Spracherwerb in früher Kindheit Interaktionaler Spracherwerb in der Sicht der Theorie Piagets und russischer Autoren Von Heribert Jussen und Ursula Horsch 1. Russische Autoren (Pawlow) zentral: - Rolle der Mutter - Frage der Interiorisation anfangs Sprache noch nebengeordnete Rolle (Kind noch passiv); Handlungen der Mutter im Mittelpunkt -> handlungs- und objektbezogener Sprachgebrauch mit stark emotionalem Gehalt & Mimik, Gestik, Intonation; Wichtig: Mutter muss angemessen agieren (Fähigkeiten & Interesse des Kindes) Interiorisation: Übergang von diesem Stadium zum Sprachgebrauch der sich von der unmittelbaren Handlung ablöst und ein innerer geistiger Vorgang wird (Kind kann sich allein unter dem Wort etwas vorstellen, ohne es zu „sehen“) Anfangs: Mutter mit ihren Instruktionen als Regulator des Verhalten des Kindes Später: Kind selbst wird zum Regulator seines eigenen Verhaltens durch zunehmende Abstraktionsfähigkeit (Wort erhält morphologisch differenziert, erhält normative Funktion, d.h. Handlungsbegleitung nicht mehr zwingend) Die Fähigkeiten Wahrnehmung, Erinnerung, Aufmerksamkeit, Bewusstsein, Handlung sind also nicht vererbt oder angeboren, sondern Ergebnis einer Entwicklung der kindlichen Aktivität im sozialen Prozess, also in der Interaktion mit seiner Umwelt, hier primär mit der Mutter, bei der die beiden Signalsysteme, die unmittelbare Reizaufnahme und die sprachlichen Leistungen, eng zusammenwirken. 2. Piaget - Betrachtung des Aufbaus der kognitiven Strukturen mit der Aktivität des Kindes als Bedingung hierfür (wobei Sprache nur eine Form der Auseinandersetzung darstellt) - Betrachtung der sensomotorischen Phase (1./2. LJ) (Entwicklung von Wahrnehmung und Bewegung) - Wahrnehmungsstufen (hierarchisch) a) Reiz bemerken und fixieren b) Austausch der Sinne, differenzierteres Wahrnehmen c) Komplexität der Reize nimmt zu Fähigkeit der serialen Organisation als Basis jeden Spracherwerbs anfangs Sprache vornehmlich Ausdruck von Wünschen und Befehlen (handelnder Gebrauch, Einwirkung auf die Umwelt) später: Übergang zu handlungsunabhängigem Sprachgebrauch (auch Vergangenes kann ausgedrückt werden) Wort erhält semantische Funktion (danach auch erste Wortverkettungen) Russische Autoren Piaget Frühkindliche Entwicklung in den ersten beiden Lebensjahren Konstruktivistisch (Kind agiert aktiv durch Wahrnehmung & Bewegung) Kind lernt in der Interaktion die Sprache Systematik in der kindlichen Entwicklung Sprache als handlungsbegleitendes Medium (später Interiorisation) Ausschließlichkeitsanspruch der Sprache Sprachentwicklung nur eine Komponente in der (Handlungen ordnen sich ihr unter) frühkindlichen Entwicklung Konsequenzen für die sprachliche Förderung schwerhöriger Kinder: zentrale Funktion der Interaktion zw. Kind und Bezugsperson (Nutzung der Möglichkeiten zur effektiven Erziehung innerhalb dieses interaktionalen Handelns) Strukturen der familiären Interaktion mit gehörlosen Kindern Von Heribert Jussen Forschungsprojekt KMH (Kommunikation mit Hörgeschädigten) Untersuchungsgegenstand: Verlauf situativer Verstehensvorgänge bzw. Prozesse von Nichtverstehen mit gehörlosen & schwerhörigen Kindern Ziel: Verbesserung der kommunikativ-sprachlichen Verhaltensmuster aller am Gespräch beteiligten Basis: drei Faktoren, die Verständigung bzw. dialogisches Verhalten ermöglichen (nonverbale, verbale Ausdrucksformen und der Handlungstypus) Probleme bei der Kommunikation zw. Hörenden und Hörgeschädigten - keine oder unzureichende Wahrnehmung der akustischen Signale (Lernen wird eingeschränkt, Ausweichung auf Ersatzzeichen) - Unsicherheit seitens der Hörenden im Umgang mit ihrem Gesprächspartner (vor allem Eltern in ihrer Erzieherrolle verunsichert) Innerhalb familiärer Interaktion fallen Kommunikation und Sprachhandeln noch zusammen, d.h. Sprache dient als Kommunikationswerkzeug, dient der Weltbemächtigung -> Sprachentwicklung steht in engem Zusammenhang mit der senso-motorischen, emotionalen, kognitiven & sozialen Entwicklung des Kindes (auch hier handlungsgeleitete Zwischenformen) Mimik, Gestik und gebärdliche Ausdrucksformen auch bei Hörenden fester Bestandteil von Kommunikation Heese: Welche Funktion (Unterstützung, Verstärkung, Ersetzung) haben diese? Nachweis: deutlicher Unterschied zwischen dem Gebrauch bei Hörenden und Hörgeschädigten (expressive (unterstreichende) und darstellende Gebärde) Untersuchungsmethode des KMH-Projekts zur Beschreibung alltäglicher Interaktionen mit gehörlosen Kommunikationspartnern in der Familie: - Grundlage: audiovisuelle Aufzeichnungen - Analyse: Bestimmung nonverbaler, gebärdlicher und lautsprachlicher Anteile & Verhalten/kommunikative Bereitschaft - Feinanalyse: Kennzeichnung von Mikrostrukturen (nonverbale, verbale Verständigung, Pausen usw.); Makrostruktur (Gesprächsarten und – formen mit typischen Merkmalen) Ergebnisse der Mitschnitte zweier gehörloser Kinder (Nina 2;2, Andreas 2;0): - Fähigkeit auch ohne Kenntnis der Lautsprache kommunikative Situationen in ihrem Sinn zu lösen (durchzusetzen, was sie wollen) - Kommunikative Signale der Kinder oft nicht erkannt und beachtet - falsches Einwirken von Bezugspersonen verhindert neue Erfahrungen (geringes Zutrauen in die Fähigkeiten des Kindes) -> einsichtsvolles Lernen durch Kenntnis und Beachtung seiner Fähigkeiten & Mitbestimmung des eigenen Handelns (Kind selber als Ausgangspunkt von allem), aber unter Mitbeachtung der sozialen Ansprüche der ganzen Gruppe - Kind bringt gespeichertes Vorwissen ein (sprachunabhängiges Wissen, z.B. Schlafenszeit: Zähne putzen, Schlafanzug anziehen, aufs Klo gehen, Licht ausschalten) -> bestimmte Gefühls-, Denk- und Handlungsstrukturen -> frames (bei gleichem Vorwissen weniger Verstehensschwierigkeiten) - zur Erschließung von Sprache Anregung zur aktiven Kommunikation mit anderen (mit „gemischten“ Äußerungsformen) Feinanalyse zur Erkennung der Mikrostruktur - Zerlegung in sinnvolle Einzeläußerungen zur Auswertung von Sprechhandlungen - Ergebnisse nicht allgemeingültig wegen individuell unterschiedlicher Hör- und Leistungsfähigkeit und Erfahrungen der Kinder