegung gehörte die in der 2. Hälfte des 19. Jh. betriebene Grundlagenforschung auf den Gebieten Patristik, Bibelstudium, Ekklesiologie, Frühgeschichte des Christen- und des Mönchtums. Ende des 19. Jh. kam es zu drei für die spätere Liturgische Bewegung wichtigen Entwicklungen: die sog. Bibelbewegung, die gemeinschaftlich ausgerichtete Jugendbewegung und eine zunächst historisierende Liturgiebewegung (ein neues Aufleben der alten lateinischen Liturgietraditionen in monastischen und akademischen Kreisen). Vgl. REDTENBACHER, A., Liturgie und Leben. Erneuerung aus dem Ursprung. Liturgiewissenschaftliche Beiträge, Würzburg 2002 (im folgenden: 2 Die „Liturgische Bewegung“ am Beginn des vorigen Jahrhunderts, an der Benediktiner einen maßgeblichen Anteil hatten, zielte auf die Vertiefung christlichen Lebens durch die bewußte Hinwendung zur Liturgie der Kirche, um aus der Liturgie mit der Kirche zu leben. ANNEMARIE SCHALLER und MARIA QUELING, die zu prägenden Gestalten der jungen Rot-KreuzSchwestern in Berlin wurden, waren Oblatinnen der Abtei Maredsous. Ihr geistlicher Begleiter, P. EUGÈN VANDEUR OSB (1875-1967), der einen Teil seiner monastischen Ausbildung unter COLUMBA MARMION OSB erhalten hatte, besaß eine ausgeprägte Liebe zur Eucharistie und vertrat in seiner Tätigkeit als Frauenseelsorger die Überzeugung, daß ein theologisch und in gesunder Frömmigkeit begründetes Verständnis der Hl. Messe und eine treue Praxis der Teilnahme an ihr das geistliche Leben aufbauen und entscheidend vertiefen könnte. Für einen Kreis interessierter junger Frauen begann er deshalb ein Tagesordnung zu erarbeiten, deren Mitte die Eucharistiefeier war, auf die man sich am Vorabend durch die betende Lektüre der Meßtexte nach Art der monastischen Lectio divina vorbereitete. Verbunden mit dem Ideal der Liturgie als Lebensprogramm reifte in VANDEUR auch immer mehr der Gedanke, daß es Benediktinerinnenklöster geben müßte, in denen der Klostergedanke gleichsam in die Welt hinaus erweitert würde, in denen die Schwestern anderen Frauen helfen würden, von der Liturgie her in Familie und Gesellschaft zu wirken. Damit war die Idee eines Typs von Benediktinerinnen geboren, der sich deutlich von der damaligen Beuroner Konzeption weiblichen Mönchtums unterschied: - Benediktinerinnen ohne Gitter und ohne strenge päpstliche Klausur. - Zur Ausübung des liturgischen Apostolats soll die Liturgie für alle Besucher zugänglich sein und so gefeiert werden, daß Schwestern und Klostergäste eine Gemeinschaft bilden, die Chorplätze der Nonnen also im Kirchenraum sichtbar sind. - Keine Trennung von Chor- und Laienschwestern sowie eine gleiche Ausbildung für alle Mitglieder des Konvents, um ihnen die bewußte Teilnahme an der Liturgie zu ermöglichen. - Keine Mitgift darf beim Eintritt verlangt werden. - Die Schwestern tragen einen vereinfachten monastischen Habit. In Gestalt der Ideen von P. EUGÈN VANDEUR stand ganz am Anfang der jungen Berliner Krankenschwesterngruppe ein Reformimpuls, die Idee eines von Benediktinerinnen ausgeübten liturgischen Apostolats in einer Zeit liturgischen Aufbruchs in der Kirche. Es war eine Reformidee, die der Benediktiner von Maredsous mit den Worten bekräftigte: „Wir wollen jenen Geist REDTENBACHER, Liturgie), 27-29; KLÖCKNER, M./KRANEMANN, B., Liturgiereform – Grundzug des christlichen Gottesdienstes. Systematische Auswertung, in: DIES. (HGG.), Liturgiereformen. Historische Studien zu einem bleibenden Grundzug des christlichen Gottesdienstes, Teil II: Liturgiereformen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, Münster 2002 (im folgenden: KLÖCKNER/KRANEMANN, Liturgiereformen II), 1083-1108, hier: 1085; KACZYNSKI, R., Theologischer Kommentar zur Konstitution über die heilige Liturgie Sacrosanctum Concilium, in: HÜNERMANN, P./HILBERATH, B. J. (HGG.), Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil, Bd. II, Freiburg-Basel-Wien 2009, 1-227, hier: 24. 