Watkins, J. G., Watkins, H. H.: Ego-States: Theorie und Therapie. Ein Handbuch. Carl-Auer-Systeme, Heidelberg 2003, EUR 76 Das Ziel dieses Buches besteht darin, wie Ernst Federn im Vorwort erklärt, hypnotherapeutische Techniken mit psychoanalytischen Konzepten zu verbinden und eine Kurzpsychotherapie auf der Grundlage von Paul Federns Ich-Psychologie zu entwickeln, insbesondere dessen Entdeckung der Existenz von Ich-Zuständen, von „Ego-States“. Dieses Anliegen löste bei mir eine ebenso zwiespältige Reaktion aus wie so viele andere Veröffentlichungen in den letzten Jahren in Zusammenhang mit dem Modethema „Traumatherapie“. Ist es wirklich so, dass traumatherapeutische Zugangsweisen Neues hervorbringen? Oder werden dabei in Wirklichkeit „alte Hüte“ mit neuen Namen versehen? Wie steht es mit der Effektivität traumatherapeutischer Zugangsweisen – kurzfristig, mittelfristig, aber auch langfristig? Kann man gegenwärtig überhaupt etwas über langfristige Wirkweisen von Traumatherapien aussagen, nachdem der Diskurs erst etwa zehn Jahre jung ist? Sollten wir daher nicht mit großer Vorsicht an diese Verfahren herangehen und uns einer endgültigen Beurteilung vorläufig enthalten, so lange wir nicht über langfristige Wirkstudien verfügen? Der von den beiden Autoren dargelegte Validitätsstudie liegt zwar ein längerer Beobachtungszeitraum zugrunde, sie dürfte aber aus wirksamkeitsforscherischer Sicht von den angelegten Kriterien her Zweifel offen lassen, wie aussagekräftig die erhobenen Daten tatsächlich sind. Jedoch gebührt den beiden Watkins Anerkennung für die Mühe, ein solches Bewertungssystem entworfen zu haben. Einerseits ist auch beeindruckend, was man in diesem Buch der beiden Watkins, beide Pioniere der Ego-State-Therapie, zu lesen bekommt. Ihre Therapie wurde in den letzten 30 Jahren entwickelt und stützt sich auf psychoanalytische Theorien, hypnoanalytische Techniken und neuere Erkenntnisse aus der Behandlung dissoziativer Störungen. Sie ist als Interventionsmodell bei einer Vielzahl von Störungen wirksam, darunter Angst- und Stimmungsstörungen, Posttraumatischer Stress (PTSD), Stottern, Boderline- und Sexualstörungen. Ein Verdienst dieses Buches besteht ohne Zweifel darin, die Zwei-EnergieTheorie Federns gut verständlich darzulegen und auf ihr aufzubauen. Wesen und Funktionen von Ich-Zuständen werden erläutert, es werden Ich-Zustände bei normalen Individuen und bei verschiedenen Störbildern erläutert, vor allem bei der multiplen Persönlichkeit. Den beiden Autoren ist das Bekenntnis zugute zu halten, dass bei allen Chancen auf Verkürzung von Therapiezeiten die Psychotherapie schwergestörter Patienten eben doch viele Jahre dauern kann. Dieses Grundbekenntnis kontrastiert in gewisser Weise mit dem Ziel des Buches, der Darstellung einer Kurzpsychotherapie. Man könnte aufgrund der Lektüre zu dem Schluss gelangen, dass der Grad der Störung ausschlaggebend dafür ist, wie lange eine Therapie dauert, und dies relativ unabhängig vom methodischen Zugang. Dennoch sind es in erster Linie die theoretischen Erkenntnisse des Psychoanalytikers Federn, die es erleichtern, komplizierte Psychodynamiken besser verstehen zu können. Ebenso ist es ein Verdienst der gesamten traumatherapeutischen Bewegung – und dieses Buch zählt mit Sicherheit zu den fundiertesten Bekundungen dieser Bewegung – den interdisziplinären und auch methodenintegrativen Dialog angeregt zu haben. Dadurch wurden bestimmte psychoanalytische Einseitigkeiten einer kritischen Revision unterzogen, z. B. ein überzogener psychoanalytischer Determinismus, in dem es die Kategorie „Opfer“ gar nicht gibt. Die Frage bleibt für mich dennoch offen, ob eine solche angestrebte Integration – in diesem Fall von psychoanalytischen und hypnotherapeutischen Vorgehensweisen – möglich und auch sinnvoll erscheint; mit anderen Worten: ob sich ein ressourcenorientiertes Vorgehen mit einem konfliktzentrierten psychodynamischen von der Art der Logik des Vorgehens und auch dem dahinter stehenden Menschenbild verträgt. Nicht dass es unverständlich wäre, dass angesichts des Kostendrucks und Zeitmangels im