Soziales Atom - Psychodrama

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1. EINLEITUNG
Thema dieser Arbeit ist die Evaluation ambulanter Psychodramatherapie von
Abhängigkeitserkrankungen. Suchtmittelmissbrauch und Abhängigkeit stellen bedeutsame
Fragestellungen mit großer gesundheitspolitischer Relevanz dar. Die Anzahl der direkt
und indirekt Betroffenen sowie das Ausmaß der damit verbundenen Folgeprobleme für
das Individuum und die Gesellschaft zeigen sich in Statistiken zum Alkoholkonsum und
zur Prävalenz und Inzidenz von Alkoholmissbrauch sehr deutlich1. Unter Prävalenz
versteht man in epidemiologischen Studien ein Maß für die Häufigkeit des Auftretens
einer Gesundheitsstörung in einer definierten Population zu einem definierten Zeitpunkt
oder einer definierten Zeitperiode. Die Inzidenzrate gibt die Anzahl der Neuerkrankungen
in einem vorgegebenen Zeitraum an.
Abbildung 1: Prävalenz, Gesamtlebenszeitprävalenz und Inzidenz des chronischen Alkoholismus in
Österreich
Quelle: Uhl et al., 2002, S. 95
MÄNNER
FRAUEN
MÄNNER UND
FRAUEN
8%
der
Jugendlichen und
Erwachsenen
ab dem 16.
Geburtstag
ca. 265.000
Personen
2%
der
Jugendlichen und
Erwachsenen
ab dem 16.
Geburtstag
ca. 65.000 Personen
5%
der
Jugendlichen und
Erwachsenen
ab dem 16.
Geburtstag
ca. 330.000
Personen
GESAMTLEBENSZEITPRÄVALENZ
15%
(Zahl jener, die die Krankheit
der Geborenen
im Laufe ihres Lebens durchmachen)
5%
der Geborenen
10%
der Geborenen
INZIDENZ
(Neuerkrankungsrate
an chronischem Alkoholismus
pro Jahr)
0.05%
der Bevölkerung
ca. 2.000 Personen
0.13%
der Bevölkerung
ca. 10.000 Personen
PRÄVALENZ
(Zahl der Alkoholiker im Querschnitt)
1
0.20%
der Bevölkerung
ca. 8.000 Personen
Vorweg ist anzumerken, dass sich die vorliegende Arbeit zwar auf sämtliche Störungsbilder abhängigen
Verhaltens bezieht, viele Zahlen und Beispiele jedoch ausschließlich auf den Bereich Alkoholismus abzielen, da
dies die am weitesten verbreitete und am besten beforschte Diagnose unter den Abhängigkeitserkrankungen
darstellt. Besonderheiten anderer Störungsbilder werden in der Arbeit berücksichtigt.
2
Die Prävalenz des chronischen Alkoholismus nach der International Statistical
Classification of Diseases and Related Health Problems (ICD)-92 von 5% aller
Österreicher ab dem 16. Lebensjahr entstand an Hand einer groben Schätzung unter
Zuhilfenahme von Spitalsentlassungsdiagnosen, dem Anteil erstmals behandelter
Alkoholiker am Anton-Proksch-Institut und einer Dunkelzifferabschätzung. Für das Jahr
2000 würde das bedeuten, dass 330.000 Österreicher als chronische Alkoholiker
eingestuft werden müssen. Laut einer Statistik des Bundesministeriums für soziale
Sicherheit und Generationen konsumieren 13% der erwachsenen Österreicher längerfristig
Alkoholmengen, die ein erhebliches Gesundheitsrisiko darstellen und rund 40% trinken
Alkohol
in
einem
Ausmaß,
das
von
der
Weltgesundheitsorganisation
als
gesundheitsgefährdend eingestuft wird (Bundesministerium für soziale Sicherheit und
Generationen (BMSG), 2001).
Ähnliche Zahlen liegen auch für andere Länder vor. Die Deutsche Hauptstelle gegen die
Suchtgefahren (DG-Sucht oder DGSS) veröffentlicht jährlich Statistiken über den Verkauf
und Konsum von Alkohol sowie Daten aus Beratungsstellen und Fachkrankenhäusern, die
diesem Trend entsprechen. Nach wie vor stellt Alkoholmissbrauch in vielen Ländern ein
zentrales Problem dar, dessen enorme volkswirtschaftliche Folgekosten gesellschaftliche
Anstrengungen zur Prävention und Behandlung in großem Rahmen rechtfertigen. In die
Berechnungen für die volkswirtschaftlichen Folgekosten fallen auch betriebliche Kosten
wie z.B. Arbeitsausfälle, Produktionsverluste, Arbeitsunfälle sowie Qualitätsminderung;
des Weiteren Kosten für medizinische und psychosoziale Behandlungen und Kosten für
alkoholbedingtes delinquentes Verhalten wie Verkehrsunfälle (Süß, 1988). Neben den
volkswirtschaftlichen sind die nicht in Geldeinheiten quantifizierbaren, intangiblen Kosten
des Alkoholmissbrauchs ebenfalls beachtlich: die durchschnittliche Lebenserwartung von
Alkoholikern verringert sich je nach Studie zwischen 10 und 28 Jahren, zahlreiche
Unbeteiligte kommen bei alkoholverursachten Unfällen ums Leben, Defizite bei Kindern
aus Alkoholikerfamilien sind in vielen Studien nachgewiesen worden (Michels 1996, Pihl
& Bruce 1995, Stimmer & Müller-Teusler 1999, Wilson & Nagoshi 1988, Wilson &
Orford 1978).
Vor dem Hintergrund der enormen Kosten, die die Behandlung Abhängiger verursacht, ist
es nicht verwunderlich, dass laufend Diskussionen um eine Reduktion der durch diese
Störungsgruppe verursachten Kosten im Gesundheitswesen geführt werden. In
2
Kriterien für Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen nach dem ICDKlassifikationssystem siehe Kapitel 2.1.4.1.
3
Deutschland versucht man im Zusammenhang mit der Therapie Abhängiger vor allem die
stationären Behandlungsmaßnahmen, die den weitaus größten Teil der Behandlungskosten
ausmachen, zu reduzieren. Aus diesem Grund sind Wirksamkeitsstudien, die sich auf die
Effektivität der angebotenen stationären und ambulanten Maßnahmen beziehen, gefordert.
Für Österreich liegen derzeit noch keine Berechnungen der volkswirtschaftlichen Kosten
des Alkoholmissbrauchs vor. Zur Verdeutlichung des Ausmaßes der Problematik soll
folgende Statistik aus Kanada dienen, aus der auch die Kosten für die ambulante und
stationäre Behandlung der Alkoholabhängigkeit ersichtlich sind.
Abbildung 2: Die Kosten des Alkoholkonsums (vom Verf. in € umgerechnet) pro Kopf und Jahr
Quelle: Single et al., 1997, in: Uhl et al. 2002, S. 175
Art der Kosten
Direkte Kosten – Behandlungskosten:
allgemeine Krankenhäuser
psychiatrische Krankenhäuser
Komorbidität
Rettungsdienste
stationäre Pflege
ambulante Behandlung
Ärztegehälter
Medikamente
Andere Behandlungskosten
Direkte Kosten - Verluste am Arbeitsplatz:
betriebl. Präventions- u. GesundheitsFörderungsprogramme
Direkte Kosten administrativer Aufwand für
Transferzahlungen:
Löhne
Direkte Kosten - Prävention und Forschung:
Prävention
Forschung
Direkte Kosten – Gesetzesvollzug:
Polizei
Gericht
Gefängnis und Bewährungshilfe
Andere direkte Kosten:
Feuerschäden
Schäden durch Verkehrsunfälle
Indirekte Kosten – verminderte Produktivität:
Produktivitätsausfälle durch Krankheit
Produktivitätsausfälle durch Tod
Gesamtkosten
Relativ
Einzeln Kategorie
Pro Kopf in €
einzeln Kategorie
17,3%
8,9%
0,4%
1,0%
0,3%
2,4%
1,1%
1,7%
1,3%
0,3%
28,78
14,75
0,65
1,6
0,51
4
1,82
2,83
2,11
0,58
0,2%
0,29
0,29
0,2%
0,7%
0,6%
1,16
1,09
1,9%
1,6%
0,3%
3,12
0,51
2,62
18,0%
8,8%
4,0%
5,2%
30,09
14,75
6,76
8,65
6,9%
0,5%
6,4%
11,48
0,8
10,68
55,0%
18,6%
36,4%
100,0%
100,0%
91,64
30,96
60,68
166,64
166,64
4
Missbrauch und Abhängigkeit von Alkohol und anderen psychotropen Substanzen sind als
autodestruktive Verhaltensweisen häufig mit Suizidalität verbunden. Sonneck (1995)
bezeichnet Alkoholmissbrauch als chronischen Suizid. Der Zusammenhang zwischen
Abhängigkeitsstörungen
und
Suizidalität
zeigt
sich
sowohl
in
einer
hohen
Übersterblichkeitsrate3 als auch in der Suizidrate bei den Betroffenen. Lesch (1985)
veröffentlichte eine Katamnesestudie, in der während eines Beobachtungszeitraums von
vier bis sechs Jahren 23 Prozent der Patienten gestorben waren. 3,5 Prozent durch Suizid,
1,8
Prozent
an
einer
akuten
Alkoholvergiftung,
13,8
Prozent
an
einer
Alkoholfolgeerkrankung und 4,6 Prozent an anderen Erkrankungen. Je nach Studie wird
in 25 bis 55 Prozent der Suizide ein Substanzmissbrauch nachgewiesen. Die Gründe für
diese hohen Raten sind vielfältig: die kritische Einschätzung von Situationen wird
ausgeschalten, Phänomene von Einengung und Ausweglosigkeit sind häufig vorhanden,
soziale Beziehungen werden beeinträchtigt oder zerstört, häufig treten Probleme am
Arbeitsplatz auf, die eigene Person wird zunehmend vernachlässigt, Impulsivität und
Risikobereitschaft steigen. Von besonderer Bedeutung ist die Tatsache, dass sich im
Verlauf einer Abhängigkeitserkrankung häufig schwere depressive Episoden entwickeln.
Ein weiterer Faktor, der zur schlechten Prognose bei Störungen durch psychotrope
Substanzen führt ist die mangelnde Compliance, die für Abhängige charakteristisch ist.
Die vorliegende Studie soll jedoch nicht nur auf das weit verbreitete Problem der
Abhängigkeitserkrankungen und im Speziellen auf den Bereich Alkoholismus hinweisen,
sondern vor allem auch einen Qualitätsnachweis der psychotherapeutischen Methode und
Theorie des Psychodramas liefern. Psychotherapie soll dazu dienen, Menschen liebes- und
arbeitsfähig zu machen – ein Anspruch, der gerade beim Störungsbild Abhängigkeit meist
erst nach intensiven Bemühungen und vielen Rehabilitationsmaßnahmen erfüllt werden
kann. Das Erbringen von Wirksamkeitsnachweisen für psychotherapeutische Maßnahmen
unterliegt in hohem Maße dem öffentlichen Druck Ergebnisse zu liefern, die die Kosten
dieser Interventionen rechtfertigen, aber auch ihre Qualität sichern. Psychotherapie ist
jedoch mit herkömmlichen naturwissenschaftlichen Methoden nur unzureichend
erforschbar, da meist hochkomplexe, nicht lineare und häufig nicht offensichtliche
kommunikative Prozesse eine bedeutende Rolle spielen. Demgemäß sind auch die
erforderlichen methodischen Vorgehensweisen äußerst komplex – eine Tatsache, die
3
Als Übersterblichkeit bezeichnet man die über das Normalniveau hinausgehende Sterblichkeit einer Population.
5
sowohl den organisatorischen als auch den finanziellen Aufwand solcher Studien hoch
hält. Evaluationsforschung beschäftigt sich vor allem mit der Frage, ob und wie
Nachweise zur Wirksamkeit therapeutischer Praxis gewonnen werden können, und welche
Konsequenzen sich daraus für die Verbesserung der Therapieangebote in der
Behandlungspraxis
ergeben.
Evaluationsforschung
ist
ein
relativ
junger
Wissenschaftszweig, der von den USA in den sechziger Jahren ausgehend eine expansive
Entwicklung genommen hat. In den USA wird Evaluationsforschung unter dem Titel
Programmevaluation betrieben. Der Begriff Programm umfasst eine sehr breite
Komponentenpalette wie z. B. die Programmträger, das Personal, das Klientel, die
Tätigkeiten, die Hilfsmittel sowie die Ziele. Im Zentrum des Interesses stehen sowohl bei
der Programmevaluation als auch in der Evaluationsforschung meist nicht der
wissenschaftliche Aspekt, sondern praktische, sozial- und gesundheitspolitisch relevante
Ergebnisse.
Die Psychodramatherapie stellt ein Verfahren dar, das in Österreich anerkannt ist, in
Deutschland hingegen als nicht anerkannte Methode unter dem Druck steht,
Wirksamkeitsnachweise erbringen zu müssen. Auch die Psychosoziale Beratungs- und
Behandlungsstelle (PSB) Sigmaringen, die die Daten für die vorliegende Untersuchung
liefert, hat unter dem Stichwort Qualitätssicherung eine positive Kosten-Nutzen-Relation
nachzuweisen. Die PSB Sigmaringen bietet in ihrem Einzugsgebiet ambulante Beratung
und Behandlung für alle Personen mit psychosozialen Störungen unter dem
Primärsymptom der Alkohol-, Medikamenten- und Drogenabhängigkeit, sowie bei
Essstörungen und bei stoffungebundenen Abhängigkeiten wie z. B. Kauf- und Spielsucht
an. Weitere Aufgabengebiete sind die Prävention und die Öffentlichkeitsarbeit im Bereich
Abhängigkeitserkrankungen.
Die ambulante Behandlung von Abhängigen hat neben dem bereits erwähnten monetären
Aspekt den Vorteil, den Betroffenen keine zusätzlichen Probleme in den Bereichen
berufliche und soziale Integration, Autonomie und Vitalität durch die im Zuge einer
Abhängigkeitserkrankung häufig praktizierte Langzeithospitalisierung zu bereiten. Auch
Stigmatisierungsprozesse können durch ambulante Maßnahmen weitgehend vermieden
werden. Diese Überlegungen machen die gesundheitspolitische Bedeutung von
Evaluationsmaßnahmen
im
Bereich
ambulante
Abhängigkeitserkrankungen unmittelbar ersichtlich.
Rehabilitation
bei
6
Der empirische Teil dieser Arbeit basiert – wie bereits erwähnt – auf Daten, die von der
Psychosozialen Beratungs- und Behandlungsstelle Sigmaringen zur Verfügung gestellt
wurden.
Ursprünglich
sollte
die
Datenerhebung
nach
einem
randomisierten
Kontrollgruppendesign in einem Katamnesezeitraum von einem bis fünf Jahre nach
Behandlung
erfolgen.
Der
Therapieerfolg
–
sollte
operationalisiert
über
das
Hauptkriterium Abstinenz sowie über die Zufriedenheit der Betroffenen in verschiedenen
Lebensbereichen –. an Hand eines Vergleichs einer Gruppe von Abhängigen, die 6
Monate lang ambulant an einer psychodramatischen Gruppentherapie teilgenommen
hatten, mit Patienten mit dem gleichen Störungsbild, die in derselben Zeit Einzeltherapie
erhalten hatten oder keiner psychotherapeutischen Behandlung zugeführt wurden,
analysiert werden. Im Vorfeld der Datenanalyse zeigte sich jedoch, dass keine
Kontrollgruppendaten
erhoben
worden
waren,
was
die
Aussagekraft
dieser
Evaluationsstudie deutlich abschwächt. Im Zuge dieser Erkenntnis wurde der
Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit in Richtung Analyse relevanter psychodramatischer
Praxisberichte verschoben.
Im ersten Teil der Arbeit werden theoretische Aspekte des Themas Abhängigkeit erläutert:
geschildert werden die Symptome, die Ätiologie, Epidemiologie, der Verlauf und die
Folgen von Abhängigkeitserkrankungen, die störungsspezifische Diagnostik sowie
Interventions-, Therapie- und Präventionsmöglichkeiten.
Um eine Einschätzung der Möglichkeiten und Grenzen empirischer Studien im
Allgemeinen und der vorliegenden Arbeit im Speziellen zu ermöglichen soll eine
theoretische Einführung in das Thema Evaluationsforschung die gegenwärtig gängigen
Modelle, Aufgabenstellungen und Probleme in diesem Bereich zusammenfassend
darstellen. Der aktuelle Stand der Kenntnisse zur allgemeinen und differentiellen
Wirksamkeit der Therapie von Abhängigkeitserkrankungen wird ebenfalls dargelegt.
Der zweite Teil bietet einen Überblick über die für die Arbeit mit Abhängigen relevanten
Theorien, Prinzipien und Methoden der Psychodramatherapie. Es handelt sich dabei nicht
um eine detaillierte theoretische Abhandlung, sondern um eine Zusammenfassung, die die
wichtigsten psychodramatischen Theorien und Konzepte skizzieren soll, um ein leichteres
Verstehen der praktischen Anwendung der psychodramatischen Methode im Bereich
Abhängigkeit zu ermöglichen. Des Weiteren werden Ergebnisse und Schlussfolgerungen
von Berichten aus der Praxis der psychodramatischen Arbeit auf diesem Gebiet geliefert.
Die Darstellung des psychodramatischen Erklärungsmodells abhängigen Verhaltens sowie
7
Hinweise auf Wirkfaktoren, Gefahren und spezielle Techniken in der Behandlung
Abhängiger sollen Schlüsse in Bezug auf die Eignung des Psychodramas für die
Behandlung Abhängiger zulassen. Spezielle Techniken des Psychodramas mit Beispielen
aus der Arbeit mit Abhängigen runden dieses Kapitel ab.
Der darauf folgende Abschnitt stellt das Untersuchungsdesign und die Messinstrumente
der Studie vor. Des Weiteren werden Einblicke in das Konzept, die Aufgaben und die
Ziele der Psychosozialen Beratungs- und Behandlungsstelle Sigmaringen sowie die
konkrete Arbeit mit den Abhängigen geboten. Die Indikationskriterien für die ambulante
Rehabilitation werden vorgestellt.
In Kapitel 5 folgt die Analyse und Darstellung der Ergebnisse. Methodologische
Schwierigkeiten werden kritisch diskutiert.
Der letzte Abschnitt – Kapitel 6 der vorliegenden Arbeit – soll der Zusammenfassung und
Diskussion der Ergebnisse sowie der abschließenden Beurteilung der Eignung der
psychodramatischen Methode im Arbeitsfeld Abhängigkeitsstörungen dienen. Auf Grund
der methodischen Mängel in Bezug auf die Datenerhebung und das Untersuchungsdesign
soll die Analyse der Erfahrungsberichte aus der psychodramatischen Praxis mit
Abhängigen in der abschließenden Betrachtung ebenfalls Berücksichtigung finden.
8
2. THEORETISCHE PRÄMISSEN
2.1 Theoretische Überlegungen zu Abhängigkeit und Sucht
Eine
bedeutende
Grundlage
für
das
Verständnis
und
die
Therapie
von
Abhängigkeitserkrankungen stellt das ausreichende Wissen über die verschiedenen
Formen von Abhängigkeit, ihre Ätiologie, Symptomatologie, den Verlauf und über
mögliche sekundäre Störungen und Erkrankungen dar.
Im Folgenden sollen die wichtigsten Parameter im Zusammenhang mit abhängigem
Verhalten beleuchtet und ein Einblick in die in diesem Kontext gängigsten diagnostischen
Instrumente geboten werden.
2.1.1 Definitionen
Der definitorisch unscharfe Begriff Sucht leitet sich etymologisch von „siech“ (= krank)
ab und hat eine Doppelbedeutung – Krankheit und Laster. Er bezeichnet ein
unwiderstehliches Verlangen nach Zuständen des Erlebens und Fühlens, die durch
bestimmte psychotrope Substanzen oder Verhaltensweisen herbeigeführt werden können.
Charakteristisch im Zusammenhang mit Suchterkrankungen ist das Auftreten von
körperlichen Entzugserscheinungen, die Tendenz zur Dosissteigerung und eine
Veränderung der Persönlichkeit, die sich im Verlust von Wertvorstellungen, einer
Wesensänderung oder einer Einengung der Persönlichkeit der Abhängigen äußern kann.
Das Leben der Betroffenen zentriert sich progressiv immer ausschließlicher um die Sucht
und deren Befriedigung. Schädigende Folgen im physischen, psychischen und sozialen
Bereich kommen sehr häufig vor.
Zu
den
stoffgebundenen
Süchten
zählen
Alkohol-,
Medikamenten-
und
Drogenabhängigkeit. Formen der stoffungebundenen Süchte sind unter anderem Arbeits-,
Internet-, Börsen-, Sex-, Mager- und Spielsucht. Eine für die Entstehung von Sucht
wichtige Voraussetzung ist die Gewöhnung, die als spezifische Reaktionsminderung nach
Reizwiederholung zu verstehen ist. Die Entwicklung einer Suchterkrankung kann als eine
dysfunktionale Anpassung betrachtet werden, die mit einer unzureichenden Problem- und
Konfliktlösungskompetenz
befriedigen einhergeht.
sowie einer
Unfähigkeit, elementare
Bedürfnisse zu
9
1968 wurde von der World Health Organization (WHO) beschlossen, den Begriff der
Sucht (drug addiction) durch den der Abhängigkeit (drug dependence) zu ersetzen. In den
Klassifikationsschemata ICD-10 und DSM IV (Diagnostic and Statistical Manual of
Mental Disorders) wird der Begriff Sucht nicht benutzt. Die im ICD-10 für Abhängigkeit
und deren Vorstufen und Folgen angewandte Diagnosegruppe der Störungen durch
psychotrope Substanzen reicht von der akuten Intoxikation über den schädlichen
Gebrauch bis zu organisch psychotischen Störungen, Demenz und Wesensänderung. Als
Missbrauch
oder
schädlichen
Gebrauch
einer
Substanz
bezeichnet
man
ein
Konsumverhalten, das zur Schädigung der psychischen oder physischen Gesundheit als
auch zu negativen sozialen Folgen für den Betroffenen geführt hat.
Suchtartiges Verhalten, das nicht durch psychotrope Substanzen verursacht wird, wird im
ICD-10 in verschiedenen Diagnosegruppen wie „abnorme Gewohnheiten und Störungen
der
Impulskontrolle“,
„Störungen
der
Sexualpräferenz“,
„Zwangsstörung“
und
„Essstörung“ klassifiziert4.
Der Terminus Abhängigkeit beschreibt eine Störung, die Symptome der physiologischen,
kognitiven und der Verhaltensebene einschließt, wobei zwischen physischer und
psychischer Abhängigkeit unterschieden wird.
Die physische Abhängigkeit ist durch das Entzugssyndrom sowie durch das Verlangen
nach einer kontinuierlichen Dosissteigerung einer Substanz um die gewünschte Wirkung
zu erzielen gekennzeichnet. Die Notwendigkeit der Dosissteigerung beruht auf der
Toleranzentwicklung, der reduzierten Reaktion auf eine Droge nach der ersten oder
wiederholten Einnahme. Die körperliche Abhängigkeit betrifft Veränderungen des
Metabolismus und ihre Folgen, die nur durch erneuten Konsum des psychotropen Stoffes
kompensiert werden können. Sie führt zu den, bei Entzug einer Substanz auftretenden,
psychischen und körperlichen Störungen, die unter dem Begriff Abstinenzsymptome
zusammengefasst werden. Das Entzugssyndrom äußert sich in einer subjektiv als
unangenehm empfundenen Steigerung des Aktivierungszustandes mit einer Erhöhung der
Körpertemperatur
und
Pulsrate,
Tremor,
Übelkeit,
Schwitzen
und
kann
zu
Krampfzuständen führen. In schweren Fällen können diese körperlichen Reaktionen in ein
Delir mit potentiell tödlichem Ausgang münden. Als Delir wird ein Zustand mit schweren
zentralnervösen und körperlichen Störungen (z. B. Halluzinationen, starke Unruhe, Angst,
Reizbarkeit, erhöhte Suggestibilität und Desorientierung) bezeichnet. Beginn und Verlauf
4
Zum Klassifikationssystem ICD-10 und den beschriebenen Diagnosegruppen siehe Kapitel 2.1.4.
10
der Entzugssymptome sind zeitlich begrenzt und abhängig von der Substanzart und der
Dosis, die unmittelbar vor der Reduktion oder der Beendigung der Einnahme konsumiert
wurde. Entzug und Toleranz reflektieren substanzbedingte Veränderungen von
Steuerprozessen des Gehirns, die primär Wachheit, Aktivität und Erregungszustand
betreffen.
Die psychische Abhängigkeit bezieht sich auf das starke Verlangen bestimmte Substanzen
einzunehmen, wobei die mangelnde Kontrollfähigkeit ein wichtiges Charakteristikum
darstellt. Die Einnahme dient der Erhaltung des, durch die psychotrope Substanz
hervorgerufenen,
gewünschten
Effekts.
Die
psychische
Abhängigkeit
ist
das
entscheidende Kriterium für die Diagnose einer Abhängigkeitserkrankung, da einige
Substanzen mit Abhängigkeitspotential sehr geringe bzw. keine Zeichen einer
körperlichen Abhängigkeit zur Folge haben. Der bestehende Zusammenhang zwischen
den beiden Formen der Abhängigkeit macht die Differenzierung von psychisch und
physisch bedingter Abhängigkeit im Einzelfall schwierig.
Zusammenfassend können neben den akuten psychopathologischen Symptomen folgende
Faktoren als relevant für das Erschließen der Abhängigkeit genannt werden (Haring,
1995):
 das Suchtmittel
 die physiologischen Veränderungen und Schäden des Abhängigen
 die Veränderung des sozialen Status und der Beziehungen des Abhängigen
 das dranghafte Bedürfnis nach Veränderung des Erlebens im Sinne der psychischen
Abhängigkeit
 körperliches Missbehagen und vegetative Krisen bei Entzug der Droge
 die Persönlichkeit des Betroffenen und deren Veränderung im Zuge des Konsums des
Suchmittels.
Die WHO unterscheidet zwischen verschiedenen Abhängigkeitstypen, dem Morphin/Opiat-Typ, dem Kokain-Typ, dem Cannabis-/Marihuana-Typ, dem Amphetamin-Typ,
dem Barbiturat-/Alkohol-Typ und dem Halluzinogentyp. Sind Abhängigkeiten von mehr
als
einer
Substanz
vorhanden,
so
spricht
man
von
Polytoxikomanie
(Mehrfachabhängigkeit).
Die folgende Tabelle zeigt eine Übersicht der unterschiedlichen Substanzen mit
Abhängigkeitspotential und die, sich bei regelmäßigem Konsum einstellenden,
11
psychischen und physischen Abhängigkeiten sowie die Toleranzentwicklung. Als Drogen
sind diese Substanzen erst dann zu bezeichnen, wenn sie missbräuchlich verwendet
werden und der schädliche Gebrauch Störungen verursacht.
Abbildung 3: Psychische und physische Abhängigkeit und Toleranzentwicklung verschiedener
Substanzgruppen
Quelle: Forth et al.,1998, S. 313 (vom Verf. modifiziert)
Psychische
Abhängigkeit
Physische
Abhängigkeit
Toleranz
Morphinartige
Analgetika
(schmerzstillend)
+++
+++
+++
Alkohol
++
+++
++
Barbiturate
(beruhigend)
++
++
++
Kokain
+++
+
(+)
Amphetamine
(aufputschend)
++
(+)
+++
Cannabis
+
0*
(+)
Halluzinogene
+
0
+++
(+)
geringe oder keine Abhängigkeit bzw. Toleranzentwicklung
+
geringe Abhängigkeit bzw. Toleranzentwicklung
+++
starke Abhängigkeit bzw. hohe Toleranzentwicklung
*
ein mildes Entzugssyndrom kann in seltenen Fällen bei abruptem Absetzen nach lang
dauernder hoher Dosierung auftreten.
Im DSM-IV werden neben den in der Tabelle genannten Stoffgruppen auch Koffein,
flüchtige Lösungsmittel (sogenannte Schnüffelstoffe) und Nikotin als Substanzen mit
Abhängigkeitspotential angeführt.
Eine weitere Differenzierungsmöglichkeit innerhalb der Abhängigkeitserkrankungen
besteht zwischen stoffgebundenen und stoffungebundenen Abhängigkeiten (wie z. B.
Esssucht
und
Spielsucht).
In
der
ICD-10
wird
Abhängigkeit
ausschließlich
12
substanzbezogen klassifiziert, wobei für Störungen durch Tabak eine eigene Codierung
vorgesehen ist5.
Die stoffungebundenen Abhängigkeiten zählen nach der derzeitigen WHO-Definition zu
den „abnormen Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle“. Als primäre
Gemeinsamkeit zwischen stoffgebundener und stoffungebundener Abhängigkeit wird in
der Literatur und von Betroffenen vor allem das „suchthafte Erleben“ genannt, das als
„ein
Gefühl
der
zunehmenden
Einschränkung
der
freien
Wahl
über
Verhaltensalternativen, einer Einengung der Interessen, desaströsen persönlichen und
sozialen Konsequenzen, einer Progredienz der Verhaltenshäufigkeit bei Abnahme des
Lustgefühls usw.“ (Watzl & Bühringer, 2001, S. 80) beschrieben werden kann.
Der Terminus Sucht hat allgemeine Verbreitung gefunden und ist leicht verständlich,
jedoch wird mit diesem Begriff im Allgemeinen der krankhafte Endzustand einer
Abhängigkeit verstanden, bzw. impliziert er eine Einschränkung auf die Gruppe der
schwer
abhängigen
Menschen,
weshalb
in
der
vorliegenden
Arbeit
der
im
wissenschaftlichen Bereich wesentlich häufiger gebrauchte Begriff der Abhängigkeit bzw.
die in den gängigen Klassifikationssystemen für diese psychische Störung geprägte
Diagnosegruppe „psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen“
bzw. Substanzabhängigkeit oder substanzbezogene Störung verwendet und der Begriff
Sucht bzw. Suchterkrankung vermieden werden soll. Wird auf Grund der Lesbarkeit des
Textes auf die Erwähnung der stoffungebundenen Formen der Abhängigkeit verzichtet, so
sind diese in der oben genannten verkürzten Bezeichnung der Störung implizit enthalten.
Da die Störungen durch Alkohol die bei weitem häufigste Abhängigkeitserkrankung
darstellen, und auch bei dem, dieser Untersuchung zu Grunde liegenden Datenmaterial die
Alkoholabhängigkeit die am häufigsten auftretende Abhängigkeitsproblematik ist, soll
diese im Folgenden in manchen Kapiteln (z.B. im Kapitel Diagnostik) ausführlicher
behandelt werden. Als Alkoholabhängigkeit bezeichnet man im Allgemeinen eine
chronische Intoxikation mit Alkohol, die durch abnormes Trinkverhalten, alkoholbedingte
körperliche Schäden, Beeinträchtigung der sozialen Position, psychische und physische
Abhängigkeit und Wesensänderung charakterisiert ist (Haring, 1995).
Siehe Kapitel 2.1.4.1: ICD-10 Klassifikation – Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope
Substanzen.
5
13
2.1.2 Ätiologie und Bedingungsanalyse
Abhängigkeit entwickelt sich aus einem multikonditionalen Bedingungsgefüge, das aus
drei wesentlichen Faktorengruppen besteht: dem sozialen Umfeld, den physiologischen
und
psychischen
Eigenschaften
des
Individuums
und
dem
spezifischen
Abhängigkeitspotential der konsumierten Substanzen.
Abbildung 4: Trias der Entstehungsursachen der Drogenabhängigkeit
Quelle: Stimmer, 1999, S. 265
PERSÖNLCHKEIT
Familiengeschichte
frühkindliches Milieu
sexuelle Entwicklung
aktuelle Stresssituation
Drogenmissbrauch
Drogenabhängigkeit
DROGE
Art der Applikation
Dosis
Dauer
Griffnähe
Gewöhnung
Toleranz
SOZIALES MILIEU
familiäre Situation
Beruf
Wirtschaftslage
Sozialstatus,- mobilität
Gesetzgebung
Religion
Einstellung zur Droge
Werbe- und Modeeinflüsse
Konsumsitten
Die einzelnen Faktoren des Ursachenbündels wirken in komplexer Weise zusammen, für
jede Abhängigkeit und für jeden Abhängigen besteht eine jeweils individuelle
Bedingungskonstellation. Es kann jedoch kein linearer Ursache-Wirkungszusammenhang
14
angenommen werden – eine Tatsache, die die Vielschichtigkeit dieser Diagnosegruppe
verdeutlicht. Die Behandlung einer Abhängigkeitserkrankung sollte in jedem Fall sowohl
die biologischen, als auch die psychischen und sozialen Aspekte dieser Störung
berücksichtigen.
Ätiologische Erklärungsansätze für Abhängigkeitserkrankungen sind in großer Anzahl
und
Vielfalt
vorhanden.
Meist
werden
einzelne
Bestimmungsstücke
des
Bedingungsgefüges hervorgehoben und zu einem theoretischen Konstrukt verarbeitet. Die
durchgängig in allen Theorien vertretene Annahme ist die der Multikonditionalität dieser
Störung.
Aus
der
Sicht
der
Sozialwissenschaft
entwickelt
sich
eine
Abhängigkeitserkrankung in der überwiegenden Zahl der Fälle vom, auf Grund von
Problemen und Konflikten entstehenden, abweichenden Verhalten über die Gewöhnung
zum abhängigen Verhalten, wobei diese Stufen sich vor allem in der Zwanghaftigkeit, der
Intensität und der für die Abhängigkeit charakteristischen Eigendynamik unterscheiden.
Im Folgenden sollen die gängigen Erklärungsmodelle für die Diagnosegruppe der
Abhängigkeitserkrankungen erläutert werden.
2.1.2.1 Genetische Bedingungen
Familien-, Zwillings-, Adoptions- und Hochrisikostudien bestätigen eine erbliche
Prädisposition und somit auch ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung von Störungen
durch psychotrope Substanzen in Familien mit Abhängigkeitskranken. Diese Aussage gilt
für alle Substanzgruppen. Hinweise auf die Bedeutung genetischer Faktoren konnten auf
Grund signifikant höherer Konkordanzraten für die Prävalenz der Alkoholabhängigkeit
bei homozygoten im Vergleich zu heterozygoten Zwillingen erbracht werden.
