Störungen des Säuglingsalters Die Diagnose einer frühkindlichen Regulationsstörung versucht, der Entwicklungsdynamik des Säuglings im Entwicklungskontext der frühen sozialen Interaktion gerecht zu werden. Abgrenzung verschiedener Ursachen ist weder möglich noch sinnvoll => Dynamik und Prozesse der Entwicklung im systemischen Kontext (Patient ist das Beziehungssystem). Regulationsstörungen sind nicht im Kind angesiedelt, sondern in dysfunktionalen Interaktionsmustern, sie sind keine psychopathologischen Syndrome, aber Risikofaktoren. 1. Regulationsstörungen der frühen Kindheit (allgemein) ● Erscheinungsbild Ein zentrales Konzept ist die Symptomtrias: Verhaltensauffälligkeiten des Säuglings Überlastungssyndrom der Mutter / beider Eltern Dysfunktionale Interaktionsmuster Regulationsstörungen für gewöhnlich in all diesen drei Bereichen =>Therapie. Auffälligkeiten reichen von passageren Krisen bis zu persistierenden Störungen. Klinisch relevant ist die Störung, wenn eine der folgenden Bedingungen erfüllt ist: Persistenz, Eskalation und/oder Pervasivität Subjektive Überlastung der primären Bezugspersonen Versagen der Bewältigung anstehender Entwicklungsaufgaben Beeinträchtigung von Bindungs- und Beziehungsentwicklung ● Diagnostik Innerpsychische Prozesse des Säuglings nur auf Verhaltensebene zugänglich => Diagnose durch Verhaltensbeobachtung. ● Prävalenz, Verlauf, Prognose Prävalenzrate von 15% bis 30%, in klinischen Stichproben oft mehrere Störungsbilder zugleich oder nacheinander. In Feldstudien nicht. Meist harmlos und selbstlimitierend, bei ausreichenden Ressourcen günstige Prognose. Bei geringen Ressourcen und multipler Risikobelastung droht Persistenz. Prognose um so ungünstiger, je länger Teufelskreis der dysfunktionalen Interaktion aufrecht erhalten wird und je mehr Interaktionskontexte dysfunktional sind. ● Genese Multiple, vernetzte organische und psychosoziale Risikofaktoren bei Kind und Eltern. Syndrome zeitlich und inhaltlich in Zusammenhang mit Anpassungs- und Entwicklungsaufgaben der frühen Kindheit. Kind hat anfängliche Schwierigkeiten mit Selbstregulation und den Interaktionskontexten des Alltags => um diese durch Regulationshilfen zu kompensieren haben Eltern angeborene, intuitiv gesteuerte kommunikative Kompetenz. Man spricht von Co-Regulation. Kindliche Regulationsfähigkeiten haben hohe individuelle Variabilität auf folgenden Dimensionen (Temperamentsforschung): Sensorische Erregbarkeit Unruhe-Schwierigkeit Tröstbarkeit Annäherung/Vermeidung in Bezug auf Unbekanntes Voraussagbarkeit Positive/negative Emotionalität Aktivitätsniveau Anpassungsfähigkeit Ablenkbarkeit Hartnäckigkeit Extremausprägungen können genetisch bedingt oder durch prä-, peri- oder postnatale Risikofaktoren erworben sein. Diese Temperamentsmerkmale sind die wichtigsten Risikofaktoren bei klinischen Störungen (die Beeinträchtigung der Regulationsfähigkeit überfordert die Eltern). Verhaltensprobleme geben der Mutter das Gefühl zu versagen, meist können Eltern die Schwierigkeiten des Säuglings aber kompensieren (verstärkte Regulationshilfen). Wenn Belastungsfaktoren die intuitiven kommunikativen Kompetenzen der Eltern hemmen => Versagen der Co-Regulation Dysfunktionale Kommunikationsmuster, negatives