Gesundheitswesen neue Behandlungsformen als zukunftsfähige Methoden für das 21. Jahrhundert angepriesen werden. Zu diesen neuen Methoden gehören viele traumatherapeutische und auch die eine oder andere aus dem hypnotherapeutischen Feld wie die der beiden Watkins. Kritisch ist zu hinterfragen, ob hier nicht eine Verwässerung und Verflachung von Erkenntnissen stattfindet, die immerhin mittlerweile eine über hundertjährige Geschichte haben. Zu prüfen wäre bei jedem einzelnen „Traumafall“, ob ein Schock vorliegt oder tatsächlich ein Trauma. Einen Schock kann der Betreffende aus eigener Kraft aufgrund eigener Ressourcen und einer guten versorgenden Umgebung selbst überwinden – vielleicht sind ihm dabei ein oder zwei stützende und beratende Gespräche hilfreich. Bei Patienten nach Banküberfällen konnte ich eine derartige Erfahrung machen; ihnen zu raten, ihre Bindungsressourcen in den nächsten Tagen zu aktivieren, sich viel bei Verwandten oder guten Freuden aufzuhalten, mit ihnen zu reden, dort zu schlafen, bei Bedarf auch körperlichen Kontakt zu suchen, und sich vorübergehend bedarfsweise schlafanstoßender medikamentöser Hilfe zu bedienen, erweist sich in aller Regel als hilfreich und auch ausreichend. Spezielle therapeutische Maßnahmen sind nach meiner Erfahrung nicht notwendig. D. h. bei akuten einmaligen Traumatisierungen durch ein außergewöhnliches belastendes Erlebnis kann eine solche Vorgehensweise indiziert sein, wenn sie sich primär auf die mit dem Trauma in Verbindung stehenden seelischen Manifestationen konzentriert und auf sie einschränkt, um das akute Schockmoment zu entschärfen. Anders verhält es nicht naturgemäß bei Patienten, deren Störung nicht primär durch ein traumatisches Ereignis an einem an sich stabilen Selbst zu verstehen ist, sondern deren Störung durch ein solches Ereignis aus dem Dunstkreis der Verdrängung bzw. Abspaltung emporgehoben wurde. Hier macht die Erfahrung deutlich: Die Anzahl der Patienten, deren Störung primär durch ein traumatisches Ereignis eines an sich stabilen Selbst eingetreten ist, ist verschwindend gering im Vergleich zu Patienten mit Neurosen, Persönlichkeitsstörungen, Borderline-Störungen und Psychosen. Haben wir es daher – überspitzt formuliert - nicht mit einem „Diagnoseschwindel“ (Tenbink, 2003) zu tun, wenn wir solche Patienten, die irgendwann ein Trauma erleiden und mit dessen Folgen nicht zurecht kommen, zu „posttraumatischen Störungen“ umdefinieren? Ist ein solcher „Diagnoseschwindel“ nicht Voraussetzungen für die Hochkonjunktur traumatherapeutischer Ansätze? Geht uns – folgen wir der neuen traumatherapeutischen Logik – eigentlich nicht auch viel verloren? – nämlich ein tiefes und angemessenes Verständnis der Störung und ein Verständnis, dass die angewandte Theorie, auf der dieser Schwindel beruht, diese Tiefe und Komplexität von vornherein gar nicht berücksichtig? Laufen wir nicht Gefahr, auf diese Weise ein entwicklungsbezogenes Verstehen seelischer Prozesse zu unterhöhlen? Geht ein solches Vorgehen nicht auf Kosten der langfristigen Entwicklung von Patienten, deren illusionäre Therapievorstellungen sich mit denen jener Therapeuten unheilvoll verbünden, die an verkürzte Heilprozesse glauben? Diese Fragen möchte ich zunächst so stehen lassen – die Zukunft wird entscheiden, was vom Ansatz der beiden Watkins und noch anderen Ansätzen dieser Art zu halten ist, und zwar erst dann, wenn der spürbare Enthusiasmus (ohne dem Neuerungen auch nicht möglich sind) verpufft ist und sich die Spreu vom Weizen in einem selbstregulatorischen Prozess scheidet. Profitieren werden von der Lektüre dieses Buches vor allem nichtpsychoanalytische Kolleginnen und Kollegen, die mit psychoanalytischen Konzeptbildungen, in diesem Fall von der Handschrift Federns, weniger vertraut sind. Leider ist das Buch mit einem Verkaufspreis von 76 Euro im Verhältnis zum Umfang von knapp 300 Seiten als teuer einzustufen, was die Kauflust deutlich in Grenzen halten dürfte. Literatur: Tenbrink, D. (2003): Das Trauma aus psychoanalytischer Sicht. Zeitschrift für Individualpsychologie 28. Jg., 3, S. 271-287 Peter Geißler