In den bedeutendsten Forschungsmethoden für die Aufdeckung genetischer Marker im
Hinblick auf bestimmte Störungen – den Kopplungs- oder Linkage-Studien und den
Assoziationsstudien – konnten allerdings noch keine eindeutigen Ergebnisse erzielt
werden. Linkage-Studien untersuchen die überzufällige gemeinsame Vererbung
genetischer Merkmale in Familien. Assoziationsstudien, die in der Ätiologieforschung
immer mehr an Bedeutung gewinnen, untersuchen den Zusammenhang zwischen
Variationen von DNA-Sequenzen und beobachtbaren Merkmalsausprägungen.
Nach dem aktuellen Forschungsstand kommt dem Faktor der Genetik in der Entstehung
von Abhängigkeit der gleiche Einfluss wie dem der Umwelt zu. Genetische
15
Prädispositionen steuern Verhaltensbereitschaften, die jedoch in veränderbare soziale
Systeme eingebettet sind.
2.1.2.2 Biologisch-physiologische Konzepte
Die biologische Forschung sieht die Entwicklung von Abhängigkeitserkrankungen als
eine Folge einer genetisch bedingten oder erworbenen verminderten Konzentration von
Endorphinen. Sowohl die körpereigenen Endorphine als auch die Opiate werden vom
Limbischen System verarbeitet und bewirken Wohlbefinden und Lust. Zahlreiche
Untersuchungen
haben
ergeben,
dass
diese
Prozesse
auch
durch
bestimmte
Verhaltensweisen (stoffungebundene Abhängigkeit) beeinflusst werden können. Für die
Prävention und Therapie von Abhängigen lassen sich jedoch nach dem aktuellen Stand
der überwiegend auf Hypothesen aufbauenden biologischen Forschung in Bezug auf
Abhängigkeitsstörungen keine verantwortbaren Handlungsstrategien ableiten (Stimmer,
1999).
Substanzen
mit
Abhängigkeitspotential
greifen
über
synaptische
Übertragungsmechanismen des Nervensystems in Gehirn- und Körperfunktionen, das
Verhalten und Befinden ein und aktivieren auf direktem oder indirektem Weg das
Belohnungssystem. Eine maßgebliche Rolle spielt in diesem System die Verknüpfung von
Angst, Schmerz und Abhängigkeit – ein Prozess, bei dem Endorphine maßgeblich
beteiligt sind. Assoziative Gedächtnisleistungen sind für abhängiges Verhalten insofern
von großer Bedeutung, als erste Erfahrungen mit Drogenwirkungen engrammiert und
somit zu potentiellen Auslösern einer erneuten Drogeneinnahme werden. Die wiederholte
Einnahme eines abhängigkeitsinduzierenden Stoffes führt zur Neuroadaptation und
Toleranzentwicklung.
Auf motivationaler Ebene bietet das Opponenten-Prozess-Modell von Solomon und
Corbit (1974, zit. n. Ferstl, 1998b) Aufschlüsse bezüglich der neurophysiologischen und
neuropharmakologischen Vorgänge bei der Entstehung von Abhängigkeitserkrankungen.
Das Modell fußt auf drei Phänomenen:
 dem positiven Primäreffekt der Substanzeinnahme: die Intensität des Primäreffekts
nimmt nach den ersten Substanzeinnahmen ab und pendelt sich auf einem
konstanten, niedrigeren Niveau ein.
16
 der affektiven Toleranz, die sich erst nach wiederholtem Konsum der Substanz
einstellt: mit mehrmaliger Einnahme der Substanz nimmt die subjektive Wirkung
bei gleicher Dosis ab, was meist zur Dosissteigerung führt.
 dem affektiven Entzugsphänomen: die Abnahme der Drogenwirkung nach der
einzelnen Einnahme der Substanz führt zur negativen hedonischen Komponente
des Substanzgebrauchs. Bewirkt wird diese durch kompensatorische Nacheffekte
an den postsynaptischen Rezeptoren – ihre Anzahl nimmt zu oder sie werden
sensitiver.
In der frühen Substanzeinnahmeepisode ist der Wirkungsverlauf noch unkonditioniert. In
der Phase der Abhängigkeit wird die Einnahme der Droge durch die konditionierte
Motivation eingeleitet: der positive Primäreffekt soll dadurch hergestellt und das affektive
Entzugsphänomen vermieden werden. Das Opponenten-Prozess-Modell beruht demnach
auf negativen Verstärkungsprinzipien.
2.1.2.3 Lerntheoretische Konzepte der auslösenden und aufrechterhaltenden Bedingungen
abhängigen Verhaltens
Abhängiges Verhalten wird in den Verhaltenstheorien als erlerntes und auch wieder
verlernbares Verhaltensmuster betrachtet. Die lerntheoretischen Konzepte führen als
auslösende Bedingungen für die Entwicklung von Abhängigkeiten vor allem folgende an:
 Neugierde
 sozialer Druck
 aversive Situationen
 Entzugserscheinungen
 ein allgemeines Verlangen nach der Substanz und
 Modelllernprozesse.
Der Übergang vom sozialen Trinken zur Abhängigkeit wird als ein kontinuierlicher
Prozess angenommen. Die auslösenden Faktoren sind in der Regel nicht mit den
aufrechterhaltenden identisch. Man unterscheidet in den Lerntheorien zwischen positiver
Verstärkung, bei dem ein Verhalten von einem angenehmen Reiz gefolgt wird und
negativer Verstärkung, bei dem das Verhalten einen aversiven Reiz beendet oder ein
17
erwarteter negativer Reiz ausbleibt. Negative Verstärkung ist in Bezug auf gewünschte
Verhaltensmodifikationen besonders effektiv (Margraf, 2000).
Als positive Verstärker gelten in Bezug auf abhängiges Verhalten im Sinne eines ZweiFaktoren-Lerngeschehens:
 Die euphorisierende Drogenwirkung
 die entspannende und stressdämpfende Wirkung
 die durch den Konsum der Substanz erlangte soziale Akzeptanz und
 das – je nach Substanz und Phase – gesteigerte soziale Reaktionsvermögen.
Die negativen Verstärker in diesem Lernprozess sind
 das Wegfallen der Entzugserscheinungen
 die schmerzstillende Wirkung der Substanzen
 die
Reduktion
von
negativen
Minderwertigkeitsgefühlen
durch
Gefühlen
die
wie
Einnahme
Spannungen
von
oder
psychoaktiven
Substanzen.
Durch die Kontingenz mit positiven Erfahrungen wird die psychotrope Substanz zum
Verstärker im Sinne der klassischen Konditionierung. Die positive Valenz der Droge kann
durch Gegenkonditionierung mit negativen Verstärkern gelöscht bzw. zu einem negativen
Verstärker umkonditioniert werden. Als besonders wirksam in Bezug auf die Lerneffekte
und äußerst löschungsresistent haben sich intermittierende Verstärkungsprozesse
erwiesen. Die positiven und negativen Verstärker erfolgen dabei zeitlich und situativ
unregelmäßig und unvorhersehbar. Günstige und ungünstige Folgen der Abhängigkeit
können vom Betroffenen im Voraus schlecht abgeschätzt werden, was den Konsum der
psychoaktiven Substanz verstärkt. Die sozial-kognitive Lerntheorie Banduras (1979, zit. n.
Margraf, 2000) kombiniert die lerntheoretischen Grundannahmen mit der Bedeutung des
subjektiven Erlebens, der Persönlichkeitsmerkmale sowie der kognitiven und sozialen
Variablen der Ätiologie von Abhängigkeitserkrankungen am Beispiel Alkohol und betont
dabei die selbstregulativen Fähigkeiten des einzelnen Individuums.
Im Zusammenhang mit der spannungsreduzierenden Wirkung bestimmter Substanzen
steht die Spannungsreduktionshypothese, die empirisch nicht nachgewiesen werden
konnte. Sie basiert auf der Annahme, dass die mangelnde Fähigkeit zur Angst- und
Stressbewältigung indirekt Abhängigkeiten verursacht. Unter sozialen Stressbedingungen
erhöhen
Abhängigkeitserkrankte
ihren
Substanzkonsum,
ein
Training
sozialer
18
Kompetenzen kann zur besseren Bewältigung von Problemsituationen mittels adäquater
Alternativreaktionen
beitragen.
Zu
den
wichtigsten
verhaltenstherapeutischen
Interventionen in der Behandlung von Abhängigkeitserkrankungen zählen die gezielte
Rückfallprophylaxe, die durch das Einüben von Verhaltensregeln für kritische Situationen
erreicht werden soll, das Training sozialer Kompetenzen zur Bewältigung dieser
Situationen sowie Entspannungs- und Selbstkontrolltechniken.
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die Verhaltenstheorie soziale
Bedingungen sowie die Lerngeschichte eines Individuums als primäre Einflussfaktoren
für die Entwicklung einer Abhängigkeitserkrankung sieht.
2.1.2.4 Einflüsse der sozialen Umwelt
Die überwiegende Zahl an abhängigkeitsspezifischen Ätiologiemodellen sieht in den
Einflüssen der sozialen Umwelt eines Individuums – der Familie oder dem Milieu –
potentielle Risikofaktoren für die Entwicklung von Abhängigkeitserkrankungen. Die,
diese
Einflüsse
der
Übertragung
des
Risikos
fördernden,
vermittelnden
Persönlichkeitsfaktoren wurden vor allem im Rahmen von Persönlichkeitsuntersuchungen
und der Erfassung der komorbiden Psychopathologie ermittelt.
Eine wichtige Rolle in der Erforschung der ätiologisch relevanten Faktoren von
Abhängigkeitserkrankungen
spielt
die
Sozialisation
Jugendlicher.
In
diesem
Zusammenhang haben Peer-groups entscheidenden Einfluss, aber auch das Stressniveau
im Elternhaus, niederschwelliges parental monitoring und das elterliche Vorbild in Bezug
auf den Konsum von Alkohol oder anderen Drogen können die Entwicklung einer Störung
durch psychoaktive Substanzen beeinflussen.
Die größte Bedeutung für die Entstehung abhängigen Verhaltens scheint in diesem
Zusammenhang die sogenannte Antisoziale Persönlichkeitsstörung (ASPD) zu haben.
Unter der Antisozialen Persönlichkeitsstörung versteht man eine schwere Störung des
Sozialverhaltens,
die
vor
dem
15.
Lebensjahr
beginnt.
Als
prämorbide
Persönlichkeitsmerkmale für Abhängigkeitserkrankungen sind vor allem Impulsivität,
Nonkonformität, Ablehnung sozialer Werte, antisoziales Verhalten und Hyperaktivität zu
betrachten. Der enge Zusammenhang zwischen Antisozialen Persönlichkeitsstörungen und
substanzbezogenen Störungen ist im Hinblick auf das Krankheitsmodell abhängigen
19
Verhaltens
im
Psychodrama6,
das
Sucht
als
Ausdruck
einer
grundlegenden
Beziehungsstörung zu sich selbst und zur Umwelt sieht, äußerst interessant.
Die Interaktionsgestörtheit lässt sich – wie auch in den theoretischen Ausführungen
Morenos nachzulesen ist – auf gesellschaftliche Prozesse und Strukturen zurückführen –
eine Tatsache, die sich aus der folgenden Grafik ablesen lässt.
Abbildung 5: Bedingungsgeflecht des Drogenmissbrauchs
Quelle: Stimmer, 1999, S. 555
Gesellschaft
verursacht
bietet an
Leistungs-
Einstellungen
bzw.
gegenüber
Erfolgszwang
Inter-
Problem-
Drogenkonsum
individualis-
Familie
aktions-
(Schein-)
Drogen-
Familie
tische Ethik
Schule
gestört-
löser
spezifische
Schule
Industrielle
heit
Droge
Sozialisation
Gleich-
Herstellung
altrige
und Vertrieb
soziale
Gleich-
Mobilität
altrige
Werte-
Beruf
Sozialisation
von Drogen
pluralismus
bzw. Sinnkrise
weiträumige
Verflechtungen
Drogenmissbrauch
bzw.
Werbung
Abhängigkeiten
Auffällig ist im Zusammenhang mit dem Konsum psychoaktiver Substanzen auch die
Kulturabhängigkeit.
Es
wurden
bereits
einige
Studien
durchgeführt,
die
den
länderspezifischen Umgang mit Drogen mit den Abhängigkeitsstatistiken in Relation
gestellt haben. So findet man z. B. in Abstinenzkulturen (wie den islamischen Ländern)
eine vernachlässigbare Zahl an Alkoholkrankheiten. Die Diskussion um die Bedeutung
6
Näheres zum ätiologischen Erklärungsansatz in der psychodramatischen Theorie in Kapitel 3.6.
20
sozialer Faktoren in der Ätiologie von Abhängigkeitserkrankungen lenken den Blick auf
politische Präventionsmaßnahmen7.
2.1.2.5 Psychodynamische Theorieansätze
Abhängiges Verhalten wird in der psychoanalytischen Theorie als Symptom einer
Persönlichkeitsstörung gesehen. Entscheidend sind dabei die Triebdynamik – die
Fixierung bzw. Regression auf die orale Thematik – die Objektbeziehungen sowie Ichpsychologische Defizite. Die Objektbeziehungen umfassen Beziehungen zu anderen und
zu sich selbst einschließlich der verinnerlichten Bilder und Vorstellungen. Die Droge
dient als Objektersatz, als Partialobjekt oder als Übergangsobjekt. Unter einem
Partialobjekt versteht man in der psychoanalytischen Theorie einen von den Partialtrieben
angestrebten Objekttypus, ohne dass die gesamte Person das Triebobjekt darstellt. Es
handelt sich um reale oder phantasierte Körperteile wie die Brust oder den Penis
(Laplanche & Pontalis, 1994). Als Übergangsobjekt bezeichnet man ein materielles
Objekt (z.B. eine Decke), das für einen Säugling (meist im Alter von vier bis zwölf
Monaten, aber auch später) besonderen Wert besitzt. Das Übergangsobjekt dient der
Bewältigung der Phase des Übergangs zwischen der oralen Beziehung zur Mutter zur
ersten „wirklichen Objektbeziehung“ (ebd., S. 548).Die Abhängigkeit wird häufig auf
Defizite in der Mutter-Kind-Beziehung zurückgeführt und ist als Ausdruck einer
Selbstwertproblematik
zu
sehen,
die
kompensatorisch
mit
Größen-
und
Allmachtsphantasien verbunden ist8. Die für die Entwicklung einer Abhängigkeitsstörung
relevanten Ich-psychologischen Defizite beziehen sich auf die Wahrnehmung, die Affektund Impulskontrolle, das Urteilsvermögen, integrative und organisierende Fähigkeiten
und die Über-Ich-Struktur. Das Über-Ich stellt eine der Instanzen der Persönlichkeit, wie
Freud sie in seiner zweiten Theorie des psychischen Apparates beschrieben hat, dar. Es
hat die Funktion eines Richters oder Zensors und bildet sich über die Verinnerlichung
elterlicher Verbote heraus. Das abhängige Verhalten dient der Lösung von, als
unerträglich empfundenen, inneren Spannungszuständen und dem Ersatz fehlender IchFunktionen.
Die
psychodynamische
Theorie
geht
davon
aus,
dass
es
sich
bei
Abhängigkeitserkrankungen überwiegend um frühe Störungen handelt, wobei vor allem
7
Zu den Möglichkeiten im Bereich Prävention von Abhängigkeitserkrankungen siehe Kapitel 2.1.7.
Probleme des Selbstwertgefühls und des Selbstbildes werden in der psychoanalytischen Theorie hauptsächlich
unter dem Begriff Narzissmus abgehandelt.
8
21
die Identitätsbildung, die Autonomieentwicklung und die Entwicklung der Über-IchFunktionen beeinträchtigt sind.
2.1.3 Epidemiologie, Verlauf und Folgen von Abhängigkeitserkrankungen
Die Informationen zu den Bereichen Verbreitung, Verlauf und Folgen von
Abhängigkeitserkrankungen stellen eine wichtige Basis für die Planung und Durchführung
von Behandlungsmaßnahmen dar.
2.1.3.1 Epidemiologie
Die Epidemiologie beschreibt mit Hilfe von Daten die örtliche und zeitliche Begrenzung
einer Erkrankung oder Störung und deren Entwicklung und Einfluss auf die Bevölkerung.
In Deutschland werden seit den siebziger Jahren Repräsentativerhebungen zum Konsum
psychotroper Substanzen durchgeführt. In diesem Kontext sind vor allem die Daten der
Behandlungsstatistiken der Suchtkrankenhilfe der Deutschen Hauptstelle gegen die
Suchtgefahren (DHS), die Dokumentations- und Informationssysteme EBIS und SEDOS9
zu nennen.
Wie bereits in der Einleitung erwähnt, unterscheidet man in epidemiologischen Studien
zwischen der Prävalenz und der Inzidenz einer Krankheit. Im Zusammenhang mit
Abhängigkeitserkrankungen werden in der Regel Prävalenzdaten für die letzten 12
Monate (Aktualprävalenz) bzw. Daten für das Auftreten einer Störung im Lebensverlauf
(Lebenszeitprävalenz) erhoben.
Die folgenden Zahlen stammen aus einer, in Deutschland in der Altersgruppe der 18 bis
58jährigen durchgeführten Repräsentativerhebung von Kraus & Bauernfeind aus dem Jahr
1998 (Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren e.V., 2001). Zur Klassifizierung
wurde in der Studie das kriterienorientierte Diagnosesystem DSM-IV eingesetzt, die
Zahlen beziehen sich auf einen Zeitraum von 12 Monaten:
 Die Alkoholabhängigkeit und der Alkoholmissbrauch sind auch in Deutschland
weit verbreitet: Die Abstinenzraten betragen 9,6 Prozent in der männlichen und
14,9 Prozent in der weiblichen Population. 4,9 Prozent der Männer und 1,1
Prozent der Frauen (insgesamt 1,5 Millionen Personen) gelten nach DSM-IV
9
Näheres zu den Dokumentations- und Informationssystemen der Deutschen Hauptstelle gegen die
Suchtgefahren in den Kapiteln 4.4.2.1 und 4.4.2.2.
22
Kriterien als alkoholabhängig. Alkoholmissbrauch kann bei 8,1 Prozent der
Männer und 1,9 Prozent der Frauen diagnostiziert werden. Im Vergleich dazu führt
eine Studie aus den USA von Grant aus dem Jahr 1997 folgende Zahlen an: 4,4
Prozent der Gesamtbevölkerung waren innerhalb der letzten 12 Monate
alkoholabhängig, bei 3 Prozent konnte ein Alkoholmissbrauch diagnostiziert
werden. Die Lebenszeitprävalenz für Alkoholabhängigkeit betrug 13,3 Prozent
(Stimmer, 1999).
 Zur Medikamentenabhängigkeit liegen keine repräsentativen Daten vor. Die
Schätzungen liegen bei 1,4 Millionen Personen in Deutschland. Laut Kraus &
Bauernfeind konsumieren 19,5 Prozent der Frauen und 11,5 Prozent der Männer
mindestens einmal pro Woche Medikamente mit psychotroper Wirkung (zu den
für diese Diagnosekategorie relevanten Medikamenten zählen Schmerz-, Schlaf-,
Beruhigungs-, Anregungs- oder Abführmedikamente und Appetitzügler). Die
Häufigkeitsraten sind der Studie zu Folge bei Frauen höher und steigen mit
zunehmendem Alter. Gerade bei Medikamentengebrauch sind die realen
Häufigkeiten von Abhängigkeit und Missbrauch schwer festzustellen, da die
Angaben über die Art und Menge der Substanzen, sowie die Frage der ärztlichen
Anweisung bezüglich der Einnahme häufig sehr ungenau sind.
 Bei 1,1 Prozent der befragten Männer sowie 0,2 Prozent der Frauen liegen die
Kriterien einer Abhängigkeit von illegalen Drogen vor, wobei der Konsum bei den
21-24jährigen am häufigsten ist. 1 Prozent der Männer und 0,4 Prozent der Frauen
konsumieren illegale Drogen missbräuchlich, wobei es sich bei den Drogen vor
allem um Cannabis und Ecstasy handelt. Auf Grund der Illegalität der Substanzen
ist die Verlässlichkeit der Angaben fraglich. Die Daten werden zum Teil über
sekundäre Quellen wie Statistiken aus Einrichtungen oder über die Häufigkeit von
Drogendelikten erschlossen.
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die Abhängigkeit und der Missbrauch
von Medikamenten und Drogen epidemiologisch eine wesentlich geringere Bedeutung
haben als die Störungen im Zusammenhang mit den Substanzen Alkohol und Nikotin.
Eine Tatsache, die sich auch in den Daten der Psychosozialen Beratungs- und
Behandlungsstelle Sigmaringen widerspiegelt.
23
2.1.3.2 Der Verlauf von Abhängigkeitserkrankungen
Abhängigkeitserkrankungen stellen einen komplexen Prozess dar, der sich im organischen
Bereich ebenso manifestiert wie im psychologischen, psychiatrischen und sozialen. Meist
nehmen diese Störungen einen typischen, eigengesetzlichen Verlauf. Die Phase der
Abhängigkeit und deren Bewältigung, in der sich der Betroffene befindet, ist für die
Behandlung der Störung von entscheidender Bedeutung. Gerade im Bereich Alkoholismus
sind in den letzen Jahrzehnten etliche Studien zum Langzeitverlauf durchgeführt und
methodische Konsequenzen abgeleitet worden.
Prohaska und DiClemente (1986, zit. n. Küfner, 1999) haben ein Verlaufsmodell
entworfen, in dem folgende 5 Phasen der Abhängigkeit unterschieden werden:
 Vorahnungsphase (precontemplation)
In der Vorahnungsphase werden die Reaktionen aus der sozialen Umgebung des
Betroffenen bezüglich des abhängigen Verhaltens mit ausweichenden Erklärungen
abgewehrt. Der Konsum der psychotropen Substanz verändert sich (z.B.:
heimliches Trinken).
 Überlegungsphase (contemplation)
Die Hinweise aus dem Umfeld werden in der Überlegungsphase weiterhin
zurückgewiesen. Die Betroffenen planen und versuchen abstinentes Verhalten.
 Entscheidungsphase (decision):
Der Abhängige trifft die Entscheidung zur Abstinenz.
 Handlungsphase (action):
In dieser Phase wird erstmals Hilfe von außen angenommen, der Betroffene zeigt
Bereitschaft zur Veränderung.
 Phase der Aufrechterhaltung (maintenance):
In der Phase der Aufrechterhaltung ist der Abhängige bestrebt, die Abstinenz
beizubehalten und akzeptiert therapeutische Behandlungen.
 Rückfall (relapse): längere Phasen erneuten Substanzmissbrauchs oder neuerlicher
Abhängigkeit.
Dieses Modell beschreibt die Abhängigkeit als einen Prozess der Veränderung der
Einstellung des Betroffenen gegenüber der psychotropen Substanz.
24
Abbildung 6: Kreismodell von Prochaska und Di Clemente
Quelle: Feuerlein et al., 1998, S. 213
Aufrechterhaltung
Handlung
Entscheidung
Überlegung
Rückfall
Vorahnung
Beim Kreismodell von Prochaska und DiClemente ist zu berücksichtigen, dass Rückfälle,
die für den Verlauf einer Abhängigkeitserkrankung charakteristisch sind, auch ein
Zurückfallen im Verlauf darstellen. In engem Zusammenhang mit den verschiedenen
Phasen steht die Motivation des Abhängigen, wobei man zwischen Veränderungs- und
Behandlungsmotivation unterscheidet. Der Abhängige steht der Therapie in der Regel
ambivalent gegenüber. Die Behandlungsmotivation ist jedoch prinzipiell notwendig, um
die therapeutische Unterstützung annehmen und Veränderungen umsetzen zu können. Die
Veränderungsmotivation beschränkt sich meist nicht ausschließlich auf das abhängige
Verhalten, sondern auch auf andere Problembereiche des Klienten.
2.1.3.3 Die Folgen von Abhängigkeitserkrankungen
Abhängigkeit wird als ein Verhalten definiert, bei dem der Konsum der psychotropen
Substanz für den Abhängigen gegenüber Verhaltensweisen, die früher eine größere
25
Bedeutung hatten, Vorrang hat. Das beschriebene abhängige Verhalten hat bedeutsamen
Einfluss auf die Persönlichkeit des Betroffenen. Man spricht zwar im Zusammenhang mit
Abhängigen häufig von Suchtpersönlichkeit, jedoch war es bislang auch mit modernsten
Persönlichkeitsinventaren nicht möglich ein valide replizierbares Persönlichkeitsprofil der
Klienten mit Störungen durch psychotrope Substanzen nachzuweisen. Es konnten – wie
bereits erwähnt – lediglich für die antisoziale Persönlichkeitsstörung empirisch belegbare
Zusammenhänge für die Entstehung einer Störung durch psychotrope Substanzen
nachgewiesen werden.
Das Problem bei der Definition von Persönlichkeitsveränderungen auf Grund einer
Abhängigkeit besteht darin, dass die prämorbide Persönlichkeit nach Beginn der
Entwicklung einer Abhängigkeit nicht mehr bestimmt werden kann. Dennoch ist in der
Literatur häufig von der im Zusammenhang mit einer Abhängigkeitserkrankung typischen
Veränderung der Persönlichkeit die Rede. Schon zu Beginn der Abhängigkeitserkrankung
treten Konzentrationsstörungen auf, Interessen und Antriebe der Betroffenen werden
zunehmend auf den Konsum der psychotropen Substanz eingeengt. Soziale Bedürfnisse
nehmen ab, individuelle Wertvorstellungen werden im weiteren Verlauf der Abhängigkeit
aufgegeben.
Haring
(1995)
beschreibt
in
diesem
Zusammenhang
eine
Reihe
von
Persönlichkeitsmerkmalen und neurotischen Verhaltensweisen bzw. Veränderungen der
Stimmung, die in späten Stadien der Abhängigkeit mit zerebralen Veränderungen
einhergehen:
 Chronische Verstimmung und Reizbarkeit mit Müdigkeit und Apathie
 kurze Phasen von Überaktivität
 affektive Labilität
 Unfähigkeit, Willensentscheidungen durchzuhalten
 Ablehnung der Übernahme von Verantwortung für das eigene Handeln
 Misstrauen, Resignation und Gleichgültigkeit
 Beteuerungen, das Problem der Abhängigkeit bewältigt zu haben
 hohe Ansprüche an die Umwelt
 sehr geringe Belastbarkeit und Frustrationstoleranz
 Unzuverlässigkeit
 eine stark ausgeprägte Angepasstheit an das therapeutische Konzept
 mangelnde Kritikfähigkeit.
26
Charakteristische
schädigende
Folgen
abhängigen
Verhaltens
sind
sowohl
im
psychischen, als auch im sozialen und körperlichen Bereich zu finden, wobei diese Folgen
nicht nur vom Abhängigen selbst, sondern auch von seiner unmittelbaren sozialen
Umgebung getragen werden müssen. Für die Therapie mit Abhängigen ist zu vermuten,
dass ohne die Bearbeitung der für diese Störung typischen Persönlichkeitsvariablen keine
dauerhafte Abstinenz zu erzielen ist. In diesem Zusammenhang ist vor allem die IchStärkung zu nennen, die in der psychodramatischen Literatur zum Themenkreis Therapie
mit Abhängigkeitskranken einen wichtigen Stellenwert einnimmt. Weitere therapeutische
Zielkomplexe
auf
Umstrukturierung
der
charakterologischen
pathodynamischer
Ebene
Erlebnis-
und
sind
die
Nachreifung
und
Verhaltensstrukturen,
die
Aufarbeitung von Persönlichkeitsdefiziten, verbesserte Selbstkontrollmechanismen und
Ausdrucksmöglichkeiten.
2.1.4 Diagnostik
Die herkömmliche Sichtweise der abhängigkeitsspezifischen Diagnostik ist die
Störungsperspektive. Diese dient der Erfassung der physischen und psychischen
Abhängigkeit, der Störungen im psychosozialen Bereich sowie der Komorbidität. Die
psychische Abhängigkeit stellt – wie bereits erwähnt – das Hauptkriterium für die
Diagnose Abhängigkeit dar und ist wesentlich schwieriger zu diagnostizieren als die
körperliche Abhängigkeit. Die psychische Abhängigkeit ist geprägt durch „eine
zunehmende Einengung des Erlebens und Verhaltens auf die Beschaffung und den
Gebrauch der Drogen und insgesamt durch einen Verlust der Kontrolle“ (Küfner, 1999, S.
107). Unter Kontrollverlust wird die Unfähigkeit verstanden, den Konsum der
psychotropen
Substanzen
mit
eigenem
Willen
zu
steuern.
Die
für
Abhängigkeitserkrankungen charakteristische Kombination aus der Einschränkung der
freien Wahl über Verhaltensalternativen, den desaströsen persönlichen und sozialen
Konsequenzen und der Progredienz der Verhaltenshäufigkeit bei Abnahme des
Lustgefühls werden in der Literatur häufig als konstituierende Merkmale einer
Abhängigkeit unter dem Begriff des „suchthaften Erlebens“ zusammengefasst.
27
2.1.4.1 Die Diagnostik von Abhängigkeitserkrankungen in den Klassifikationssystemen
ICD-10 und DSM IV
Als Diagnosekriterien von Klassifikationssystemen werden bei Störungen durch
psychotrope Substanzen vor allem Verhaltensmerkmale und Konsumgewohnheiten
herangezogen, da diese besser beobacht- und objektivierbar sind und die Reliabilität der
Diagnosen erhöhen. Verlaufsmerkmale von Störungen treten zu Gunsten von
Querschnittsbeschreibungen in den Hintergrund. Die Diagnosekriterien beziehen sich auf
psychologische, biologische und soziale Veränderungen und Folgen der Abhängigkeit und
erlauben somit die Erfassung des vielgestaltigen Bildes und der unterschiedlichen
Schwerpunkte der Abhängigkeitserkrankung.
Die Substanzabhängigkeit wird im DSM-IV nach den in der folgenden Abbildung
angeführten Kriterien gestellt.
Abbildung 7: Diagnostische Kriterien der Substanzabhängigkeit nach DSM-IV
Quelle. American Psychiatric Association, 1996, S. 227/228
Für eine Diagnose müssen mindestens drei der folgenden Kriterien in demselben 12-MonatsZeitraum auftreten:
(1) Toleranzentwicklung definiert durch eines der folgenden Kriterien:
a) Verlangen nach ausgeprägter Dosissteigerung, um einen Intoxikationszustand oder
erwünschten Effekt herbeizuführen,
b) deutlich verminderte Wirkung bei fortgesetzter Einnahme derselben Dosis.
(2) Entzugssymptome, die sich durch eines der folgenden Kriterien äußern:
a) charakteristisches Entzugssyndrom der jeweiligen Substanz (siehe Kriterien A und B der
Kriterien für Entzug von den spezifischen Substanzen),
b) dieselbe (oder eine sehr ähnliche) Substanz wird eingenommen, um Entzugssymptome zu
lindern oder zu vermeiden.
(3) Die Substanz wird in größeren Mengen oder länger als beabsichtigt eingenommen.
(4) Anhaltender Wunsch oder erfolglose Versuche, den Substanzgebrauch zu verringern oder zu
kontrollieren.
(5) Viel Zeit für Aktivitäten, um die Substanz zu beschaffen (z.B. Kettenrauchen) oder sich
von ihren Wirkungen zu erholen.
(6) Wichtige soziale, berufliche oder Freizeitaktivitäten werden aufgrund des
Substanzmissbrauchs aufgegeben oder eingeschränkt.
(7) Fortgesetzter Substanzmissbrauch trotz Kenntnis eines anhaltenden oder wiederkehrenden
sozialen, psychischen oder körperlichen Problems, das wahrscheinlich durch den
Substanzmissbrauch verursacht oder verstärkt wurde (z.B. fortgesetzter Kokainmissbrauch
28
trotz des Erkennens kokaininduzierter Depressionen oder trotz des Erkennens, dass sich ein
Ulcus durch den Alkoholkonsum verschlechtert).
Die zahlreichen charakteristischen Symptome für den Verdacht auf Abhängigkeit aus dem
psychischen, physischen und sozialen Bereich sind je nach Suchtmittel sehr
unterschiedlich.
Der Weg in die Abhängigkeit führt in der überwiegenden Zahl der Fälle über den
Missbrauch einer Substanz. Sowohl der Missbrauch als auch die Abhängigkeit von
Substanzen üben eine direkte Wirkung auf die Funktion des Zentralnervensystems aus.
Substanzmissbrauch liegt nach DSM-IV bei Auftreten eines oder mehrerer folgender
Symptome innerhalb der letzten zwölf Monate vor:
(1) Der wiederholte Substanzgebrauch führt zu einer Beeinträchtigung der Verpflichtungen am
Arbeitsplatz, in der Schule oder zu Hause.
(2) Wiederholter Gebrauch der Substanzen in Situationen, in denen der Gebrauch eine körperliche
Gefährdung darstellt.
(3) Wiederholte substanzbedingte Rechtsverstöße.
(4) Obwohl durchgehende oder wiederholt auftretende soziale oder interpersonelle Probleme
durch die Substanz verursacht oder verstärkt werden, wird diese fortdauernd eingenommen.