3 wiederbeleben, der nur von denen als lax gekennzeichnet wird, die die Ordens- und Mönchsgeschichte nicht kennen.“3 1923 übernahm Oberin HILDEGARD HENDL die Leitung der (inzwischen nach Berlin-Lankwitz übergesiedelten) Schwesterngruppe. Sie war eine ehemalige Postulantin der benediktinischen Gemeinschaft der Liobaschwestern und knüpfte an die Wegweisung der Benediktineroblatin MARIA QUELING an. Sie führte ein Morgen- und Abendgebet ein, das an der Liturgie der Kirche orientiert war, und das liturgische Tischgebet. Auch nahm sie die frühere Praxis wieder auf, in der Schwesterngemeinschaft Teile aus Prim und Komplet zu beten und die Meßtexte täglich mit Hilfe des „Schotts“ zu vertiefen. Der dann folgende Weg der jungen Gemeinschaft (die 1924 von Kardinal BERTRAM als „Unio pia“ [geistliche Gemeinschaft] mit dem Namen „St. Hildegardschwesternschaft“ bestätigt wurde) war durch ökonomische Probleme, Umzüge und sehr unterschiedliche geistliche Einflüsse markiert, z. B. durch den Steyler Missionar Pater BALKENHOL SVD, durch die Übernahme der Krankenschwesterntracht des Londoner John-Hopkins-Hospitals, durch Choralstunden bei dem Kirchenmusiker Dr. Hugo Berger, durch Unterrichtsstunden in Latein, Liturgie, Kunstgeschichte und Literatur. Zu einer stärkeren Orientierung in Richtung klösterlich-benediktinisches Leben und zu einer damit verbundenen Trennung von Krankenschwestern, die diesen Weg nicht mitgehen wollten, kam es erst im Mutterhaus Pankow, wo 1928 24 Schwestern ein (nach kirchlichen Rechtsbegriffen jedoch unverbindliches) Versprechen von Armut, Keuschheit und Gehorsam ablegten. Karitative Tätigkeit und Pflege der Liturgie sollten das Leben im „Kloster St. Hildegard“ in Pankow prägen. Entscheidendes Weggeleit erhielten die Schwestern durch P. AMBROSIUS GRONEWÄLLER OSB aus der Benediktinerabtei Gerleve sowie durch die Tutzinger Missions-Benediktinerinnen, deren Habit Klärend kann in diesem Zusammenhang auch eine inhaltliche Bestimmung des Begriffs „Reform“ sein: Der Terminus bezeichnet „allgemein die Veränderung eines als defizitär erkannten und hinter realen Gestaltungsmöglichkeiten zurückbleibenden status quo von Einstellungen, Lebensformen, Institutionen und Ordnungen“. Im Unterschied zur „Restauration“ zielt eine Reform nicht auf eine „Orientierung an vergangenen Denk- und Gestaltungsformen und deren Wiederherstellung“. Es geht nicht um einen „Rückgriff“, sondern gerade um eine „kreative Neuerung“, wobei sich „der Erneuerungswille durchaus aus der Verpflichtung gegenüber traditionellen Ideen speisen“ kann, aus dem Vermächtnis eines Gründers, aus einem Ethos, das es gerade durch die Reform zu wahren gilt. Im Unterschied zur „Revolution“ beruht die Reformation „auf einem Veränderungswillen, der bewußt am Bestehenden anknüpft, auf Kontinuität bedacht ist und den Traditionsbruch vermeidet“. Aus ethischer Perspektive besteht hierbei das Problem, daß „die in der Endlichkeit und Fehlerhaftigkeit menschlichen Handelns begründete Notwendigkeit stets neuer Reformen mit dem ebenso elementaren menschlichen Bedürfnis nach Stetigkeit und Verläßlichkeit und mit der … Ermöglichung von Einübung und Gewöhnung in