Sozialpsychologische Aspekte

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Klinische Psychologie I
WS 04/05
Sozialpsychologische
Aspekte
06.12.2004
Prof. Dr. Renate de Jong-Meyer
Die Rolle sozialpsychologischer Aspekte
Sozialpsychologische Prozesse tragen dazu bei,
dass psychische sowie körperliche Störungen und
Erkrankungen entstehen oder aufrechterhalten
werden.
Es gibt zwei Arten sozialpsychologischer Modelle,
bei denen sich ein unmittelbarer Zusammenhang zu
psychischen oder psychosomatischen Störungen
herstellen lässt:
1. Modelle, die sich auf soziales Verhalten und soziale
Interaktion beziehen.
2. Modelle, die sich auf soziale Kognitionen beziehen.
Sozialpsychologische Wirkfaktoren
•
•
•
Modelle, die sich mit
–
–
–
1) Bindung und Unterstützung
2) Sozialer Kompetenz
3) Interaktion und Kommunikation
–
4) Ausdruck von Emotionen
beschäftigen.
Modelle, die sich mit
–
–
–
1) Sozialer Wahrnehmung
2) Einstellungen
3) Attributionen
–
4) Erwartungen
beschäftigen.
Einfluss sozialer Bedingungen auf Makroebene
–
–
–
–
1)
2)
3)
4)
Soziales Netzwerk und soziale Unterstützung
Status
Lebensbedingungen
kulturellen Einflüssen
Wirkebenen sozialpsychologischer Faktoren
auf psychische und körperliche Störungen
•
Direkte Einwirkung
– z.B. Einfluss sozialer Isolation auf Verhalten
•
Indirekte Einwirkung
– z.B. körperliche Reaktion auf stressauslösende Situationen
•
Moderator-Variable
– z.B. Wirkung sozialer Unterstützung
•
Zusatzbedingung
– z.B. Interaktion mit Familie bei Schizophrenie
•
Aufrechterhaltende Bedingung
– z.B. mangelnde soziale Kompetenz
•
Wechselwirkung
– mit bestehenden organischen und psychologischen Defiziten
Das bindungstheoretische Modell
Bindung:
• Beispiel eines umfassenden Modells zur Bedeutung
problematischer sozialer Interaktionen im
Entwicklungsverlauf.
• Zentrales Konstrukt von Spitz & Bowlby (1965,
1969)
• Umfasst ein eigenes Verhaltenssystem mit eigener
interner Funktion und Organisation.
• Wichtigste Phase: 6. Monat bis 5. Lebensjahr
Das bindungstheoretische Modell:
Drei Typen von Entwicklungsaufgaben
1. Bindungsverhalten
Alles Kindverhalten, dass geeignet ist, die Nähe
der Mutter und ihr Pflegeverhalten zu stimulieren.
Wird besonders häufig und regelmäßig bis zum
Ende des 3. Lebensjahres gezeigt.
Zentraler angstprotektiver Faktor:
Erwerb der Erwartung, dass die Bindungsfigur in
gefährlichen Situationen verfügbar sei.
Instinktiv reguliertes Bindungsverhalten wird
zunehmend kognitiv.
Das bindungstheoretische Modell:
Drei Typen von Entwicklungsaufgaben
2. Erkundungsverhalten
•
•
•
Exploration der Umwelt
Abhängig von erlebter Sicherheit (also dem
Bindungsverhalten)
Vertrauen / Misstrauen in Bindungsfigur bleibt
lebenslang erhalten.
3. Reproduktionsverhalten
•
Reproduktion der gefestigten affektiven Beziehung
zu den Eltern in neuen Partnerschaften.