Im
ICD-10
(Dilling,
Mombour
&
Schmidt,
1995)
werden
verschiedene
Abhängigkeitstypen unterschieden, die durch die einzelnen psychotropen Substanzen
charakterisiert werden. Die unterschiedlichen Codes des DSM-IV und des ICD können
über Vergleichstabellen ineinander überführt werden. Die Diagnosekategorie F1
„Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen“ enthält eine
Vielzahl an Störungen unterschiedlichen Schweregrades mit verschiedenen klinischen
Erscheinungsbildern. Die Substanzen werden an der dritten Stelle kodiert, woraus
folgende Einteilung resultiert:
F10
F11
F12
F13
F14
Psychische und Verhaltensstörungen durch Alkohol
Psychische und Verhaltensstörungen durch Opioide
Psychische und Verhaltensstörungen durch Cannabinoide
Psychische und Verhaltensstörungen durch Sedativa oder Hypnotika
Psychische und Verhaltensstörungen durch Kokain
29
F15
Psychische und Verhaltensstörungen durch sonstige Stimulanzien einschließlich
Kokain
Psychische und Verhaltensstörungen durch Halluzinugene
Psychische und Verhaltensstörungen durch Tabak
Psychische und Verhaltensstörungen durch flüchtige Lösungsmittel
Psychische und Verhaltensstörungen durch multiplen Substanzgebrauch und Konsum
sonstiger psychotroper Substanzen
F16
F17
F18
F19
Für sämtliche Stoffklassen dient in der ICD-10 die 4. und 5. Stelle der Beschreibung und
näheren Bezeichnung des klinischen Erscheinungsbildes:
F 1 x.0
x.00
x.01
x.02
x.03
x.04
x.05
x.06
x.07
F 1 x.1
F 1 x.2
x.20
x.200
x.201
x.202
x.21
x.22
x.23
x.24
x.240
x.241
x.25
x.26
F 1 x.3
x.30
x.31
F 1 x.4
x.40
x.41
F 1 x.5
x.50
x.51
x.52
x.53
x.54
x.55
x.56
F 1 x.6
akute Intoxikation
ohne Komplikation
mit Verletzung oder anderen körperlichen Schäden
mit sonstigen medizinischen Komplikationen
mit Delir
mit Wahrnehmungsstörungen
mit Koma
mit Krampfanfällen
pathologischer Rausch
schädlicher Gebrauch
Abhängigkeitssyndrom
gegenwärtig abstinent
frühe Remission
Teilremission
Vollremission
gegenwärtig abstinent, aber in beschützender Umgebung
gegenwärtige Teilnahme an einem ärztlich überwachten Ersatzdrogenprogramm
(kontrollierte Abhängigkeit)
gegenwärtig abstinent, aber in Behandlung mit aversiven oder hemmenden
Medikamenten
gegenwärtiger Substanzgebrauch (aktive Abhängigkeit)
ohne körperliche Symptome
mit körperlichen Symptomen
ständiger Substanzgebrauch
episodischer Substanzgebrauch (z.B. Dipsomanie)
Entzugssyndrom
unkompliziert
mit Krampfanfällen
Entzugssyndrom mit Delir
ohne Krampfanfälle
mit Krampfanfällen
psychotische Störung
schizophrenoform
vorwiegend wahnhaft
vorwiegend halluzinatorisch (einschließlich Alkoholhalluzinose)
vorwiegend polymorph
vorwiegend depressive psychotische Symptome
vorwiegend manische psychotische Symptome
gemischt
amnestisches Syndrom
30
F 1 x.7
x.70
x.71
x.72
x.73
x.74
x.75
F 1 x.8
F 1 x.9
Restzustand und verzögert auftretende psychotische Störung
Nachhallzustände (flashbacks)
Persönlichkeits- oder Verhaltensstörung
residualaffektives Zustandsbild
Demenz
andere anhaltende kognitive Beeinträchtigungen
verzögert auftretende psychotische Störung
sonstige psychische oder Verhaltensstörungen
nicht näher bezeichnete psychische oder Verhaltensstörung
Auf Grund der ähnlichen ätiologischen Bedingungen und den darauf fußenden weitgehend
übereinstimmenden
therapeutischen
Implikationen
werden
Störungen,
die
das
Essverhalten betreffen sowie die sogenannten stoffungebundenen Süchte in der
Behandlungspraxis
häufig
–
so
auch
in
der
Psychosozialen
Beratung-
und
Behandlungsstelle Sigmaringen – zusammengefasst.
Im
ICD-10
werden
diese
Störungen
unter
der
Diagnosegruppe
F
5
„Verhaltensauffälligkeiten in Verbindung mit körperlichen Störungen und Faktoren“
sowie unter F6 „Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen“ klassifiziert. Die in dieser
Kategorie
klassifizierten
Störungen
sind
durch
wiederholte
Handlungen
ohne
nachvollziehbare Motivation charakterisiert. Das Verhalten, das betroffene Klienten als
impulshaft bezeichnen, kann nicht kontrolliert werden.
F 50
F 50.0
F 50.1
F 50.3
F 50.4
F 50.5
F 50.8
F 50.9
Essstörungen
Anorexia nervosa
Bulimia nervosa
atypische Bulimia nervosa
Essattacken bei sonstigen psychischen Störungen
Erbrechen bei psychischen Störungen
sonstige Essstörungen
nicht näher bezeichnete Essstörung
F 63
F 63.0
F 63.1
F 63.2
F 63.3
F 63.8
F 63.9
abnorme Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle
pathologisches Glücksspiel
pathologische Brandstiftung (Pyromanie)
pathologisches Stehlen (Kleptomanie)
Trichotillomanie
sonstige abnorme Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle
nicht näher bezeichnete abnorme Gewohnheit und Störung der Impulskontrolle
In der abhängigkeitsspezifischen Diagnostik kann neben der Störungs- auch von der
Ressourcenperspektive ausgegangen werden, wobei sowohl die persönlichen (Coping-
31
Strategien zur Bewältigung von Spannungen und Konflikten und soziale Kompetenzen),
als auch die sozialen und materiellen Ressourcen des Betroffenen von Interesse sind.
Eine weitere Betrachtungsweise stellt die Veränderungsperspektive dar, die die Tatsache
berücksichtigt, dass sich Abhängigkeitskranke in unterschiedlichen Phasen ihrer
Abhängigkeit und deren Bewältigung befinden. Deshalb ist es in Hinblick auf eine
therapeutische Behandlung besonders wichtig, die Ziele des Abhängigen, deren
Begründungen sowie seine Fähigkeiten, diese umzusetzen, abzuklären. Besondere
Bedeutung kommt den Zielen in Bezug auf die Verhaltensänderung des Klienten zu.
2.1.4.2 Diagnoseinstrumente und Testverfahren
Die Diagnose Abhängigkeit kann objektiv über das Auftreten von Entzugssymptomen
oder auch über pharmakologische Toleranztests gestellt werden. Der Missbrauch
psychotroper Substanzen hingegen kann ausschließlich über anamnestische Daten und die
Selbstbeurteilung des Klienten diagnostiziert werden.
Die für die Behandlung wichtigen Informationen sind
 die bisherigen therapeutischen Maßnahmen
 die Konsumgewohnheiten
 das Alter zu Beginn des Missbrauchs
 die Dauer des Missbrauchs
 Suizidversuche sowie
 die Situation am Arbeitsplatz sowie im sozialen Umfeld.
Differentialdiganosisch müssen Störungen durch psychotrope Substanzen von anderen
organischen oder endogenen Psychosen unterschieden werden. In diesem Prozess kommt
der Eigen- bzw. Fremdanamnese sowie den aktuellen Laborbefunden eine wichtige Rolle
zu. In der klinischen Praxis erfolgt die Differenzierung nach Substanzklassen mittels
Drogenscreening.
Ein erhöhter Alkoholkonsum kann über pathologische Veränderungen von klinischchemischen Laborwerten z.B. über die Bestimmung von biologischen Markern wie der
Gamma-Blutamyl-Transferase (g-GT), dem mittleren Erythrozytenvolumens (-GT), der
Leberwerte oder dem Carbohydrate deficient transferrin (CDT) und dem 5Hydroxytryptophol diagnostiziert werden. Sind diese Laborwerte erhöht, kann jedoch
nicht zwischen Alkoholabhängigkeit und Alkoholmissbrauch unterschieden werden.
32
Deutschsprachige Testverfahren zur Diagnostik von Störungen im Zusammenhang mit
Substanzabhängigkeit und –missbrauch sind bislang ausschließlich im Bereich
Alkoholismus verfügbar. Die gebräuchlichsten psychodiagnosischen Verfahren sind in der
folgenden Abbildung angeführt.
Abbildung 8: Testverfahren im Bereich Alkoholismusdiagnostik
Quelle: Ferstl, 1998a, S. 783
Verfahren
Münchner Alkoholismustest,
MALT (Feuerlein et. al., 1979)
S+F
Inhaltliche Zielsetzung
Diagnose der Alkoholabhängigkeit
Methodische Charakteristika
Fragebogentest für die Selbstbeurteilung (24 Items) und
Fremdbeurteilung (7 Items)
Kurzfragebogen für AlkoholFrühdiagnostik der Alkoholgefährdung
Gefährdete, KFA (Feuerlein et al.,
1976)
S
Fragebogen (23 Items) zu den
Bereichen physische Abhängigkeit,
psychische und soziale Beeinträchtigung, abhängiges Trinkverhalten
und Motivation bzw. Einsicht in die
eigene Hilfsbedürftigkeit
Göttinger Abhängigkeitsskala,
GABS (Jakobi et al., 1987)
S
Erfassung der Schwere der Abhängigkeit
Der 20 Items umfassende
Fragebogen erhebt 5 Faktoren (1)
Unwiderstehliches Verlangen und
exzessives Trinken, (2) Körperliche
Entzugssymptome I, (3) Psychische
Entzugssymptome, (4) Trinkmenge,
(5) Körperliche Entzugssymptome II
Trierer Alkoholismusinventar
TAI (Funke et al., 1987)
S
Erfassung verschiedener Aspekte
alkoholabhängigen Erlebens und
Verhaltens zur differentiellen
Indikation psychotherapeutischer
Maßnahmen
Der Fragebogen mit 90 Items hat 7
Subskalen: (1) Schweregrad, (2)
soziales Trinken, (3) süchtiges
Trinken, (4) Motive, (5) Schädigung,
(6) Partnerprobleme wegen Trinken,
(7) Trinken wegen Partnerproblemen
S = Selbstbeurteilungsverfahren
F = Fremdbeurteilungsverfahren
33
Des Weiteren sind in diesem Zusammenhang die Diagnoseinstrumente SKID 10 (Wittchen,
Zaudig & Fydrich, 1997), sowie das CIDI11 (Composite Intenational Diagnostic Interview,
WHO, 1990) bzw. das CIDI-SAM (Substance Abuse Module) (Lachner & Wittchen,
1996) zu nennen, die beide Teile enthalten, die der Erfassung von Alkoholismus und der
Abhängigkeit von anderen psychotropen Substanzen dienen.
Veltrup & Wetterling (1996) haben Skalen zur Erfassung des Cravings – des subjektiven
Gefühls eines sehr starken Verlangens nach einer psychotropen Substanz – entwickelt. Zu
den gebräuchlichsten Diagnoseinstrumenten in Bezug auf den Schweregrad der
Abhängigkeit zählen der ASI (Addiction Severity Index) (McLellan, Kushner, Metzger,
Peters, Smith, Grissim, Pettinati & Argerou, 1992) bzw. der EuropASI (deutsche Version:
Gsellhofer, Küfner, Vogt, 1999)12.
Der RCQ13 (Readiness to Change Questionnaire, Rollnick, Heather, Gold, & Hall, 1992)
wurde in Anlehnung an das Modell von Prohaska und DiClemente14 entwickelt. In diesem
Fragebogen werden Daten zur Vorahnungs-, Überlegungs- und Handlungsphase der
Abhängigkeit erfasst.
Der CAGE-Kurztest auf Alkoholismusverdacht stellt eine Kurzfassung der häufigsten
Symptome der Alkoholabhängigkeit dar. Er wurde im anglo-amerikanischen Sprachraum
entwickelt und besteht aus vier Fragen, die in nicht konfrontativer Weise das Vorliegen
von Abhängigkeitssymptomen überprüfen sollen.
10
Das SKID-I und II dienen der schnellen und validen Diagnosenstellung nach DSM-IV. Das SKID ist das
international am häufigsten verwendete klinische Interview.
11
Das CIDI ermöglicht als valides und reliables diagnostisches Interview die Diagnostik von 64 Störungen nach
den Kriterien des ICD-10 und des DSM-VI, die Erfassung von Komorbidität, Beginn und Verlauf psychischer
Störungen sowie der mit ihnen assoziierten psychosozialen Beeinträchtigungen. Es ist auch als
computergestützte Version erhältlich.
12
Eine PC-Version für den deutschsprachigen EuropASI ist auf der Homepage des IFT herunter zu laden:
http://www.ift.de/IFT_deut/Aktivitaeten/Forschung/Projekte/projekt13.htm
13
Im RCQ werden mit 12 Items werden über drei Subskalen die Veränderungsdimensionen Ahnung, Absicht
und Umsetzung erfasst.
14
Das Kreismodell von Prochaska und DiClementi ist in Kapitel 2.1.3.2 erläutert.
34
Abbildung 9: CAGE-Kurztest auf Alkoholismusverdacht von Mayefield (1974).
Quelle: Lucht, Freyberger, 2000, S. 143.
Cut Down (Konsum reduzieren)
Haben Sie (erfolglos) versucht, Ihren Alkoholkonsum zu reduzieren?
Annoyed (verärgert)
Haben Sie sich geärgert, weil Ihr Trinkverhalten von anderen kritisiert wird?
Guilty (Schuldgefühle)
Haben Sie Schuldgefühle wegen Ihres Trinkens?
Eye-Opener (Augenöffner)
Haben Sie Alkohol benutzt, um morgens „in Gang“ zu kommen?
Zweimal ja: Verdacht auf Alkoholabhängigkeit
Dreimal ja: Alkoholabhängigkeit wahrscheinlich
Viermal ja: Alkoholabhängigkeit liegt vor
Der Cage stellt kein Diagnoseinstrument dar, er dient lediglich der schnellen Einschätzung
über das Vorliegen eines Alkoholproblems bzw. gibt er Hinweise auf problematisches
Trinkverhalten. Werden mindestens zwei der folgenden Fragen bejaht, so kann davon
ausgegangen werden, dass eine Störung durch Alkohol vorliegt.
Im Bereich der Alkoholabhängigkeit wurden auch einige Typologien entwickelt. Eine der
bekanntesten (und auch ältesten) ist die nach Jellinek (1960, zit. n. Feuerlein, 1998).
Später entwickelte Schemata (z.B.: Cloninger et al., 1987) weisen durchwegs Analogien
zu dieser Typologie auf.
35
Abbildung 10: Alkoholikertypologie nach Jellinek
Quelle: Feuerlein, 1998, S.206
Typ
PsychoSoziale
Probleme
Körperliche
Probleme
Trinkfrequenz
Fähigkeit zu
kontrolliertem
Trinken
Alpha (Konflikttrinker)
+
(+)
diskontinuierlich
(+)
Beta (Gelegenheitstrinker)
(+)
(+)
diskontinuierlich
(+)
Gamma (süchtige Trinker)
++
++
kontinuierlich, manchmal diskontinuierlich
0
Delta (Gewohnheitstrinker)
(+)
++
immer kontinuierlich
0
Epsilon (episodische Trinker
++
(+)
episodisch
0
0
(+)
+
++
trifft nicht zu
trifft in geringem Maß zu
trifft zu
trifft in hohem Maß zu
Lesch (1980) versucht in seiner Typologie die Ursachen den Verlauf, und die
prognostischen
Aspekte
des
Alkoholismus
zu
berücksichtigen
um
daraus
behandlungsrelevante Schlussfolgerungen ziehen zu können. Er verglich an einer fast
ausschließlich männlichen Stichprobe von überwiegend Gamma-Trinkern Vorgeschichte,
klinisches Bild und einige andere Parameter wie z.B. Methanolstoffwechsel und
Pupillenreaktion mit dem jeweiligen Verlauf und kam zu folgender Einteilung:
 Typ I:
Alkoholeinnahme auf Grund von „biologischem Verlangen“
Optimaler Verlauf: positive Korrelation mit metalkoholischen Psychosen (z.B.
Alkoholdelir), jedoch negative Korrelation mit psychosozialen Störungen.
Alkoholkonsum führt zu Toleranzentwicklung und schweren Entzugssymptomen.
Keine wesentlichen Auffälligkeiten der Persönlichkeit. Jeder Rückfall (auch nach
langer Abstinenz) kann ein starkes Alkoholverlangen auslösen, weswegen
stützende Psychotherapie und Selbsthilfegruppen zum Schutz gegen sozialen
Trinkdruck erfolgversprechend sind.
36
 Typ II:
Alkoholeinnahme auf Grund von „psychologischem Verlangen“
Guter Verlauf: positive Korrelation mit gestörter frühkindlicher und familiärer
sowie
eigener
psychosozialer
Entwicklung.
Alkohol
wird
als
Bewältigungsstrategie bei Konflikten und als Selbsttherapie bei Angst und
Unruhe verwendet. Psychopharmakologische Behandlung kann leicht zu
Symptomverschiebungen in Richtung Beruhigungsmittelabhängigkeit führen.
Therapieziel ist die Verbesserung der Lebensbedingungen. Absolute Abstinenz ist
häufig nicht notwendig.
 Typ III:
Alkoholeinnahme zur „Behandlung von psychiatrischen Zustandsbildern“
Inhomogene Gruppe mit wechselndem Verlauf. Positive Korrelation mit
alkoholpermissivem Milieu und sozialen Auffälligkeiten. Alkohol wird als
Selbstmedikation bei Befindlichkeitsstörungen und Schlafproblemen missbraucht.
Therapie: Antidepressive Medikation und Phasenprophylaktika als Unterstützung
psychotherapeutischer Verfahren.
 Typ IV:
Alkoholeinnahme
in
Folge
frühkindlicher
Vorschädigung
und
Entwicklungsstörungen
Ungünstiger Verlauf; positive Korrelation mit einer Kombination von
Familienstörungen und frühkindlichen Schädigungen. Auch bei diesem Typ dient
Alkohol als Therapeutikum zur Selbstmedikation. Stützende Gespräche,
Förderung von Eigenkontrolle und Bearbeitung von Rückfällen sowie
niederpotente Neuroleptika und Nootropika sind indiziert (Uhl et al., 2002).
2.1.4.3 Das Psychodrama als Test- und Diagnoseverfahren in der Therapie von
Abhängigkeitserkrankungen
Bestimmte Elemente und Techniken des Psychodramas haben sich – besonders in der
Arbeit mit Abhängigen – als
äußerst praktikable und effektive Test- und
Diagnoseverfahren bewährt. Im Speziellen sind in diesem Kontext die soziometrischen
Techniken hervorzuheben, die vor allem die Bestimmung und Bearbeitung von
Beziehungsnetzwerken zum Ziel haben und das interpersonelle Lernen fördern.
Verwendung finden sie im Psychodrama häufig in der Erwärmungsphase zu Beginn einer
37
Sitzung, zur Bearbeitung des sozialen Gefüges bei Problemen und Konflikten innerhalb
der therapeutischen Gruppe oder zu Beginn einer Therapie. Tatsächlich weisen jedoch alle
Phasen des Psychodramas sowohl therapeutische als auch diagnostische Aspekte auf. Die
Diagnostik nach psychodramatischen Methoden stellt eine bedeutende Ergänzung zu den
gängigen Klassifikationssystemen dar, wobei die interpersonelle Perspektive sowie die
Diagnostik des darin für den Patienten verfügbaren Rollenrepertoirs im Vordergrund
stehen (Burmeister, Leutz & Diebels, o. J.b, S. 21).
 Das Soziale Atom ist nach Moreno die „kleinste, notwendige soziale Einheit, in der
das Individuum aufgehoben sein muss, um existenzfähig zu sein“ (ZeintlingerHochreiter, 1996, S.78). Die Technik des Sozialen Atoms dient der Erhebung der
emotional wichtigen Bezugspersonen eines Individuums. Das Soziale Atom kann
dabei graphisch, mit Münzen, Stühlen oder Schuhen und Ähnlichem dargestellt
werden. Das Ziel dieser Darstellung ist es, Einsicht in problematische Beziehungen zu
bekommen
und
Handlungsstrategien
zu
entwickeln15.
Als
standardisierte
Diagnostikinstrumente sind in diesem Zusammenhang das Soziale Netzwerk Inventar
von Kulenkampff (1991) und das Social Network Inventory (SNI) von Treadwell,
Leach & Stein, (1993) zu nennen.
 Das Kulturelle Atom ist eine Technik zur Erhebung und Bewusstmachung der
verfügbaren sozialen Rollen16. Im psychodramatischen Krankheitsmodell abhängigen
Verhaltens17 haben die Rollendefizite eines Individuums zentrale Bedeutung. Diese
Tatsache macht das Kulturelle Atom in der Arbeit mit Abhängigen zu einem äußerst
wichtigen Diagnoseinstrument.
In der Soziometrie als bedeutendem Medium der Gruppendiagnostik werden – mit
Hilfe von soziometrischen Tests – die bestehenden (sozio-) emotionalen Strukturen
einer Gruppe untersucht und behandelt. Der Gruppenleiter bekommt dadurch
Informationen über die sozialen Valenzen der einzelnen Gruppenmitglieder. Bei einer
„soziometrischen Wahl“ besteht für den Psychodrama-Therapeuten zum Beispiel die
Möglichkeit, Koalitionen, Paarbildungen, Isolierte, Außenseiter- und Starpositionen zu
erkennen, in der Gruppe anzusprechen und zu bearbeiten. Die Wahlen bzw.
Ablehnungen in der Gruppe müssen sich immer auf ein bestimmtes Kriterium
beziehen – Fragen werden in etwa wie Folgende formuliert: „Mit wem aus der Gruppe
würden Sie gerne eine Bergwanderung unternehmen?“. Der Therapeut muss – vor
15
Zur Technik des Sozialen Atoms siehe auch Kapitel 3.11.
Das Kulturelle Atom als psychodramatische Technik wird in Kapitel 3.11 eingehend erläutert.
17
Das psychodramatische Erklärungsmodell abhängigen Verhaltens wird in Kapitel 3.6 beschrieben.
16
38
allem in Gruppen mit Abhängigen, die meist an einer Selbstwertproblematik leiden –
darauf hinweisen, dass sich die Wahl ausschließlich auf das festgelegte Kriterium
sowie den aktuellen Zeitpunkt bezieht (Stimmer & Gneist, 1987).
Im Psychodrama stehen zwei Arten soziometrischer Tests zur Verfügung: die
Ermittlung der Gruppenstruktur durch das Akto-Soziogramm oder durch die Wahl von
Personen. Beide Tests erfolgen nach bestimmten Kriterien, die Darstellung der
Ergebnisse erfolgt in Soziogrammen. Das Soziogramm gibt indirekt Aufschluss über
die spontane Handlungsaktivität, dem Interaktionsstatus und der Möglichkeit zu
persönlicher Bedürfnisbefriedigung (Zeintlinger-Hochreiter, 1996). Stimmer und
Gneist schildern in ihrem Artikel über die Arbeit mit dem Psychodrama in Gruppen
Alkoholabhängiger folgendes Beispiel eines Soziogramms:
Beispiel: Dynamisches Soziogramm
Bei den Alkoholabhängigen in Gruppen der Beratungsstelle haben wir immer wieder festgestellt, dass
die Frage nach den Ursachen ihrer Sucht eine eminent wichtige Bedeutung hat. Entsprechende
Informationen und anschließende Gespräche darüber, bei denen die Teilnehmer aufgefordert wurden,
ihre Sicht der Dinge – ohne Rücksicht auf irgendwelche Theorien – zu äußern, endeten fast
ausschließlich damit, dass etwa zwei Mitglieder, die eine Langzeittherapie hinter sich hatten und
entsprechend geschult waren, zwei konträre Meinungen äußerten und sich gegenseitig auf eine sehr
rationalisierende Weise unterhielten. Die Frage nach den Ursachen bringt aber die Gefühlswelt der
Patienten in Wallung, da es dabei ja darum geht, ob Alkoholismus vererbbar ist, ob die Eltern schuld
seien, weil sie in der frühkindlichen Erziehung „etwas“ verkehrt gemacht haben oder ob gar der
Patient selbst Schuld hat, weil er in seinem späteren Leben verschiedene Bereiche nicht richtig
angegangen ist. Die eigene Betroffenheit wird dabei häufig hinter dem theoretischen Argumentieren
versteckt.
Als dieses Thema wieder einmal in der Luft lag, haben wir versucht, der stocksteifen Diskussion von
unterschiedlichen Meinungen damit zu entgehen, dass sich zwei Kontrahenten auf zwei Stühle in die
Mitte des Spielraum setzten und jeder noch einmal kurz seine Ansicht äußerte. Dann wurden alle
Gruppenmitglieder aufgefordert, sich nach ihrem Gefühl im Raum den beiden eben gehörten
Meinungen zuzuordnen und dann die eigenen Gefühle auszudrücken. Falls Veränderungen in der
Wahrnehmung aufträten, sollten diese durch eine andere Stellung im Raum angezeigt werden. In
kürzester Zeit entstand ein ausgesprochen dynamischer Prozess, innerhalb dessen jeder Teilnehmer
seinen Gefühlen freien Lauf ließ, und viele versuchten verbal wie auch durch körperliche Aktionen,
andere Teilnehmer von der eignen Sichtweise zu überzeugen. Diese Art des Umgangs mit dem
Thema „Ursachen der Sucht“ war zum ersten Mal weit entfernt von einem blutlosen Diskutieren über
irgendwelche theoretischen Überlegungen (Stimmer & Gneist, 1987, S. 173/174).
39
 Die psychodramatische Methode bietet ferner die Möglichkeit, an Hand von
psychodramatischen
Verhaltensausschnitten
Miniaturen
–
sowie
–
dem
Anspielen
rollengeleiteten
von
verbalen
Szenen
und
und
szenischen
Explorationen stichprobenartig diagnostisch wichtige Aspekte zu erheben
Gängige psychodramatische diagnostische Techniken sind die Technik des leeren Stuhls,
Techniken des gelenkten Tagtraums und Zukunftsprojektionen. Des Weiteren werden im
Psychodrama mit Abhängigen diagnostische Methoden spielerischer Art wie z.B. der
Zauberladen angewandt. Diese sowie die oben genannten Techniken werden in Kapitel
3.11 genauer beschrieben.
Zusammenfassend betrachtet erstreckt sich die psychodramatische Diagnostik über
folgende Bereiche (Burmeister, Leutz & Diebels, o. J.b).
 Diagnostik des relevanten interpersonalen Beziehungssystems
 Diagnostik des Rollensystems
 Diagnostik des Spontaneitätsniveaus
 Ergänzung der gängigen deskriptiven diagnostischen Manuale: Anamnese und
konfliktbezogene Exploration, Evaluation von Zeit-, Raum-, Realitäts- und
kosmischem Bezug, spezifische Motivations-, Ziel- und Werterklärung, Einsatz
projektiv imaginativer Elemente sowie psychodramatischer Basistechniken.
2.1.5 Komorbidität
In der psychiatrischen Terminologie versteht man unter Komorbidität das gemeinsame
Auftreten zweier oder mehrerer psychischer Störungen. Die Diagnose einer komorbiden
Störung sowie die Form des Zusammenwirkens der unterschiedlichen Störungen haben
entscheidenden Einfluss auf den Verlauf und die Therapie einer psychischen Krankheit. In
der Regel hat eine Komorbidität eine Verschlechterung der Prognose zur Folge. Die
Möglichkeit eine weitere bestehende Störung zu übersehen kann durch die Anwendung
von Symptomchecklisten und strukturierten klinischen Interviews vermieden werden.
Zahlreiche empirische Studien belegen die überzufällige Häufigkeit des gemeinsamen
Auftretens von Abhängigkeitserkrankungen und anderen psychischen Störungen (Mann &
Günther, 1999; Stimmer, 1999). Im Zusammenhang mit Abhängigkeitsstörungen treten
folgende komorbide Störungen am häufigsten auf:
40
 Phobien, Panikstörung und generalisierte Angststörung
 Antisoziale Persönlichkeitsstörungen, Verhaltensstörungen mit Beginn der Kindheit
und Jugend
 Major Depression, Bipolare Störungen
 Schizophrenie
In der Praxis können vier Formen der Komorbidität unterschieden werden:
 die psychische Erkrankung entsteht als Folge einer langjährigen Störung durch
psychotrope Substanzen (primärer Alkoholismus),
 die Störung durch psychotrope Substanzen entwickelt sich im Sinne eines
Selbstbehandlungsversuches auf Grund der psychischen Erkrankung (sekundärer
Alkoholismus),
 die unterschiedlichen psychischen Störungen treten unabhängig voneinander auf,
 die psychischen Störungen stellen unterschiedliche Manifestationen der gleichen
psychischen Erkrankung dar.
Die Unterscheidung zwischen diesen vier Formen des Zusammenwirkens von
Abhängigkeit und einer weiteren psychischen Störung erfolgt über die ausführliche
Erhebung anamnestischer Daten. In der überwiegenden Zahl der Fälle tritt die
Abhängigkeitserkrankung zeitlich vor der psychischen Störung auf. Insgesamt leiden
mehr als 50% der Patienten mit der Diagnose Störungen durch psychotrope Substanzen
unter einer weiteren psychischen Störung. Auch körperliche Störungen und Symptome
wie z. B. Infektionskrankheiten treten häufig auf. Sowohl das Klassifikationssystem
DSM-IV als auch das ICD-10 bieten (im Gegensatz zu früheren Versionen) die
Möglichkeit, Komorbidität über das Konzept der multiplen Diagnosen fest zu stellen.
Bestehende Theorien über die Ursachen von psychischen und Verhaltensstörungen durch
psychotrope
Substanzen
sowie
routinemäßig
durchgeführte
Behandlungs-
und
Therapieabläufe für Abhängige orientieren sich an Klienten, die ausschließlich an dieser
Störung leiden.
Für die Zukunft in der Behandlung Abhängiger ist zu hoffen, dass unter Berücksichtigung
eventuell
bestehender
Komorbiditäten
spezifische
Therapieprogramme
und
Behandlungsansätze konstruiert werden, die auf neu entwickelten theoretischen
Grundlagen beruhen.
41
2.1.6 Intervention und Therapie
Hat eine psychotrope Substanz erst einmal zu einer Abhängigkeitserkrankung geführt, so
ist ein kontrollierter Umgang mit der Droge nicht mehr möglich. Aus diesem Grund ist in
der Regel der Entzug die Voraussetzung für eine Therapie, ihr Ziel ist meist die
vollständige Abstinenz. Auch in der Therapieforschung wird die Abstinenzdauer als
Hauptkriterium definiert.
Die drei wichtigsten globalen Ansätze zur Behandlung von Abhängigen sind die
medikamentöse, die psychotherapeutische und die sozialtherapeutischen Interventionen.
Therapeutische Konzepte für die Behandlung einer Abhängigkeit sind in großer Anzahl
vorhanden. Neben professionellen Angeboten sind Selbsthilfegruppen häufig ein
wesentlicher Bestandteil der Therapie.
Abbildung 11: Therapieziele. Es ist erfolgversprechender, realistische Therapieziele zu definieren, als an zu
hohen zu scheitern.
Quelle: Lucht & Freyberger, 2000, S. 156
Individuelle therapeutische Grenzziehung (Selbsthilfe)
Konstruktive Bearbeitung von Rückfällen
Akzeptanz des Abstinenzziels
Akzeptanz des eigenen Behandlungs- und Hilfebedarfs
Einsicht in die Grunderkrankung
Ermöglichung längerer Abstinenzphasen
Verhinderung sozialer Desintegration
Sicherung der sozialen Umgebung gegen Beeinträchtigung
Verhinderung von schweren körperlichen Folgeschäden
Sicherung des Überlebens
42
Unter
Berücksichtigung
Verhaltens18
müssen
des
als
psychodramatischen
weitere
zentrale
Erklärungsmodells
Therapieziele
die
abhängigen
Nachreifung
der
Fehlentwicklungen im Bereich des Selbstwerterlebens sowie der Beziehung zu sich selbst
und
zu
den
primären
Persönlichkeitsveränderung
Bezugspersonen
und
Ich-Stärkung,
im
der
Sinne
Aufbau
einer
einer
konstruktiven
verbesserten
Selbstkontrolle und Ausdrucksfähigkeit, die Nachreifung und Umstrukturierung
pathodynamischer Erlebnis- und Verhaltensstrukturen, aber auch die Verbesserung und
Erweiterung der sozialen Kompetenz der Betroffenen in den Bereichen Partnerschaft,
Familie, Beruf und Freizeit genannt werden.
In den USA hat sich in der Behandlung Abhängiger inzwischen ein Modell durchgesetzt,
das die Festlegung individueller Therapieziele auf der Basis der harm reduction in
Zusammenarbeit mit dem Patienten vorsieht. Auch die Deutsche Hauptstelle gegen die
Suchtgefahren (DHS) hat die Schadensreduzierung in ihr Aufgabenkonzept integriert.
Die Behandlung von Abhängigkeitserkrankungen umfasst meist drei Bereiche: den
Suchtmittelentzug, die Rehabilitation, in der psychotherapeutische Interventionen in
verstärktem Maße zur Anwendung kommen, sowie die Rückfallprävention. Prognose und
Therapie einer substanzbezogenen Störung hängen nach Haring (1995) von folgenden
Faktoren ab:
 der Dauer der Abhängigkeit
 der Art der Droge
 dem klinischen Erscheinungsbild
 dem Alter beim Erstkontakt mit der Droge
 der prämorbiden Persönlichkeit sowie
 dem Konsens zwischen Behandelnden und Klienten bezüglich der therapeutischen
Ziele
Die Therapieauswahl und –indikation sollte demgemäss nach Schweregrad- und
Störungsspezifität
unter
Berücksichtigung
der
Komorbidität
erfolgen.
Psychotherapeutische Interventionen sowie soziale Unterstützung haben in der
Behandlung von Abhängigkeitserkrankungen eine wichtige Funktion. Häufig werden auch
die Angehörigen der abhängigen Klienten in die Therapie integriert, da die Haltung der
18
Siehe Kapitel 3.6
43
engeren Umwelt des Abhängigen einen wichtigen Parameter in Bezug auf die Prognose
der therapeutischen Interventionen darstellt.