Einklang zu bringen sind. Weiterhin sind unter ethischem Gesichtspunkt Angemessenheit und Förderlichkeit von Reformen für ein friedliches, gerechtes menschliches Zusammenleben zu bedenken. Auch sind Fragen der Bedingung, der Akzeptanz und der Durchsetzungsfähigkeit von Reformen zu bedenken. Aus praktischtheologischer Sicht ist festzuhalten, daß die Kirche eine ecclesia semper reformanda sein muß, „um in veränderter Zeit ihre Identität hindurchzutragen“. Dieser Prozeß bietet der Kirche die Möglichkeit, neue Seiten ihrer Identität zu entdecken und auszubauen. Der Wesenskern jeder kirchlichen Reform besteht in der „Umkehr zu einer möglichst wirksamen Christusnachfolge“ in wechselnden historischen Kontexten. Spirituelle Basis jeder kirchlichen Reform ist die Umkehrbereitschaft der Gläubigen – nicht nur derjenigen, die in der Kirche in besonderer Weise Verantwortung tragen. Vgl. BAUMGARTNER, A./FUCHS, O., Art. Reform, LThK 8 (31999) 927-929. 3 4 sie (ab 1931) bis heute tragen. 1929 erfolgte die kirchliche Anerkennung der Gruppe als „Geistliche Genossenschaft“ und die Übernahme des monastischen Offiziums. Als Spiritual kam P. BONAVENTURA REBSTOCK OSB 2x im Jahr aus Gerleve nach Berlin. 1930 erteilte Abt-Primas FIDELIS VON STOTZINGEN (Mönch von Maria Laach) den Schwestern die Erlaubnis, sich „Benediktinerinnen der Inneren Mission“ zu nennen. Weil sich der Dienstplan eines Krankenhauses unvereinbar mit dem durch die Gruppe angestrebten monastischen Leben erwies, reifte die nicht leichte Entscheidung, die krankenpflegerische Arbeit und die damit verbundene finanzielle Absicherung aufzugeben, um 1934 auf dem für wenig Geld erworbenen, verwahrlosten Gutshof in Alexanderdorf ein benediktinisches Gemeinschaftsleben zu beginnen. Der junge Konvent knüpfte mit dieser Niederlassung des ältesten abendländischen Mönchsordens in der Mark Brandenburg, in der es seit 400 Jahren kein Klosterleben mehr gegeben hatte, an die altehrwürdige monastische Tradition an. Auch die als Klosterpatronin gewählte Hl. Gertrud von Helfta stand für mittelalterliches Leben nach der Regel Benedikts im mitteldeutschen Raum. Was wurde nun in Alexanderdorf aus dem Reformimpuls von P. VANDEUR? Die Alexanderdorfer Gemeinschaft wich zunächst von den Reformideen VANDEURS ab, weil sie glaubte, Zugeständnisse machen zu müssen, um die kirchenoffizielle Anerkennung als „echte“ Benediktinerinnen zu erhalten. Noch vor der Übersiedlung nach Alexanderdorf fühlte sich Mr. Hildegard, die danach strebte, Mitglied der Beuroner Kongregation zu werden, verpflichtet, den Konvent in Chor- und Laienschwestern zu unterteilen. Der Konvent, der bisher alles gemeinschaftlich gemeistert hatte, sah sich plötzlich im Chor und Refektorium getrennt, mit zwei Formen des Chorgebetes, zwei Klassen von Schwestern, die unterschiedliche Arbeiten verrichteten. Diese mittelalterliche Einrichtung erschien dem Konvent so unerträglich, daß man die Trennung von Chor- und Laienschwestern bereits 1935 wieder abschaffte. Die Gemeinschaft war nicht bereit, jeden nur erdenklichen Preis für ihre kirchenrechtliche Anerkennung zu zahlen. Daß die Reform-Idee VANDEURS, ein benediktinisches Frauenkloster mit monastischen Chorgebet und einem liturgischen Apostolat zu schaffen, lebendig war, zeigte sich in der Öffnung der Schwesterngemeinschaft für Gäste, sofort nachdem in emsiger Arbeit das Klostergelände aufgeräumt und Klausur- sowie Gästeräume fertiggestellt worden waren. Christen der umliegenden Dörfer kamen an Sonn- und Festtagen zur Eucharistiefeier. Pfingsten 