Das bindungstheoretische Modell:
Arten und Folgen von Deprivation
Deprivation:
•
Störung des homöostatischen Bindungsverhaltens
•
Entscheidend sind Ausmaß, Vorgeschichte und
nachfolgende Bedingung der Deprivation
Formen von Deprivation:
•
Quantitativ ungenügende Interaktion
•
Qualitativ gestörte Interaktion
•
Diskontinuität
Folgen von Deprivation:
•
Protestverhalten
•
Kummerreaktion
•
Emotionaler Rückzug
Empirische Befunde zu
quantitativ ungenügender Interaktion
• Unterversorgung und Vernachlässigung führen zu
Retardierung der körperlichen, emotionalen, sozialen und
kognitiven Entwicklung
→ Auftreten von Verhaltensstörungen
• Durch Unterstimulation bedingte sprachliche
Retardierung kann bis zur Vorpubertät weitgehend
behoben werden.
• Folgen für Kinder berufstätiger Eltern hängen ab von der
Qualität der Ersatzbetreuung, der Bedeutung des Berufs
für die Zufriedenheit sowie den sozialen und
ökonomischen Verhältnissen.
Empirische Befunde zu
qualitativ ungenügender Interaktion
• Konfliktreiche Familienbedingungen haben ein stärker
störungsförderndes Gewicht als Trennungserlebnisse.
• Je weiter entfernt ein Parameter von der auftretenden
Störung liegt, desto schlechter ist seine Vorhersagekraft.
• Kurzfristige Folgen physischer, psychischer und sexueller
Misshandlung:
Retardierung, Schlafstörung, hohe Ängstlichkeit,
Aggressivität
• Langfristige Folgen physischer, psychischer und sexueller
Misshandlung:
Depression, Beeinträchtigung des Selbstwertgefühls,
Verhaltensstörung, Sexualstörung
Empirische Befunde zu Trennungserlebnissen
Scheidung:
• Unterschiedliche interindividuelle und geschlechtstypische Verarbeitung
• Beeinflussung der Folgen erfolgt durch
- Familienklima vor der Scheidung
- Lebensverhältnisse nach der Scheidung
Adoption:
• Es gibt keine Unterschiede zwischen Adoptiv- und
eigenen Kindern bzgl. Intelligenz, soziale Anpassung und
Verhaltensauffälligkeiten.
Tod eines Elternteils:
• Ereignis kommt nicht gehäuft bei depressiven
Erwachsenen vor
Empirische Befunde zu Trennungserlebnissen
Fazit:
• Einzelne befristete Trennungen führen selten zu
längeren Störungen.
• Es lassen sich momentan nur Tendenzen für
Zusammenhänge zwischen Trennungserlebnissen
und dem Auftreten depressiver Verhaltenszustände
ablesen.
Soziale Kompetenz
Damit bezeichnet man angemessenes und
effektives Sozialverhalten, das sämtliche
psychische Funktionen umfasst.
Modell der Sozialen Fertigkeiten
Annahme einer Interaktion von
– Motivation
– Verhalten
– Umweltreaktionen
– Wahrnehmung der Umweltreaktionen
(Argyle & Kendon, 1967)
Störungen und Mängel in sozialen Fertigkeiten
können auf verschiedenen Ebenen auftreten.
Zur Erinnerung
•
•
•
Modelle, die sich mit
–
–
–
1) Bindung und Unterstützung
2) Sozialer Kompetenz
3) Interaktion und Kommunikation
–
4) Ausdruck von Emotionen
beschäftigen.
Modelle, die sich mit
–
–
–
1) Sozialer Wahrnehmung
2) Einstellungen
3) Attributionen
–
4) Erwartungen
beschäftigen.
Einfluss sozialer Bedingungen auf Makroebene
–
–
–
–
1)
2)
3)
4)
Soziales Netzwerk und soziale Unterstützung
Status
Lebensbedingungen
kulturellen Einflüssen
Soziale Kompetenz
Defizitbereiche bei Personen mit psychischen
Störungen:
•
•
•
•
•
•
Forderungen stellen
Neinsagen können
Andere ohne Aggressionen kritisieren können
Kontakte herstellen
Angst vor Fehlern
Angst vor öffentlicher Beachtung
(Ullrich & Ullrich de Muynck, 1980)
Interaktion und Kommunikation
Austauschtheorien:
Individuen streben danach, in ihrem sozialen Verhalten
ihren eigenen Nutzen zu maximieren.