Prinzipiell
kann
zwischen
psychotherapeutischer
Frühintervention,
Motivationsbehandlung und Kurztherapie auf der einen und einer längerfristigen Einzelbzw. Gruppentherapie auf der anderen Seite unterschieden werden. Im Gegensatz zu
soziotherapeutischen Interventionen kommt in der psychotherapeutischen Behandlung der
Beeinflussung des Individuums ein zentraler Stellenwert zu. Üblicherweise werden in der
stationären und ambulanten Behandlung von Abhängigkeitskranken verschiedene
Methoden kombiniert eingesetzt. Zentrale Ansatzpunkte sind dabei meist die
Aktivitätssteigerung sowie die Förderung der Selbstverantwortung der Betroffenen. Wie
bereits erwähnt ist die Phase der Abstinenz charakteristischerweise mit dem Auftreten von
Rückfällen verbunden. Daraus lässt sich ableiten, dass in der Therapie von
Abhängigkeitserkrankungen das Erlernen von Kompetenzen für den Umgang mit
Rückfällen enorm wichtig ist. Die psychodramatische Therapie bietet gerade auch in
diesem Bereich effiziente Methoden und Interventionstechniken19.
2.1.7 Prävention
Die Prävention von Abhängigkeit umfasst verschiedenste pädagogische, psychologische,
medizinische und sozialarbeiterische Maßnahmen, die die Verhütung von abhängigem
Verhalten zum Ziel haben. Dies geschieht vor allem über die Reduzierung der zahlreichen
Risikofaktoren für psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen
wie z.B. extreme ökonomische Deprivation, familiäre Konsummuster oder der frühzeitige
Beginn des Konsums. Die Entwicklung (personaler und sozialer) protektiver (Verhaltens-)
Kompetenzen spielt in diesem Zusammenhang ebenfalls eine wesentliche Rolle.
Prinzipiell können Präventionsmaßnahmen auf der personalen oder auf der Umweltebene
ansetzen. Personale Präventionsprogramme beziehen sich auf die Verbesserung von
allgemeinen und abhängigkeitsspezifischen Verhaltenskompetenzen und Einstellungen.
Auf der Umweltebene wird an der Beseitigung der, an der Entstehung einer
Abhängigkeitserkrankung beteiligten, sozialen, kulturellen und ökonomischen Faktoren
vor allem durch Gesetze und Verordnungen gearbeitet.
19
Die von unterschiedlichen Autoren im Zusammenhang mit der psychodramatischen Therapie bei
Abhängigkeitserkrankungen genannten Techniken werden in Kapitel 3.11 ausführlich erläutert.
44
Ein weiteres Bezugskonzept der Prävention von Abhängigkeitserkrankungen stellt das
Modell der Entwicklungsaufgaben (Havighurst, 1953) dar. Entwicklungsaufgaben sind als
universelle, kulturell und gesellschaftlich vorgegebene Erwartungen und Anforderungen
an Personen einer bestimmten Altersgruppe zu verstehen, deren Bewältigung mit
psychischen Belastungen einhergeht. Sie stellen wichtige Bezugssysteme dar, innerhalb
derer die personelle und soziale Identität entwickelt werden muss. Die Anforderungen der
Gesellschaft sind normativ, die Altersgrenzen für deren Bewältigung sind jedoch variabel.
Entwicklungsaufgaben gliedern den Lebenslauf und geben dem einzelnen Jugendlichen
Sozialisationsziele vor. In diesem Prozess können psychotrope Substanzen mit
Abhängigkeitspotential eine wichtige psychosoziale Funktion übernehmen.
Die Prävention von Abhängigkeitserkrankungen richtet sich in der Regel auf legale wie
auch illegale psychoaktive Substanzen, aber auch stoffungebundene Formen der
Abhängigkeit.
In der Prävention psychischer Störungen können drei Maßnahmengruppen unterschieden
werden:
2.1.7.1 Die Primär- oder Generalprävention
Die Primärprävention bezieht sich auf die Krankheitsverhütung im engeren Sinne – die
Verhütung des Erstausbruchs einer Krankheit (Senkung der Inzidenzraten) und versucht,
durch Interventionen auf der Angebots- sowie der Nachfrageseite den Konsum
psychoaktiver Substanzen im gesellschaftlichen Rahmen zu reduzieren. Die Maßnahmen
dieser Gruppe können sich auf die Erhöhung der Resistenz gegen krankmachende
Faktoren oder die Ausschaltung solcher Faktoren konzentrieren. Um gezielte
primärpräventive Maßnahmen setzten zu können muss eine exakte Theorie über die
Ursache- Wirkungszusammenhänge eines Störungsbildes vorhanden sein.
Die Ziele der Primärprävention psychischer Störungen umfassen laut Definition der WHO
(1973, zit. n. Feuerlein et al., 1998) die Verbesserung der Lebensqualität, die Reform
sozialer und gesellschaftlicher Strukturen und die Förderung der Toleranz der Gesellschaft
für individuelle Lebensformen. Die Effektivität primärpräventiver Maßnahmen lässt sich
über die Prävalenz- und Inzidenzzahlen beurteilen, ist jedoch aus methodischen Gründen
gerade in Bezug auf Abhängigkeitserkrankungen im Allgemeinen und bei Störungen
durch Alkohol im Speziellen nur eingeschränkt valide und reliabel überprüfbar. Die
45
Prävalenz stellt ein Krankheitsmaß dar, das die Gesamtzahl aller Krankheitsfälle in einer
definierten Population zu einem bestimmten Zeitpunkt (Punktprävalenz) oder während
einer Zeitperiode (Periodenprävalenz) umfasst (Baumann-Perrez, 1998). Die Inzidenzrate
gibt an, wie häufig es innerhalb eines bestimmten Zeitraums zu einem Neuauftreten einer
Krankheit kommt. Werden Prävalenz- und Inzidenzraten von Behandlungseinrichtungen
erfasst, so spricht man von Inanspruchnahmeraten (administrative Prävalenz oder
Inzidenz). Im Gegensatz dazu werden im Rahmen von Feldstudien in einer Population
erhobene Daten als wahre Prävalenz bzw. Inzidenz bezeichnet.
Zu den primärpräventiven Maßnahmen zählen strukturelle Maßnahmen, die die Reduktion
schädigender Einflüsse durch die Umwelt zum Ziel haben. Diese beziehen sich auf die
Verfügbarkeit, die durch ökonomische (Preiserhöhung), „technische“ (Erschwerung von
Kauf und Konsum) und sozialkommunikative Faktoren (Werbungseinschränkungen)
sowie informelle Regeln kontrolliert werden kann. Die edukativ-kommunikativen
Maßnahmen
als
weitere
Möglichkeit
der
Primärprävention
zielen
auf
eine
Einstellungsänderung der Bevölkerung gegenüber psychotropen Substanzen mittels
Informationsvermittlung,
Standfestigkeitstraining,
Massenmedienkampagnen
sowie
affektiver Erziehung und Lebenskompetenztraining ab.
Die primäre Prävention von Abhängigkeitserkrankungen kann im Sinne einer
„Lebenskompetenzförderung“ verstanden werden, die die Förderung von Selbstwert und
Selbstvertrauen, Kontakt- und Kommunikationsfähigkeit, Konfliktfähigkeit, Erlebnis- und
Genussfähigkeit sowie die Unterstützung bei der Sinnsuche und Sinnerfüllung als
Hauptziele nennt (Stimmer, 1999).
2.1.7.2 Die Sekundärprävention
Unter Sekundärprävention versteht man die Früherkennung und Verkürzung der Dauer
von Krankheiten (Senkung der Prävalenzdaten) zum Beispiel durch Screenings in
spezifischen Zielgruppen. Zur Früherkennung von Abhängigkeitserkrankungen geeignete
Screeninginstrumente liegen bereits vor20. Sekundärpräventive Maßnahmen richten sich
primär an Personengruppen, die ein riskantes Konsumverhalten zeigen aber noch keine
manifeste Abhängigkeit aufweisen. Innerhalb des Gesundheitssystems sind vor allem
niedergelassene
20
Ärzte
sowie
Allgemeinkrankenhäuser
zur
Abdeckung
Die gängigen Screeningverfahren bei Verdacht auf Abhängigkeitserkrankungen sind in Kapitel 2.1.4.2
beschrieben.
46
sekundärpräventiver Maßnahmen wie die Frühintervention und Motivationsarbeit
geeignet. Methoden zur Frühintervention sind z.B. das „motivational interviewing“21,
schriftliche Informationen sowie Kurberatungen und Ratschläge. Das Motivational
Interviewing wird beschrieben als „directive, client-centered counseling style for eliciting
behavior change by helping clients to explore and resolve ambivalence“ (Rollnick &
Miller, 1995). Im Vergleich zu nicht-direktiven Beratungsstilen soll diese Technik sehr
klar und Ziel-orientiert sein. Zentrale Ziele dieser Interventionstechnik sind die Prüfung
und die Auflösung der Ambivalenz des Patienten. Für die Sekundärprävention
Jugendlicher besteht derzeit noch großer Nachholbedarf (DHS-Positionspapier, 2001).
Auch die Förderung sekundärpräventiver Maßnahmen bei Personen, deren Missbrauchsoder Abhängigkeitsverhalten in Betrieb oder im Straßenverkehr evident wurde, hat
aktuelle gesundheitspolitische Relevanz (Bühringer & Ferstl, 1998).
2.1.7.3 Tertiärprävention
Damit meint man die individualisierte Verhütung von Chronifizierung, Rückfällen und
weiteren ungünstigen Spätfolgen einer Krankheit.
In Bezug auf Abhängigkeitserkrankungen ist in diesem Zusammenhang vor allem die
Rückfallprävention und die Vermeidung progredienter sozialer und körperlicher
Verelendung von Bedeutung.
Rehabilitative und therapeutische Maßnahmen sind den Begriffen Sekundär- und
Tertiärprävention zuzuordnen.
2.2 Aufgaben, Probleme und Modelle der Evaluation von Psychotherapie
Evaluation umfasst die Analyse und Bewertung von Konzepten und Maßnahmen
therapeutischer Interventionen unter Verwendung wissenschaftlicher Methoden und
Techniken und hat vor allem folgende Aufgaben und Ziele (Baumann & Reinecker-Hecht,
1998; Feuerlein et al., 1998):
 Überprüfung der Durchführbarkeit eines therapeutischen Behandlungskonzeptes:
Hierbei sind die zeitlichen, personellen und finanziellen Rahmenbedingungen
sowie die Akzeptanz der Klienten und der Therapeuten von Belang.
21
Nähere Informationen zur Technik des Motivational Interviewing: Mid-atlantic addiction technology transfer
center, 2002, Project MATCH Research Group, 1998, Miller 1998 und o. J.
47
 Die Erfassung globaler Behandlungsergebnisse: In diesem Zusammenhang steht
vor allem die Frage des Vergleichs des Behandlungseffekts zur Spontanremission
im Vordergrund. Spontanremission im engeren Sinn meint die Besserungsrate, die
ohne Intervention zu Stande kommt. Im weiteren Sinn versteht man unter diesem
Begriff die Besserungsquote, die ohne spezifische Interventionen wie z. B.
Psychotherapie erreicht wird; ärztliche Hilfe, halbprofessionelle Hilfe und
Beratung werden in diesem Zusammenhang nicht als spezifische Interventionen
betrachtet. Die Spontanremissionsquote im engeren Sinn liegt niedriger als die
weiter gefasste.
Die These von Eysenck (1952), dass zwei Drittel der neurotischen Patienten
innerhalb
von
2
Jahren
nach
Krankheitsbeginn
mit
oder
ohne
psychotherapeutischer Behandlung als im Sinne einer Spontanremission erheblich
gebessert bzw. geheilt eingestuft werden können, hat zu einer Vielzahl an
Überlegungen in Bezug auf die Methodik der Evaluationsforschung geführt. Hier
muss das Kontrollgruppendesign erwähnt werden, das seit den fünfziger Jahren für
die Psychotherapieforschung gefordert wird und die interne Validität der Studien
entscheidend
verbessert.
Folgende
Versuchsplantypen
sind
in
der
Evaluationsforschung üblich:
Abbildung 12: Versuchsplantypen für klinisch-psychologische Interventionsforschung (GruppenDesign)
Quelle: Baumann & Reinecker-Hecht, 1998, S. 354.
A. Keine expliziten Kontrollbedingungen: Eingruppenplan
(1) Eingruppenplan mit retrospektiver Datenerhebung am Interventionsende (EinpunktErhebung; Interventionsbewertung bei Abschluss der Intervention).
(2) Eingruppenplan
mit
(Zweipunkterhebung
mindestens
mit
Prä-
und
Differenzbildung
Postmessung
als
(nach
Behandlung)
Veränderungsmaß;
evtl.
Mehrpunkterhebung).
(3) Eingruppenplan mit Eigenkontrollgruppe: PatientInnen bleiben einige Zeit unbehandelt
(Baseline), so dass Kontroll- und Interventionsphase vorliegen, die miteinander verglichen
werden können (Zeiteffekte nicht kontrolliert, interne Validität eingeschränkt).
B. Explizite Kontrollbedingungen: Kontrollgruppenplan mit Interventions- und Kontrollgruppe
(4) Kontrollbedingung ohne Behandlung: Unbehandelte Kontrollgruppe.
48
(5) Kontrollbedingung ohne Behandlung in der Kontrollphase mit anschließender
Behandlungsphase: Wartelistenkontrollgruppe.
(6) Kontrollbedingung mit geringer Behandlung: Placebo-Kontrollgruppe22.
(7) Kontrollbedingung mit üblicher Behandlung: Routine-Behandlung.
(8) Kontrollbedingung mit spezifischer Behandlung: andere Therapieform23.
(9) Kontrollbedingung mit spezifischer Behandlung: Parametermodifikation in Form von
Parametervariation, -addition, -substraktion24.
(10) Kombination der Varianten (4)-(9).
Die Versuchspläne (1) bis (3) haben keine expliziten Kontrollbedingungen und
sind deshalb von geringer methodischer Güte – die interne Validität ist
beeinträchtigt. Als Vergleich können Studien aus der Literatur herangezogen
werden. Studien, die sich an diesen Designs orientieren können dazu dienen,
globale Effekte der Therapie abzuschätzen.
Für die Varianten (4) bis (10) gilt, dass die Kontrollgruppe im Idealfall aus
Personen besteht, die randomisiert den Bedingungen zugeordnet werden25.
Üblicherweise werden Gruppen mit unterschiedlichem Behandlungsaufwand
herangezogen. Plan (4) ist sowohl ethisch als auch klinisch schwer vertretbar. Der
Kontrollgruppe müsste längere Zeit jegliche Behandlung vorenthalten werden.
Neben den methodischen Unterschieden der einzelnen Pläne sind auch
unterschiedliche Zielsetzungen zu bemerken: Versuchsplantyp (2), (3) und (4) bis
(7) zielen auf die Ermittlung der Wirkung einer Therapieform ab, Variante (8) auf
die Frage der Indikation, Variante (9) hingegen hat die Optimierung einer
Therapieform zum Ziel.
Berücksichtigt man die unterschiedlichen Kombinationsmöglichkeiten sowie die
zusätzlichen, differentiellen Faktoren Therapeut26 und Klient27, so kann es zu sehr
komplexen Versuchsplänen kommen, die die Grundlage für sehr differenzierte
Indikationsaussagen bilden.
22
Der medikamentöse Placebo-Begriff ist nicht auf die Psychotherapie übertragbar. Psychotherapeutische
Placebo-Behandlungen stellen Kontrollbedingungen mit zumindest geringer Behandlung dar.
23
Z. B.: Kognitive Verhaltenstherapie bei Depression versus Antidepressivum.
24
Z. B.: Veränderung des Parameters Sitzungsdauer (45/90 Minuten) oder Hinzufügen von
Entspannungsübungen.
25
In sog. Quasiexperimentellen Studien werden die Patienten nach klinisch-praktischen Gesichtspunkten
unterschiedlichen Behandlungen zugeordnet, es erfolgt keine Randomisierung, die externale Validität ist größer.
26
Variationsmöglichkeiten bei TherapeutInnen-Merkmalen sind z. B. die Erfahrung.
27
Als PatientInnen-Merkmal kann z. B. die Diagnose variiert werden.
49
 Behandlungsergebnisse in Abhängigkeit von Patientenmerkmalen: Welche
prognostischen Aussagen können in Bezug auf bestimmte Patientengruppen
getroffen werden?
 Indikationsfragen: Welche Behandlungs- bzw. Patientenmerkmale sind bei der
Wahl der therapeutischen Intervention zu berücksichtigen?
 Erfassung des Therapieprozesses: In diesem Zusammenhang ist vor allem die
Frage des Zusammenhangs zwischen Intervention und Reaktion des Behandelten
von Bedeutung.
 Metaanalysen
bieten
eine
empirisch-statistische
Zusammenfassung
von
Ergebnissen unterschiedlicher Studien.
 Kosten-Nutzen-Analysen
 Szenarien und Simulationstechniken: Bestimmte Bedingungskonstellationen in der
Behandlung werden simuliert, um die Auswirkungen auf den Behandlungserfolg
evaluieren zu können.
In der Evaluationsforschung werden unterschiedliche Kriterien definiert. Bei den
folgenden Begriffen ist zu beachten, dass diese in der deutsch– und englischsprachigen
Literatur nicht immer einheitlich verwendet werden.
(1)
Effektivität oder Wirksamkeit / efficacy: Um Aussagen bezüglich dieses
Kriteriums treffen zu können, müssen Veränderungen in Richtung definierter Ziele an
Hand eines Vergleichsmaßstabs (z. B. der Kontrollgruppe) beurteilt werden. Die
hierbei verwendeten formalen Kriterien können sehr unterschiedlich sein. Im
Allgemeinen ist derzeit die Meinung vorherrschend, dass die Effektivität multimodal,
d. h. im Hinblick auf verschiedene Datenebenen und Konstrukte erfasst werden muss.
 Statistische Signifikanz der Veränderung (im Vergleich zu einer Kontrollgruppe)
 Klinische Signifikanz oder Bedeutsamkeit der Veränderung: wird meist durch ein
Expertenurteil definiert.
 Prozentsatz
an
gebesserten
Patienten:
hierfür
wird
ein
Kriterium
als
Hauptindikator herangezogen (bei Abhängigen in der Regel die Abstinenz).
 Breite der Veränderung oder Wirkungsspektrum
 Veränderungsmuster
 Dauerhaftigkeit der Veränderung: die Katamnesedauer wird meist nach den
Störungstheorien definiert.
50
 Ausmaß an unerwünschten negativen Effekten28
(2)
Effizienz / cost-effectiveness, cost-benefit: dieses Kriterium definiert den
Aufwand, der zur Erreichung des definierten Ziels benötigt wird. Man unterscheidet
Kosten-Effektivitäts-Analysen, die sich ausschließlich mit der Frage der mit der
Erreichung von Therapiezielen verbunden Kosten beschäftigen von Kosten-NutzenAnalysen.
Ein
Beispiel
für
eine
Kosten-Effektivitäts-Analyse
ist
die
Gegenüberstellung der Kosten für eine ambulante bzw. stationäre Therapie einer
bestimmten Störung. Bezüglich des Nutzens der Behandlung (die Behebung der
Störung) werden keine monetären Aussagen getroffen. Bei den Kosten-NutzenAnalysen unterscheidet man zwei Arten von Nutzen: positiven Nutzen (z. B.: höheres
Einkommen durch gesteigerte Arbeitsleistung) von Nutzen durch Kosteneinsparung
(z. B.: weniger Medikamente) (Baumann & Reinecker-Hecht, 1998).
(3)
Patientenzufriedenheit oder Consumer-Satisfaction
(4)
Praxisbewährung oder effectiveness
(5)
Ethische Angemessenheit: Hier steht die Frage im Zentrum, ob die
angewandten Mittel mit den definierten Zielen kompatibel sind.
Der Erfolg einer therapeutischen Intervention oder eines Therapieprogramms ist immer in
Zusammenhang mit den vereinbarten bzw. vorgegebenen Therapiezielen zu bewerten. Das
Therapieziel ist erreicht, wenn die Erwartungen bzw. Vorgaben erfüllt wurden. In der
Therapie mit Abhängigen ergibt sich aus der Definition des Erfolgskriteriums Abstinenz
ein wesentliches methodisches Problem. In einigen Studien wird jeglicher Konsum
psychotroper Substanzen als Rückfall gewertet, in anderen ausschließlich der massive
Konsum bzw. wird in manchen Untersuchungen noch von Abstinenz gesprochen, wenn
bis zu zwei Rückfälle in der Rehabilitationsphase auftreten (für diese Fälle wurden die
Begriffe „abstinent nach Rückfall“ und „mäßiger Konsum“ definiert, man unterscheidet
auch zwischen geringfügigem, einmaligem bzw. kurzzeitigem Konsum). Vom
therapeutischen Standpunkt aus betrachtet kann ein einmaliger Rückfall nicht als
Therapiemisserfolg
gewertet
werden,
da
wechselhafte
Verläufe
für
die
Rehabilitationsphase bei Abhängigkeitserkrankungen charakteristisch sind (Lindenmeyer,
Bents, Fiegenbaum & Ströhm, 1995). Spezifische Behandlungsangebote für rückfällige
28
Zu den unerwünschten Wirkungen zählen Therapieablehnung trotz Indikation, Drop-Out-Raten, Rückfälle
usw.
51
Patienten
sind
rar,
die
Betroffenen
durchlaufen
immer
wieder
dieselben
Rehabilitationsmaßnahmen.
Innerhalb der Gesundheitspolitik herrscht seit den 80er Jahren eine Diskussion darüber
vor, inwiefern Abstinenz als primäres Ziel medizinischer und therapeutischer
Interventionen als sinnvoll zu betrachten ist. Inzwischen setzt sich auch in der Praxis
immer stärker das sogenannte Akzeptanzparadigma durch, demzufolge in der Arbeit mit
Abhängigen
zunehmend
konsumakzeptierende,
differenziertere,
niedrigschwellige
Beratungs- und Behandlungsangebote vermehrt zum Einsatz kommen sollten (Stimmer,
1999). Des Weiteren bestehen Untersuchungsergebnisse, die nach dem Grundsatz der
Harm-reduction-Strategie29 bewertet wurden, die die Reduktion des Konsums der
psychotropen Substanz als Erfolgskriterium verwenden. Süß (1988) unterscheidet
zwischen subjektiven und objektiven Kriterien für den Therapieerfolg. Zu den objektiven
Erfolgskriterien zählten in seiner Untersuchung die psychische Gesundheit des
Betroffenen,
Art
und
Umfang
notwendiger
Behandlungsmaßnahmen
im
Katamnesezeitraum und bei Erwerbstätigen die Anzahl an Fehltagen am Arbeitsplatz. Die
direkten, kurzfristigen therapeutischen Einflussmöglichkeiten in diesen Bereichen sind als
beschränkt einzustufen. Die wichtigsten subjektiven Kriterien für die Messung des Erfolgs
einer psychotherapeutischen Behandlung sind physische und psychische Beschwerden,
Lebenszufriedenheit, Belastungen sowie die Zufriedenheit in wichtigen Beziehungen.30.
Rückfälle von Abhängigkeitskranken werden einerseits als Indikatoren für das Versagen
von Therapeut, Klient und Behandlung betrachtet, sind jedoch andererseits häufige
Ereignisse im Verlauf von Abhängigkeit31. Man differenziert dabei nach Alkoholmenge,
Häufigkeit, Schwere der Folgen sowie der inneren und äußeren Situation, in der sich der
Rückfall ereignet. Auch die Phänomenologie von Rückfällen variiert stark, z. B. im
Hinblick auf den vorangegangenen Abstinenzzeitraum, ihre Dauer und Intensität sowie
ihre Folgen (Feuerlein et al., 1998). Inzwischen existieren auch einige Modelle über die
Entstehung und die gezielte Beeinflussung des Rückfallgeschehens. Eine der
bedeutendsten und empirisch am besten abgesicherten Theorien stammt von Marlatt &
Gordon (1985). Diese führen folgende Bedingungen als einen Rückfall begünstigende an:
 Ein unausgewogener Lebensstil, d. h. zu viele Verpflichtungen und zu wenig
Regenerationsmöglichkeiten.
29
Zum Konzept der Harm-reduction siehe Kapitel 2.1.6.
Zu den Kriterien des Therapieerfolgs siehe auch Kapitel 4.4.2.2.
31
Zur Veranschaulichung dieser Theorie siehe Kapitel 2.1.3.2, in dem das Kreismodell von Prochaska und
DiClementi beschrieben wird. Rückfälle werden in diesem Modell als „natürlicher“ Teil des Verlaufs einer
Abhängigkeitserkrankung betrachtet.
30
52
 Viele Risikosituationen wie belastende emotionale Zustände, Aufforderungen zum
Mitkonsum, kritische Lebensereignisse u. ä.
 Unzureichende Verhaltenskompetenzen
 Ungünstige emotionale und kognitive Prozesse wie z. B. zu geringe oder
übersteigerte
Selbstwirksamkeitserwartung
oder
positive
Konsumfolgeerwartungen.
In den letzen Jahren entstand eine breite Diskussion in der Fachwelt, ob Trinkverhalten
und Suchtmittelmissbrauch als einzige Erfolgskriterien in der Therapie Abhängiger gelten
können. Neben dem Kriterium der Abstinenz stellen die Lebensqualität, das vom
Betroffenen subjektiv empfundene Wohlbefinden und die generelle Lebenszufriedenheit
weitere wichtige Indikatoren für den Erfolg therapeutischer Behandlungen von
Abhängigkeitserkrankungen dar. Erst in den letzten beiden Jahrzehnten zeigte sich in
Bezug auf den Begriff der Lebensqualität eine Entwicklung, diese als ein
individuumsbezogenes Konzept aufzufassen. Die Forschung legte ihren Schwerpunkt
dabei auf die gesundheitsbezogene Lebensqualität (Health-Related Quality of Life,
HRQOL), die mittlerweile ein zunehmend wichtiger werdendes Evaluationskriterium in
Medizin und Psychotherapie darstellt. Die gesundheitsbezogene Lebensqualität kann
operational definiert werden als ein multidimensionales Konstrukt, das physische,
emotionale, mentale, soziale, spirituelle und verhaltensbezogene Komponenten des
Wohlbefindens und der Funktionsfähigkeit (des Handlungsvermögens) aus dem
subjektiven Erleben und der subjektiven Wahrnehmung der Betroffenen beinhaltet
(Schumacher, Klaiberg & Brähler, 2003). Auch in dem, in dieser Untersuchung
angewandten Katamnesefragebogen32 zielen einige Fragen auf das subjektive Erleben in
der
Rehabilitationsphase
ab.
Das
primäre
Kriterium
für
den
Erfolg
einer
Entwöhnungstherapie ist jedoch immer noch die Abstinenz, eine Tatsache, die sich auch
in den Katamnesestandards zeigt, die differenzierte Hinweise zur Erhebung des
Suchtmittelkonsums enthalten während andere Erfolgskriterien vernachlässigt werden
(Süß, 1988).
32
Der Katamnesefragebogen befindet sich im Anhang A.
53
2.3 Generelle und differentielle Wirksamkeit der Therapie von
Abhängigkeitserkrankungen
In der Literatur wird die Wirksamkeit psychotherapeutischer Interventionen in der
Behandlung Abhängiger durchgehend positiv bewertet (Feuerlein et al., 1998; Süß, 1995).
Süß bestätigt in seiner Metaanalyse bezüglich Alkoholismustherapie, dass die generelle
Wirksamkeit fundierter Interventionen in diesem Bereich gesichert ist und zudem etwas
über der Ein-Drittel-Regel33 liegt. Im Vergleich dazu ist die Spontanremissionsrate
(abstinent und gebessert) von geschätzten 19 Prozent pro Jahr zu nennen (Feuerlein et al.,
1998).
Als differentiell wirksame Faktoren in der Behandlung von Abhängigen34 sind vor allem
folgende zu nennen:
 Behandlungssetting:
Der Vergleich der Erfolgsquoten von ambulanter und stationärer Therapie ergibt in
der Literatur ein recht einheitliches Bild: in einigen Studien ergaben sich
geringfügig niedrigere Besserungsraten im ambulanten Setting (Süß, 1995;
Küfner, 1981) in anderen fand sich kein signifikanter Unterschied in den
Ergebnissen (Finney et al, 1981). Zu beachten ist bei diesen Vergleichen die
unterschiedliche Patientenselektion: anzunehmen ist, dass in der Klientel der
ambulanten Therapie eine höhere soziale Stabilität zu finden ist als bei Patienten,
die im stationären Setting behandelt werden.
 Therapieform / Behandlungsmethode
In einer sehr umfangreichen Studie über die ambulante Entwöhnungstherapie von
Alkoholabhängigen (Teilstudie 1) sowie über die Nachbehandlung (Teilstudie 2)
aus dem Jahr 1998 konnte die Project Match Research Group über
Therapiemanuale strukturierte ambulante Therapieformen vergleichen. Die
Patienten wurden randomisiert jeweils einer von drei Therapieformen mit
Einzelsitzungen
33
zugewiesen:
einer
kognitive
Verhaltenstherapie
der
Die in der allgemeinen Psychotherapieforschung bekannte Ein-Drittel-Regel besagt, dass ein Drittel der
Patienten einen sehr guten Behandlungserfolg aufweist, ein weiteres Drittel als gebessert eingestuft werden kann
und dass sich beim letzten Drittel kein Behandlungserfolg einstellt.
34
Die im Folgenden zitierten Studien beziehen sich auf die Behandlung von Alkoholabhängigen. Die
differentielle Wirksamkeit verschiedener Behandlungsfaktoren in der Therapie Abhängiger ist ein noch wenig
beforschter Bereich.
54
Problembewältigung (12 Sitzungen), einer Motivationsentwicklungstherapie35 (4
Sitzungen) oder einem 12-Stufen-Programm, das auf den AA36-Konzepten basiert
(12 Sitzungen). Es fanden nach 3, 6, 9 und 12 Monaten Selbst- und
Fremdbeurteilungen sowie Blut- und Urinuntersuchungen statt. Zu den
Ergebnissen: Die Unterschiede zwischen den drei Therapieformen waren klinisch
nicht relevant. In der Teilstudie 2 zeigten sich bezüglich der Anzahl der Rückfälle
ebenfalls keine klinisch bedeutsamen Unterschiede. In der 1-Jahres-Katamnese
zeigte sich, dass 24 Prozent der Alkoholiker, die nach dem 12-Stufen-Programm
therapiert wurden abstinent waren, jedoch nur 15 Prozent in der kognitiven
Verhaltenstherapie und 14 Prozent in der Motivationsentwicklungstherapie.
Insgesamt zeigten sich bei den Patienten des 12-Stufen-Programms etwas bessere
Behandlungsergebnisse
als
bei
den
anderen
Therapieformen.
Die
Behandlungsergebnisse waren zudem abhängig vom psychiatrischen Schweregrad
der Erkrankung.
 Dauer und Intensität der Behandlung
Die Bedeutung der Behandlungsdauer wird kontroversiell diskutiert (z. B.: Armor,
Polich & Stambul, 1976, Finney, Moos & Chan, 1981, MecLellan, Luborsky,
O´Brian, Woody & Druley, 1982, Miller & Hester, 1986, Smart & Gray, 1978;
Walker, Donovan, Kivlahan & O`Leary, 1983). Süß (1995)37 fand einen positiven
Zusammenhang zwischen Behandlungsdauer und Behandlungserfolg. Eine
Überblicksstudie von Küfner & Feuerlein (1989) brachte folgendes Ergebnis: 16
von 27 Studien zeigten einen besseren Behandlungserfolg bei längerer Dauer, 2
Studien günstigere Ergebnisse bei kürzerer Behandlung und 9 Studien keinen
Zusammenhang zwischen Dauer und Ergebnis einer Behandlung.
Die Intensität einer Behandlung kann über die Frequenz der Interventionen sowie
über den im Zuge der Behandlung betriebenen personellen und monetären
Aufwand variiert werden. Auch bei diesem differentiellen Einflussfaktor auf den
Behandlungserfolg bestehen keine einheitlichen Ergebnisse (Miller & Hester,
1986; Stinson, Smith, Amidaya & Kaplan, 1979).
35
Die Motivationsentwicklungstherapie (Motivational Enhancement Therapy, MET) basiert auf dem Konzept
des Motivational Interviewing, das in Kapitel 2.1.7.2 beschrieben ist.
36
Anonyme Alkoholiker
37
Süß stellt in diesem Zusammenhang fest, dass die Behandlungsdauer in Deutschland im Schnitt viermal länger
ist als in anderen Ländern.
55
 Behandlungsverlauf
Eine vorzeitige Beendigung der Behandlung ist in der Regel ein negativer
Prädiktor für den Erfolg einer Therapie.
Zum Ende dieses Kapitels soll auf bedeutsame Patientenmerkmale, die als
Prognosefaktoren für den Behandlungserfolg angesehen werden können, eingegangen
werden. In diesem Zusammenhang sind vor allem die Parameter soziale Stabilität und
Schweregrad der Abhängigkeit von Bedeutung. Leider gibt es zu diesen Parametern in der
vorliegenden Studie keine prätherapeutischen Datenerhebungen38. Eine Beurteilung der
Relevanz dieser Faktoren für den Behandlungserfolg ist aus diesem Grund nicht möglich.
Folgende Tabelle zeigt die Ergebnisse eines Vergleichs von Literaturübersichten
(Bakeland & Lundwall, 1975; Gibbs & Flanagan, 1977; Kanfer, 1987, Miller & Hester,
1986) bezüglich der wichtigsten Prognosevariablen des Erfolgs bei der Behandlung von
Abhängigkeitserkrankungen. Die beiden Spalten rechts zeigen, ob eine Übereinstimmung
(Ü) oder ein Widerspruch (W) im Vergleich der bisherigen Studien fest zu stellen ist und
ob eine Prognosevariable für den Therapieerfolg häufig oder selten untersucht wurde.
Abbildung 13: Die bedeutsamsten Prognosevariablen, die als selektive Indikationsvariablen in der
englischsprachigen wissenschaftlichen Literatur diskutiert werden
Quelle: Süß, 1995, S. 69.
Ü = Übereinstimmung
W = Widerspruch
A. Demographie
1. soziale Schicht
(Beruf, Ausbildung, Einkommen, Wohnsituation)
W
V
B. Suchtvariable
2. Schweregrad der Abhängigkeit
(Anzahl, Ausprägung und Dauer des Symptoms)
3. Psychische und physische Folgeschäden
Ü
Ü
V
V
Ü
V
Ü
V
C. Lebensprobleme, soziale und berufliche Stabilität
(Anzahl der Lebensprobleme)
4. Stabilität und Unterstützung durch die
Partnerschaft/Ehe
5. Berufliche Stabilität
(Beruflicher Status, Arbeitslosigkeit, Stabilität des
Arbeitsplatzes, Stellenwechsel)
38
V = viele Befunde
E = einzelne Befunde
Auf methodische Mängel im Untersuchungsdesign wird in Kapitel 5 sowie im Diskussionsteil genauer
eingegangen.
