Leiden, das aus der Seele kommt

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Leiden, das aus der Seele kommt
Der Ausdruck “Psychosomatisch“ wurzelt in der Antike: Die griechischen Wörter
“psyche“ (Seele) und “soma“ (Körper, Leib) liegen ihm zugrunde. Psychosomatische Medizin
bedeutet daher soviel wie “seelisch-körperliche Medizin“, “leib-seelische Heilkunde“ oder
“Medizin, die sich mit Körper und Seele befasst“. Die Psychosomatik, die psychosomatische
Medizin zielt ab auf die Einheit von Leib und Seele, es geht bei ihr um leib-seelische
Zusammenhänge auf der Ebene von Beschwerden, von Krankheitsbildern und
psychophysiologischen Beobachtungen, aber auch um eine besondere therapeutische
Methodik.
Bereits im klassischen Altertum – so in Platos Dialog “Charmides“ – existierte das Wissen
um die Einheit von Leib und Seele: In jenem Dialog gibt Sokrates einem jungen Mann, der
unter Kopfweh leidet, den folgenden Rat: Damit es dem Auge wieder gut gehe, müsse man
den ganzen Kopf behandeln, damit es aber auch dem Kopfe wieder gut gehe, müsse man
den ganzen Leib kurieren; und damit es dem Leib wirklich gut gehe, sei auch die Behandlung
der Seele nötig. Von ihr nämlich, von der Seele, gehe alles aus – “Gutes wie Böses, für den
Körper wie für den ganzen Menschen…..“zur Behandlung der Seele werden dann die
“schönen und guten Reden“ empfohlen – eine Therapie mit Worten also.
Die psychosomatische Medizin des Plato, die er durch Sokrates vortragen liess, war
indessen zu jener Zeit vor allem die Idee der Philosophen – praktiziert wurde sie kaum. Die
moderne psychosomatische Medizin ist weit jüngeren Datums. Im Jahre 1818 schuf der Arzt
und spätere Psychiater Heinroth den Begriff “psychosomatische Medizin“. Er interpretierte
die verschiedensten körperlichen Störungen als “aus der Seele heraus entstanden“. Nach
seiner Meinung verursachen “böse“ und “sündhafte“ Leidenschaften körperliche Störungen,
wie etwa Tuberkulose, Epilepsie oder Krebs. Grosse Fortschritte verzeichnete die
psychosomatische Medizin nach dem Ersten Weltkrieg. In der Schule des Heidelberger
Internisten von Krehl wurden die psychosomatischen Wechselbeziehungen neu erkannt und
untersucht. Man ging der Frage nach, wie sich Affekte und Emotionen auf das körperliche
Geschehen auswirken und versuchte, Zusammenhänge zwischen Seele und körperlicher
Krankheit aufzudecken. Forscher wie Victor von Weizäcker (1886-1957) und G. von
Bergmann (Kliniker in Berlin und München) sowie die Physiologen Walter Cannon und W.R.
Hess gehören zu Wegbereitern der psychosomatischen Medizin, die auch seitens der
Psychiatrie durch namhafte Persönlichkeiten wie Freud, Abraham und Federn Unterstützung
und Förderung erfuhr, so dass sie sich als wissenschaftliche Disziplin etablieren konnte.
Alexander Mitscherlich – Mittler zwischen innerer Medizin und Psychiatrie und einer der
Schöpfer der modernen Psychosomatik – betont in seinen Studien zur psychosomatischen
Medizin, dass “Leibheilkunde (Somatotherapie) beim Menschen nicht genüge und durch eine
Seelenbehandlung zu ergänzen sei, wodurch die Therapie erst ihre Vollständigkeit erreiche
und zur “Menschenbehandlung“, zur Anthropotherapie, werde.