1934 war die Klosterkapelle bereits zu klein für die 150 Jugendlichen, die vor dem Kreuz im Klosterpark die Eucharistie feierten. Bald wurde eine Klosterscheune zur Jugendherberge umgebaut, in der liturgische Schulungskurse stattfanden, an denen auch Schwestern mitwirkten. Hausgeistlicher der Schwestern 5 war P. LUDGER BUREICK OSB aus der Abtei Gerleve. Aufgrund der Kriegswirren weilte von 19411947 auch P. BONAVENTURA REBSTOCK OSB aus Gerleve im Alexanderdorfer Kloster und gab dem Konvent in seinen Konferenzen wertvolle geistliche Anregungen, insbesondere zum Johannesevangelium, den Paulusbriefen und auf dogmatischem Gebiet zu Thomas von Aquin. Die mit ROMANO GUARDINI befreundete Frau Dr. IDA-MARIE SOLTMANN, Leiterin einer sozialen Frauenschule, hielt für einige Schwestern einen Kurs zum Erwerb der Missio canonica. Für die liturgische Weiterbildung des Konvents kam mehrmals im Jahr P. JUSTINUS ALBRECHT OSB aus der Abtei Grüssau, der sich einst nach seiner Primiz in Rom von Papst PIUS X. einen besonderen Segen erbeten hatte zur Förderung der Liturgie in Deutschland! Einfachheit, Natürlichkeit stand über dem klösterlichen Leben im Wechsel von Gebet und Arbeit (in Haus, Garten, Feld und Stall). Das Kloster wollte kein Fremdkörper im Dorf sein. Statt einer imposanten mittelalterlichen Mauer diente anfangs eine schlichte Hecke als Klausurgrenze. Allerdings mußte nach der 1950 von PIUS XII. veröffentlichten Apostolischen Konstitution Sponsa Christi (über das gottgeweihte jungfräuliche Leben) den Dorfbewohnern untersagt werden, am Sonntagmorgen auf dem Weg zur Kapelle den kürzeren Weg durch den Klostergarten zu nehmen. Nach der aus der Arbeit der sog. Piuskommissionen 4 hervorgegangenen Reform der Osternacht feierten die Schwestern 1951 die Ostervigil erstmals in der Nacht. Auch die Neugestaltung der Karwoche 1955 setzten sie sogleich praktisch um. 1959 beendete der Konvent zugunsten eines zeitgerechten Ansatzes der Horen des Stundengebets die Praxis, Prim, Terz, Sext und Non vor dem Hochamt zu beten! Beim Kapellenumbau 1963 wurde das Chorgitter entfernt, das die Schwestern bislang aus Gründen der kirchenrechtlichen Anerkennung als Benediktinerinnen beibehalten hatten. Zugleich entschied sich der Konvent für die bereits vor dem II. Vaticanum bestehende Möglichkeit eines freistehenden Altars, der auch die Möglichkeit zur Konzelebration bot. Im Februar 1963 fand das erste Hochamt versus populum statt. Im Mai 1963 betete Weihbischof Heinrich Theissing, der sich in unserem Kloster auf seine Bischofsweihe vorbereitete, in der Eucharistiefeier den Meßkanon laut. Im Dezember 1963 wurde die Liturgiekonstitution Sacrosanctum Concilium des II. Vaticanums veröffentlicht, deren Anregungen die Schwestern voll Interesse umsetzten. Im Folgejahr wurden Fürbitten im Hochamt eingeführt, die Lesungen wurden deutsch vorgetragen. Auch wurde das Hochamt an manchen Tagen mit deutschen Gesängen gefeiert, die u. a. von dem Oratorianer HEINRICH KAHLEFELD komponiert worden waren. Nachdem die Schwestern in der Papst Pius XII. hatte mit seiner Enzyklika „Mediator Dei“ (1947) die Liturgische Bewegung in ein gesamtkirchliches Vorhaben erhoben. Dieses Lehrschreiben war – auch wenn noch einzelne Anliegen der Liturgischen Bewegung noch unverstanden blieben – bahnbrechend für die Liturgische Bewegung und für den Liturgiebegriff selbst, der inhaltlich nicht mehr auf eine rubriziert geregelte Handhabung von Riten eingegrenzt wurde. Zudem faßte Pius XII. schon eine offizielle Liturgiereform in der Weltkirche und dafür ein eigenes Konzil ins Auge. Er richtete zu diesem Zweck eigene Kommissionen, die sog. „Pius-Kommissionen (1948-1960), ein. Vgl. REDTENBACHER, Liturgie, 29. 