Feedback vom Kind=> Teufelskreis Wahrnehmung des Babys manchmal verzerrt durch Aktualisierung nicht bewusst erinnerter Vergangenheit der Mutter/Eltern („Gespenster im Kinderzimmer“). „Die alltägliche Arena“ ist dann die Kommunikation zwischen Eltern und Kind. ● Eltern-Säuglings-Therapie Gibt nur wenige Studien zur Wirksamkeit. Wirklich brauchbar sind nur die Studien zu Therapien, die auf die emotionale Belastung der Mutter-Kind-Interaktion fokussieren. Hier zeigt sich: die untersuchten Therapien wirken sich alle gleichermaßen positiv aus (leichter Vorteil bei interaktionszentrierten Therapien) Integratives Mehrebenen-Konzept (Fokus auf Kommunikation zur Behandlung aller drei Bereiche der Symptomtrias) – 90% vollständige oder überwiegende Besserung Integrative kommunikationszentrierte Eltern-Säuglings-Beratung und Psychotherapie (flexible Kombination bewährter Therapieverfahren zur raschen Auflösung dysfunktionaler Kommunikationsmuster) hat in der Regel 3 Module entsprechend der Trias und nach bedarf dann weitere. Als sichere Basis wird die Eltern-Therapeut-beziehung genutzt. Es werden die systemimmanenten Ressourcen genutzt (vorsprachliche Kommunikation, intuitiven elterliche Kompetenzen, kindliches Entwicklungspotenzial...) um Selbstheilung und Stabilität zu erreichen. 2. Exzessives Schreien der ersten Lebensmonate ● Erscheinungsbild (Symptomtrias) Verhalten: Anfallsartiges, unstillbares Schreien ohne erkennbaren Grund kulminiert am Abend (Kinder oft bis Mitternacht wach). Mangelnde Tröstbarkeit & Unfähigkeit, in den Schlaf zu finden. Überlastungssyndrom: Psychische Belastung meist Folge (nicht Ursache) der Daueralarmierung durch das Schreien. Versagensgefühle. Dysfunktionale Interaktion: Eltern versuchen alle intuitiven Beruhigungshilfen (zunehmend heftiger, keine Beruhigung durch Körperkontakt und Interaktion, sondern Erregung) => Eskalation von Erregung und Überreiztheit ● Diagnostik Die Dreier-Regel (zur sechsten Lebenswoche): 3 Stunden Schreien täglich an 3 Tagen die Woche über 3 Wochen => Störung In den ersten Lebensmonaten ist Schreien Ausdruck des Befindlichkeitszustands des gesamten Organismus. Im zweiten Halbjahr differenziert es sich in Bezug auf die emotionale Befindlichkeit. ● Prävalenz Zwischen 15% und 29%. Gipfelt in der sechsten Woche, lässt oft schlagartig nach (dritter Monat). In der klinischen Stichprobe persistiert es darüber hinaus. Erneut: Mit Ressourcen harmlos, ohne: Eskalation => Regulationsprobleme auch in anderen Entwicklungsbereichen (Temperament, Eltern-Kind-Beziehung, später ADHS und Störungen des Sozialverhaltens) ● Genese Ursache sind fast immer Schlafdefizit, Einschlafprobleme, Übermüdung und Ankämpfen gegen den Schlaf (Teufelskreis: dysfunktionale Interaktion beim Beruhigen => Eskalation) Oft „schwieriges Temperament“ bei schreienden Säuglingen Mit Arzt abklären: Hat das Kind eine schmerzhafte somatische Störung/Erkrankung? Schreien geht oft einher mit: Stress und Ängsten in der Schwangerschaft Schweren Paarkonflikten Psychische Störungen der Mutter ● Therapie Beruhigungshilfen (Schaukeln etc.) helfen bei exzessivem Schreien nichts. Beruhigungseffekte durch Reduktion von Überstimulation (Reizreduktion). Strukturierung des Tagesverlaufs & Lernen, auf die kindlichen Signale zu reagieren. Entlastung der Mutter (Vertrauen in ihre intuitiven Kompetenzen stärken). 