Ziel:
Beim Austausch mit anderen möglichst viele
Belohnungen mit möglichst geringem
Aufwand zu erhalten.
Reziprozität:
Der Austausch (von Belohnungen) zwischen zwei
Interaktionspartnern beruht auf Gegenseitigkeit.
Interaktion und Kommunikation
Beispiele:
•
Partnerschaften
Partner bilanzieren Anteile positiver und negativer Elemente;
problematische Partnerschaften zeigen im Dialog wenig positive und
mehr negative Reaktionen.
•
Depressionen
Depressive Individuen geben zu wenig Feedback und erhalten
deshalb auch weniger.
Ausdruck von Emotionen
ð Konzept zur Rückfallvorhersage bei Schizophrenie
Expressed Emotions:
Negative Äußerungen der Angehörigen über den
Patienten bzw. die Schizophrenie.
Camberwell Family Interview:
Erfassung, wie häufig ein Angehöriger
- kritische Kommentare
- feindselige Äußerungen
- emotionale Überbeteiligung
gegenüber einem Interviewer äußert.
Neben Sprachinhalt auch Berücksichtigung der Stimme,
aber keiner weiteren nonverbalen Verhaltensweisen.
Ausdruck von Emotionen
Bei einem hohen Ausmaß an expressed emotions
lässt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Rückfall
vorhersagen.
Offene Frage:
Wie manifestiert sich eine hochgradig kritische
Einstellung gegenüber dem Patienten im Verhalten?
Soziale Unterstützung
In der Klinischen Psychologie wurde versucht,
Merkmale des sozialen Netzwerkes als
disponierende, auslösende und stabilisierende
Faktoren für psychische Störungen zu identifizieren.
Strukturelle Merkmale sozialer Beziehungen:
• Anzahl
• Dichte
• Erreichbarkeit
• Zentralität
Soziale Unterstützung
Besonderheiten der sozialen Netzwerke psychisch
Kranker:
• Kleinere soziale Netzwerke
• Größerer Anteil familiärer Bezugspersonen
• Einschätzung der Beziehungen als asymmetrischer,
aversiver getönt und weniger unterstützend.
Aufgrund korrelativer Querschnittsstudien keine
Aussage über Kausalität von Netzwerkmerkmalen
möglich!
Direkter Einfluss sozialer Unterstützung
Auslöser-Modell
Stressor
+
Soziale
Unterstützung
+
Gesundheit
Additives Modell
Stressor
Gesundheit
Soziale
Unterstützung
+ = positive, fördernde Wirkung
+
/
- = negative, hemmende Wirkung
Indirekter Einfluss sozialer Unterstützung
Schutzschild-Modell
Soziale
Unterstützung
-
Stressor
-
Gesundheit
Puffer-Modell
Stressor
Soziale
Unterstützung
Gesundheit
-
+ = positive, fördernde Wirkung
/
- = negative, hemmende Wirkung
Zur Erinnerung
•
•
•
Modelle, die sich mit
–
–
–
1) Bindung und Unterstützung
2) Sozialer Kompetenz
3) Interaktion und Kommunikation
–
4) Ausdruck von Emotionen
beschäftigen.
Modelle, die sich mit
–
–
–
1) Sozialer Wahrnehmung
2) Einstellungen
3) Attributionen
–
4) Erwartungen
beschäftigen.
Einfluss sozialer Bedingungen auf Makroebene
–
–
–
–
1)
2)
3)
4)
Soziales Netzwerk und soziale Unterstützung
Status
Lebensbedingungen
kulturellen Einflüssen
Soziale Kognitionen
Der Begriff bezeichnet Denkinhalte, die sich auf soziale
Gegebenheiten beziehen bzw. durch soziale Einflüsse
verändert werden.