56
6. Soziale Isolierung
7. Unterstützung durch die Herkunftsfamilie
8. Lebensraum mit mäßigem Alkoholkonsum
9. Weitere Lebensprobleme
(Wohn- und Finanzsituation, Rechtsprobleme)
D. Psychische und kognitive Merkmale
(Anzahl der Defizite)
10. Conceptual Level / neuropsychologische
Leistungen
(Abstraktions- und Reflexionsgrad)
11. Intern. Locus of control / internale
Kontrollüberzeugungen
(internale Attribution für Verhaltensänderung)
12. soziale Fertigkeiten und persönliche Ressourcen
(Defizite im Verhaltensrepertoire)
13. Selbstwirksamkeits- und Ergebniserwartung
(hinsichtlich der Lösung von Sucht- und anderen
Lebensproblemen)
E. Einstellung und Motivation zur Rehabilitation
14. Änderungsmotivation/Erfolgserwartung
15. Abstinenzmotivation
16. realistische Zielsetzungen für den Therapieverlauf
und die individuelle Lebensplanung
17. Wunsch nach Partizipation an Entscheidungen in
der Behandlung
18. Motivation zur Nachsorgebehandlung/Mitarbeit
enger Bezugspersonen in der Rehabilitation
F. Behandlungsnetz
19. Vorbereitung zur stationären Behandlung
(kurze Wartezeit bis zur Aufnahme/SHG39-Kontakte/
ambulante Therapie/kein Therapieabbruch bei
früherer Behandlung)
20. Nachsorgebedingungen
(Suchtfachambulanz, ambulante Einrichtung, SHG,
Kontakte zur Nachsorgeeinrichtung bereits vor
Aufnahme)
Ü
Ü
Ü
E
E
V
Ü
V
W
V
W
E
Ü
V
Ü
E
Ü
Ü
V
V
Ü
E
Ü
E
Ü
V
Ü
V
Ü
V
Abschließend ist zu bemerken, dass in der Literatur zwar zahlreiche Hinweise auf
differentielle Wirkfaktoren und Prognosemerkmale geboten werden, diese jedoch sehr
große Differenzen in der Einschätzung ihrer Wertigkeit aufweisen.
Das sehr stark variierende methodische Vorgehen sowie vor allem auch methodische
Mängel bei den Forschungsstudien im Bereich der Evaluation von Behandlungserfolgen
bei Abhängigkeitserkrankungen führt einerseits zu der oben erwähnten großen Varianz
der Ergebnisse, andererseits auch zu erheblichen Einschränkungen bezüglich der
Vergleichbarkeit der Studien. Zu den häufigsten methodischen Mängeln in den
Evaluationsstudien
zählen
nicht
eindeutige
Kriterienmaße,
unterschiedliche
Katamnesezeiträume, die unterschiedliche Verrechnung von Abbrecherquoten und
57
Datenschwund sowie die Patientenpräselektion und die Intensität bzw. Vielseitigkeit der
Behandlung (Süß, 1995).
Insgesamt betrachtet können nur bedingt Schlussfolgerungen für die Praxis gezogen
werden. Die Katamnesestandards der Deutschen Gesellschaft für Suchtforschung und
Suchttherapie wurden für die Evaluation von Entwöhnungsbehandlungen entwickelt und
sollen dem übergeordneten Ziel dienen, durch eine Vereinheitlichung grundlegender
Anforderungen an Katamneseuntersuchungen die wissenschaftliche Forschung in diesem
Bereich zu erleichtern. Die Katamnesestandards stellen die Basis für den in der PSB
Sigmaringen verwendeten Katamnesefragebogen40 dar.
In der kritischen Diskussion der Erfolgsmessung psychotherapeutischer Behandlungen in
Institutionen darf nicht außer Acht gelassen werde, dass auch Variablen wie die Erhebung
der
Anamnese,
die
Motivationsarbeit,
diverse
diagnostische
Erhebungen,
die
Vereinbarung der individuellen Therapieziele und nicht zuletzt die spezifische Variablen
der Umwelt des Betroffenen die Ergebnisse entscheidend beeinflussen. In einer
ambulanten Therapie sind viele Variablen – im Gegensatz zum relativ geschlossenen
System in einer stationären Einrichtung – schwer zu kontrollieren.
39
40
Die Abkürzung SHG steht für Selbsthilfegruppe.
Der Katamnesefragebogen wird in Kapitel 4.4.2.2 vorgestellt und befindet sich im Anhang A.
58
3. PSYCHODRAMA IM ARBEITSFELD ABHÄNGIGKEIT
Das Psychodrama wurde am Beginn des 20. Jahrhunderts von Jakob Levy Moreno (18891974) als Methode des Lernens durch das spontane Spielen von realen oder vorgestellten
Lebenssituationen aus der Vergangenheit, der Gegenwart oder der Zukunft entwickelt. Im
Zentrum des Psychodramas steht „die Konstruktion von Rollenspielen und dramatischen
Übungen, mit deren Hilfe die Teilnehmer bislang blockierte Verhaltensmuster oder
gefürchtete emotionale Beziehungen in einer sicheren Situation ausagieren können“
(Grawe, Donati & Bernauer 1994, S. 98). Die Umsetzung von Situationen in Aktion soll
der Förderung der Spontaneität, Aktivität, Kreativität, Beziehungsfähigkeit und der
Erweiterung des Handlungsspielraums der Gruppenmitglieder dienen. Der Mensch wird
im Psychodrama in erster Linie als soziales Wesen verstanden und psychische Störungen
dementsprechend als Beziehungs- bzw. Interaktionsstörungen aufgefasst und behandelt.
Unter dem Begriff Psychodrama versteht man jedoch nicht ausschließlich die szenische
Arbeit auf der Bühne, sondern auch Soziometrie und Gruppenpsychotherapie.
Seit 1944 arbeiteten Therapeuten des Moreno-Instituts in New York mit Alkoholkranken
(einer der Pioniere auf diesem Gebiet war Miles Terney). In den vierziger Jahren wurde
die psychodramatische Methode von den Niederlanden ausgehend (Gras, Bareman) in
Europa für die Behandlung von Abhängigkeitserkrankungen entdeckt. In Frankreich
waren Courchet, Bonabesse und Petzold die ersten, die an den Wirkungen der
psychodramatischen Methode in der Therapie von Alkohol- und Drogenabhängigen
interessiert waren. Vereinzelt wurde das Psychodrama auch in Belgien (Cuvelier,
Mattheeuws), in England, Spanien, Polen und Deutschland im Bereich Abhängigkeit mit
Erfolg eingesetzt.
Das Psychodrama hat sich sowohl im ambulanten als auch im stationären Bereich in der
Behandlung von stoffgebundenen sowie stoffungebundenen Formen von Abhängigkeit
bewährt, was die zahlreichen Erfahrungsberichte (Avrahami, 2003, Beckenbach 1980,
Blume, Robins & Branston 1968, Bonabesse 1970, Bremer 1994, Buck 1952, Cabrera
1961, Cuvelier & Mattheews 1970, Deeth 1970, Duffy 1990, Edwards 1993, Eliasoph
1955, Engelke 1981, Frank-Trapp 1994, Friedmann 1967, Gmür 1980, Göb 1994,
Groterath 1994, Haber, Aaron & Block, 1949, Habiger 1991, Haskel 1957, Krüger 1994,
Leutz 1973, Müller 1986, Olsson 1972, Petzold 1970, 1971 und 1974, Rustin & Olsson
1994, Schwehm 1989, Simonsen 1990, Speroff 1966, Stimmer 1978, 1994, Stimmer &
59
Gneist 1987, Truöl 1981, Waldhelm-Auer 1994a+b, Weiner 1965 und 1966, Wöhrle 1994,
u. a.41) belegen.
Im Gesamten betrachtet kann man jedoch feststellen, dass Veröffentlichungen zum Thema
Psychodrama und Drogenabhängigkeit – in Relation zu der sehr umfangreichen Literatur
zur Thematik Drogen bzw. Drogentherapie – in geringer Anzahl vorhanden sind. Die zur
Verfügung stehende Literatur im Bereich Psychodrama bezieht sich überwiegend auf die
Behandlung von Alkohol- und Medikamentenmissbrauch, selten auf illegale Drogen.
Zudem sind wesentlich mehr Studien vorhanden, die über die Ergebnisse stationärer
Therapien von Abhängigkeitserkrankungen berichten als über die Effekte des ambulanten
Settings, obwohl der Anteil an ambulanten Behandlungs- und Beratungsstellen für die
Behandlung von substanzbezogenen Störungen sehr hoch ist42.
Einige psychodramatische Techniken und Elemente wie zum Beispiel das Rollenspiel, das
Soziale Atom, die Zukunftsprojektion oder das Probehandeln haben sich inzwischen
schulenübergreifend als wichtige Therapiebausteine in der Behandlung sowie in der
Rückfallprävention Abhängigkeitskranker etabliert (z. B. in der Verhaltenstherapie:
Beckenbach, 1980; in systemisch orientierten Therapiegruppen mit Drogenabhängigen:
Lutz & Lesehr-Lutz, 1995; Avrahami, 2003; Haber et al., 1949).
In Deutschland wird das Psychodrama in der Therapie von Störungen durch psychotrope
Substanzen seit Beginn der 70er Jahre angewendet. Mittlerweile wurden einige
Praxisberichte aus der psychodramatischen Arbeit mit Abhängigkeitskranken sowie
theoretische Überlegungen zu diesem Bereich veröffentlicht (s. o.). Studien zur
Wirksamkeit der Psychodramatherapie in diesem Störungsbereich sind rar (Mann & Janis,
1968; Wood, Del Nuovo, Bucky, Schein, & Michalik, 1979; Crawford, 1989 und Harter,
o. J.), die Ergebnisse jedoch durchwegs positiv (siehe folgendes Kapitel). Petzold (1971)
berichtet von einer Untersuchung mit Alkoholabhängigen, nach der die Parameter
Abstinenzdauer und soziale Integration bei den Teilnehmern an der psychodramatischen
Gruppentherapie im Vergleich zu vier Behandlungsgruppen, die nicht nach der
psychodramatischen Methode therapiert wurden, um 40 bis 60 Prozent höher lagen. In der
Empfehlungsvereinbarung der Rentenversicherungsträger und Krankenkassen von 197843
wurde das Psychodrama explizit als Methode aufgeführt, die für die Behandlung
41
Eine Zusammenfassung der im Bereich Abhängigkeit relevanten Psychodramaliteratur liefert Geßmann
(1998).
42
Siehe Kapitel 4.2.
43
Nähere Informationen zur „Empfehlungsvereinbarung über die Zusammenarbeit der
Krankenversicherungsträger und der Rentenversicherungsträger bei der Rehabilitation Abhängigkeitskranker“
unter: DHS, www.dhs.de/reihe/suchtver.htm.
60
Suchtkranker geeignet ist. Die „Empfehlungsvereinbarung über die Zusammenarbeit der
Krankenversicherungsträger und der Rentenversicherungsträger bei der Rehabilitation
Abhängigkeitskranker“ wurde von den Spitzenverbänden der deutschen Krankenkassen
und dem Verband Deutscher Rentenversicherungsträger (VDR) geschlossen und trägt den
offiziellen Arbeitstitel „Suchtvereinbarung“. Die Vereinbarung regelt vor allem die
Zuständigkeit und den Ablauf bei der Gewährung stationärer Maßnahmen für
Abhängigkeitskranke, wenn Leistungen aus der Kranken- bzw. Rentenversicherung in
Anspruch genommen werden
3.1 Evaluationsstudien zur Wirksamkeit des Psychodramas in der
Therapie von Abhängigkeitserkrankungen
Empirische Arbeiten über Erfolge der psychodramatischen Methode sind, gemessen an
der umfangreichen kasuistischen und theoretischen Literatur zu diesem Thema, generell
sehr selten (Hörmann & Langer, 1987). In Bezug auf die Evaluation der
psychodramatischen Therapie bei Abhängigkeitserkrankungen zeigt sich ein ähnliches
Bild:
In der Studie von Wood (Grawe et al., 1994), die in einer speziellen Alkoholikerklinik in
den USA im Zuge eines stationären Alkoholikerprogramms mit 28 psychodramatischen
Sitzungen in 7 Wochen durchgeführt wurde, zeigten sich im Prae-Post-Vergleich
signifikante Änderungen in den Bereichen Befindlichkeit (Angst, Zwanghaftigkeit,
Hypomanie, emotionale Stabilität und paranoide Tendenzen) und Extraversion. Erfolge
ließen
sich
des
Fähigkeitsbereich
Weiteren
und
Kontrollgruppenvergleich
bezüglich
im
mit
Veränderungen
zwischenmenschlichen
Patienten,
die
im
Persönlichkeits-
Bereich
ausschließlich
bestimmen.
am
und
Im
normalen
Alkoholikerprogramm der Klinik teilgenommen hatten, konnten jedoch nur in zwei
Maßen signifikante Unterschiede festgestellt werden. Die zusätzlich zum üblichen
Alkoholikerprogramm mit psychodramatischen Methoden behandelten, überwiegend
männlichen Patienten (98 Männer bei 101 Patienten) wiesen höhere Aktivitätsratings auf
und zeigten höhere Werte bezüglich Defensivität und Kontrolle, die an Hand der K-Skala
des Minnesota Multiphasic Personality Inventory (MMPI) gemessen wurden. Das MMPI
war ursprünglich als psychiatrisches Inventar konzipiert. Der Test kann jedoch auch als
Persönlichkeitsscreening betrachtet werden. Das Ziel bei der Entwicklung des MMPI war
61
es, in einem Testverfahren Messwerte für alle wesentlichen Persönlichkeitsmerkmale zu
erhalten.
Die zahlreichen positiven Ergebnisse des Prae-Post-Vergleichs können demnach nicht
ohne Einschränkungen auf die Psychodrama-Behandlung zurückgeführt werden. Dennoch
wurde in der Behandlungsgruppe eine differentielle Wirkung der Psychodrama-Therapie
in Befindlichkeitsmaßen (hypochondrische Tendenzen und Depression) nachgewiesen.
Mann und Janis (1968) konnten in einer Studie an Studentinnen die positive
Langzeitwirkung des Rollenspiels auf den Zigarettenkonsum in einem Zeitraum von 18
Monaten belegen. Die angewandte Technik (im Original als „emotional role playing“
bezeichnet) beschreiben die Autoren folgendermaßen: „The technique consisted of
inducing the subject to give an improvised emotional performance during which a
fictitious personal disaster was acted out as though it were really happening, using props
and other staging devices to enhance the illusion of reality” (Mann & Janis, 1968, S. 339).
Die
Gruppenmitglieder
übernahmen
in
den
Sitzungen
die
Rolle
eines
Lungenkrebspatienten, der Gruppenleiter die des Arztes. Die Kontrollgruppe erhielt
dieselben Informationen über Lungenkrebs, indem eine Aufnahme einer Sitzung der
Experimentalgruppe präsentiert wurde. Die Daten wurden für diese Studie 8 und 18
Monate nach den Rollenspielsitzungen über Interviews erhoben. Die Experimentalgruppe
zeigte nach eigenen Angaben einen signifikant niedrigeren Zigarettenkonsum als die
Kontrollgruppe. Nach dem Haupteinflussfaktor gefragt, gaben 18 Monate nach den
Sitzungen 36 Prozent der Experimentalgruppe das Rollenspiel an. Die Autoren führen
dieses Ergebnis auf die starke emotionale Wirkung des Rollenspiels zurück, die eine
Entscheidung zur Reduktion des Zigarettenkonsums zur Folge hat.
In einer anderen Studie konnte Mann (1967) belegen, dass das emotional role-playing dem
cognitive role-playing, bei dem die Experimentalgruppenmitglieder in der Rolle eines
Disputanten gegen das Rauchen argumentieren, deutlich bessere Ergebnisse bezüglich des
Zigarettenkonsums erzielt. Mann begründet diese Resultate damit, dass diese Technik die
emotionalen und intellektuellen Aspekte der Konsequenzen eines Verhaltens (wie dem
Zigarettenkonsum) mit einbezieht und bewusst macht.
Insgesamt betrachtet kann aus den vorhandenen Studien der Schluss gezogen werden, dass
die Psychodramatherapie in der Behandlung psychischer und Verhaltensstörungen durch
psychotrope Substanzen positive Wirkung zeigt.
62
3.2 Für die Therapie von Abhängigkeitserkrankungen relevante
Prinzipien der psychodramatischen Methode
Der psychodramatischen Theorie liegt eine interpersonelle und handlungsorientierte
Ausrichtung zu Grunde. Der Mensch wird im Psychodrama als ein soziales Wesen
gesehen, das geprägt ist von der Fähigkeit zu kreativer Handlung. Diese Kreativität
erfordert eine spezifische Form von Spontaneität, die jedem Individuum als energetisches
Potential inhärent ist. Die psychodramatische Therapie nutzt und fördert diese Fähigkeit
und zielt in ihrem methodischen Vorgehen auf die Entwicklung sozialer Kompetenzen
und Autonomie ab. Spontaneität gilt in der psychodramatischen Theorie als wesentliche
Entwicklungskraft eines Individuums. Nach Moreno ist der Mensch ohne Spontaneität
nicht lebensfähig. Die freie Wahl von Rollen und Protagonisten im psychodramatischen
Spiel soll zum Ausdruck des „wahren Selbst“ führen.
Die psychodramatische Arbeit mit Bewegung, Bildern und Symbolen ermöglicht den
Zugang zu nichtsprachlichen Anteilen der Psyche mit dem Ziel der Erweiterung des
Rollenrepertoires des Betroffenen. Somit können mit Hilfe dieser Methode auch einfach
strukturierte und verbal wenig geschickte Patienten gut erreicht werden (Frank, 1995). Im
Zuge des Alkoholmissbauchs kommt es häufig zu Intelligenzdefiziten bzw. zu einem
organischen Psychosyndrom44 und/oder hirnorganischen Persönlichkeitsveränderungen,
die
häufig
Einbußen
in
Bezug
auf
die
sprachliche
Ausdrucksfähigkeit
der
Abhängigkeitskranken zur Folge haben. In diesen Fällen hat das Psychodrama gegenüber
rein verbalen Therapiemethoden große Vorteile.
Dem Beziehungsgefüge eines Menschen kommt im Psychodrama eine entscheidende
Bedeutung zu. In der handelnden Interaktion entwickelt das Individuum seine Erlebensund Verhaltensmöglichkeiten, seine Identität, Wertvorstellungen und Weltanschauungen.
Der psychodramatische Gesundheitsbegriff kann in Hinblick auf die Rollentheorie als
„Fähigkeit beschrieben werden auf interpersonale und situative Anforderungen durch die
jeweils aktualisierbaren Rollen, d. h. Verhaltens- und Erlebensmuster, angemessen zu
reagieren“ (Burmeister & Diebels, o. J.b, S. 8).
44
Das organische Psychosyndrom (auch hirnorganisches, psychoorganisches oder amnestisches Syndrom) kann
bei Hirnschädigungen durch toxische Noxen wie z. B. Alkohol auftreten. Umschriebene Hirnschädigungen
führen zunächst zu einem hirnlokalen Psychosyndrom, das sich durch Störungen des Grundantriebs, der
Stimmung und anderer Einzelleistungen bei zu Beginn weitgehend intaktem Intellekt äußert. Im weiteren
Verlauf kommt es zu Störungen des Gedächtnisses, der Auffassung, der Orientierung und des Denkens sowie der
Affekte. Das organische Psychosyndrom kann bis zu einem Persönlichkeitswandel bzw. –zerfall führen
(Pschyrembel Klinisches Wörterbuch, 1986).
63
Das für die ganzheitliche Arbeitsweise des Psychodramas charakteristische Denken und
Handeln in Rollen hat eine strukturgebende und Ich-Funktionen unterstützende Wirkung,
die vor allem in der Therapie von Klienten mit mehrdimensionalen Störungsbildern wie
dem der Abhängigkeit entscheidende Parameter darstellen. Auch die beiden zentralen
Konzepte des Psychodramas Rollentheorie und Soziometrie werden dem multifaktoriellen
Bedingungsgefüge
der
Abhängigkeitserkrankung
besonders
gerecht.
Der
Abhängigkeitskranke wird im Psychodrama als mitverantwortlicher Akteur im
Heilungsprozess betrachtet.
3.3 Das Menschenbild der Psychodramatherapie
Psychotherapeutische Modellannahmen sind immer in den jeweiligen historischen,
gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und religiösen
Kontext
eingebunden.
Das
jeweilige
Behandlungskonzept
einer
Therapie
von
Abhängigkeitserkrankungen hängt in entscheidendem Maße von der, ihr zu Grunde
liegenden psychotherapeutischen Methode bzw. deren Grundhaltungen und deren
Menschenbild ab. Unter dem Menschenbild versteht man alles, was ein Individuum in
Bezug auf die Merkmale, die Existenz und die Funktionen des Menschen denkt. Ein
grundlegender Parameter aller psychotherapeutischen Methoden ist die Annahme der
Veränderbarkeit des Menschen. Das „Wie“ der Modifizierbarkeit variiert von Methode zu
Methode. Auch die Annahmen über die Genese von Störungen, die Modellannahme des
gesunden Menschen und die Annahmen darüber, durch welche Interventionen
Veränderungen initiiert werden, gehören zum Menschenbild einer psychotherapeutischen
Methode. Erst vor dem Hintergrund des psychodramatischen Menschenbildes wird das
psychodramatische Krankheitsmodell der Abhängigkeitsstörungen verständlich.
Das Menschenbild des Psychodramas ist geprägt von Spontaneität und Kreativität.
Moreno selbst verwendet den Begriff Spontaneität in seinen Texten uneinheitlich und
vieldeutig. Zeintlinger-Hochreiter (1996) kommt bei deren Analyse auf acht sehr
unterschiedliche Bedeutungen dieses Begriffs. Im engeren Sinn kann Spontaneität als
„Disposition zu psychischen Ereignissen, die neue Inhalte und/oder Operationen adäquat
(re)produzieren“ (ebd., S. 152) betrachtet werden. Spontaneität ist für die Erwärmung des
Organismus im Erwärmungsprozess verantwortlich. Auch für den Begriff Kreativität gibt
es bei Moreno keine klare Definition, er bezeichnet sie als „die höchste Form der
Intelligenz, die uns bekannt ist“ (ebd., S. 161). Das Kreativitätskonzept hat in der
64
psychodramatischen Theorie Morenos große Bedeutung. Meist wird der Begriff
Kreativität im Sinne der Fähigkeit, neue und adäquate Leistungen zu produzieren
verwendet. Diese Fähigkeit kann zielgeleitet oder nicht zielgeleitet sein. Kennzeichnend
für das Menschenbild des Psychodramas sind auch das Bedürfnis des Individuums nach
Handlung und Ausdruck und die Tendenz zur Selbstverwirklichung. Jeder Mensch verfügt
über positive Ressourcen und ist von Natur aus sozial und entwicklungsfähig.
Die Entwicklung des Psychodramas als eines der ersten interpersonellen und
interaktionellen Gruppenverfahren ist eng mit der Biographie Morenos verbunden.
Moreno ging in seiner Arbeit von einem Menschenbild aus, welches das Individuum als
Handelnden im zwischenmenschlichen Beziehungsgeflecht – als Rollenspieler in seiner
Lebenswelt – sieht. Das Individuum entwickelt in Beziehungen seine Erlebens- und
Verhaltensmöglichkeiten, seine Identität und sein Bild von der Welt. Der Grad der
Einschränkung des Beziehungsgefüges eines Menschen korreliert mit dem Ausmaß des
Rollenrepertoires, das ihm zur Verfügung steht. Dieses steht wiederum in engem
Zusammenhang mit seiner Erlebnis- und Beziehungsfähigkeit. Individuelle Störungen und
Probleme entstehen demzufolge in einem interpersonalen Prozess und können auch nur in
einem solchen wieder aufgelöst werden.
Das Individuum wird im Psychodrama in seiner sozialen Vernetzung gesehen, Moreno
bezeichnet diese als Soziales Atom. Als Antwort auf die Verunsicherung seiner Zeit und
als Lösung gegen die Entgrenzung des Individuums oder „Ich-Seuche“ (Moreno)
entwickelte er die kosmische Theorie, die „als Versuch verstanden werden [kann, Anm. d.
Verf.], seinen Pragmatismus in Sprache zu bringen und gleichzeitig dem Verlust der
Metaphysik entgegenzuwirken“ (Schmitz-Roden, 1996, S. 22). Er sieht die Lösung des
Problems der Ausgrenzung des Individuums durch die Entgrenzung als Phänomen der
Zeit (des angehenden 20. Jahrhunderts) in der Bindung des Ich an die Gemeinschaft und
die Übernahme der Verantwortung für die Gemeinschaft (bzw. die Schöpfung). Die
Ausführungen Morenos über die negativen Entwicklungen seiner Zeit lassen sich ohne
große Abstriche auf die aktuelle gesellschaftliche Situation übertragen, die von der
Vereinzelung
des
Individuums
und
dem
Verlust
eines
gemeinschaftlichen
Verantwortungsgefühls geprägt ist. Der Psychodramatherapeut hilft in diesem Sinne dem
Individuum, seine Position im (vom Therapeuten vermittelten) Weltbild zu finden.
Das Konzept des Handelns im Sinne sozialen Handelns stellt einen der zentralen Punkte in
Morenos Theorie dar („Man is an actor“). Die psychodramatische Therapie zielt auf die
Förderung der Spontaneität und Kreativität des Individuums ab. Zentral ist die Freude am
65
kreativen Spiel, in dem sich neue Lebensentwürfe entwickeln können. Morenos Theorie
der Gesellschaft (Soziometrie und Mikrosoziologie) kann als Utopie der therapeutischen
Weltgesellschaft gesehen werden, die über Spontaneität und Kreativität verwirklicht
werden soll. Diese therapeutische Weltordnung sollte verhindern, dass gesellschaftliche
Gruppen sich zu einem „soziometrischen Proletariat“ entwickeln. Dieser von Moreno
geprägte Begriff definiert eine Gruppe von Individuen, deren Ausmaß an Spontaneität,
Produktivität, ihrer Rollen-Ausdehnungen und Anziehung nicht mit ihren Bedürfnissen
und Fähigkeiten, diese zu konsumieren korrelieren (Groterath, 1994). Moreno zeigt mit
seiner Gesellschaftstheorie auf, dass das Individuum die Grenzen der Gesellschaft braucht
um sich mit Kreativität und Spontaneität verantwortlich einbringen zu können und wie
andererseits die Gesellschaft das kreative Individuum braucht. Das Individuum benötigt
jedoch auch die flexible Gesellschaft, um Begegnung zu finden (Schmitz-Roden, 1996).
Die mangelnde gesellschaftskritische Betrachtung des Phänomens der Entfremdung und
der realen sozioökonomischen Verhältnisse sieht Ottomeyer als Kritikpunkt am
psychodramatischen
Menschenbild
–
„daß
Flexibilität,
Kreativität
und
Subjektivitätsdarstellung selbst noch besonders funktionale Formen der Entfremdung sein
können, ist im psychodramatischen Menschenbild schwer vorstellbar“ (Ottomeyer, 1987,
S. 69).
Die Haltung des Psychodramatherapeuten soll anregend, jedoch nicht direktiv sein. Das
Ereignishafte der Begegnung (als tragendes existentielles Prinzip des Psychodramas) ist
von großer Bedeutung für die Behandlung. Das Welt- und Menschenbild ist im Begriff
der Begegnung verdichtet und nutzt die körperliche Bewegung als Informationsquelle.
Moreno betont in seiner Theorie des (kosmischen) Individuums, dass das Individuum erst
durch die Einbindung in die Gruppe die Möglichkeit zur Entfaltung bekommt. Er
formuliert die Umsetzung seiner Theorie in konkrete Handlungsvorstellungen des
kosmisch gedachten Individuums, das nur in seinem Sozialen Atom existieren kann. Das
Psychodrama stellt für Moreno die Möglichkeit der wahren Begegnung dar, in der das
Individuum wachsen kann.
Die Entwicklung des Individuums verläuft für Moreno idealer Weise „vom Individuum in
der Gruppe, das sich durch Spontaneität und Kreativität der Rollenkonserve zu entledigen
lernt, hin zum Individuum in der therapeutischen Gesellschaft, das sich im Psychodrama
verschiedener Rollen- und Handlungsaspekte bewusst wird, um ein bewusstes,
verantwortliches Individuum zu werden“ (Schmitz-Roden, 1996, S. 28).
66
Das Spielen psychodramatischer Rollen ermöglicht dem Einzelnen, Gemeinsamkeiten
zwischen sich und dem Anderen wahrzunehmen und auf dieser Basis seine
Eingebundenheit in die Gesellschaft intensiver zu erleben und bewusst zu bejahen.
3.4 Die Rollentheorie Morenos
Das Rollenkonzept nimmt in Morenos Theorie eine zentrale Stellung ein. Verschiedene
andere psychodramatische Konzepte sind mit diesem verbunden. Morenos Rollentheorie
ist ein wichtiger Teil seiner Handlungstheorie. Auch im psychodramatischen
Erklärungsmodell abhängigen Verhaltens kommt der Rollentheorie eine wesentliche
Bedeutung zu. Das Rollenhandeln ist stets im Kontext der jeweiligen Situation und der
entsprechenden komplementären Rollen zu sehen. Die Interaktion ist mit einer
Rollenerwartung verbunden, die einerseits die Motive des Handelnden widerspiegelt,
andererseits auch das Verhalten des Gegenübers antizipiert. Der Begriff „Rolle“ wird in
Morenos Schriften in unterschiedlichen Bedeutungen verwendet (Zeintlinger-Hochreiter,
1996):
3.4.1 Rollen als kollektive soziokulturelle Stereotype
Laut Moreno entwickelt sich die Persönlichkeit in der Konfrontation mit den, durch
soziokulturelle Normen und gesetzliche Vorschriften definierten, Rollenstereotypen. Im
Rollenspiel wird festgestellt, inwieweit das Individuum im Stande ist, bestimmte
Rollenstereotypen zu übernehmen, diese darzustellen oder sie abzulegen. Eine exakte
Definition des Begriffs liefert Moreno jedoch nicht. Auch die theoretische
Auseinandersetzung mit den in diesem Zusammenhang wichtigen Fragen der
Rollenattribute, die als Qualitäten, die der Vertreter einer Rollenstereotype aufzuweisen
hat, zu verstehen sind, sowie der Rollenerwartungsstrukturen – die Erwartungen wichtiger
Bezugsgruppen an den Inhaber einer Rolle – bleibt Moreno schuldig.
3.4.2 Rollen als vorgegebene individuelle Handlungsmuster
Unter „Rollenkonserve“ versteht man eine Rolle als vorgegebenes individuelles
Handlungsmuster (Theaterrollen). Sie unterscheidet sich von den soziokulturellen
Rollenstereotypen durch die Festlegung von Situation und Text.
67
3.4.3 Rollen als individuell gestaltete, abrufbare Handlungsmuster
Im Verlauf der Sozialisationsbiographie werden die soziokulturellen Rollenstereotypen zu
individuellen Rollen- und Handlungsmustern, die vor allem von den privaten, sozialen
und kulturellen Erfahrungen eines Individuums geprägt sind. Die Gesamtheit aller
individuellen Rollenmuster bildet das „Selbst“ als Ergebnis der Rollenhandlung im Sinne
eines dynamischen Konglomerats der verschiedenen Rollen, die das Individuum im Laufe
seines Lebens übernommen und gespielt hat. Das Selbst ist demzufolge immer Ausdruck
des individuellen Sozialisationsprozesses.
3.4.4 Rolle als tatsächliches Handeln in einer aktuellen (sozialen) Situation
Diese Rollen sind im Wesentlichen durch Raum, Zeit, Personen und ihre Beziehungen,
Ort, Handlungen und Worte definiert. Moreno unterscheidet das Rollenhandeln in der
Surplus-Reality im Rollenspiel vom Rollenhandeln in realen Lebenssituationen. Unter
Surplus-Reality versteht man phantasierte, irreale Vorstellungen, Ereignisse und Bilder,
die mit dem Ziel der Erweiterung der Rollenkompetenzen auf der psychodramatischen
Bühne dargestellt werden können. Im Rollenhandeln können unterschiedliche Grade an
freier Gestaltung der Rolle differenziert werden:
 Das „role-taking“ bezeichnet die Übernahme einer (sozikulturellen) Rollenkonserve
ohne individuelle Aus- oder Umgestaltung.
 Beim „role-playing“ ist die freie Gestaltung der Rolle bis zu einem bestimmten Grad
erwünscht.
 Unter „role-creating“ versteht man ein Rollenspiel mit einem sehr hohen Maß an
kreativer und freier Gestaltung der Rolle.
Für Moreno sind vor allem die beiden letzten Definitionen des Begriffs Rolle von
Bedeutung. Er bezeichnet die Gesamtheit aller im Laufe des Lebens übernommenen
Rollen eines Individuums als „Rolleninventar“. Die zu einem bestimmten Zeitpunkt
verfügbaren Rollen bilden das „Rollenrepertoire“ oder die „Rollenmatrix“. Neben den
verschiedenen Bedeutungen des Begriffs Rolle unterscheidet Moreno auch drei Klassen
von Rollen, denen in der Entwicklungstheorie eine wichtige Bedeutung zukommt:
68
1) Physiologische oder psychosomatische Rollen dienen der Erhaltung des
Organismus und als Grundlage für die weiteren Rollenentwicklungen und
umfassen das sozialisierte Handeln des Körpers, das immer auch eine
psychische Komponente einschließt (z. B.: Rolle des Trinkenden).
2) Psychische oder psychodramatische Rollen sind stark von den individuellen
Vorstellungen einer Person geprägt, jedoch an zwischenmenschliche
Konstellationen gebunden.
3) Soziale, soziodramatische oder „offizielle“ Rollen sind an gesellschaftliche
Normen geknüpft. Es handelt sich um stereotype Handlungsmuster, die
individuell gestaltet werden können. Beispiele für soziale Rollen sind Berufsoder Beziehungsrollen.