Den Ausgangspunkt der seelischen Behandlung bildeten ursprünglich Krankheitsbilder wie
Angstzustände, Hysterien, Zwangsneurosen. Schliesslich erkannte man, dass vielen, bislang
körperlichen aufgefassten Krankheiten eine grosse seelische Dynamik innewohnt: Man
entdeckte den Magen-Darm-Trakt, die Atemwege, die Blase, die Haut als “mögliche Mittler
seelischer Impulse“ (A. Mitscherlich). Als aber auch Infektionskrankheiten und hormonale
Störungen in den Kreis dieser möglichen Mittler traten, begriff man vollends, dass nur eine
neue Auffassung von Wesen der Krankheit und ihrer Behandlung – eine spezifisch
menschliche, eine psychosomatische – hier zum Ziele führen konnte.
Psychosomatik – eine Denkweise
Die moderne psychosomatische Medizin ist nun aber nicht etwa eine Verbindung zwischen
Psychiatrie und innerer Medizin. Sie ist auch kein Fachgebiet, das eine weitere
Aufsplitterung der herkömmlichen Allgemeinmedizin bedeuten würde. Psychosomatik ist vor
allem eine Denkweise, aber auch eine besondere Art der Betrachtung krankhafter Prozesse.
Das Seelische wird in die Diagnose einbezogen. Verhalten und Erleben werden im
Zusammenhang mit den körperlichen Beschwerden und Symptomen gesehen. Der Patient
ohne organischen Befund wird in seinem Leiden genauso ernst genommen wie der Kranke
mit eindeutig feststellbarer körperlichen Anzeichen. Einwirkungen der Seele auf den Körper
sind jedem vertraut, auch dem Gesunden. Der Sprachgebrauch hat sich diese
Wechselbeziehungen schon lange zu eigen gemacht: Man spricht etwa vom Gelbwerden vor
Neid; vom Angstschweiss, der auf die Stirne tritt; von der Schamröte, die ins Gesicht steigt;
vom Blasswerden vor Schreck; von Sorgen, die auf den Magen drücken. Alle diese
Formulierungen bilden seelische Vorgänge mit Worten ab. Ausdrücke, wie tödliche Angst
haben oder sterbensmüde sein, deuten gar die Möglichkeit an, von gefühlsmässigen
Einflüssen existenziell gefährdet zu sein. Allerdings ist demjenigen, der diese Ausdrücke
verwendet, die fatale Bedeutung in der Regel nicht bewusst: Sterben kann seiner Meinung
nach nur, wer krank ist oder von einem Unglück betroffen wird. Entsprechend dieser
rationalen, vernunftbetonten Betrachtungsweise gehört in die Sprechstunde des Arztes vor
allem der körperlich Kranke, also der Magenkranke in die Behandlung des
Magenspezialisten oder der Rheumatiker in diejenige des Rheumatologen. So hätte denn
eigentlich jede Krankheit ihre Anlaufstation, an die sie verwiesen werden kann, und es ginge
letztlich nur noch darum, mit der richtigen Krankheit den richtigen Doktor aufzusuchen. Dafür
stehen einem heute viele Hilfsmittel zur Verfügung. Die im Telefonbuch rubrizierten
Adressen von Ärzten zum Beispiel, die schön nach Fachgebieten geordnet sind, lassen
einen nicht mehr im Ungewissen, an wen man sich zu wenden hat. Zweifel – und manchmal
sogar Verzweiflung – können den Hilfesuchenden aber befallen, wenn die Symptome und
Beschwerde, die offensichtlichen Krankheitsanzeichen, trotz spezialärztlicher
Untersuchung – nach Blutbild, Röntgenstatus, Ultraschall und Magenspiegelung – nicht
verschwinden. Zweifel an der Fähigkeit des Arztes kommen auf. Verzweiflung wegen der
Aussichtslosigkeit einer Gesundung nach all diesen vergeblichen Untersuchungen und
Therapien. Resigniert stellt der Kranke dann fest: Allen haben diese modernen Mittel
geholfen – nur mir nicht. Wenn der behandelnde Arzt auch psychosomatisch denkt, wenn er
die Möglichkeit einer seelischen Ursache all dieser Beschwerden erwägt, dann wird der tote
Punkt überwunden, und ein Weg zur Heilung kann sich auftun.