In der Sozialpsychologie werden darunter Phänomene
wie soziale Wahrnehmung, Einstellungen und
Werthaltungen sowie Attribution subsumiert.
Eine zentrale Rolle spielen soziale Kognitionen auch beim
Modell-Lernen.
Wesentliche Kennzeichen der sozialen Wahrnehmung
sind die Selektion und die Inferenz.
Attributions-Theorie: Ursachenzuschreibung
Attribution:
Der Vorgang, mit dem man dem eigenen und
fremden Handeln bestimmte Ursachen oder Gründe
zuschreibt (attribuiert). Man unterscheidet internale
und externale Attribution.
Gegenstand der Theorien sind nicht die
tatsächlichen Ursachen einer Handlung, sondern die
Vermutungen, Annahmen und Hypothesen, die
Individuen über mögliche Ursachen entwickeln.
Annahme, dass negative/irrationale Gedanken
ursächlich sind für negative emotionale Zustände
und dysfunktionale Verhaltensweisen.
Learned Helplessness Model (Seligman)
• Individuen attribuieren, dass Umweltereignisse nicht
persönlich beeinflussbar sind
• Generalisierung der Attribution auf andere Situationen
• Generalisierung der Attribution auf die Zukunft
• Generalisierung erfolgt auf der
- motivationalen
- kognitiven
- emotionalen
Ebene.
Bei der Übertragung des Modells auf die Depressionsentwicklung muss der Einfluss moderierender Variablen
beachtet werden.
Eine wichtige Rolle spielen SelbstwirksamkeitsErwartungen („self-efficacy“).
Krankheitsmodelle
Beim Krankheitsverlauf und der Beeinträchtigung durch
Krankheiten spielen subjektive Annahmen des
Betroffenen über die Erkrankung eine wesentliche Rolle.
•
•
•
•
•
Laut Leventhal determinieren fünf kognitive Variablen die
kognitive Repräsentation von Krankheit:
Identität / Symptomatik der Krankheit
Angenommene Verursachung
Angenommener Zeitverlauf
Vermutete Konsequenzen der Erkrankung
Behandlungs- und Kontrollmöglichkeiten über die
Erkrankung
Das subjektive Krankheitsmodell hat Einfluss auf
Selbstbewältigungsversuche und Compliance.
Krankheitsmodelle
• Kausalattributionen
Erfassen die Vermutungen zu den Ursachen der Erkrankung.
• Internale Kontrollüberzeugungen
Überzeugung, selbst den Krankheitsverlauf beeinflussen zu können.
• Sozial-externale Kontrollüberzeugungen
Überzeugung, dass andere (Ärzte etc.) den Krankheitsverlauf
beeinflussen können.
• Fatalistische Kontrollüberzeugungen
Überzeugung, dass der Krankheitsverlauf nicht gezielt beeinflusst
werden kann.
Kontrollüberzeugungen haben somit eine gewisse Nähe
zum Konzept der Selbstwirksamkeitserwartungen
(Bandura).
Literaturhinweise:
Rief, W. & Nanke, A. (2002). Psychologische Grundkonzepte
der Verhaltensmedizin. In U. Ehlert, Verhaltensmedizin
(S. 95-132). Berlin: Springer
Perrez, M. (1998 ). Psychologische Faktoren: Einflüsse der
Sozialisation. In U. Baumann & M. Perrez (Hrsg.),
Lehrbuch Klinische Psychologie, Psychotherapie (S. 215245). Bern: Huber
Ellgring, H. (1998 ). Sozialpsychologische Aspekte. In U.
Baumann & M. Perrez (Hrsg.), Lehrbuch Klinische
Psychologie, Psychotherapie (S. 246-263). Bern: Huber
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