Leutz (1974, zit. n. Schacht, 2003) fügt diesen drei Rollenklassen die
transzendenten (auch religiöse oder ethische) Rollen hinzu. Das Individuum
entscheidet sich bewusst für diese Rollen, die ein Wertesystem repräsentieren (z.
B.: Rolle des gläubigen Mormonen).
Schacht (2003) hat das Modell der Rollenklassen modifiziert und spricht in diesem
Zusammenhang von 4 Abstraktionsebenen des Rollenhandelns (vereinfachend auch
Rollen- oder Handlungsebenen), wobei er auf die transzendente Ebene nicht näher
eingeht. Die unterschiedlichen Ebenen wirken parallel zusammen, auf jeder Ebene regeln
Handlungskompetenzen das Erleben, Denken und Handeln. Die Entwicklung dieser
Handlungskompetenzen wird in Kapitel 3.5 erläutert. Das Verhältnis zwischen der
psychosomatischen, psychodramatischen und soziodramatischen Rollenebene bestimmt
das menschliche Handeln. Folgende Grafik veranschaulicht das Modell Schachts, das als
Grundlage für die psychodramatische Rollen- und Entwicklungspsychologie dienen soll:
69
Abbildung 14: Aufbau der Rollenebenen
Quelle: Schacht, 2003, S. 41
SOZIODRAMATISCHE
ROLLENEBENE
supremacy
viele Freiheitsgrade
eingeschränktes
Wirkungsfeld
PSYCHODRAMATISCHE
ROLLENEBENE
weiteres
Wirkungsfeld
PSYCHOSOMATISCHE
ROLLENEBENE
wenig Freiheitsgrade
priority
Die psychosomatische Ebene als einfachste Struktur der Pyramide ist die dominante, da
sie dauerhafter ist und über einen weiteren Wirkungskreis verfügt als die anderen Ebenen.
Die psychosomatische Rollenebene und ihre Handlungskompetenzen dienen als
Grundlage für komplexere Strukturen, die vergänglicher sind und ein begrenztes
Wirkungsfeld haben und dennoch überlegen sind. Komplexe soziale Strukturen werden
erst durch ein Wechselspiel der Handlungskompetenzen der psychodramatischen und der
soziodramatischen Ebene geschaffen – Das Kreieren von Situationen wird dem
Individuum erst durch die Regulationsmechanismen aller Ebenen ermöglicht.
Neben dem psychodramatischen Rollenkonzept ist die Entwicklungstheorie für das
Verständnis des psychodramatischen Erklärungsmodells abhängigen Verhaltens von
entscheidender Bedeutung. Im folgenden Kapitel soll zunächst die Entwicklungstheorie
Morenos und anschließend die auf diesem Ansatz und den neuesten Erkenntnissen der
Entwicklungspsychologie fußende Theorie Schachts (2003) erläutert werden.
70
3.5 Die psychodramatische Entwicklungstheorie
In Morenos Theorie der Rollenentwicklung ist eine Entwicklungstheorie enthalten. Er
unterscheidet 2 Phasen der psychischen Entwicklung: das erste und das zweite psychische
Universum. Die Unterscheidung zwischen Realität und Phantasie stellt die Trennlinie
zwischen den beiden Entwicklungsstufen dar. In diesem Kapitel sollen ausgehend vom
Modell Morenos, das inzwischen nur noch eingeschränkt übernommen werden kann,
aktuelle Entwicklungen in diesem Bereich dargestellt werden.
3.5.1 Die Stufe der Identität (des Subjekts mit den umgebenden Objekten) oder das
erste psychische Universum
Moreno nennt diese Phase das erste psychische Universum oder die soziale Plazenta. Sie
beginnt mit der Geburt und dauert in etwa bis zum 4. Lebensjahr. Im ersten psychischen
Universum kann das Individuum noch nicht zwischen Realität und Vorstellung
unterscheiden.
Morenos Konzept lautet folgendermaßen: In der ersten Entwicklungsphase des ersten
psychischen Universums – der Phase der All-Identität oder der „matrix of identity“
(Entstehungsort
der
Persönlichkeit)
erlebt
das
Neugeborene
alles
(auch
die
Bezugspersonen) mit sich verbunden (co-existent, co-action, co-being). Die Pflegeperson
stellt die Erweiterung des eigenen Körpers, das (natürliche) Hilfs-Ich dar. Das Kind
benutzt körperliche Starter (z.B.: Hunger) um Erwärmungsprozesse45 einzuleiten und
physische und psychische Anpassungsbestrebungen zu verwirklichen. Die adäquaten
Reaktionen der Hilfs-Iche sind für das Neugeborene überlebensnotwendig. Neuere
Erkenntnisse bestätigen diese Ansicht jedoch ebenso wie Morenos Ausführungen über die
folgende Stufe der All-Realität nicht zur Gänze.
Moreno bezeichnete die zweite Phase des ersten psychischen Universums (die Stufe der
Ich-Erkenntnis) als die Phase der All-Realität (Phase der Du-Erkenntnis), in der das Kind
lernt, die Personen und Gegenstände in seiner Umwelt als voneinander getrennt zu
erleben. Vergangenheit und Zukunft sind für das Individuum in dieser Phase noch nicht
erlebbar. In der Phase des ersten psychischen Universums wird laut Moreno die
Grundlage für das Herausbilden eigener Rollen gelegt. Die Trennung zwischen Ich und
Du, die in der Phase des zweiten psychischen Universums erfolgt, ist die notwendige
45
Zur psychodramatischen Erwärmungsphase siehe Kapitel 3.11.
71
Bedingung für den Aufbau eigener Rollen. Diese ersten Trennungserfahrungen können die
Entwicklung
des
Individuums
stark
beeinflussen.
Die
Verarbeitung
des
Trennungsprozesses hängt im Wesentlichen vom adäquaten Verhalten der Hilfs-Iche, d.h.
von deren Art des Eingehens auf die Bedürfnisse des Kindes, ab. Nimmt dieser Prozess
einen ungünstigen Verlauf, in dem Angst und Unsicherheit entstehen, so wird die
Weiterentwicklung der Spontaneität verhindert, was eine Zuflucht des Individuums zu
rigiden Konserven und pathologischen Mustern wahrscheinlich macht (Schacht, 1992, zit.
n. Göb, 1994).
3.5.2 Das zweite psychische Universum
Im ersten psychischen Universum wurde die Basis für den emotionalen Erfahrungsprozess
und für den Telefaktor gelegt – am Beginn des zweiten psychischen Universums erfolgt
nun die Trennung zwischen Real- und Phantasiewelt. Der Begriff „Tele" wird in der
psychodramatischen Theorie als einfachste Beziehungseinheit definiert. Wichtig ist in
diesem Zusammenhang die Abgrenzung zum Begriff „Begegnung“, bei dem das
subjektive Erleben des Individuums im Vordergrund steht. Tele meint die objektive
Erfahrung von Beziehungen. Der Teleprozess bewirkt einerseits, dass sich Individuen in
Beziehungen begeben, andererseits die Bildung eines Systems zwischenmenschlicher
Beziehungen, von Kommunikation und gemeinsamer Erfahrung sowie die Entwicklung
einer Kohäsion im Sinne einer emotionalen Bindung zwischen Personen (ZeintlingerHochreiter, 1996).
Der Wechsel zwischen Real- und Phantasiewelt läuft über die Spontaneität. Die Fähigkeit,
zwischen den beiden Welten zu unterscheiden, macht es dem Kind möglich, bewusst und
aktiv Rollen anderer Individuen zu übernehmen und zu erproben. Über diesen Prozess
eignet es sich soziale Rollen an und wird zunehmend selbständiger. Im Laufe der weiteren
Rollenentwicklung lernt das Kind, sich aus der Rolle seines Gegenübers zu erleben und
aus dieser Perspektive ein Bewusstsein bezüglich der eigenen Rollen zu erlangen.
3.5.3 Die Verbindung der Konzepte der Rollenentwicklung und der Entwicklung des
Individuums
Die Bedeutung der Rollen für die Entwicklung des Individuums entdeckte Moreno im
Zuge seiner soziometrischen Untersuchungen. Die Phasen verlaufen parallel zur
72
Entwicklung unterschiedlicher (physischer, psychischer und sozialer) Rollen eines
Individuums (Moreno, 1993). Voraussetzung für eine gelingende Rollenentwicklung ist
ein Teleprozess, der dem Individuum das Durchlaufen der Phasen bis zur Schaffung eines
eigenen sozialen, kulturellen Atoms über kreatives und spontanes Handeln ermöglicht.
Zur Verdeutlichung des geschilderten Konzepts soll folgende Darstellung der kindlichen
Rollenentwicklung dienen:
Abbildung 15: Konzept der kindlichen Rollenentwicklung
Quelle: Göb, 1994, S.176
EmbryonalStadium
1. Psychisches Universum
All-Identität
All-Realität
1. Ego erlebt
Alter als Teil
seiner selbst
2. Ego verlagert
seine Aufmerksamkeit
auf diesen
Alter-Teil
3. Der Alter-Teil
nimmt für Ego
eine Sonderstellung ein
und wird in
seiner Eigenständigkeit erkannt (role
perception)
Soziale Rollen
Psycho-somatische Rollen
Rollentypen
2. Psychisches Universum
Stadien frühkindlicher
Entwicklung
4. Ego versetzt sich in die
Rolle von Alter (roletaking, Rollenübernahme),
handelt in diesen Rollen
(role-acting) und erprobt
diese Rollen (role-playing)
5. Ego erlebt sich aus der
Rolle von Alter und bezieht
zieht sich von dieser Rolle
her auf sich selbst (Reflexivität, Rollentausch)
Entwicklungsschritte spezieller
Rollen-TeilAspekte
Zu diesem Konzept ist zu bemerken, dass in der Entwicklungspsychologie lange Zeit die
Auffassung vorherrschend war, dass ein Säugling ab dem zweiten Monat sich selbst und
seine primäre Bezugsperson als ein gemeinsames System betrachtet. Mahler (1975, zit. n.
Schenk-Danzinger, 1988) prägte den Begriff der symbiotischen Phase. Neuere
Forschungsergebnisse
belegen,
dass
bereits
Neugeborene
über
autonome
und
kontrollierende Funktionen verfügen und ab dem 3. Lebensmonat mittels Blickkontakt die
73
Interaktion mit der Mutter beeinflussen (Stern, 1993). Die Behauptung eines ursprünglich
objektlosen, von der Außenwelt relativ unabhängigen autistischen Entwicklungsstadiums
gilt somit als widerlegt. Zu vermuten ist, dass der Säugling Phasen der Symbiose mit der
Umwelt bzw. mit den Bezugspersonen erlebt, diese jedoch seine Wahrnehmung nicht
durchgehend bestimmen.
3.5.4 Integration aktueller entwicklungspsychologischer Erkenntnisse in das
psychodramatische Entwicklungskonzept
Schacht (2003) versucht, aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse mit den Ansichten
Morenos zu verbinden um zu einer neuen psychodramatischen Entwicklungstheorie zu
gelangen. Moreno sieht den Säugling nicht nur als actor, sondern auch als interactor, als
sozial Handelnden. Viele Forschungsergebnisse bestätigen, dass Ansätze des sozialen
Handelns schon kurz nach der Geburt beobachtbar sind. Beispiele dafür sind das Lächeln
von Neugeborenen, die Imitation der Mimik des Gegenübers, die Reaktion von
Säuglingen auf Gesichter im Gegensatz zur Reaktion auf unbelebte Gegenstände, die
Anpassung von Verhaltensweisen an menschliche Sprachmuster und mit 2-3 Monaten
schließlich das soziale Lächeln und der Blickkontakt als wichtige Interaktionsmittel.
Rolleninteraktionen (co-actions, co-experience) basieren auf dem gemeinsamen Handeln
zwischen Säugling und Bezugspersonen. Schon sehr früh hat der Säugling die Fähigkeit,
triadische Interaktionen mitzugestalten und sowohl als role giver (er äußert
Kontaktwünsche sowie den Wunsch nach Beendigung des Kontaktes und steuert das
Verhalten des
Gegenübers) als auch als
role receiver (der Säugling kann
Rollenerwartungen antizipieren) zu agieren. Um derartige soziale Interaktionen
koordinieren zu können, ist es unerlässlich, das Handeln des Gegenübers zu verstehen.
Basieren diese Verhandlungen nicht auf bereits etablierten Handlungsstrukturen, so
müssen die Beteiligten die Fähigkeit zum inneren Rollenwechsel besitzen um zu einem
befriedigenden Ergebnis zu gelangen.
Auch das spielerische „Als-ob“ (durch Bezugspersonen) sowie eine gewisse moralische
Verantwortung sind schon im ersten psychischen Universum (bis zum Alter von etwa 1 ½
Jahren) vorhanden. Bei Moreno hat das Handeln immer auch eine moralische Dimension
– er verbindet den Begriff des spontanen Handelns mit der responsability (Verantwortung)
(Schacht, 2003). Weitere bereits in diesem frühen Stadium entwickelte Kompetenzen des
Säuglings sind:
74
 Die telische Regulation von Anziehung und Abstoßung: es handelt sich um
wechselseitige Verhaltensprogramme, der Säugling steuert die Annäherung und
Vermeidung von Kontakt vor allem mit Hilfe von Gestik und Mimik.
 Die Aktivierungs- bzw. Emotionsregulation: aus anfangs undifferenzierten
Emotionen Lust bzw. Unlust werden im Verlauf der Entwicklung spezifische
Affekte wie Ärger und Freude. In der sozialen Interaktion erwirbt der Säugling die
Kompetenz zur Regulation seiner Gefühle.
 Die Kompetenz zum inneren Rollenwechsel bzw. zur Teilnahme am Rollentausch:
die Kompetenz zum inneren Rollenwechsel zeigt sich beim Säugling in der
Fähigkeit zur Imitation, zur emotionalen Resonanz und dem assoziativen
Wiedererkennen.
 Das Sharing und das prozedurale Wir-Empfinden (we-self): das Sharing läuft über
gemeinsame Absichten und Gefühle.
 Selbst und Anderer Identität: das Selbst des Säuglings entwickelt sich im
Zusammenwirken von affektiv-kognitiven Handlungskompetenzen. Es kann vom
Selbst-als-Subjekt gesprochen werden, das Kern-Selbst festigt sich ab dem 7.
Lebensmonat.
 Selbstverantwortung: die Urheberschaft und die Selbstwirksamkeit werden bereits
erlebt.
 Inneres soziokulturelles Atom: die innere Repräsentation sämtlicher emotional
wichtiger Personen, Beziehungen und Rollenkonfigurationen. Der Säugling
verfügt bereits sehr früh über ein Beziehungswissen, das von ihm und seinen
Bezugspersonen auf prozeduraler Ebene ko-konstruiert wird. Die Bindungstheorie
bildet den Hintergrund für die Annahme, dass der Säugling aktiv innere
Repräsentationen erschafft, die ihm die Gestaltung von Interaktionen ermöglicht.
Er verfügt über ein prozedurales Gedächtnis.
 Hilfs-Ich-Kompetenzen: die primäre Bezugsperson hat die Funktion des Doppels
des Kindes. Für eine gelingende Interaktion muss die Bezugsperson dem Säugling
Hilfs-Ich-Kompetenzen zur Verfügung stellen. Die Bindungsorganisation der
Bezugsperson hat entscheidende Bedeutung im Hinblick auf diese Fähigkeit.
 Kognitive Entwicklung und psychische Realität sind geprägt von prozeduralem
Wissen.
 Wille, Handlungsregulation: intentionales Handeln ist bei Neugeborenen bereits
sehr früh erkennbar. Er zeigt Freude an Urheberschaft und Wirksamkeit.
75
Die aktive Auseinandersetzung des Säuglings mit seiner Umwelt war für Moreno mit dem
Begriff Aktionshunger verbunden. Den Säugling als actor prägen Neugier und Freude am
Effekt und an der Aktivität. Die Handlungskompetenzen, die der Säugling auf der
psychosomatischen Ebene erwerben konnte, beeinflussen seine weitere Entwicklung. Der
Übergang vom 1. Universum zum 2. psychischen Universum oder der Welt der
psychodramatischen Rollenebene vollzieht sich in etwa im 15. Lebensmonat. Das Kind
erlangt Ich-Erkenntnis (Selbst-als-Objekt), es entwickelt innere Vorstellungen und kommt
zur Erkenntnis der Permanenz von Objekten, die mit der Symbolbildung einhergeht.
Erstmals erlangt das Kind die Fähigkeit zu Konstruktions- und Symbolspielen.
Rollenspiele beginnen sich ab dem 3. Lebensjahr zu entwickeln. Folgende
Handlungskompetenzen erwirbt das Kind im Verlauf des 2. Universums:
 Die Rolleninteraktion, die auf der psychosomatischen Ebene vor allem auf der
Basis von Mimik, Gestik, Blickkontakt und Signalkommunikation ablief, wird um
die Fähigkeit
des
verbalen Ausdrucks
erweitert.
Innere Vorstellungen,
Erinnerungen, Wünsche und zukünftige, fantasierte Geschehnisse sind die Inhalte
der Interaktionen. Die ersten Grundlagen für Freundschaften werden gelegt, die
Konfliktlösungsfähigkeiten sind jedoch noch in sehr geringem Ausmaß vorhanden.
 Die telische Regulation von Anziehung und Abstoßung kann bereits auf
abwesende Personen angewendet werden. Sie wird bewusst erlebt und
ausgedrückt.
 Emotionen können benannt und bewusst erlebt werden. Sie bekommen
Signalfunktion; emotionale Skripts entstehen.
 Das Kind erlangt die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme und zur Empathie für
die Emotionen anderer.
 Mit Hilfe der Sprache werden gemeinsame Erfahrungen erlebbar. Gemeinsame
Ziele und positive Affekte können geteilt werden. Das Kind ist fähig, ein affektivkognitives, auf konkrete Handlungen bezogenes, Wir-Bewusstsein zu entwickeln.
 Dem Kind wird seine Selbstwirksamkeit bewusst; Kontrollüberzeugungen
entwickeln sich.
 Ansätze zu prosozialem, moralischem Handeln werden erkennbar, moralische
Gefühle entstehen in direktem Kontakt; das Kind ist zu inneren Rollenwechseln
fähig.
 Leistungsmotivation, planendes Handeln und Ansätze der Fähigkeit zum
Belohnungsaufschub entstehen.
76
 Kausal-rationale Erklärungen sind ebenso vorhanden wie magische.
 Die Fantasie des Kindes entwickelt sich, spielerische Quasi-Realitäten werden
möglich.
 Aus dem rein prozeduralen Gedächtnis der psychodramatischen Ebene entwickelt
sich das semantische, episodische und autobiografische Gedächtnis.
Eine, für den Übergang zur soziodramatischen Ebene wichtige Fähigkeit ist die der
Handlungsregulation, die auf der psychodramatischen Ebene vor allem von den
Bedürfnissen und Wünschen des Kindes beeinflusst wird. Der (innere) Rollentausch im
alltäglichen Handeln wird möglich, sobald das Kind lernt, dass Gedanken lediglich
subjektiv interpretierende Konstruktionen von Ereignissen darstellen. Das magische
Denken verliert in der soziodramatischen Ebene zu Gunsten des kausal-rationalen
Denkens an Bedeutung. Das Kind wird sich sozialer (Rollen-)Erwartungen und Regeln
bewusst und entwickelt im Verlauf dieser Phase Vorstellungen von der angemessenen
Organisation unterschiedlicher Rollen in der sozialen (Inter-)Aktion.
Als Grenzmarkierungen zwischen der psychodramatischen und der soziodramatischen
Rollenebene dienen zwei Fähigkeiten, die sich zwischen dem 5. und 6. Lebensjahr
ausbilden: zum einen das konkret-operatischen Denken, das dem Kind ermöglicht,
mehrere Aspekte seines Wahrnehmungsfeldes simultan zu verarbeiten und seine eigenen
Wahrnehmungen distanziert zu betrachten, zum anderen die Entwicklung eines
differenzierten Person-Verständnisses, das die Perspektivenübernahme entscheidend
beeinflusst. Die soziodramatische Phase ist geprägt von Fortschritten auf sprachlicher und
kognitiver Ebene. Sprache wird bewusst zur Aktivierungs- und Emotionsregelung
eingesetzt. Das Kind lernt, dass Emotionen subjektive Reaktionen auf eine bestimmte
Situation darstellen und mit Hilfe der Sprache differenziert werden können. Das innere
soziokulturelle Atom wird zunehmend semantisch repräsentiert, was seine Kontinuität und
Kohärenz steigert. Sprache dient auf der soziodramatischen Ebene der Selbstinstuktion;
das Kind verfügt mit Hilfe der Sprache über Strategien, die Motivation, die
Aufmerksamkeit, das Gedächtnis und den Belohnungsaufschub zu regulieren
Alle drei Rollenebenen haben für das Erleben und Handeln von Individuen große
Bedeutung – jede der Ebenen ist kontinuierlich wirksam und stellt spezifische Qualitäten
zur Verfügung. Erst im Zusammenwirken dieser unterschiedlichen Kompetenzen
erschließen sich die Wahrnehmungs-, Handlungs- und Erlebensmöglichkeiten des
77
Menschen. Psychische Krankheiten werden in der psychodramatischen Theorie als
Störungen des integrierten Wechselspiels der Rollenebenen begriffen. Bei elementaren
Identitäts- und Beziehungsstörungen (zu denen auch die Abhängigkeitserkrankungen zu
zählen sind) ist das Erleben und Handeln des Individuums von den basalen Ebenen
geprägt,
die
höheren
Niveaus
können
in
konflikthaften
Situationen
nicht
performanzbestimmend werden. Bei den neurotischen Störungen hingegen stehen alle
Rollenebenen zur Verfügung, das Wechselspiel der Ebenen ist jedoch nicht ausreichend
integriert.
Schacht fasst diese Erkenntnisse zu einer Kurzcharakteristik der psychodramatischen
Arbeit zusammen: „Das Ziel der Bühnenarbeit – oder auch des gemeinsamen Gesprächs –
besteht darin, aus der Perspektive der 3. Person Muster und Regelmäßigkeiten des
Erlebens und Handelns gemeinsam festzustellen. Die Betonung liegt einerseits auf dem
Wort „gemeinsam“, da die Person in diesem Prozess strukturierende Hilfs-IchKompetenzen benötigt, um dann allerdings selbst die Regelmäßigkeiten und Muster
feststellen bzw. erkennen zu können. (…) Die Betonung liegt demnach auch auf dem
Wort „feststellen“. (…) Im Sharing kann der oder die ProtagonistIn erfahren, dass andere
Menschen Ähnliches kennen“ (Schacht, 2003, S. 380) Das Hauptmotiv der
psychodramatischen Therapie lautet nach Schacht „komplexere Konstruktion der
subjektiven Realität“.
3.6 Das Psychodramatische Erklärungsmodell abhängigen Verhaltens
In der Literatur wird die praktische Bedeutung des Psychodramas in der Therapie von
Abhängigkeitserkrankungen
mehrfach
betont.
Eine
in
sich
geschlossene
psychodramatische Theorie zur Abhängigkeit und deren Therapie als Grundlage
psychodramatischen Handelns in diesem Bereich ist jedoch noch nicht in befriedigender
Weise entworfen worden. Häufig beruft man sich in diesem Kontext auf einen Artikel von
Leutz (1973), die darin Abhängige vorwiegend nicht als Kranke, sondern als
„Beziehungsgestörte“ bezeichnet. Die Beziehungsstörung stellt die Voraussetzung für die
Entwicklung einer Abhängigkeitserkrankung dar und erstreckt sich nach Leutz auf drei
Bereiche: die Beziehung des Abhängigen zum Dasein an sich (dem kosmischen Sein), in
seiner Beziehung zu seinen primären Bezugspersonen und in der Beziehung zu sich selbst.
Diese
theoretische
Betrachtungsweise
betont
den
soziometrischen
Aspekt
der
78
Abhängigkeit, ihr liegt eine eher pragmatische Orientierung zu Grunde (Göb, 1994). Leutz
ordnet den unterschiedlichen Formen der Beziehungsstörung verschiedene Stadien der
Abhängigkeit (1. Gefährdung, 2. Süchtigkeit, 3. Abhängigkeit) zu, die jeweils andere
Interventionstechniken sinnvoll erscheinen lassen.
Petzold – ein weiterer im Zusammenhang mit dem psychodramatischen Ätiologiekonzept
von Abhängigkeitserkrankungen häufig zitierter Autor – bezeichnet die Persönlichkeit des
Abhängigen als geprägt von „pathologischer Konfluenz“ (Petzold verweist bei diesem
Begriff auf Moreno) im Sinne der Unfähigkeit, sich nach außen gegen Einflüsse der
Umwelt und nach innen gegen Erinnerungen, Emotionen und Gedanken in ausreichender
Form abgrenzen zu können (Petzold, 1983, zit. n. ebd.). In diesen Zustand regrediert der
Abhängige in Situationen, in denen er sich überfordert fühlt. Andere im Arbeitsfeld
Abhängigkeit tätige Psychodramatiker (z. B.: Simonsen, 1990; Waldhelm-Auer, 1994;
Bonabesse, 1970) rekurrieren auf die psychoanalytische Krankheitslehre.
3.6.1 Das aktuelle psychodramatische Krankheitsmodell der Abhängigkeit
Das derzeit in der Literatur überwiegend vertretene psychodramatische Krankheitsmodell
und Verständnis von Abhängigkeit basiert auf der Annahme, dass diese Störung eine
weitgehende Fixierung auf ein eingeschränktes Rollenrepertoire – im Sinne der
Entwicklung unzureichender innerer Repräsentanzen und Ich-Strukturen – bedeutet.
Netzwerktheorie und Rollenentwicklungstheorie liefern die nosologische Grundlage für
einen psychosozialen Erklärungsansatz abhängigen Verhaltens indem sie die für diese
Störung bedeutenden Ursachen und Faktoren der Bereiche Beziehungs- (zur Gesellschaft
im Allgemeinen sowie interpersonell), Interaktions- und Rollendefizite liefern. Die
Netzwerktheorie stellt für Moreno die Grundlage für ein systemisches Erklärungsmodell
der Spannungsfelder zwischen Individuum und Gesellschaft dar.
Je weniger Rollen einem Individuum zur Verfügung stehen, umso eingeschränkter ist
seine Beziehungs- und Erlebnisfähigkeit. Der Abhängige handelt unter Zwang und kann
nur eingeschränkt Autonomie entwickeln. Die psychodramatische Therapie setzt an
diesem Defizit an. Sie versucht durch die freie Wahl von Rollen und Mitspielern zum
Ausdruck
des
„wahren
Selbst“
Verhaltensmöglichkeiten zu fördern.
zu
kommen
und
neue
Erlebens-
und
79
Abhängiges Verhalten wird im psychodramatischen Erklärungsmodell als eine Krankheit
gesehen, deren Ätiologie auf einem multifaktoriellen Bedingungsgefüge beruht. Zu diesen
Faktoren zählen:
 Umweltfaktoren
 Biologische Faktoren
 Komplexe und grundlegende Beziehungsstörungen des Betroffenen in seinem
unmittelbaren sozialen Netz, zu sich selbst, seinen Gefühlen und seinem Körper.
Diese Beziehungsstörungen führen zu einem unzureichenden Rollenrepertoire. Die
Bewältigung der aus diesem Defizit resultierenden Angst und Spannung wird vom
Abhängigen mit Hilfe der Droge bzw. der abhängigen Verhaltensweisen kompensiert. Im
Prozess der Abhängigkeitserkrankung gibt der Betroffene immer mehr vitale Rollen auf,
bis er schließlich nur noch die Negativrolle des „Abhängigen“ lebt. Zu dieser Problematik
kommt eine für Personen mit diesem Störungsbild charakteristische narzisstische
Thematik, die bedingt, dass die psychotrope Substanz oder das abhängige Verhalten zur
Kompensation von als unerträglich erlebten Emotionen von Minderwertigkeit und innerer
Leere wird (Stimmer, 1994, S.276). Das typische Verhalten von Abhängigkeitserkrankten
dient der Kompensation und Vermeidung von Kränkungen des Selbstwerts und ist geprägt
durch sozialen Rückzug und/oder Funktionalisierung von Personen auf der einen und der
Entwicklung von Größenphantasien auf der anderen Seite.
Der Kreislauf der Abhängigkeit ist dadurch gekennzeichnet, dass das abhängige Verhalten
bestimmte Entwicklungslücken füllt, andere jedoch in zumindest gleichem Maße öffnet.
Die aktive und realitätsgerechte Auseinandersetzung mit dem sozialen Umfeld nimmt
sukzessive ab – eine Entwicklung, die einerseits durch den Drogenkonsum potenziert
wird, andererseits jedoch auch – auf Grund der im Zuge der fehlenden positiven
Reaktionen aus der Umwelt gesteigerten Minderwertigkeitsgefühle – einen erhöhten
Drogenkonsum zur Folge hat. Die genannten Prozesse können im sozialen Atom, dem
Bild des Beziehungsgefüges des Abhängigen, sichtbar gemacht werden. Der freie Wille
im Sinne der Spontaneität ist beim Abhängigen stark eingeschränkt.
Der Weg aus diesem Kreislauf führt in der psychodramatischen Arbeit zur Entwicklung
neuer Rollen. Das Psychodrama wurde von Moreno ursprünglich als Therapie für
Beziehungsstörungen konzipiert, eine Tatsache, die auf dem Hintergrund des
theoretischen Erklärungsmodells auf die Bedeutung dieser Therapieform für die Praxis der
Behandlung
von
Abhängigkeitserkrankungen
hinweist.
Die
speziell
für
diese
80
Diagnosegruppe geeigneten psychodramatischen Techniken werden in Kapitel 3.11 im
Detail geschildert.
3.6.2 Spezielle ergänzende Theorien
Eliasoph (1955) betont in seiner Analyse der Ursachen abhängigen Verhaltens die
Bedeutung der parental overprotection. Er sieht die Charakterstruktur oral46 abhängiger
Individuen und die damit verbundene Tendenz, von neuen oder sich wiederholenden
Situationen überwältigt zu werden, die geringe Frustrationstoleranz, die Schwierigkeiten
in
zwischenmenschlichen
Beziehungen,
die
Unfähigkeit
(vor
allem
negative)
Entscheidungen zu treffen und die Verzerrung der Zeitperspektive im Sinne eines
mangelnden
Bewusstseins
für
Vergangenheit
und
Zukunft
als
Ergebnis
der
unzureichenden Loslösung vom Hilfs-Ich (der Mutter). Eine gesunde Rollenentwicklung
entsteht nach der Entwicklungstheorie Morenos mit Hilfe der Mutter, die dem Kind
schrittweise mehr Unabhängigkeit gewährt.
Göb (1994) stellt in seinem Artikel fünf (auf der psychodramatischen Theorie
beruhenden) Hypothesen zur Entstehung von Drogenabhängigkeit vor, die sich alle auf
ein Defizit im Bereich der Spontaneität und der daraus folgernden mangelhaften Fähigkeit
der Betroffenen zur Bewältigung von Problemen und Situationen beziehen:
 Hypothese 1 beschreibt die unzureichende Spontaneitätsentwicklung auf Grund der
nicht adäquaten Reaktionen der Bezugspersonen auf die Bedürfnisse des
Neugeborenen, die zu mit Angst und Unsicherheit besetzten Trennungserfahrungen
beim Übergang von der All-Identität zur All-Realität führen.
 In Hypothese 2 werden die Folgen der Ausdifferenzierung von Phantasie- und
Realwelt thematisiert. Wiederum stellt die unzureichende Unterstützung durch die zur
Verfügung stehenden Hilfs-Iche und die daraus resultierenden Ängste eine Hemmung
der Spontaneitätsentwicklung dar.
 Hypothese 3: Die weitere Interaktion mit den Umweltbedingungen kann die
Trennungserfahrungen entweder negativ verstärken oder positiv kompensieren. Aus
46
Eliasoph verwendet in seiner Erklärung der Ursachen der Abhängigkeit einen Begriff aus dem
psychoanalytischen Sprachgebrauch: Die orale Phase stellt die erste Stufe der Libidoentwicklung dar, in der die
sexuelle Lust überwiegend an die Reizung der Mundhöhle und der Lippen, die bei der Nahrungsaufnahme
erfolgt, gebunden ist. Der Beziehungsmodus, der in dieser Phase aktiviert ist, ist die Einverleibung (Laplanche &
Pontalis, 1994, S. 361/362).
81
seiner Erfahrung stellt Göb eine Häufung negativer, belastender Lebensumstände bei
Drogenabhängigen fest.
 Hypothese 4 bezieht sich auf die negativen Auswirkungen einer defizitären
Spontaneität in der Phase der Pubertät, die er in Bezug auf die Anforderungen (vor
allem das Erlernen neuer Rollen) mit dem postnatalen Stadium vergleicht. In dieser
Phase manifestiert sich in der Regel auch die Drogenabhängigkeit.
 In Hypothese 5 fasst Göb seine Annahmen zusammen: für ihn ist Abhängigkeit als
Zeichen unzureichender Spontaneität zu sehen, die im Laufe der Entwicklung
erworben wird. Regressive Tendenzen entwickeln sich vor dem Hintergrund der
scheinbar nicht bewältigbaren Lebensanforderungen. Die psychoaktive Substanz bzw.
das abhängige Verhalten dient der Wiedererlangung des Gefühls und des Erlebens der
All-Identität um die Trennung zwischen Phantasie- und Realwelt aufzuheben.
Für die Therapie lässt sich aus diesen Hypothesen die Notwendigkeit des Abbaus von
Angst und Unsicherheit und die Wiedererlangung bzw. Förderung und Aufbau der
Spontaneität, neuer Rollen sowie eines neuen Selbstkonzepts ableiten.