Die Körpersprache der Seele
Die Seele in ihren Affekten und Emotionen kann sich in Organen bemerkbar machen, und
zwar bewirkt sie nicht nur Gefühlsregungen, wie Freude, Trauer, Angst und Tränen, sie greift
auch in physiologische Abläufe ein, ruft Schmerzen, Gefühlslosigkeit oder gar eine Lähmung
hervor. In dieser Weise drückt die Seele ihre Nöte in der Körpersprache aus.
Wie laufen nun diese Vorgänge ab? Der rote Kopf des in Wut Geratenen, die blasse Haut
des Erschreckten deuten an, wie man sich etwa den Einfluss der Psyche auf den Körper
vorzustellen hat. Der Blutkreislauf spielt hier unter anderem eine wichtige Rolle. Weite oder
enge Blutgefässe sind unterschiedliche Zustände, die durch das vegetative, vom
menschlichen Willen unabhängige Nervensystem gesteuert werden. Emotionen,
Gemütsbewegungen, können nun aber durchaus eine solche Verengung oder Erweiterung
der Blutgefässe bewirken, also ein Erblassen der Haut oder eine Rötung.
Derartige Abläufe sind nicht nur an der Körperoberfläche möglich; auch innere Organe
können auf diese Weise ein plötzliches Überangebot an Blut beziehungsweise eine
Drosselung der Blutzufuhr erfahren. Die mangelhafte Blutversorgung kann, wenn sie
wiederholt auftritt, zu Schädigungen des Gewebes führen. Im Magen zum Beispiel wird die
Schleimproduktion der Schleimhaut verringert; diese ist dadurch weniger gut geschützt, so
dass eine Schleimhautverletzung, ein Geschwür, entstehen kann. Läsionen, eigentliche
Gewebsverletzungen, können wie funktionelle Störungen auch seelisch bedingt sein.
(Funktionelle Störungen werden ja nicht selten mit dem Etikett “nervös“ versehen.) Wichtig
ist nun aber in psychosomatischer Sicht die Frage nach der Biographie eines Magen- oder
Darmgeschwürs: Der psychosomatisch orientierte Mediziner will die Entstehung des
Geschwürs verstehen, und er will die Geschichte der Entstehung dann auch seinem
Patienten vermitteln und ihm die seelischen Hintergründe seiner Krankheit aufzeigen. In
diesem Zusammenhang soll nicht unerwähnt bleiben, dass ein Geschwür auch allein auf
einer organischen Störung beruhen kann, beispielsweise auf einer permanenten Schädigung,
etwa durch übermässigen Alkoholgenuss. Aber auch in diesem Falle wäre ja der Frage
nachzugehen, warum der betreffende Patient so zwanghaft zur Flasche greift.
Unter dem Begriff psychosomatische Krankheit versteht man Krankheitsbilder, die sichtbare
organische oder funktionelle Veränderungen beinhalten und deren Entstehung und
Behandlung entscheidend durch die Seele des Kranken bestimmt sind. In diese Gruppe von
Krankheiten gehören zum Beispiel Magengeschwüre, Hautausschläge, gewissen Formen
der Hochdruckkrankheit. Der Freud-Schüler Franz Alexander, der führende Psychosomatiker
in den Vereinigten Staaten, hat diese Liste noch erweitert: Er bezeichnet peptische
Geschwüre, Dickdarmentzündung, Bronchialasthma, Ekzeme, Thyreotoxikose (Überfunktion
der Schilddrüse), sowie die rheumatoide Gelenkentzündung als psychosomatische Leiden.