4 6 Hostienbäckerei zunächst die aufgeprägten Symbole weggelassen hatten, stellten sie nun auch auf die sog. Brothostien um. Im Dezember 1964 fand hier in unserem Kloster die erste Konzelebration im Bistum Berlin statt. Im Folgejahr feierte der Konvent erstmals eine Triennalprofeß mit deutschen Gesängen sowie die Feierliche Profeß von zwei Schwestern innerhalb eines deutschen Wortgottesdienstes mit Gesängen von HEINRICH KAHLEFELD. Die seit 1964 deutsch gebetete Werktagsmatutin wurde ab 1968 im Tonus naturalis gebetet. Gleichzeitig kam erstmals Frau AUGUSTE GERHAUSER in unser Kloster zur Stimmbildung und Sprecherziehung der Schwestern. 1966 fand erstmals ein ökumenischer Vespergottesdienst in unserer Kapelle statt mit der Predigt des evangelischen Pfarrers. Nach 1967 entschieden sich die Schwestern aus Gründen einer einfacheren Kleidung, im Gottesdienst keine Kukullen mehr zu tragen. Sie verzichteten damit auf das seit dem Mittelalter gebräuchliche Zeichen für die Mönchsprofeß! 1968 fand in der Eucharistie erstmals die Kommunion unter beiden Gestalten für alle Mitfeiernden statt. Die neuen Meßkanones wurden ausprobiert. Ab 1977 erhielt der Konvent bei dem späteren Domkapellmeister der Berliner Hedwigskathedrale, Herrn MICHAEL WITT, Unterricht im Choralgesang, im Orgelspiel und im Solovortrag deutscher Antwortgesänge. Herr HEINRICH RUMPHORST, der im selben Jahr damit begann, unsere Schola in Semiologie zu schulen, studierte in späteren Jahren mit uns auch restituierte Choralmelodien ein. 1979 wurde der Grundstein für unsere neue Abteikirche gelegt, deren zukünftige Gestaltung der Konvent mit Fachleuten kontrovers diskutierte. Jeder Raum, auch jede Kirche, ist Symbol für ihre Bewohner. So wie unsere Gemeinschaft in Alexanderdorf sich versteht, wie sie feiert, welchen Glauben sie lebt und weitergibt – all das sollte in der schlichten Gestalt unserer Kirche zum Ausdruck kommen. Kolloquien zu Fragen des Gemeinschaftslebens und vor allem der Liturgie entfachen bis heute die intensivsten und heißesten Diskussionen im Konvent. Die nicht leichte Entscheidung Mitte der 90er Jahre, einander zu duzen, warf die Frage nach gültigen Formen ehrfurchtsvollen Umgangs innerhalb monastischer Gemeinschaften von heute auf. Auch melodische Veränderungen in den von uns gesungenen Choralstücken aufgrund neuer Erkenntnisse aus dem Studium alter Handschriften und der damit verbundenen Neumenrestitution stießen und stoßen teilweise auf heftigen Widerstand im Konvent. Schwestern leben seit Jahrzehnten mit Gebetstexten und –melodien, die Teil ihres Lebens mit Gott geworden sind, die Halt bieten, mit kostbaren Erinnerungen verbunden sind. Hier entsteht immer neu die Frage, wieviel Reform muß sein, wieviel an zweifellos wissenschaftlich begründeter Veränderung nützt einer Vertiefung des geistlichen Lebens? Nach einer Studienwoche im Jahr 2004 mit P. GEORG BRAULIK OSB (Wien) entschlossen wird uns, die von ihm gemeinsam mit P. NORBERT LOHFINK SJ auf der Basis historisch-exegetischer 7 Quellenstudien erneuerten Lesungs- und Gebetstexte für die Osternachtfeier 5 bei uns auszuprobieren. Auch hier wurde im Konvent die Frage nach dem verlorengegangenen „Wiedererkennungseffekt“, nach einer Beheimatung in der Liturgie mit ihren vertrauten Texten und nach einer fehlenden Verbindung zur Weltkirche aufgeworfen. Viel ist auch heute noch in Bewegung in