3.7 Psychodrama in der Arbeit mit Abhängigkeitskranken
Wie bereits erwähnt hat sich die psychodramatische Methode in der Arbeit mit
Abhängigen bewährt und kommt – vor allem in Deutschland – in zahlreichen ambulanten
und
stationären
Suchtkrankenhilfe
Einrichtungen
laufenden
der
in
Deutschland
Institutionen
unter
zur
der
Bezeichnung
Behandlung
von
Abhängigkeitserkrankungen zur Anwendung. Die Ursache für die Wirksamkeit der
psychodramatischen Techniken in diesem Bereich liegt emotional vor allem im
Zusammenwirken der zentralen Bausteine des Psychodramas – der Rollentheorie und
Soziometrie, die die Verflechtung der Psycho- und Soziodynamik einer Störung mit einem
multifaktoriellen Bedingungsgefüge besonders gut erfahrbar machen können. Im
Folgenden sollen Erfahrungsberichte aus in der Therapie von Abhängigkeitserkrankungen
tätigen
Psychodramatherapeuten
zusammenfassend
dargestellt
werden,
um
die
tatsächliche Anwendung unterschiedlicher Interventionstechniken und ihrer spezifischen
Wirkung in der Behandlung dieser psychischen Störung in der Praxis näherzubringen.
82
Blume et al. (1978) beschreiben in ihrem Artikel einige psychodramatische Techniken in
der stationären Alkoholismusbehandlung wie
 die Verwendung der Technik des Rollentauschs um die Problemeinsicht zu fördern,
 die Personifizierung des Alkohols in der Psychodrama-Sitzung um den Abhängigen
ihre passive Haltung der Droge und ihrem Leben gegenüber vor Augen zu führen und
sie für die Tatsache zu sensibilisieren, dass Abstinenz einen aktiven Prozess darstellt,
 das Nachspielen von Situationen, in denen ein Patient rückfällig wurde, um die
Motivation abzuklären und eine kognitive Verbindung zwischen den Gefühlen des
Betroffenen und dem Alkoholproblem herzustellen und
 das Spielen von Kindheits-Szenen, das zur Klärung von Identifikationen mit den
alkoholabhängigen Eltern führen soll.
Für Blume et al. (1978) liegt der besondere Wert des Psychodramas in der Möglichkeit
zur Erprobung neuer Lösungen für bereits identifizierte oder vorweggenommene
Probleme. Das Psychodrama bietet die Möglichkeit, für abstinente Abhängige typische
Situationen und Ereignisse im Spiel zu üben und zu erproben. Mit Hilfe dieser
Zukunftsprojektionen47 können die Patienten vulnerable Situationen erkennen, Erfolg bei
deren Bewältigung erleben und alternative Verhaltensweisen entwickeln. Auch Friedman
(1967) streicht diesen Aspekt der psychodramatischen Methode aus ihren Beobachtungen
bei inhaftierten, drogenabhängigen Frauen in New York als besonders wirksam im Sinne
einer Intensivierung der Veränderungsmotivation heraus.
Cabrera (1961) schildert in seinem Erfahrungsbericht die psychodramatische Arbeit mit
Alkoholikern während eines stationären Rehabilitationsprogramms als eine übende
Vorwegnahme der Situationen, die den Abhängigen nach der Behandlung erwarten – die
Wiederaufnahme in den Familien- und Freundeskreis, die Konfrontation mit der
psychoaktiven Substanz oder die Arbeitssuche. Die Wirkung dieser Übungen beschreibt er
folgendermaßen: „The patients obtain a great deal of benefit from this situation, giving
them a great deal of insight and motivation on their problem and helping to understand
themselves better“ (Cabrera, 1961, S. 156).
Truöl (1981) erachtet ebenfalls die Arbeit mit den prospektiven Aspekten der
Lebenssituation der Abhängigen vor allem in der rehabilitativen Therapiephase als
entscheidend für den Therapieerfolg: „Die Vorwegnahme zukünftiger Geschehnisse und
Begebenheiten im psychodramatischen Spiel ermöglicht dem Klienten den Aufbau einer
47
Zur Technik der Zukunftsprojektion siehe Kapitel 3.11.6
83
realitätsorientierten Einstellung auf die zu erwartende Realität und damit die Entwicklung
von zweckmäßigem und situationsadäquatem Verhalten“ (ebd., S. 220).
Auch Eliasoph (1955) sieht im Acting-out von realen, antizipierten Lebenssituationen vor
allem in Hinblick auf die typischen Situationen, mit denen Abhängige nach der Therapie
konfrontiert werden, das Element der psychodramatischen Methode, das diese in der
Therapie von Drogenabhängigen zur effektivsten macht. Die Unfähigkeit zu
antizipatorischem Denken ist für Eliasoph eines der Hauptcharakteristika von (Drogen-)
Abhängigen. Die Betroffenen erlangen im Rollenspiel und Rollentraining das Gefühl,
Situationen und Probleme besser bewältigen zu können und bewegen sich in Richtung
größerer Unabhängigkeit
Duffy (1990) formuliert die genannten Aspekte folgendermaßen: „It (das Psychodrama,
Anm. d. Verf.) combines cognitive, emotional and role learning and sparks the
spontaneity so necessary for recovery. Psychodrama helps alcoholics and drug addicts ´get
their act together`“ (ebd., S. 108). Das Visualisieren der Droge mit Hilfe eines Stuhls oder
mit Gruppenmitgliedern konfrontiert die Betroffenen mit ihrer Verleugnung, ihrem
Verlangen, die Droge zu konsumieren, und den Verhaltensmustern, die zu Rückfällen
führen können. Duffy hebt außerdem den (Wieder-)Aufbau der sozialen Fertigkeiten in
der psychodramatischen Gruppentherapie hervor, der der sozialen Abhängigkeit von den
Drogen entgegenwirkt. Das Fördern der Spontaneität stellt für Duffy im Zusammenhang
mit dem Abhängigkeitskreislauf einen entscheidenden Faktor dar. Sie definiert
Spontaneität – in Anlehnung an Moreno – als Fähigkeit „to respond in a novel way to old
situations and in an adequate way to new ones” (ebd., S. 104). Viele Autoren betonen die
Bedeutung des Hier und Jetzt in der Therapie mit Abhängigen, Duffy streicht jedoch auch
heraus, dass sich die Bearbeitung früher Beziehungen und Muster – vor allem auch im
Falle einer Alkohol- oder Drogenabhängigkeit der Eltern der Betroffenen – mit der
psychodramatischen Methode positiv auf den Behandlungserfolg auswirkt.
Auch Olsson (1972) sieht im (Wieder-)Erlangen der Spontaneität und Kreativität einen
entscheidenden Faktor in seiner Arbeit mit jungen Heroinabhängigen. Die in der
psychodramatischen Gruppentherapie gewonnene Spontaneität soll ermöglichen, die
Abhängigkeit seiner Patienten von der Wirkung der Droge (er bezeichnet den Effekt als
„Alice in Wonderland Syndrome“) durch „addiction to creative experience in living with
people“ (ebd., S. 144) zu ersetzen. Olsson hebt ein weiteres Spezifikum des Psychodramas
hervor – die Möglichkeit für die Betroffenen zu handeln anstatt zu reden: „many of our
84
patients have been impulsive actors rather than verbalizers or philosophers, we feel this is
especially true on our ward of heroin addicts and drug abusers” (ebd., S. 147).
Müller (1986) zählt vielfältige Möglichkeiten zur Anwendung der psychodramatischen
Methode im Rahmen einer psychosozialen Beratungsstelle für die Klienten, die
hauptsächlich aus der Unterschicht stammen und – wie er es bezeichnet – durch
„Mehrfachbehinderungen in ihren sozialen Ausstattungsbereichen“ (ebd., S. 186) an den
Rand der Gesellschaft gedrängt worden sind, auf. In der Kurz-, Langzeit-, Einzel- und
Paarberatung, der Gruppenarbeit (Motivations- und therapeutisch-orientierte Gruppen), im
Rahmen von Besinnungswochen, Freizeitgruppen, der Vorsorge- und Öffentlichkeitsarbeit
und der Ausbildung von freiwilligen Suchtkrankenhelfern kommen unterschiedliche
psychodramatische Techniken zum Einsatz. Müller betont, dass das auf Aktion orientierte
Psychodrama „den Bedürfnissen und den Kommunikations- und Verhaltensgewohnheiten
der sozialen Unterschichten und insbesondere deren aktionistischen und situativen
Problemlösungsverhalten“ (ebd., S. 196) besonders entspricht.
Weiner (1965, 1966) sieht im Psychodrama eine Methode, die in der Arbeit mit
Alkoholikern, die häufig distanziert, schweigsam und mit dem Bedürfnis nach sozialer
Wiedereingliederung in die Therapie kommen, vor allem auf Grund der Tatsache, dass sie
„an almost immediate emotional involvement“ (Weiner, 1965, S. 27) fördert, besonders
erfolgreich ist. Sehr positiv hervorgehoben wird bei Weiner (1966) die Wirkung der
psychodramatischen Arbeit mit den Familien bzw. Partnern der Betroffenen. Sie
beschreibt das Psychodrama in einer Zusammenfassung folgendermaßen: „Psychodrama
offers life to the alcoholic – not only behavior change and learning how to live (…). It
also provides immediate temporary help in terms of specific problems and situation. It not
only aims at changing human behavior but also at developing adjustment in ego control,
learning to understand current realities and developing skills in communication. (…). The
flexibility of the method and techniques is a match for the variety of problems,
personalities and situations of the individual with an alcohol problem” (ebd., S. 164/165).
Auch Bonabesse (1970) beschreibt die für ihn in der Therapie mit Alkoholikern
entscheidende Wirkung des Psychodramas als „libération d`affects“48, die im Zuge des
Wiedererlebens von emotional geladenen Situationen im psychodramatischen Spiel den
vorübergehenden Zusammenbruch von Widerständen des Protagonisten zur Folge hat. Im
psychodramatischen Gruppensetting sieht Beonabesse zudem die Möglichkeit, solche
48
Befreiung der Emotionen (Übers. d. Verf.)
85
therapeutische Effekte für sämtliche Gruppenteilnehmer zu nutzen und einen
Verallgemeinerungsprozess durch das Mitschwingen mit dem Protagonisten einzuleiten.
Blume et al. (1968) sind der Überzeugung, dass die emotionale Beteiligung, die bei den
Gruppenmitgliedern im Psychodrama meist sehr schnell vorhanden ist, mit verbalen
Methoden nicht in ähnlicher Weise geschaffen werden kann. In Übereinstimmung dazu
sieht van Meulenbrouck (1972) das Psychodrama als das Mittel der Wahl um die für
Alkoholiker charakteristische Passivität und Ablehnung zur Bearbeitung zu bringen. Auch
Speroff beschreibt den typischen Alkoholiker als einen Menschen „of basic distrust and
suspiciousness and a lack of faith or confidence in oneself, an therefore, in others“
(Speroff, 1966, S. 217) und erachtet aus diesem Grund das Psychodrama in der Gruppe als
Methode der Wahl, um die, dem Alkoholismus zu Grunde liegende Interaktions- und
Beziehungsstörung, zu behandeln. Cuvelier & Mattheeuws (1970) hingegen beschreiben
den typischen Alkoholiker als Patienten mit narzisstischem Charakter der „lui fait accepter
très facilement le rôle de protagoniste d´un jeu psychodramatique. Il aime le soliloque et
s´expose facilement“ (Cuvelier & Mattheeuws, 1970, S. 830)49.
Stimmer (1994) zieht aus seinen Erfahrungen mit Alkoholikern den Schluss, dass
psychodramatische Techniken – er nennt in diesem Zusammenhang vor allem
soziometrische Übungen – besonders wirksam im Hinblick auf das für substanzabhängige
Klienten
charakteristische,
äußerst
sensibel
auf
kränkende
Reize
reagierende
Selbstwertsystem sind. Die Reaktion auf erlebte Kränkungen besteht meist in der
Kompensation bzw. Abwehr mit Hilfe der psychotropen Substanz bzw. des abhängigen
Verhaltens. Seine These beruht darauf, dass es mit Hilfe psychodramatischer Techniken –
im Speziellen durch eine differenzierte Darstellung der aktuellen Situation sowie der
Zukunft und der psychodramatisch gestaltenden Verbindung dieser Zeitebenen – möglich
ist, Struktur und Realität in das Selbst- und Weltbild des Abhängigen zu bringen und die
Kluft zwischen dem mit Minderwertigkeitsgefühlen behafteten und dem narzisstisch
überhöhten Selbst zu überbrücken. Eine Funktion, die bei vielen Abhängigkeitskranken
von der psychoaktiven Substanz erfüllt wird (vgl. dazu auch Waldhelm-Auer, 1994a).
Nachdem die Gefühle der Minderwertigkeit und Leere durch den Suchtmittelkonsum
kompensiert werden, kommt es nach der kurzen Phase des Rauschs zum Rückfall in die
Langeweile und Sinnlosigkeit. Der Abhängige ist bemüht, diesem mit Hilfe illusionärer
Größenphantasien zu entgehen. Stimmer (1993) versucht, den Kreislauf der Abhängigkeit
zu durchbrechen, indem er den Protagonisten auffordert, Wunsch und Realität
86
nebeneinander in Szene zu setzen um an der Integration der konträren Bilder arbeiten zu
können. Sind die Szenen aufgebaut, so bekommt der Protagonist die Möglichkeit, diese
Bilder distanziert zu betrachten, illusionäre Fantasien aufzugeben und Veränderungen
auszuprobieren und „zu erleben, dass auch für andere eine Diskrepanz zwischen Wunsch
und Realität besteht, dass Ideale eine aktivierende Kraft, unrealistische Illusionen dagegen
hemmend sind (…) dass es manchmal auch gut ist, über die eigenen Größenvorstellungen
humorvoll lächeln zu können (…) dass alle positiven Entwicklungen, die sich in dieser
Übung andeuten, Drogenverzicht zur Voraussetzung haben“ (Stimmer, 1994, S. 278).
Dieses
Vorgehen
stellt
eine
Integration
der
Handlungskompetenzen
der
psychodramatischen und soziodramatischen Rollenebene dar, der für die Überwindung
der Abhängigkeit zentrale Bedeutung zukommt.
In einem später veröffentlichten Artikel berichtet Stimmer von der Integration der
psychodramatischen Methode in die Soziale Arbeit, dass es am Beispiel der Nachsorge bei
Alkoholabhängigkeit denkbar wäre „die gesamte Gruppenarbeit mit psychodramatischen
Verfahren zu bestreiten. Das beginnt beispielsweise mit dem ,Sozialen Atom’ und dem
,Kulturellen Atom’ als Situationsanalyseverfahren über themenzentrierte Psychodramen
(Rückfall, Suchttypen, Abstinenz) oder Soziodramen50 (typische Alkoholiker treffen auf
typische Abstinenzler) bis hin zum zukunftgerichteten Rollenspiel, in dem mögliche
Situationen vorwegnehmend im psychodramatischen Spiel schon einmal erlebt und
Verhaltensweisen trainiert werden können (Verführung zum Trinken an Sylvester,
Vorstellungsgespräch beim neuen Arbeitgeber) (Stimmer, 2000).
Das Rollenspiel ist eine psychodramatische Technik, die in der Therapie mit Abhängigen
häufig auch in nicht ausschließlich psychodramatisch geführten Gruppen eingesetzt wird.
So stellen Haber, Paley und Block (1949) fest, dass „´Role playing` has proved to be one
of the most successful techniques” (S. 26). Die Rollenspiele, die die an der Abteilung für
Alkoholabhängige am Winter Veterans Administration Hospital in Kansas täglich
abgehalten werden, stellen einen wichtigen Teil der Behandlung dar. Die Autoren
unterscheiden in der Therapie mit dieser Technik drei Hauptziele, die mit
unterschiedlichen Rollenspielsituationen erreicht werden sollen. Es sind dies Situationen,
die den Patienten bei der Bewältigung seiner realen Probleme unterstützen sollen, die den
Gemeinschaftsgeist, die Auseinandersetzung mit der Gruppe und das Verhältnis zwischen
„der es ihm leicht macht, die Rolle des Protagonisten im psychodramatischen Spiel anzunehmen. Er liebt das
Selbstgespräch und es fällt ihm nicht schwer, sich darzustellen“ (Übers. d. Verf.).
50
Als Soziodrama bezeichnet man in der psychodramatischen Methode eine Anwendungsform des
Psychodramas, das Beziehungen zwischen Gruppen und kollektiven Idealen behandelt (Zeintlinger-Hochreiter,
1996).
49
87
Personal und Patienten verbessern sollen und Situationen, die der Bearbeitung tief
sitzender Konflikte dienen sollen. Haber et al. sehen den Unterschied zwischen
Rollenspielen und Gruppentherapien im Allgemeinen vor allem in der Tatsache, dass die
im Rollenspiel entstehenden spontanen und offenen Diskussionen kein oberflächliches
Intellektualisieren zulassen.
Auch Avrahami (2003) ist von der therapeutischen Wirksamkeit des psychodramatischen
Rollenspiels überzeugt. In seinem Praxisbericht aus einem Addiction Treatment Center in
New York schildert er die Arbeit mit Abhängigen, in der diese Technik ein wichtiges
therapeutisches Instrument darstellt. Es handelt sich dabei um ein 35-tägiges stationäres
Rehabilitationsprogramm, das von der Philosophie und den Grundsätzen der Anonymen
Alkoholiker sowie von humanistischen und psychodramatischen Ansätzen beeinflusst und
geprägt ist. Avrahami beschreibt in seinem Aufsatz eine spezielle Technik – eine
Kombination aus klassischem psychodramatischen Rollenspiel und kognitiv-behavioraler
Therapie – die im Gegensatz zur Aufdeckung irrationaler Überzeugungen und ungünstiger
Selbstverbalisationen auf rein verbaler Ebene durch das Handeln in der Gruppe bessere
Ergebnisse in der Behandlung Abhängiger zeigt. Wie viele andere Autoren hebt Avrahami
die besondere Eignung der psychodramatischen Methode in der Therapie Abhängiger
hervor: „Moreover, in the field of addiction where many clients have been mandated to
treatment and thus have little desire or initiative to participate in their treatment, and most
strongly resist change, psychodrama can skirt their resistance effectively. Additionally,
denial characterizes many addicts and here too, roleplaying helps ´bypass` this therapeutic
hurdle. (…) Psychodrama, as an experiential method, involves high emotional experience,
and is an effective method to achieve the therapeutic goals of addictions treatment” (ebd.,
S. 215/216).
Göb charakterisiert seine Klienten als „innerlich einsame, passive Menschen mit viel
Angst und Unsicherheit“ (Göb, 1994, S. 182). Er hat im Laufe seiner langjährigen Arbeit
mit Drogenabhängigen im stationären Setting verschiedene psychodramatische Techniken
mit
unterschiedlichem
Erfolg
angewandt
und
kommt
in
Folge
der
Einzelfallbeobachtungen und den daraus abgeleiteten Hypothesen zu dem Schluss, dass
„das Psychodrama sich in guter Weise dazu eignet, Ängste und Unsicherheiten zu
reduzieren, Spontaneität zu fördern, neue Rollen zu erlernen, ein flexibles Selbst
aufzubauen und somit den Lebensanforderungen gerecht zu werden, ohne sich in die
pathologische Konserve der Drogenabhängigkeit flüchten zu müssen“ (ebd., S. 191).
88
Edwards (1993) führte auf der Basis seiner Hypothese, dass Abhängige wesentliche
Beeinträchtigungen
in
den
Bereichen
Flexibilität
und
Kreativität
aufweisen,
Untersuchungen durch, die ein eindeutiges Ergebnis lieferten: Im Torrance Test of
Creative Thinking (TTCT, Figural Form A)51 zeigten sich signifikant niedrigere Werte bei
stationär behandelten Abhängigen im Vergleich zu stationär behandelten NichtAbhängigen. Für Edwards lässt sich aus diesem Resultat ableiten, dass das Psychodrama,
mit seinem Anspruch, Kreativität und Spontaneität zu fördern, ein wichtiges Element in
der Behandlung von Abhängigen darstellt.
Bremer (1994), die mit Alkoholikern und Medikamentenabhängigen im stationären
Setting arbeitet, sieht den Vorteil der psychodramatischen Gruppentherapie in der
Wandlung des Selbstbildes vom passiven Hilfsbedürftigen zum aktiven Mitgestalter von
Heilungsprozessen. Dieser Prozess wird ihrer Meinung nach vor allem durch das
psychodramatische Element des Hilfs-Ichs ermöglicht. Als Hilfs-Iche werden die
Mitspieler des Protagonisten einer psychodramatischen Szene bezeichnet. Der Protagonist
wählt in der Regel Gruppenmitglieder für diese Rollen, in denen sie Teile der Umwelt und
der Struktur des Protagonisten repräsentieren. Die Hilfs-Iche stellen in Hinsicht auf den
Protagonisten, den Psychodrama-Leiter aber auch die anderen Gruppenmitglieder eine
wichtige therapeutische Hilfe dar. Zentrale Bedeutung hat im Prozess der Wandlung die
Erfahrung, eine Rolle für einen anderen zu übernehmen, den Protagonisten in seinem
Bemühen, sich darzustellen zu unterstützen und dabei im Mittelpunkt zu stehen. Bremers
These lautet, dass „gerade die psychodramatische Funktion des Mitspielers Bedingungen
in sich trägt, die den Widerstand gegen das Lockern und Infragestellen des oft hartnäckig
festgefahrenen Selbst-Bildes aufzuweichen und weiterer Bearbeitung zugänglich zu
machen imstande ist“ (ebd., S. 224). Die unterstüzend-aktivierende, entspannende und
tröstende Funktion, die die psychotrope Substanz bislang erfüllte, kann durch die Wirkung
des gesteigerten Selbstwert- und Gemeinschaftsgefühls substituiert werden. Den
theoretischen Hintergrund für diese Annahme liefert die Prosozial-Forschung, die
hauptsächlich experimentell-empirisch abgesicherte Aussagen darüber trifft, wie HilfeVerhalten gefördert bzw. verhindert wird und welche Auswirkungen das Helfen auf den
Helfer hat. Prosoziales Verhalten ist in hohem Maße vom Lernen am Modell gesteuert.
51
Der TTCT basiert auf dem Konzept des divergenten Denkens (Guilford). Die Probanden werden aufgefordert,
nicht die einzig richtige bzw. beste Lösung, sondern sich so viele Antworten wie möglich zu einem
Problem/einer Fragestellung zu finden. Der TTCT umfasst folgende Subkategorien kreativen Denkens:
Problemsensitivität, Flüssigkeit, Flexibilität, Redefinition und Elaboration.
89
Die psychodramatische Methode ist für diese Form der Entwicklung und Verstärkung von
Verhaltensmustern besonders geeignet (siehe Kapitel 3.8).
Krüger (1994) beschreibt in seiner Vignette vier psychodramatische Grundtechniken – die
Symbolbildung52, differenzierte Beziehungs- und Problemklärungen53, das Soziale Atom54
sowie Beziehungsskulpturen55, die den spezifischen Bedingungen Abhängiger besonders
gerecht werden.
Wöhrle (1994) stellt fest, dass im Psychodrama Innerpsychisches erlebbar gemacht und in
weiterer Folge neu gestaltet werden kann. Das psychische Erleben wird durch die
szenische Darstellung aktiviert. Frank-Trapp hat im Psychodrama die Möglichkeit
gefunden, „das Prinzip ,Abstinenz’ anschaulich darzustellen und seine Bedeutung über die
Suchtmittelabstinenz hinaus im Bewusstsein der Patienten zu verankern“ (Frank-Trapp,
1994, S. 273). Er lässt ein Gruppenmitglied die bei Abhängigen häufig sehr intensiv
vorhandenen und erlebten Impulse Angst und Antrieb mit Hilfe von Stühlen darstellen,
um so dem „Ich“ eine größere Bedeutung und mehr Einfluss auf das Handeln des
Abhängigen zu verschaffen.
Leutz (1973) betont, dass die Surplus-Realität, in der das Psychodrama-Spiel erfolgt, die
Auseinandersetzung mit der traumatisierenden Vergangenheit und den problembehafteten
Beziehungen in besonderer Weise ermöglicht. Groterath (1994) sieht ebenfalls die
Möglichkeit zur Vergangenheitsbewältigung mit Hilfe der psychodramatischen Therapie
als einen der wichtigsten Faktoren ihrer Arbeit mit Drogenabhängigen im Centro Italiano
di Solidarietà als auch in ihrer Praxis. Die beschreibt das „wahre zweite Mal“56 als einen
Weg, mit sich selbst wieder in Kontakt zu treten. Die meisten Drogenabhängigen erleben
bei der Reinszenierung vergangener Szenen, die mit ihrem Drogenproblem im
Zusammenhang stehen (z. B.: Straftaten begangen zu haben, andere zum Konsum bewegt
bzw. die Eltern belogen oder bestohlen zu haben) enorme Schuldgefühle. Groterath legt
großen Wert darauf, den psychodramatischen Prozess auf das Hier und Jetzt bzw. wenn
möglich sogar auf die Zukunft zu beziehen, um den Betroffenen eine Verarbeitung der
Schuldgefühle zu ermöglichen und eine Änderung einzuleiten.
Wood et al. (1979) beweisen in einer vergleichenden Studie am Navy Alcoholism
Rehabilitation Center die aktivitätssteigernde Wirkung der psychodramatischen Methode
52
Die psychodramatische Technik der Symbolbildung wird in Kapitel 3.11.9 beschrieben.
Diese Interventionsform ist auf die Gegenwart bezogen und dient der Klärung von aktuellen
Beziehungsproblemen. Den Rahmen für diese Technik bildet das Soziale Atom (Krüger, 1994).
54
Zur Technik des Sozialen Atoms siehe Kapitel 3.11.4.
55
Siehe Kapitel 3.11.13.
56
Diesen Begriff prägte Moreno in seinem Ausspruch „Jedes wahre zweite Mal ist die Befreiung vom ersten“.
53
90
in der Alkoholismusbehandlung (an Hand der Comrey Personality Scale). Des Weiteren
stellen sie fest, dass es im Verlauf der Therapie zu einer emotionalen Stabilisierung und
zur Förderung von empathischen Fähigkeiten, von Zuversicht und Vertrauen kommt57.
Speroff verwendet die psychodramatische Methode sowohl in der Gruppentherapie mit
Alkoholikern als auch in der Paar-Beratungen von Abhängigen und deren Ehefrauen. Sie
schildert die Wirkung des Rollentausches in diesem Setting als eine Technik, die dem
Alkoholiker einen emotionalen Zugang zu seinem eigenen Verhalten und zu seinen
Problemen, die er häufig (mit Hilfe des abhängigen Verhaltens) zu verdrängen versucht,
ermöglicht. Sie formuliert dies folgendermaßen: „As is well known, most alcoholics
repress and/or minimize much of their drinking experiences and its antecedent behavior;
and whether they employ a form of (what I prefer to call) “convenient amnesia” or actual
loss of recall for their actions, the point is they need to “see” themselves as others do – not
as they choose to see themselves” (Speroff, 1966, S. 216). Die Übernahme der Rolle der
Ehefrau führt laut Speroff in vielen Fällen zu einer emotionalen Reaktion und Einsicht,
die den Heilungsprozess fördert.
Waldhelm-Auer (1994a, S. 193) weist auf die Bedeutung spezifischer PsychodramaMethoden in Bezug auf die für Alkoholabhängige typische Psychodynamik – der
Abwehrmechanismen und Ich-Defizite hin. Sie betont in ihren Ausführungen die
kreativen Möglichkeiten, die Methodenvielfalt und die Variationsbreite des Psychodramas
im Sinne einer Ablösung von seiner klassischen Form zu Gunsten verschiedener
Abwandlungen, um der Psychodynamik der Abhängigkeitskranken besser gerecht werden
zu können. Waldhelm-Auer definiert die Therapieziele des Konzepts einer ambulanten
Entwöhnungstherapie in einer sozialen Beratungs- und Behandlungsstelle für Abhängige
unter Anwendung des Psychodramas folgendermaßen: oberstes Ziel ist eine dauerhafte
Abstinenz, weitere Zielkomplexe bestehen aus der Ich-Stabilisierung, der Förderung von
Selbstverantwortung und Selbstkontrolle, der Rollenerweiterung bzw. Nachreifung im
Sinne von Loslösung und Individuation, der Steigerung sozialer Kompetenz und der
(Wieder-)Erlangung der Arbeitsfähigkeit. Der Behandlungsplan, den Waldhelm-Auer in
Anlehnung an Truöl (1981) konzipiert hat, besteht aus 4 Phasen, die zeitlich flexibel (den
Bedürfnissen und Entwicklungsfortschritten der Gruppe individuell angepasst) gestaltet
werden können und fließend ineinander übergehen.
57
Die Studie Woods wird in Kapitel 3.1 beschrieben.
91
Abbildung 16: Behandlungsplan für Abhängigkeitserkrankungen in 4 Phasen
Quelle: Waldhelm-Auer, 1994b, S. 281
1.
Phase:
Gruppenbildung
Auseinandersetzung mit dem Suchtmittel
Themen:
Vertrauen in der Gruppe
Funktionen des Alkohols
2.
Phase
Auseinandersetzung auf der charakterologischen/individuellen Ebene
Themen:
Persönlichkeitsstruktur
Rollenrepertoire
Abgrenzung/Autonomie
3.
Phase
Konfrontation mit der aktuellen sozialen Situation
Themen:
Beziehungsstrukturen
Realitätsproben
4.
Phase
Loslösungs- und Abschiedsphase
Themen:
Abschiedssituationen
Loslösung vom Substitut
In
der
ersten,
symptomorientierten
Therapiephase
dienen
soziometrische
und
psychodramatische Anwärmtechniken einerseits der Schaffung eines diagnostischen
Überblicks, andererseits jedoch auch der Bildung emotionaler Beziehungen und einer
Vertrauensbasis unter den Gruppenmitgliedern sowie zwischen der Gruppe und den
Therapeuten. Die Arbeit in der Gruppe ist überwiegend auf das Thema psychotrope
Substanzen konzentriert. Es kommt auf Grund des gemeinsamen Symptoms zu
Solidarisierungen zwischen den Teilnehmern, eine Tatsache, die ihrerseits den Abbau von
Ängsten fördert. Die Auseinandersetzung mit der konsumierten Substanz findet vor allem
in der szenischen Darstellung konkreter Lebenssituationen statt. Diese Phase unterstützt
durch die Vertiefung der Krankheitseinsicht vor allem das Ziel der Abstinenz.
Die zweite Phase steht im Zeichen der Förderung der Regression an Hand von
Imaginationen
und
Phantasieübungen
mit
dem
Ziel
der
Nachreifung
und
Rollenerweiterung. Die Regression soll dazu führen (frühe) Abhängigkeitsmuster und
Beziehungsstörungen zu erkennen und den Zugang zu abgespaltenen Emotionen früherer
Entwicklungsstufen
zu
ermöglichen.
Unterstützend
wirken
in
dieser
Phase
psychodramatisch entwickelte Substitute für die psychoaktive Substanz. Als Beispiele für
Substitute im Sinne von Übergangsobjekten führt Waldhelm-Auer den Therapeuten als
92
Bezugsperson, die Psychodramagruppe, einen bestimmten, stützend wirkenden Raum oder
eine spezielle Arbeitsatmosphäre sowie ein Haustier an. Waldhelm-Auer legt Wert auf die
Unterscheidung zwischen destruktiven und psychisch wohltuenden Beziehungen und
Abhängigkeiten. Die in der Therapie erarbeiteten Substitute sollen bis zu dem Zeitpunkt,
an dem der Abhängige die für das Aufgeben der ,Stütze Alkohol’ notwendigen
Ressourcen aufgebaut hat zur Verfügung stehen, sie können jedoch auch als permanente
Lösung dienen.
Im dritten Therapieabschnitt sollen Rollenspiele dazu führen, die Gruppenmitglieder mit
ihrer aktuellen sozialen Situation zu konfrontieren. Diese Phase dient der Entwicklung
neuer Beziehungsmuster, Realitätsproben bereiten die Klienten auf zukünftige, zu
bewältigende Lebenssituationen vor.
In der letzten Therapiephase steht das Thema Trennung im Mittelpunkt, das bei
Abhängigen einen zentralen Problemkreis darstellt (Simonsen, 1990). Die Trennung vom
Übergangsobjekt und die Auflösung der Gruppe werden im psychodramatischen Spiel
vorweggenommen, frühere Abschiede werden thematisiert.
Die beschriebenen Berichte aus der Praxis sowie die Schlüsse, die von den Autoren
bezüglich
der
Anwendung
der
psychodramatischen
Methode
bei
Abhängigkeitserkrankungen gezogen wurden, machen deutlich, warum das Psychodrama
in diesem Bereich dermaßen häufig Anwendung findet und entsprechend positive
Ergebnisse liefert.
3.8 Wirkfaktoren psychodramatischen Arbeitens im Anwendungsfeld
Abhängigkeit
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass das Psychodrama in der Arbeit mit
Abhängigen vor allem deshalb besonders wirkungsvoll ist, weil es „den Möglichkeiten zu
psycho- wie soziotherapeutischer Intervention, gegenwartsbezogener aber genauso
biografisch explorativer wie zukunftserprobender, übender Arbeit und phantastischsymbolischer Aktion in besonderer Weise gerecht wird“ (Dudler, Jancovius & Voigt,
2000, S. 2). Petzold (1970) bezeichnet das Psychodrama als „multilaterales
therapeutisches Instrument“, das dem, in der Therapie von Abhängigkeitserkrankungen
bestehenden Bedarf an einer „totalen therapeutischen Atmosphäre“ als einzige Methode
entsprechen kann. Für ihn nimmt – in Ergänzung zu den oben angeführten
93
Interventionsmöglichkeiten – auch das informativ-pädagogische Moment einen wichtigen
Stellenwert in der psychodramatischen Behandlung ein.
Die Tatsache, dass das Psychodrama vor allem eine Gruppentherapiemethode darstellt, ist
ein Grund für die besondere Eignung in der Behandlung Abhängigkeitskranker, in der die
Gruppe als ein sehr bedeutsames therapeutisches Agens gilt. Petzold (1970) sieht
wesentliche Erfolge in der Therapie von Alkoholikern erst seit der Einführung
gruppentherapeutischer
Behandlungsmethoden.