3. Ein- und Durchschlafsstörungen des Säuglingsalters ● Erscheinungsbild (Symptomtrias) Verhalten: Probleme beim Einschlafen, nicht beim Schlafen. Fordert durch sofortiges Schreien gewohnte Einschlafhilfen ein. Überlastungssyndrom: Schlafdefizit => emotionale Erregbarkeit. Dysfunktionale Interaktion: Ritualisierte, oft bizarre Beruhigungs- und Einschlafinteraktionen. Eltern geben nach, um das Schreien abzustellen und beruhigen => Verstärkung ● Diagnostik Ab dem zweiten Halbjahr diagnostizierbar. Zentral sind die subjektive Belastung der Eltern & dysfunktionale Bettzeitinteraktionen. „Ausgeprägt Einschlafstörung“ = Kind braucht mit Einschlafhilfe länger als 30 min. „Schwere Durchschlafstörung“ = Seit 3 Monaten 5 mal pro Woche 3 mal pro Nacht für 20+ min unter Schreien aufwachen. Tagsüber: Schläfrigkeit, Quengeln, chronische Unruhe. Zur Verhaltenserfassung: Videosomnografie und Schlaftagebuch (durch Eltern), Schweregrad mittels Schlafscore. Mit dem Arzt klären: Erkrankung schuld? ● Prävalenz 15% bis 20% im ersten und zweiten Lebensjahr. Hohe Persistenz: über die Hälfte hat es bis sie eins sind, 50%-70% davon bis drei. In der klinischen Stichprobe nur selten (22,6%) isoliert, meist mit anderen Störungen ● Genese Oft haben die Eltern falsche Erwartungen (mangelnde Kenntnisse) => Eskalation 75% entstehen aus frühkindlichem Schreien (Störung oben), Rest aus Anpassung an unbekannte Situation (Erkrankung, Urlaub, Umzug...) in der (zunächst) zu Recht Einschlafhilfe verstärkt wurde. Zusammenhang mit alterstypischen Entwicklungsaufgaben (Strukturierung des Tagesablaufs) Gehäuft diese Temperamentsmerkmale: Hohe Erregungs- und Aktivitätsniveau Überängstlichkeit Mangelnde Anpassungsfähigkeit Hartnäckigkeit Diese Kinder nehmen in Wachzeiten ein Übermaß an Eindrücken auf => Beeinträchtigung von Einschlafen und Schlaf. (Der Arzt muss natürlich somatische Ursachen ausschließen) Die Interaktionen beim Einschlafen werden zu Machtspielen zur Aushandlung von Regeln und Grenzen. Bei überfürsorglich-überängstlichen Eltern: Trennungsängste & Ambivalenzkonflikte, bei psychisch Belasteten: unbewältigte eigene Erinnerungen auslösen. Kindliche Trennungsängste sind eher selten Ursache von Schlafstörungen! Aber: zu wenig Aufmerksamkeit im Alltag => Kind holt sich Nähe nachts. ● Therapie Schlafprotokoll & Beschreibung der Bettzeitinteraktionen zur Abklärung (zeigt, ob Eltern falsche Vorstellungen von Bettzeit haben) Medikamente nur in akuten Krisensituationen! „Checking“ = erst gemeinsames Einschlafritual (viel Nähe). Dann abwechselnd Phasen, wo das Baby sich selbst beruhigt und solche, wo die Eltern ihm mit eindeutigen Botschaften Sicherheit geben (Verhaltenstherapie) VT reicht nicht, wenn auch in anderen Bereichen ausgeprägte Regulationsstörungen vorliegen. Dann braucht man psychotherapeutische Vorbereitung und Kommunikationsanleitung beider Eltern. Außerdem sollte man differenziert und gestuft auf die individuelle Befundlage reagieren. Dann aber rasche, anhaltende Erfolge. 