unserem Kloster hier in Alexanderdorf. Aber gibt es so etwas wie einen „roten Faden“ in der Entwicklung unserer Gemeinschaft vom ursprünglichen Reformimpuls P. VANDEURs an, von der Idee eines liturgischen Apostolats und der Vertiefung des geistlichen Lebens durch die Feier der Liturgie der Kirche? Was steckt hinter den vielen Veränderungen und Neugestaltungen der vergangen 75 Jahre – hinter dem Interesse für die Reformimpulse des II. Vaticanums, hinter dem Bemühen um eine sorgfältig, einladend gestaltete und bewußt mitvollzogene Liturgie in unserem Kloster? Was verbirgt sich hinter der Präferenz für den Gesang, der Verwendung der deutschen Sprache im Gottesdienst bei gleichzeitiger Wertschätzung des gregorianischen Chorals? Was bewegte unsere Schwestern bei der Gestaltung unserer Kirche ohne Treppchen, Stufen und Podeste und ohne ein von den Gästen abschirmendes Chorgestühl? Man kann diesen „roten Faden“ in der Entwicklung unseres Klosters von den Anfängen bis heute vielleicht mit dem Terminus „actuosa participatio“ umschreiben, einem Begriff der zu dem Leitbegriff der Liturgiekonstitution des II. Vaticanums und der nachfolgenden liturgischen Erneuerung geworden ist.6 Bereits 1903 hatte PIUS X. im Motu proprio „Tra le sollicitudini“ im Zusammenhang mit seinem Bemühen um die Erneuerung der Kirchenmusik und des liturgischen Gesangs vom Erfordernis einer partecipazione attiva gesprochen, einer aktiven Teilnahme der Gläubigen. Mit Bezug auf dieses Motu proprio hatte LAMBERT BEAUDUIN 1909 beim „Mechelner Ereignis“ die Notwendigkeit des Mittuns der Gläubigen beim Gottesdienst unterstrichen und zwei wichtige Schritte dazu herausgestellt: Das Verständnis der liturgischen Texte, so daß die Gläubigen dem ganzen Gottesdienst folgen können, und den gemeinsamen Gesang. 7 Der Gedanke einer actuosa participatio war der inhaltliche Leitbegriff der liturgischen Erneuerung um Zentren und Persönlichkeiten der damaligen Zeit wie Maria Laach und Abt ILDEFONS HERWEGEN, Burg Rothenfels und ROMANO GUARDINI, das Leipziger Oratorium und HEINRICH KAHLEFELD, die Basisgemeinde St. Gertrud und Augustinerchorherr PIUS PARSCH etc. Papst PIUS XII. griff mit 5 Vgl. BRAULIK, G./LOHFINK, N., Osternacht und Altes Testament. Studien und Vorschläge, Frankfurt a. M. 22003; DIES., Osternacht und Altes Testament. Ergänzungsband, Frankfurt a. M. 2008. 6 Vgl. KLÖCKNER/KRANEMANN, Liturgiereformen II, 1097. 7 Vgl. STUFLESSER, M., Actuosa Participatio – Zwischen hektischem Aktionismus und neuer Innerlichkeit. Überlegungen zur „tätigen Teilnahme“ am Gottesdienst der Kirche als Recht und Pflicht der Getauften, LJ 59/3 (2009) 147-186 (im folgenden: STUFLESSER, Participatio). 8 seiner Enzyklika Mediator Dei8 aus dem Jahr 1947 das Anliegen der Liturgischen Bewegung auf (neben einigen Korrekturen und Zurückweisungen) und präzisierte zugleich den Begriff der actuosa participatio. Er ging von der Grundbedeutung des Begriffs participatio als Terminus technicus für den Kommunionempfang, für die uns von Gott gewährte Teilhabe an Leib und Blut Christi9 aus und unterstrich die enge Verbindung von Priester und Gemeinde bei der Feier des Meßopfers, das wirkliche Mitopfern der Gläubigen, nicht nur durch die Hände des Priesters, sondern zusammen mit ihm. Und der Papst betonte die Teilhabe am Opfer Christi durch den Empfang der eucharistischen Gestalten. Außerdem hob PIUS XII. in seinem Lehrschreiben die innere Haltung der Gläubigen hervor, die ihr persönliches Gebet mit den Texten den hl. Messe verbinden sollen. Dieser inneren