Fasst man den Begriff psychosomatische Krankheit etwas weiter, so zählen dazu auch
körperliche Beschwerden ohne organische Befunde, also jene Störungen und Beschwerden,
die man manchmal als psychogen (aus der Seele stammend), als konversionsbedingt (auf
abnorme Erlebnisreaktion zurückgehend), als vegetativ oder als hypochondrisch bezeichnet.
Generell ist zu sagen, dass die Seele sich überall dort in Organen äussert, wo ihr das
vegetative Nervensystem als Sprachrohr zur Verfügung steht. Dabei handelt es sich oft um
sogenannte Kontaktorgane, deren Bezeichnung daher rührt, dass sie in einer besonderen
Beziehung zur Aussenwelt stehen. Psychosomatische Wechselwirkungen können sich
aufgrund dieser Betrachtungsweise etwa in folgenden Organen beziehungsweise
Organsystemen entfalten: im Kreislaufsystem (Herzstörungen, Blutdruckveränderungen,
Migräne); im Margen-Darm-Trakt (Entzündungen, Durchfall, Verstopfung, Geschwüre); im
Weichteilsystem (Bindegewebes- und Muskelrheuma); in der Haut (Ekzeme).
Krankheit und Gesundheit im Bezug zur Umwelt
Der Begriff “Kontaktorgan“ – oder im Falle der Atemwege: Kommunikationsorgan –
signalisiert noch einen weiteren Aspekt in der Betrachtung der psychosomatischen
Krankheiten: die soziale Dimension, den Bezug zur Umwelt. Leibseelische Erkrankungen
dürfen nicht losgelöst von Umwelt und sozialer Struktur, in die ein Mensch eingebunden ist,
gesehen werden. Soziale Einflüsse und individuelle Gegebenheiten setzen jeder Entwicklung
Grenzen und beeinflussen und bestimmen die Persönlichkeit. An dieser Stelle wird auch
deutlich, dass Krankheit und Gesundheit nicht einfach naturwissenschaftliche, biologische
Begriffe sind. Der Zustand “krank“ oder “gesund“ ist immer auch biographisch und sozial
bedingt. Der gesunde Mensch befindet sich gleichsam in einem doppelten Gleichgewicht –
er ist in sich selber ausgeglichen (mit sich selber versöhnt), und er lebt auch im
Gleichgewicht (im Frieden) mit seiner Umgebung: Störungen dieses doppelten
Gleichgewichts können Krankheit bedeuten.
Krankheit als soziale Krücke
Jeder Mensch wird in eine soziale Umgebung hineingeboren, von der er einerseits
aufgenommen und beschützt wird, der gegenüber er sich anderseits auch zu behaupten hat.
Je nach Veranlagung fällt es dem einen leichter oder schwerer, sich in seiner Umwelt
durchzusetzen. Wem dies aber nicht gelingt, dem bleibt nicht selten als einziger Ausweg die
Flucht in die Krankheit. Freilich vollzieht sich dieser Prozess kaum bewusst. Eine Depression
kann entstehen und daraus ein physisches Leiden wie etwa Asthma. Dieses Asthma, das die
Umgebung ängstigt und an Ersticken denken lässt, kann letztlich dem Betroffenen zur
sozialen Krücke werden.
Dank dem Asthma nämlich behauptet er seine Stellung im sozialen Gefüge, wird ihm
Zuwendung zuteil, findet er Anerkennung und Hilfe. Krankheit kann auch dazu eingesetzt
werden, die Umgebung aus Eigennutz zu stören. Was aber, wenn der Arzt dieses Asthma
als psychosomatische Krankheit erkennt und entsprechend behandelt? Gelingt es dann dem
Asthmatiker noch, sich in Familie und Berufsleben zurechtzufinden? Diese Frage kann
ebenso gut in umgekehrter Richtung gestellt werden: Was tut die Familie, wie verhalten sich
die Arbeitskollegen, wenn plötzlich ihr asthmakrankes Mitglied, ihr engbrüstiger Kollege,
gesund ist, wenn die Einsicht in das Zustande kommen seiner psychosomatischen Krankheit
ihn von seinem Leiden befreit hat? Gerät dann nicht auch ihr Gleichgewicht ins Wanken?