4. Fütter- und Gedeihstörungen ● Erscheinungsbild (Symptomtrias) Verhalten: Kind lässt keine eindeutigen Hunger-, Durst- und Sättigungssignale erkennen. Man unterscheidet 5 Gruppen Ablehnung bei erhöhter Erregbarkeit + Schreien Angstgetönte bis panische Abwehr Passive Vermeidung Aktive Nahrungsverweigerung mit provokativer Abwehr Fehlender Appetit und scheinbare Essunlust Oft richtet sich die Verweigerung selektiv auf neue Fütterungsmodi, Geschmacksrichtungen, Konsistenzen (oder auf alles außer dem Lieblingsessen) Überlastungssyndrom: Mutter in Rolle als Ernährerin verunsichert, steht unter Druck. Hat oft irrationale Ängste um Überleben des Kindes. Dysfunktionale Interaktion: Mutter kontrolliert Nahrungszufuhr ohne Rücksicht auf die kindlichen Signale (ängstlich-überfürsorglich), Kind steuert dieses dysfunktionale Verhalten durch Instrumentalisierung der Nahrungsverweigerung. ● Diagnostik Zero-to-Three verlangt 1 Monat Nahrungsaufnahme nicht entsprechend der Hunger-und Sättigungsgefühle des Babys reguliert (Abgrenzung zu normal: dysfunktionale Fütterungsinteraktionen, Gedeihen des Säuglings gestört, Belastung der Mutter) (Frag auch den Arzt!) Gedeihstörung kann, muss aber nicht, parallel auftreten. Kriterien: Bei normalem Geburtsgewicht: wenn das Kind über 2 (3 bei Kindern über 6 Monaten) Monate zwei Perzentile abnimmt (bzw. Unter die dritte runter abnimmt) Bei Geburtsgewicht unter der dritten Perzentile: fehlende Gewichtszunahme über 1 Monat ● Prävalenz 3%-10% Fütterstörungen, 3%-4% Gedeihstörungen Bei 91% der Kinder Teil einer pervasiven Regulierungsstörung. Hohe Persistenz von Gedeihstörungen => langfristige Belastung der somatischen, kognitiven und sozial-emotionalen Entwicklung ● Genese Entstehen überwiegend im Zusammenhang mit alterstypischen regulatorischen Anpassungen, werden durch dysfunktionale Interaktionsmuster aufrecht erhalten. Schwieriges Temperament. „Feeding Skill Disorder“ = tatsächlich neuromotorische Unreife in der Koordination von Saugen, Atmen, Schlucken => gelegentlich Anfang einer Fütterstörung. „Posttraumatische Fütterstörung“ = ursächlicher Zusammenhang mit aversiven Erfahrungen im Mund-Schlund-Oesophagus-Bereich. Eltern: Angst um Leben des Kindes, Sorge um Gewicht wird alles beherrschendes Thema, keine Zeit für positive Beziehungserfahrung Gehäuft sozial benachteiligte Familien 49% bis 92% unsichere / desorganisiere Bindungsmuster bzw. Bindungsstörungen (aber man weiß nicht, ob das Ursache oder Folge ist) ● Therapie Bisher kaum durchgesetzte Therapie obwohl so häufig und so schwerwiegend. VTAnsätze unterscheiden sich danach, ob sie klassische Konditionierung oder instrumentelles Lernen als Ursache sehen. (1. Fall: Desensibilisierung – 2. Fall: Verstärkerpläne) Integratives, multimodales, individuell zugeschnittenes Vorgehen in Zusammenarbeit mit dem Kinderarzt & Regeln für das Füttern: Feste Mahlzeiten Mutter bietet alteradäquates Essen, Kind regelt Nahrungsmenge KEINE dysfunktionalen Regulationshilfen (Zwang, Ablenken...) Unterstützen der aktiven Selbststeuerung des Kindes Nicht auf provokative Abwehr des Kindes antworten, aber auf jedes Zeichen von Interesse! Wenn keine tiefgreifende Beziehungsstörung (durch psychische Störung der Mutter) vorliegt, kann Erfolg schnell einsetzen (v.a. Bei konsequent im stationären Setting durchgezogener Therapie)