Teilnahme entspräche dann die äußere, das Antworten der Gläubigen auf die Zurufe des Priesters.10 An diese Gutheißung der participatio knüpfte die Konzilskonstitution Sacrosanctum Concilium11 des II. Vaticanums an. Die nachfolgende Liturgiereform hatte kein anderen Ziel als die Ermöglichung der actuosa participatio.12 Hierbei ging es um keine moderne Neuerung, sondern um die Rückbesinnung auf das Mysterium, das am Anfang des Christseins steht: das Mysterium der Taufe. Es waren u. a. auch große Gestalten des Benediktinerordens, wie etwa Abt COLUMBA MARMION OSB von Maredsous oder der Verfasser eines der einflußreichsten Regula-Benedicti-Kommentare des 20. Jahrhunderts, Abt PAUL DELATTE OSB von Solesmes, deren geistliche Lehre Aussagen des II. Vaticanums vorwegnahm bzw. vorbereitete. Charakteristisch für MARMION, mit dessen Schriften unsere Schwestern bereits im Mutterhaus in Pankow bekannt wurden, war sein Abrücken von dem Moralismus, der dogmatischen Abstraktion und der individualistischen Frömmigkeit, die für die geistliche Literatur zu Beginn des 20. Jahrhunderts prägend gewesen waren. Er verstand christliche Heiligkeit als Vollzug jenes Lebens, das dem Christen in der Taufe geschenkt worden ist, als Vollendung der Taufgnade im eigenen Leben. Das Herzstück der Spiritualität MARMIONS, die Vision des Heilsplanes Gottes, jeden Menschen in die Vereinigung mit ihm durch seinen Sohn Jesus Christus einzubeziehen, findet sich im Zentrum des vom II. Vaticanum entworfenen Kirchenbildes in LG 5.13 Die Zentralität der Taufe für jedes christliche und damit ebenso für das benediktinisch-monastische Leben wurde auch von PAUL DELATTE und neueren Kommentatoren 8 PIUS XII., Mediator Dei et hominum, AAS 39 (1947) 521-595. Vgl. I. Hochgebet: ex hac altaris participatione; 1 Kor 10,16: Ist der Kelch des Segens, über den wir den Segen sprechen, nicht Teilhabe (grch.: koinwniva/lat.: communicatio) am Blut Christi? Ist das Brot, das wir brechen, nicht Teilhabe (grch.: koinwniva/lat.: participatio) am Leib Christi? Vgl. STUFLESSER, Participatio, 151.155. 10 Vgl. STUFLESSER, Participatio, 155. 11 Constitutio de Sacra Liturgia. „Sacrosanctum concilium“, AAS 56 (1964) 97-138. 12 Vgl. SC 26-31; Pastorales Schreiben. Mitte und Höhepunkt des ganzen Lebens der christlichen Gemeinde. Impulse für eine lebendige Feier der Liturgie (Die deutschen Bischöfe 74), Bonn, 24. Juni 2003, 22. Die Begriffe participatio/participare kommen insgesamt 28mal in der Konstitution vor. Vgl. STUFLESSER, Participatio, 157. 13 HICKEY, M., Die Spiritualität des Columba Marmion, in: TIERNEY, M., Columba Marmion. Eine Biographie, Wiesbaden 2002, XIX-XXIV. 9 9 der Regel Benedikts wie Abt GEORG HOLZHERR OSB (Einsiedeln) oder P. TERRENCE KARDONG (Richardton, USA) betont. Sie führen damit in das Zentrum der Spiritualität Benedikts und seiner Regel. Christsein, Mönchsein, Schwestersein bedeutet: Leben aus der Taufe.14 Durch die Taufe gewinnt jeder Getaufter auch Anteil am Vollzug des Priesteramtes Christi. Diese von Christus gewährten Anteilgabe bedingt und erfordert dann die volle Teilnahme der Getauften an der Liturgie, in der Christus der eigentlich Handelnde ist. Die liturgische Versammlung wird jedoch mit ihm und abhängig von ihm Subjekt der Liturgie. Das ist es, was das II. Vaticanum wieder neu in das Bewußtsein gehoben hat. Es hat damit das getan, was seiner ureigenen Aufgabe entspricht. Kardinal RATZINGER sagte anläßlich des 40. Jahrestages der Konzilskonstitution SC: „Aufgabe der Konzilien ist also nicht, vorher Unbekanntes hervorzubringen, sondern aus den Strömungen einer Zeit das Gültige, wirklich aus dem Glauben der Kirche Herausgewachsene herauszufiltern, auf diese Weise Gemeinsamkeit zu schaffen und die Richtung des weiteren Weges zu bestimmen.