Psychosomatisch oder neurotisch?
Das eben gezeigte Beispiel zeigt, wie komplex die Verhältnisse sind. Es existiert auch ein
soziales Gleichgewicht, in das der Kranke integriert ist und das durch seine Gesundung
durcheinander gebracht werden kann. Wie das Leiden des Asthmatikers gezeigt hat,
können psychosomatische Beschwerden unter Umständen auch ganz bestimmte
Funktionen übernehmen: hier nähert sich das psychosomatische Symptom nun dem
neurotischen. Auch dieses hat eine Funktion zu erfüllen – es hindert die Entfaltung, es
hemmt oder schafft Befriedigung. Allerdings hat die Neurose ihre Wurzeln in Erlebnissen
der frühen Kindheit, während die psychosomatischen Störungen zwar ebenfalls ihren
eigenen Erlebnisbereich besitzen, aber nicht in so grosser zeitlicher Distanz: sie sind
jüngeren Datums. Zudem ist die Neurose eine seelische Fehlentwicklung, die durch einen
Mangel an Reife gekennzeichnet ist. Psychosomatische Störungen aber sind in der Regel
nicht mit Unreife gekoppelt, und man darf sie auch nicht für psychische Fehlentwicklungen
halten.
Auch psychische Erkrankungen können von körperlichen Symptomen begleitet sein.
Depressionen, Neurosen oder Suchtkrankheiten manifestieren sich nicht selten in Organen;
aber sie werden dadurch nicht zu psychosomatischen Leiden: sie machen sich nur ähnlich
bemerkbar. Neurosen können zudem neben psychosomatischen Erkrankungen bestehen
oder diese ablösen.
Wer erkrankt psychosomatisch?
Welche Menschen erkranken nun aber psychosomatisch? Es gibt keinen bestimmten
Menschentyp, der häufiger psychosomatischer erkrankt als ein anderer. Kretschmers
Typenlehre ist demnach auf psychosomatische Leiden nicht anwendbar. Grundsätzlich kann
jeder Mensch jederzeit psychosomatisch erkranken. Allerdings kann der Ort der körperlichen
Manifestation der Seele unter Umständen von einer – ererbten – Organschwäche abhängen.
Im übrigen ist die Symptom- oder Organwahl ein besonders heikles und trotz umfangreicher
Forschungen noch nicht völlig geklärtes Problem. Häufig zeigen sich die Beschwerden aber
dort, wo psychische Vollzüge gehemmt oder gestört sind: Wer zum Beispiel alles in sich
hineinfrisst, wird vielleicht eher im Bereich des Verdauungstraktes als der Atemwege
erkranken.
Die Ursachen psychosomatischer Krankheiten
Der Hamburger Psychosomatiker Arthur Jores hat für die psychosomatischen Leiden den
Begriff der “spezifisch menschlichen Krankheiten“ geprägt. Entsprechend ihrem spezifisch
menschlichen Charakter haben psychosomatische Krankheiten auch spezifisch menschliche
Ursachen. Ein zutiefst menschliches Phänomen ist aber auch die Zivilisation. Man darf diese
darum als eine Art Substrat der leib-seelischen Krankheitsentstehung bezeichnen.
Psychosomatische Krankheiten sind in der Tat vielfach “Zivilisationskrankheiten“. Diese
äussern sich bald körperlich bald seelisch, immer aber entwickeln sie sich in einer gestörten,
aus dem Gleichgewicht geratenen Persönlichkeit. Erbanlagen, erworbene Einflüsse, die
frühe Kindheit, Erziehung und Tradition des Elternhauses können dabei als Katalysatoren
oder als Förderer der Krankheit wirken. Auch seelische und körperliche Krankheitsfaktoren
sind als Teilursachen bekannt: so etwa Belastungen bei Trauer, körperliches Fehlverhalten
wie Bewegungsmangel und Süchte. Meist liegt aber den psychosomatischen Krankheiten
eine eigentliche Konfliktsituation zugrunde, die sich auf Widersprüche zwischen Trieben und
äusseren oder inneren zügelnden Instanzen zurückführen lässt. Wer sich – aus welchen
Gründen auch immer – die Befriedigung seiner Bedürfnisse gegen seinen Willen dauerhaft
versagen muss, wird schliesslich krank. Konflikte können sich aber auch ergeben beim
Übergang aus der Gemeinschaft der Familie in die Gesellschaft. Zusammenfassend darf
man festhalten, dass die Ursachen psychosomatischer Krankheiten sowohl im individuellen
Lebensschicksal als auch in den zwischenmenschlichen Beziehungen liegen. Hinzu kommen
die Einflüsse der Umwelt. Anlass zu psychosomatischen Störungen kann aber auch eine
ungesunde Lebensweise sein, die sich vor allem im Essverhalten, im Genussmittelbereich
oder in der Arbeitsweise äussert. Dieses, in Bezug auf die körperliche Gesundheit schädliche
Verhalten, lässt sich in der Regel nicht einfach willentlich verändern, denn es ist meist sehr
innig mit der Persönlichkeitsstruktur des Betroffenen verbunden.
Die Rolle des Stresses
Welche Rolle kommt nun aber dem im Zusammenhang mit neurovegetativen Störungen oft
beschworenen Stress zu? Der Begriff Stress, der vielfältige Zustände der Belastung,
Anspannung und Überforderung umschreibt, geht auf die Forschungen des AustroKanadiers Hans Selye (1953) zurück. Er entwickelte ein physiologisches Stress-Modell, das
auch auf psychosomatische Krankheiten anwendbar ist. Jeder Mensch wird dauernd mit
Anforderungen konfrontiert, denen er sich nicht entziehen kann und mit denen er sich
auseinandersetzen muss. Er tut dies verstandesmässig, gefühlsmässig, mit unwillkürlichen
Körperreaktionen, aber auch zielgerichtet. Immer aber ist auch der Körper an der Reaktion
beteiligt. Das vegetative Nervensystem, die hormonalen Funktionen und humorale Faktoren
stehen bei diesen Vorgängen im Vordergrund. Psychosomatische Störungen ergeben sich
dabei vor allem aus dem Konflikt zwischen der Anspannung und der Überanspannung an die
Bedingungen der modernen Gesellschaft. Experimentell wurde gezeigt, dass Stress beim
Tier zuerst ein Alarmstadium auslöst, dann eine Abwehrreaktion (Anpassungsphase) und
schliesslich Erschöpfung. Die Folge davon sind Blutdruckanstieg, Gefässkrankheiten,
Herzmuskelschäden usw…
Die Behandlung psychosomatischer Krankheiten
Für die Behandlung psychosomatischer Krankheiten ist in der Regel der Psychiater
zuständig. Wichtigstes Mittel bildet dabei das Gespräch. Oft hat bereits der erste Kontakt mit
dem Arzt eine therapeutische Wirkung, kann doch der Patient in dieser Phase einen Teil
seiner Ängste ablegen und Vertrauen zum behandelnden Arzt fassen. Vieles, was den
Kranken bewegt und bedrängt, wird schon in dieser ersten Begegnung von ihm genommen:
Man spricht von der kathartischen oder reinigenden Wirkung der Unterhaltung mit dem Arzt.
Aufgabe der seelenärztlichen Therapie ist die Hinführung des Kranken zu seinen Problemen
und zu deren Ursachen. Der Patient muss durch das Gespräch mit dem Arzt für die
Tatsache sensibilisiert werden, dass körperliche Störungen aus der Seele kommen können.