“15 Was ist das bleibend Gültige, das das II. Vaticanum in enger Verbindung von Ekklesiologie und Liturgie 16 wieder neu ins Bewußtsein der Kirche gehoben hat? Es ist das Bewußtsein, daß die Liturgie der Kirche nicht die mystische Versenkung des Einzelnen bedeutet, sondern immer ein gemeinschaftliches Handeln der Kirche ist, die dabei hineingenommen wird in das Handeln Christi, ihres Hauptes. Eine solche Liturgie erfordert die volle Teilnahme aller Glieder der Kirche, also aller Getauften, was jedoch in einer auf Kleriker zentrierten Liturgie über Jahrhunderte nicht mehr handlungsleitend gewesen ist. Die Liturgie der Kirche erfordert zudem die bewußte Teilnahme aller Getauften, bei der sie nicht Gottesdienst-„Besucher“ sind, sondern im Bewußtsein ihrer Taufe, ihres Hineingenommenseins in das Pascha-Mysterium, mitfeiern. Und es erfordert eine Teilnahme an der Liturgie, die mit dem Terminus actuosus umschrieben wird und ein inneres Erfülltsein meint, das sich leibhaft Ausdruck verschafft in einer Liturgie, die die Leibhaftigkeit des Menschen ernst nimmt.17 14 Vgl. SCHEIBA, M., Gehorsam gegenüber dem Abt. Ein Beitrag zur Auslegungsgeschichte der Benediktus-Regel im 20. Jahrhundert, St. Ottilien 2009. 15 Vgl. RATZINGER, J., 40 Jahre Konstitution über die Heilige Liturgie. Rückblick und Vorblick, LJ 53 (2003) 209-221, hier: 209. 16 Zur Korrelation zwischen Kirchenbild und Liturgieverständnis siehe auch: JEGGLE-MERZ, B., Liturgia semper reformanda. Zum Stand der Liturgiereform in Deutschland, in: KLÖCKNER/KRANEMANN, Liturgiereformen II, 814-833, hier: 818. 17 Vgl. STUFLESSER, Participatio, 161-168. Der Reformgedanke des II. Vaticanums führt hier ins Zentrum des christlichen Reformbegriffs und seines personalen Charakters, wie er im NT besonders von Paulus entfaltet worden ist. Mit „reformatio“ wird im lateinischen NT der griechische Begriff metamovrfwsiς wiedergegeben, jene Erneuerung des Menschen auf die Gottebenbildlichkeit hin, die ihm lt. Gen 1,26ff in der Schöpfung verliehen worden ist. Der ntl. Reformbegriff geht vom Mysterium der Neugeburt in Christus aus. Reform meint die Fortsetzung der Wiedergeburt der Taufe, die Umformung des Menschen nach dem Bild Gottes. Hier muß auch jede andere Reform innerhalb der Kirche ansetzen – und zwar immer wieder neu in sich verändernden historischen Kontexten. Ein zeitlos gültiges Modell kirchlich-institutioneller Reform kann es aufgrund der Geschichtlichkeit der Kirche nicht geben. Vgl. auch weiterführend: CONZEMIUS, V., Art. Reformbewegungen, SM 4 (1969) 113-125. 10 Die vielfältigen Reformen in unserem Kloster – angefangen vom Reformimpuls, der am Beginn unserer Klostergründung stand, zielten nicht zuerst auf eine Erneuerung von Liturgie, sondern auf die geistliche Erneuerung durch die Liturgie. Der entscheidende Reformgedanke, der sich verborgen aber wie ein roter Faden durch den geschichtlichen Gestaltwandel unserer Gemeinschaft zieht, ist daß am Beginn unseres Lebens, am Beginn jeder Liturgiefeier nicht das Eingangslied oder ein Versikel steht, sondern das Bewußtsein unseres Christseins durch die Taufe, die wir Schwestern in unserer monastischen Profeß bekräftig haben, und deren geistliche Kraft sich entfalten und im ewigen Leben vollenden will. Alexanderdorf, den 24. Oktober 2009 Sr. Manuela Scheiba OSB