Wenn er diese Einsicht akzeptiert, ist der Weg für die Heilung offen. Das der körperlichen
Störung zugrunde liegende Problem muss aber nicht nur intellektuell erfasst, sondern auch
emotionell verarbeitet werden. Eine Behandlung kann im günstigsten Fall schon nach
wenigen Gesprächssitzungen erfolgreich abgeschlossen werden. Wichtig ist dabei nicht so
sehr die vom Psychiater angewandte wissenschaftliche Methode, als vielmehr das Eingehen
auf den Patienten mit denjenigen therapeutischen Mitteln, die dem Arzt besonders vertraut
sind. Manchmal kann die Gesprächstherapie aber schwierig werden, etwa dann, wenn der
Kranke nicht bereit ist, seinen Gefühlen Ausdruck zu geben.
Wenn sich im Gespräch selbst Schwierigkeiten einstellen, wenn es nur schleppend geführt
werden kann, ist mit einer längeren Behandlung zu rechnen. Dabei entstehen oft neue
Probleme, die eine eigentliche Psychotherapie erforderlich machen. Nicht selten ist schon
frühzeitig der Einsatz psychotherapeutischer Methoden angezeigt, und die
Gesprächstherapie muss zum Beispiel durch eine mehr tiefenpsychologisch orientierte
Methode ergänzt werden. Auch von der Persönlichkeit des Arztes, von seiner Intuition hängt
der Erfolg einer Behandlung ab. In Fällen, wo das emotionale Mitarbeiten des Patienten
erschwert oder unmöglich ist, können oft körperorientierte Methoden zum Ziele führen, etwa
autogenes Training, Atemgymnastik, Yoga und Meditation. In Anlehnung an die Tatsache,
dass die Seele sich bei psychosomatischen Erkrankungen in ganz bestimmten Organen
äussert, versucht man auch, die Psyche über diese Erfolgsorgane zu beeinflussen, so zum
Beispiel durch Massage.
Ein wichtiges Mittel zur Stützung der Arbeit des Arztes mit dem Patienten ist der Aufbau
tragender Beziehungen. Die Frage, ob auch eine Therapie in der Gruppe möglich ist, hängt
immer davon ab, ob der Kranke die Gruppe erträgt. Oft ist ihm dies erst in einer
fortgeschrittenen Phase der Behandlung möglich. Eine vollkommene Heilung ist, wie bei
vielen Leiden, auch bei psychosomatischen Krankheiten manchmal nicht zu erzielen, man
muss sich mit der Reduktion der Symptome und Beschwerden zufrieden geben. Auch in
solchen Fällen ist es aber wichtig, dass der Patient nach der Behandlung ein grösseres
Wohlbefinden verspürt als zuvor, etwa bereits dadurch, dass er gelernt hat, mit seinen
Beschwerden zu leben. Eine vollständige Genesung ist manchmal aber auch darum nicht
möglich, weil es nicht gelingt, die soziale Situation des Patienten entscheidend zu
verbessern.
Gesunde fühlen sich krank
Im Jahre 1976 führte in der Bundesrepublik Deutschland die Bundeszentrale für
gesundheitliche Aufklärung eine Befragung unter der Bevölkerung durch: nur 11% der
Bundesbürger fühlten sich damals gesund. 73% aller Erwachsenen gaben an, im letzten
Vierteljahr einmal oder mehrmals einen Arzt konsultiert zu haben. 31% verwendeten in
diesem Zeitraum vier oder mehr Arzneimittel regelmässig.
In der so genannten “Giessener Studie“ wurden 1500 Personen aller Altersgruppen befragt.
Die Tabelle zeigt die von den Befragten empfundenen Störungen: Aufgeführt sind nur jene
Beschwerden oder Symptome, die von mehr als 40% der Befragten angegeben wurden.
Dabei fällt auf, dass die Frauen eher Beschwerden namhaft machten als die Männer. Dieser
Umstand ist nun aber, wie D. Juli und M. Engelbrecht-Greve in ihrer Studie “Stressverhalten
ändern lernen“ betonen, nicht einfach darauf zurückzuführen, dass Frauen wehleidiger sind
als Männer.
Vielmehr ist den Männern Härte anerzogen, sie klagen weniger, gehen weniger zum Arzt
und verdrängen oder überspielen ihre Beschwerden. Die Frauen sind darum den Männern
gegenüber, wie der Psychoanalytiker H.E. Richter es formulierte, im Leidensvorsprung. Sie
gestehen sich ihre Beschwerden ein, sie klagen darüber. Bereits dieses Sich-Äussern kann
aber entlastend wirken und das Entstehen einer organischen Krankheit verhindern.
Die Häufigkeit psychosomatischer Krankheiten
Eingehende Untersuchungen ergaben, dass etwa 10 bis 50% aller Patienten, die eine
ärztliche Sprechstunde wegen körperlicher Beschwerden aufsuchen, psychosomatisch krank
sind. Auffallend ist heute auch die grosse Zahl von Beschwerden bei an sich Gesunden. Vor
allem Herz- und Magenbeschwerden werden zunehmend geäussert, aber auch
Schlaflosigkeit, Kopfweh, Migräne, Ruhelosigkeit und Erschöpfung. In Untersuchungen an
der Universität Giessen klagten mehr als 68% einer Kontrollgruppe von Gesunden über
psychosomatische Beschwerden, wobei jeder mindestens ein Symptom als vorherrschend
angab. Diese Entwicklung scheint wie verzahnt zu sein mit der allgemeinen psychosozialen
Situation des heutigen Menschen, dessen Lebenssinn in vielem mehr den Extremen statt
dem Ausgleich und der Harmonie zuneigt. Vielleicht aber helfen in dieser Lage weniger
Klagen über den Zustand der Gesellschaft als vielmehr die Besinnung auf menschliche
Eigenschaften, die weit über die nackte Existenz irdischen Daseins hinausweisen. Im Dienst
am Nächsten, in der konsequenten Hinwendung zu allem Lebendigen steht so jedem ein
Weg offen, mit sich und der Umwelt seinen Frieden zu finden.
Beschwerden bei Frauen
Müdigkeit
Kreuz-, Rückenschmerzen
Kopfschmerzen
Übermässiges Schlafbedürfnis
Kalte Füsse
Herzklopfen, -jagen, -stolpern
Neigung zum Weinen
Mattigkeit
Nacken-, Schulterschmerzen
Überempfindlichkeit gegen Kälte
Starkes Schwitzen
Schweregefühl in den Beinen
Schwindelgefühl
Schwächegefühl
Rasche Erschöpfbarkeit
Gelenk-, Gliederschmerzen
Schlafstörungen
Beschwerden bei der Periode
Taubheitsgefühl
75%
70%
69%
56%
54%
52%
52%
50%
49%
48%
47%
47%
47%
46%
46%
46%
45%
45%
41%
Beschwerden der Männer
Müdigkeit
Starkes Schwitzen
Kreuz- und Rückenschmerzen
Kopfschmerzen
Übermässiges Schlafbedürfnis
Herzklopfen, -jagen, -stolpern
59%
55%
51%
48%
43%
41%
Literatur zum Thema
F. Alexander
Medard Boss
Dietmar Juli / M. Engelbrecht-Greve
Arthur Jores
Alexander Mitscherlich
Josef Rattner
Walter von Wyss
Psychosomatische Medizin
Körperliches Kranksein als Folge
seelischer Gleichgewichtsstörungen
Stressverhalten ändern lernen
Der Mensch und seine Krankheit
Freiheit und Unfreiheit in der Krankheit
Psychosomatische Medizin heute
Aufgaben und Grenzen der psychosomatischen Medizin
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