Der
für
die
Behandlung
von
Abhängigkeitserkrankungen wichtige Ausgangspunkt der Motivation wird in der
Gruppentherapie mit Gleichgesinnten über die Krankheitseinsicht in erhöhtem Ausmaß
gefördert. Für viele Abhängige stellt die Tatsache, dass andere die gleichen Probleme und
Gefühle haben wie sie, eine völlig neue Erfahrung dar. Die Feststellung, dass sie in der
Gruppe akzeptiert und verstanden werden, hat positive Auswirkungen auf die soziale
Kompetenz der Gruppenmitglieder, die ihnen den Wiederaufbau und die Neugestaltung
ihrer durch die Abhängigkeit beeinträchtigten Beziehungen und die aktive Teilnahme an
Selbsthilfegruppen enorm erleichtern. Sowohl in Bezug auf das therapeutische Ziel der
Abstinenz als auch hinsichtlich der Häufigkeit an Rezidiven ist die Gruppentherapie der
Einzeltherapie in der Alkoholismusbehandlung überlegen (Petzold, 1971). Diese
Aussagen ähneln den Erfahrungen und Erfolgen der Gruppenarbeit der Anonymen
Alkoholiker.
Auch
Leutz
(1973)
betont
die
besondere
Wirksamkeit
von
Gruppentherapieformen in der Behandlung Abhängiger. Sie sieht diese These vor allem
darin begründet, dass „die Gruppe dem Hang der Betroffenen (der Abhängigen, Anm. d.
Verf.) zur Kommune, als Ausdruck ihrer Sehnsucht nach menschlichen Beziehungen, in
gewisser Weise entgegenkommt“ (ebd., S. 57). In der von Frank und Tauscher
veröffentlichten Statistik zur ambulanten Suchtrehabilitation der Psychosozialen
Beratungs- und Behandlungsstellen im Diakonischen Werk Württemberg führte die
Analyse der Daten von 1992 bis 1994 zur Feststellung, dass die Behandlungen der
Abhängigen überwiegend (zu 55 Prozent) in Gruppen durchgeführt wurden (Frank &
Tauscher, 1995, S. 16).
Für die Gruppentherapie im Allgemeinen werden nach Yalom (1974) 9 Wirkfaktoren
unterschieden:
 Aufklärung über Ziele und Ablauf der Gruppe
 Entwicklung von Hoffnung und positiven Erwartungen
 „Universalität des Leidens“
94
 Altruismus
 die korrigierende Wiederholung der primären Familiengruppe
 Erlernen sozialer Kompetenzen
 Beobachtungslernen
 Interpersonales Lernen
 Gruppenkohäsion.
Für einige der hier genannten Faktoren – dem Beobachtungslernen, dem interpersonalen
Lernen und dem Erlernen sozialer Kompetenzen – stellt die psychodramatische Methode
spezielle Techniken und Interventionsmethoden zur Verfügung, auf die in Kapitel 3.11.
eingegangen werden soll.
Die Betonung der Begegnung im Psychodrama fördert die soziale Kompetenz und in
weiterer Folge das Beziehungsnetz der einzelnen Gruppenmitglieder. Das direktive und
strukturierte Vorgehen des Therapeuten im Verlauf einer Psychodramasitzung kommt der
passiven Erwartungshaltung der Abhängigen entgegen und gibt Ich–schwachen Klienten
die nötige Unterstützung, um sich auf neue Erfahrungen und die Erprobung neuer
Handlungsmöglichkeiten im Schonraum der Gruppe einlassen zu können. Die Stärkung
der Ich-Funktionen im Psychodrama ist im Sinne einer verbesserten Selbst- und
Fremdwahrnehmung zu verstehen. Die in Kapitel 3.11 ausführlich beschriebenen Ichstützenden Interventionstechniken des Psychodramas können als zentrale Vorgehensweise
in der Behandlung Abhängiger betrachtet werden (Waldhelm-Auer, 1994a, Stimmer &
Gneist, 1987).
Das Psychodrama ist eine Aktionsmethode, die darauf abzielt, die Selbstverantwortung
der Gruppenmitglieder zu fördern. Häufig werden in der Therapie mit Abhängigen
Kontrollkämpfe mit rigiden Konzepten und Regeln ausgefochten, die die Ressourcen, die
Eigenaktivität, die Selbstkontrolle und die Möglichkeiten zur Begegnung und
Lebendigkeit stark einschränken (Brentrup, 1991). Die Spontaneität und der freie Wille,
die beim Abhängigen sehr eingeschränkt sind, können im Psychodrama mittels
Spontaneitätstrainings wiedererlangt werden.
Ein bei Abhängigen signifikant häufiger auftretendes soziales Defizit ist das der
Beziehungsstörungen, die im Psychodrama an Hand der im Spiel emotional durchlebten
Konflikt- und Problemsituationen aufgearbeitet werden können. Das handlungsorientierte
Vorgehen unterstützt die Abhängigkeitskranken dabei, sich aus der Fixierung an passivorale Erwartungshaltungen, erstarrte Rollenrepertoires und Beziehungsmuster zu lösen.
95
Die psychodramatische Methode regt die Phantasie, Selbständigkeit und Aktivität der
Gruppenmitglieder an und vermittelt echte emotionale Erlebnisse. Kreativität und
Ausdrucksfähigkeit
können
im
Psychodrama
deutlich
verbessert
werden.
Die
Rollenerweiterung bzw. (psychosoziale) Nachreifung stellt ein Psychodrama spezifisches
Therapieziel dar.
Ein weiterer wichtiger Aspekt in der Arbeit mit Abhängigen ist die Krankheitseinsicht, die
unmittelbar mit der Motivation zur therapeutischen Behandlung der Störung im
Zusammenhang steht. Im psychodramatischen Spiel kann das Wissen um die
Abhängigkeit sowie die Einsicht in die Zusammenhänge zwischen Persönlichkeitsstruktur
und der konsumierten Substanz besonders eindringlich vermittelt werden. Auch in diesem
Bereich
spielt
die
Gruppe
mit
den
vielfältigen
Identifikations-
und
Erfahrungsmöglichkeiten eine entscheidende Rolle.
In der Therapie von Abhängigkeitserkrankungen scheinen der Rollenwechsel zwischen
dem, der Hilfe annimmt und dem, der Hilfe anbietet sowie die mit dem
psychodramatischen
Spiel
verbundenen
Identifizierungsmöglichkeiten
wichtige
therapeutische Faktoren zu sein. Auch das Ansetzen an aktuellen Konflikten und Defiziten
– die Orientierung am „Hier und Jetzt“, trägt zur Ich-Stärkung bei. Ein Beitrag, den die
Psychodramatherapie in der Arbeit mit Abhängigkeitserkrankungen zusätzlich leisten
kann, ist die konkrete Auseinandersetzung mit der, für die Betroffenen charakteristischen,
Negativ-Rolle
des
„Abhängigen“.
Neue
Verhaltensweisen
im
Umgang
mit
problematischen oder konfliktreichen Situationen können spielerisch eingeübt werden,
was zu einer erhöhten Selbstakzeptanz führt.
Des Weiteren stellt das Psychodrama ein effektives Medium dar, über kathartische
Erlebnisse Zugang zu Emotions- und Affektblockaden zu bekommen.
In der Psychodrama-Literatur werden übereinstimmend die Ich-stützenden Techniken
sowie
der
kreative
Umgang
mit
Angst,
Abwehr,
Schuldgefühlen
und
Abgrenzungsproblemen als auch die Realitätsproben als für das Psychodrama
charakteristische und für die Therapie von substanzbezogenen Störungen sowie von
stoffungebundenen Abhängigkeitserkrankungen äußerst effektive Therapiebausteine
betrachtet, die auch von anderen psychotherapeutischen Schulen gezielt eingesetzt
werden.
Als primäres Therapieziel der Behandlung von Abhängigkeitserkrankungen wird in der
deutschsprachigen Literatur und Evaluationsforschung vorwiegend eine dauerhafte
96
Abstinenz genannt58. Weitere Zielkomplexe betreffen die Kompensation defizitärer
Persönlichkeitsentwicklungen in einem psychosozialen Nachreifungsprozess, die IchStabilisierung, die Steigerung der Selbstverantwortung und Selbstkontrolle sowie der
sozialen Kompetenz und der Arbeitsfähigkeit sowie die Aufdeckung möglicher Ursachen
der Abhängigkeit und deren psychotherapeutische Bearbeitung. Die psychodramatische
Methode bietet ein breites Spektrum an Techniken und Interventionsmethoden um
sämtliche Therapieziele der Behandlung von psychischen und Verhaltensstörungen durch
psychotrope Substanzen abdecken zu können.
3.9 Gefahren der psychodramatischen Methode
Das Verhalten des Abhängigen ist vor allem durch passive orale Erwartungshaltungen und
Versorgungswünsche geprägt. Unmittelbar mit diesen Wünschen scheinen passive
Anspruchshaltungen zusammenzuhängen, die oft dazu führen, sich in Beziehungen
abhängig zu machen und zu erleben. Habiger (1991) beschreibt den intendierten
therapeutischen Verlauf in der Behandlung Abhängiger als psychische Entwicklungslinie,
die mit symbioseähnlichen Zuständen beginnt und mit einer zunehmenden Individuation
zur Festigung der Identität als trockener Abhängiger endet. Häufig ist das Verhalten der
Betroffenen zu Beginn der Therapie regressiv und von der Bereitschaft zur Abgabe von
Verantwortung und der Erwartung von Zuwendung, Stützung, Führung und der Angst vor
Autoritäten
geprägt.
Diese
Grundtendenzen
von
Abhängigen
können
in
der
gruppentherapeutischen Arbeit für den Therapeuten sehr belastend sein. Nicht selten ist in
der therapeutischen Gruppe ein Klima von Stagnation, Lähmung und Zähigkeit
vorherrschend (Simonsen, 1990). Die für das Psychodrama charakteristische Förderung
von Aktivität und Kreativität wirkt dieser Haltung entgegen und ermöglicht es, die diese
orale Anspruchshaltung verursachenden regressiven Bedürfnisse bewusst zu machen.
In der Literatur wird dem Thema Regression im Zusammenhang mit der Therapie
abhängiger Klienten ein besonderer Stellenwert eingeräumt. Das Psychodrama ist – über
die Bildung einer „symbiotischen Gruppen-Struktur“ – besonders geeignet, einen
emotionalen Zugang zu frühkindlichen Bereichen zu finden und regressiven Bedürfnissen
Raum zu geben (Waldhelm-Auer, 1994a), jedoch besteht auch die Gefahr der
pathologischen Regression. Im Sozialen Atom wird die Vergangenheit ausschließlich
verbal behandelt, nicht gespielt – ein Konzept, das die pathologische Regression
58
Zu den therapeutischen Zielen bei Abhängigkeitserkrankungen siehe Kapitel 2.1.5.
97
vermeidet und „durch die Vollendung der kreativen Interaktion hin zu Tele-Beziehungen
die Patienten in die Progression führt“ (Krüger, 1994, S. 275).
Der Psychodrama-Therapeut hat in der Arbeit mit Suchtkranken darauf zu achten, nicht
durch psychodramatisches Agieren und der damit verbundenen Übernahme der
Verantwortung und Versorgung zum co-abhängigen Handlungspartner zu werden.
Eine weitere Gefahr besteht im Umgang mit dem hohen Aggressionspotential, das
Abhängigkeitskranke häufig haben. Einerseits ist es nötig, der Aggression in der Therapie
Raum zu geben, andererseits muss der Therapeut sich selbst und die Gruppe vor Angriffen
und Gefährdungen, die von aggressiven Gruppenmitgliedern ausgehen, schützen. Das
Psychodrama bietet Ansatzpunkte, mit den intensiven Emotionen umzugehen. Treten in
der Erwärmungsphase verbale Aggressionsäußerungen auf, so können diese in der
Spielphase thematisiert werden. In diesem Zusammenhang ist vor allem die Technik des
leeren Stuhls59 zu nennen. Der leere Stuhl bietet dem Betroffenen die Möglichkeit, seine
Aggression zu äußern, ohne diese auszuagieren. Die psychodramatische Bühne stellt einen
geschützten Raum dar, auf dem Emotionen auch handelnd ausgelebt und in weiterer Folge
untersucht und geklärt werden können. Wichtig ist dabei die Beachtung der Regel des
„als-ob“ (Frank-Trapp, 1994). Petzold (1971) hat aus seiner jahrelangen Erfahrung mit
Abhängigen heraus das Problem des Umgangs mit der Aggression in der Gruppentherapie
erkannt und in Folge dessen die Technik der psychodramatisch gelenkten Aggression
entwickelt, die in Kapitel 3.11.10 geschildert wird.
3.10 Widerstände gegen die psychodramatische Therapie
Prinzipiell kann festgestellt werden, dass gerade in der Therapie von Abhängigen mit
mannigfaltigen Widerständen zu rechnen ist. Verleugnungen und Rationalisierungen
spielen in diesem Zusammenhang eine entscheidende Rolle. Die Widerstände gegen die
psychodramatische Arbeitsweise sind vor allem in Hinblick auf die Therapieabbrüche
interessant. Truöl berichtet von einer Abbruchquote von 20 – 25% der Klienten in
stationärer Therapie bei Behandlungsbeginn – ein sehr hoher Wert, den er auf die
Widerstände der Abhängigen gegen das psychodramatische Arbeiten zurückführt. Er sieht
die Therapieabbruchquote als Beweis seiner These, „dass gerade zu Beginn der
Behandlung die therapeutischen Mittel besonders vorsichtig eingesetzt werden sollen“
(Truöl, 1981, S. 204). Truöl rät weiters dazu, die Anwendung verschiedener Techniken
59
Auf diese Technik wird in Kapitel 3.11 Bezug genommen.
98
des Psychodramas zu Beginn der Therapie ausschließlich in modifizierter Form (z.B. nur
mit Themenvorgabe) vorzunehmen.
Auf der Basis dieser Ergebnisse stellt sich die Frage, ob das Psychodrama bei bestimmten
Personengruppen in der Therapie von Abhängigkeitserkrankungen weniger geeignet ist
bzw. auf besonderen Widerstand stößt und inwieweit es im Stande ist, diese Widerstände
und Abwehrmechanismen zu bearbeiten und aufzulösen. Simonsen (1990) schildert
Erfahrungen aus ihrer Arbeit mit Alkoholikern, den zum Teil sehr langsamen und in
Zwischenstadien verlaufenden Abbau von Widerständen und die damit verbundene innere
Auseinandersetzung und Erlangung von Handlungskompetenzen deutlich macht.
Auch Göb (1994) beschreibt vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen aus der Praxis den
protektiven Widerstand und die ambivalenten Reaktionen der Drogenabhängigen auf das
psychodramatische Spielen.
In der Literatur wird in der Regel ein schrittweises therapeutisches Vorgehen in der Arbeit
mit Abhängigen empfohlen. Wöhrle (1994), die ihr Klientel in der Eingangsphase als
übersensibel, störanfällig und selbstunsicher charakterisiert, schlägt vor, von der aktuellen
Situation ausgehend soziometrische Verfahren als Einleitung für spätere Rollenspiele,
Vignetten und protagonistenzentrierte Psychodramen durchzuführen. Truöl (1981) leitet
das psychodramatische Spiel mit dem Einbau verschiedener psychodramatischer
Techniken (Rollentausch, Doppeln) in Gesprächssituationen ein. Göb verwendet in der
Anfangsphase vor allem die Doppelgängertechnik und rät für den weiteren Verlauf der
Therapie zu schonenden und (falls notwendig) mit Hilfsmitteln unterstützten Übergängen
zum psychodramatischen Spiel. Der Therapeut kann positive Effekte in der
Gruppendynamik durch das Erklären und Demonstrieren der Doppelgängertechnik in der
Gruppe erreichen. Das gegenseitige Doppeln in der Gruppe führt dazu, dass sich die
Klienten als „,therapeutisches Agens’ und als wichtiges Mitglied der Therapiegruppe“
(Göb, 1994, S. 184) verstehen.
Müller
(1986)
empfiehlt
folgende
zusätzliche
Behandlungselemente
um
die
Spielwiderstände möglichst gering zu halten: eine parallel zur psychodramatischen
Gruppentherapie verlaufende, verarbeitende und den Klienten entlastende Einzelberatung
sowie sachliche Inhalte zumindest am Beginn einer Psychodramagruppe, sowohl in der
warm-up Phase als auch am Anfang des protagonistenzentrierten Spiels.
Zu den Schwierigkeiten, die sich in der Anwendung der psychodramatischen Methode
ergeben
können,
sind
vor
allem
die
Beeinträchtigungen
der
intellektuellen
Leistungsfähigkeit sowie Veränderungen der Persönlichkeit im Sinne eines Folgeschadens
99
durch
langjährige
Einnahme
psychotroper
Substanzen
oder
im
Zuge
von
Entzugssymptomen zu nennen. Jedoch erweist sich auch in diesem Zusammenhang das
Psychodrama als nicht rein verbale Therapieform in der Praxis häufig als Methode der
Wahl.
3.11 Spezielle Techniken und Formen des Psychodramas – Beispiele
psychodramatischen Arbeitens mit Abhängigen
Im Verlauf einer Psychodrama-Sitzung können zahlreiche unterschiedliche Techniken zur
Anwendung
kommen.
Sie
werden
nach
Bedarf
unter
Berücksichtigung
der
psychodramatischen Grundregeln und der jeweiligen Ziele der Erwärmungs-, Spiel- und
Integrationsphase verwendet. Bonabesse (1970) stellt fest, dass „chaque auteur utilise les
techniques dans lequelles il se sent le plus à l´aise”60. Die Analyse der Praxisberichte aus
der Therapie mit Abhängigen hat jedoch ergeben, dass bestimmte psychodramatische
Techniken übereinstimmend als besonders wirksam hervorgehoben werden. Diese sollen
– auch an Hand von Beispielen – in diesem Kapitel beschrieben werden.
Die Arbeit mit der psychodramatischen Technik bedarf im Regelfall folgender fünf
Komponenten: der Gruppe (meist bestehend aus 7-9 Teilnehmern), des Protagonisten, d.h.
das, sein Problem darstellende, Gruppenmitglied, der auxiliary egos – Gruppenteilnehmer,
die als Hilfs-Iche am psychodramatischen Spiel partizipieren, eines PsychodramaTherapeuten als Gruppenleiter und einer Bühne. Die Bühne oder Spielfläche sollte sich
etwas abgerückt vom Gruppenkreis befinden, um die besondere Situation des
psychodramatischen Spiels, die Surplus-Reality, bewusst zu machen (Vater, 1994). Die
Gestaltung der räumlichen Situation erfolgt über Einfälle der Gruppenmitglieder oder des
Protagonisten und stellt einen wichtigen Bedingungsfaktor der psychodramatischen
Therapie dar.
Die
in
den
verschiedenen
Phasen
verwendeten
Techniken
stellen
Interventionsmöglichkeiten dar, die die Quantität der zwischen den Gruppenmitgliedern
stattfindenden Interaktionen mit therapeutischem Effekt erhöhen sollen (ZeintlingerHochreiter, 1996). Man unterscheidet entsprechend dem Verlauf einer Psychodrama-
60
Jeder verwendet die Techniken, mit denen er sich am wohlsten fühlt (freie Übersetzung d. Verf.)
100
Sitzung Erwärmungs-, Handlungs- und Abschlusstechniken. Eine Psychodrama-Sitzung
dauert in etwa 1,5 bis 3 Stunden.
Die Erwärmungsphase auch Initial-, Anwärm- oder warming-up Phase dient der
Vorbereitung der Gruppenmitglieder auf die Spielphase. Der Erwärmungsprozess gilt in
der psychodramatischen Theorie als die erste Erscheinungsform der Spontaneität –
Spontaneität wird am Erwärmungsprozess gemessen (Göb, 1994). Das Auftreten von für
Abhängige
charakteristischen
Widerständen
und
Abwehrmechanismen
wie
Rationalisieren, Diskutieren und Lamentieren kann nach Petzold (1970) vermieden
werden, wenn bereits in der Erwärmungsphase von Seiten des Therapeuten besonders
darauf geachtet wird, Empathie und echtes Interesse für die Probleme des Betroffenen zu
zeigen. Truöl (1981) sieht in der Anwärmphase die Möglichkeit, die Belastbarkeit der
durch den Entzug der psychotropen Substanz emotional instabilen Klienten einschätzen
und therapeutische Interventionen auf die jeweilige Befindlichkeit abstimmen zu können.
Ziele sind die Aktivierung der Gruppe und das gemeinsame Entwickeln eines Themas, das
in der Sitzung behandelt werden soll. Unterstützt wird dieser Vorgang häufig mit Hilfe
von „Startern“. Man unterscheidet (Zeintlinger-Hochreiter, 1996):
 Persönliche Starter, bei denen sich die Erwärmung durch spontane Interaktionen und
der Belebung interpersoneller Beziehungen in der Gruppe entwickelt. Mit Hilfe der
Technik des Rollentauschs (mit einem Gruppenmitglied oder einer abwesenden
Person) können Prozesse dieser Art gefördert werden.
 Körperliche Starter, bei denen die Erwärmung durch physische Betätigung erfolgt. Zu
den
Erwärmungstechniken
mit
überwiegend
körperlichen
Mitteln
zählen
pantomimische Darstellungen des aktuellen psychischen Zustandes, die Nachahmung
von Bewegungen, Bewegungsspiele, Tanz u. Ä. Auf Abhängigkeit übertragen können
Entzugserscheinungen als äußerst starke körperliche Starter betrachtet werden, die
einen Erwärmungsprozess in Richtung Konsum der psychotropen Substanz einleiten.
 Bei den Psychischen Startern kommt die Erwärmung durch psychische Vorgänge zu
Stande. In diesem Kontext häufig verwendete Techniken sind das Blitzlicht61,
Imaginationen, Identifikationen, Assoziationen, Beschreibung von fiktiven und realen
Ereignissen. Der „leere Stuhl“ stellt eine weitere, sehr bekannte Technik zur
Förderung der Imagination dar, bei der ein Stuhl vor die Gruppe gestellt wird und dazu
aufgefordert wird, sich eine beliebige Person, ein Tier oder einen Gegenstand darauf
61
Beim Blitzlicht teilt jedes Gruppenmitglied seine momentane emotionale Befindlichkeit mit.
101
vorzustellen. In der Arbeit mit Abhängigen kann auch die psychotrope Substanz durch
den
Leeren
Stuhl
symbolisiert
werden.
Groterath
(1994)
schildert
diese
psychodramatische Intervention in der Arbeit mit Drogenabhängigen als bewährte
Technik der Erwärmungsphase. Duffy (1990) beschreibt den Leeren Stuhl als
Methode, dem Betroffenen seine Abhängigkeit sowie die zentrale Rolle der Droge in
seinem Leben bewusst zu machen – als Möglichkeit zur psychodramatischen
Begegnung mit der Droge. Häufig bildet der Leere Stuhl den Ausgangspunkt für kurze
psychodramatische Spielsequenzen. Duffy schildert ein Beispiel aus der stationären
Therapie mit Drogen- und Alkoholabhängigen:
The director62 set out an empty chair and instructed group members to visualize the drug(s) that
brought them into treatment. Debra said that she couldn`t do it – she only drank those little bottles.
She said that the man in the liquor store asked why she didn`t buy a big bottle, as it was much
cheaper, but she didn`t need that much. She only came to the treatment program because of pressure
from her daughters. It was difficult to ignore those little “nips”, however, when they became real life
characters (played by 5 small group members). They surrounded her and spoke about being with her
every day, so tiny, so insignificant, never-mind-me. Debra cried, admitting that she drank right after
her children left in the a.m. and tried desperately to sober up by 4 p.m. when they returned each day.
Weiner (1966) beschreibt die Anwendung von Handpuppen in der Erwärmungsphase
als sehr effektive Methode:
Especially interesting was the use of puppets in warm-up with patients who are resistant and whose
self-image is miserable. In experiences with a group that was reforming, new women were not yet
integrated into the group, the resistance level was very high. At this point hand puppets were
introduced as a ´game` type of a ´safe` situation. This permits the new members to the group to speak
freely through the animals and at the same time seasoned members of the group are permitted to use
some of the human puppets (i.e. King, Queen, Magician) to ventilate hostility or point out areas of
difficulty on the ward.
At times animals will double for each other, on other occasions serve as a disguise for the patients`
real feelings. A very representative incident is one in which one woman took the ´lamb` but was
quickly identified by the other members of the group as a ´wolf in sheep`s clothing`. This lead easily
and directly into a psychodrama session.
On other occasions when the entire group is feeling neglected, no one will touch the human puppets
but instead will pick up the animals and become ´baby` animals and all want to be fed.
62
Der Leiter der psychodramatischen Gruppe.
102
The particular puppet displayed at this Congress 63 was that of the ´Drunk` which is taken to meetings
and employed as a provocateur enacting in either a complaining, not wanting treatment manner or an
advocate of A.A., depending on the particular group. Members respond with their own particular
complaints or identifications; feelings are ventilated and movement started (ebd., S. 161).
 Unter Psychochemischen Startern versteht man leichte Drogen wie Kaffee, Alkohol
(bei Abhängigen nicht zu empfehlen) u. Ä., die die Erwärmung fördern.
Auch das Soziale Atom64 kann als Erwärmungstechnik angewendet werden. Stimmer
(2000) beschreibt das Verfahren der „Soziometrischen Landkarte“ als Technik für die
Erwärmungsphase, bei dem in einer spielerischen Form die bestehenden Vorerfahrungen,
Wünsche und Erwartungen der Gruppenmitglieder transparent gemacht sowie erste
Kontakte ermöglicht werden können. Er schildert diese Technik anhand eines Beispiels
aus der Therapie mit Abhängigen (Stimmer, 2000, S. 178):
Die Teilnehmer stehen von ihren Plätzen auf und ordnen sich auf einer gedachten Diagonale bezogen
auf bestimmte Themen zwischen den beiden Polen zu. Bei einer Gruppe von Pflegeeltern, die vom
Jugendamt bezüglich ihrer Rechte und Pflichten beraten werden, könnte eine Eingangsfrage lauten:
„Wie groß sind meine Kenntnisse zu diesem Thema?“. Der eine Pol wäre dann mit „überhaupt keine
Ahnung“, der andere mit „ich bin Experte auf diesem Gebiet“ zu bezeichnen. Eine weitere Frage
könnte sein: „Was erwarte ich von dieser Beratung?“. Die Teilnehmer gehen in den Raum, sprechen
über den Stand ihrer Kenntnisse und über ihre Erwartungen und ordnen sich dementsprechend
einander zu, so dass ein lebendiges Bild der Kenntnis- und Erwartungsschwerpunkte erkennbar wird
und u. a. auch dem Berater Sicherheit gibt, mit seinen Inhalten nicht daneben zu liegen oder sie eben
noch auf die Bedürfnisse der Teilnehmer abstimmen zu können.
Nach diesem Prozess der Anbahnung eines Psychodramas folgt die Spielphase (auch
Handlungs-
oder
Aktionsphase),
in
der
die
szenische
Darstellung
auf
der
Psychodramatischen Bühne erfolgt. Die spontane szenische Darstellung kann sich auf
unterschiedlichen
Ebenen
abspielen:
ursachenbezogen-vergangenheitsorientiert
konfliktbezogen-gegenwartsorientiert,
oder
verhaltensmodifizierend-
zukunftsorientiert. In der Spielphase kommen die ab Kapitel 3.11.1 beschriebenen
psychodramatischen Techniken zur Anwendung. Je nachdem, wie die Aufwärmprozesse
verlaufen sind, kann das psychodramatische Spiel personorientiert, themenzentriert,
gruppengerichtet oder gruppenzentriert verlaufen. Das protagonistenzentrierte Spiel kann
63
Die geschilderte Szene stammt aus einem Artikel (Weiner, 1966), der eine Zusammenfassung von
Tätigkeitsberichten liefert, die am 2. International Congress of Psychodrama in Barcelona vorgestellt wurden.
103
als vertiefender Einstieg in die individuelle Problematik des Abhängigen betrachtet
werden, wobei ein Vorgehen auf drei Ebenen möglich ist (Truöl, 1981):
 auf der Symptomebene, wobei die psychologische Bedeutung der psychotropen
Substanz bzw. des abhängigen Verhaltens im Vordergrund steht,
 auf der charakterologischen Ebene, die primär auf die Klärung des
pathodynamischen Zusammenwirkens von der Substanz und der individuellen
Charakterstruktur des Betroffenen abzielt und der
 sozialen Ebene, bei der das Hauptaugenmerk auf die Bedeutung sozio-kultureller
Einflüsse auf die Entwicklung und Aufrechterhaltung abhängigen Verhaltens
gelegt wird.
In der themenzentrierten Psychodrama-Therapie werden Erlebnisse zu einem bestimmten
Thema, das die gesamte Gruppe betrifft, von einzelnen Gruppenteilnehmern dargestellt. In
Gruppen mit Abhängigen ist diese Vorgehensweise häufig anzutreffen. Die wichtigsten
Themen sind in diesem Zusammenhang Abstinenz, Suchtmittel und Rückfall. Beim
gruppengerichteten psychodramatische Spiel stellt der Protagonist Szenen aus seinem
Leben dar, mit denen sich sämtliche Gruppenmitglieder identifizieren können. Im
gruppenzentrierten
Verlauf
werden
die
sozio-emotionalen
Beziehungen
der
Gruppenteilnehmer psychodramatisch bearbeitet.
Die Integrationsphase (Abschluss-, Feedback- oder Gesprächsphase) stellt die
Nachbesprechung des psychodramatischen Spiels dar, kann jedoch auch zur Erwärmung
eines oder mehrer Gruppenmitglieder führen und somit die Funktion der Initialphase
erfüllen. In der Abschlussphase stehen das Mit-Teilen und das Mit-Fühlen der Mitspieler
und Zuschauer des psychodramatischen Spiels sowie die darauf folgende Analyse, das
Verstehen und Integrieren auf der persönlichen sowie auf der Gruppenebene im
Vordergrund. Das Feedback kann in unterschiedlicher Art erfolgen. Die wichtigsten
psychodramatischen Abschlusstechniken sind
 das Sharing, bei dem die Gruppenmitglieder eigene biographische Erlebnisse und
Erfahrungen, die den Inhalten der Handlungsphase entsprechen oder ähneln, mit dem
Protagonisten teilen,
 das Rollen-Feedback, bei dem sowohl der Protagonist als auch die Hilfs-Iche ihre in
der jeweiligen Rolle erlebten Gefühle mitteilen und das
64
Zur Technik des Sozialen Atoms siehe Kapitel 3.11.4.
104
 Identifikations-Feedback, bei dem die Gruppenmitglieder ihre Identifikationen mit
einer oder mehreren, in der Spielphase dargestellten Rollen verbalisieren.
Die Abschlusstechniken sind als Abschnitte der Integrationsphase zu verstehen, die jedoch
in beliebiger Reihenfolge – unter Berücksichtigung der Wünsche des Protagonisten –
erfolgen können. Einige Autoren (Leutz, 1973 & Petzold, 1971) weisen auf der Basis
langjähriger Erfahrungen mit der Behandlung von Abhängigen darauf hin, dass
Abschlusstechniken
Therapeutenfeedback)
(vor
mit
allem
das
analytische
Zurückhaltung
oder
angewendet
analytisch-interpretierende
werden
sollen,
da
die
Nachwirkungen des Erlebten und in weiterer Folge der therapeutische Effekt des
psychodramatischen Spiels durch Rationalisieren und Analysieren beeinträchtigt werden
können. Petzold (1970) stellt fest, dass der Integrationsphase bei Abhängigen besondere
Bedeutung zukommt. Die in der Spielphase entwickelten Spannungen und Emotionen
können, falls sie nicht in ausreichender Form in der Abschlussphase abgebaut werden
konnten, zu Rückfällen führen. Weiters besteht die Gefahr, dass sich die Erregung erst
nach der Gruppentherapie aufbaut. Vor diesem Hintergrund hat Petzold die
Abschlusstechnik der Hypno- oder Signalbilder entwickelt, die in Kapitel 3.11.10
beschrieben wird. Als Einleitung zu dieser Technik empfiehlt er am Ende jeder
Therapiesitzung mit Abhängigen eine halbe Stunde Selbstentspannung mit autogenem
Training mit bewährten Formeln wie „Ich trinke keinen Alkohol, zu keiner Zeit, an
keinem Ort, bei keiner Gelegenheit“ oder „Alkohol ist ganz gleichgültig“.
Im Folgenden sollen jene Techniken der psychodramatischen Gruppentherapie mit
Abhängigen vorgestellt werden, bei deren Anwendung die spezifischen Bedingungen
abhängiger Menschen besondere Berücksichtigung finden.
Die
bekanntesten
psychodramatischen
Techniken
der
Spielphase
–
auch
Handlungstechniken genannt – sind der Rollentausch, der Doppelgänger, das Doppeln,
das Spiegeln und das Selbstgespräch. In der Literatur werden die folgenden Techniken als
für die speziellen Anforderungen in der Therapie von Abhängigkeitskranken besonders
geeignet angeführt bzw. ihre Modifikation für dieses spezielle Anwendungsgebiet
beschrieben. Zur detaillierten Einsicht in die psychodramatische Methode und zum
besseren Verständnis wird die Schilderung der einzelnen Techniken mit Beispielen aus
der Praxis vertieft.
105
3.11.1 Der Rollentausch
Der Rollentausch ist eine Technik, ohne die ein psychodramatisches Spiel nicht möglich
ist. Es gibt zwei Formen des Rollentausches – den Rollentausch zweier anwesender
Personen, sowie den Rollentausch mit nicht anwesenden Personen. Die nicht anwesende
Person wird dabei von einem Hilfs-Ich dargestellt. Der Rollentauschpartner des
Protagonisten wird von diesem selbst als Hilfs-Ich für die Verkörperung nicht anwesender
Personen gewählt. Das Hilfs-Ich kann jedoch auch Gegenstände, die eine besondere
Wertigkeit für den Protagonisten haben, zur Darstellung bringen.
Entscheidend beim Rollenspiel ist, dass sowohl das Hilfs-Ich als auch der Protagonist in
der Rolle des Gegenspielers dessen Haltung, Stimmlage, Gestik und Wortlaut nachahmt.
Das Rollenspiel fördert die Empathie für die Rolle des Anderen und eignet sich zum
Abbau von Widerständen und Abwehrhaltungen des Protagonisten, sowie zur IchStärkung. Gerade in kritischen Therapiesituationen eignet sich der Rollentausch als
Instrument zur Wiedererlangung der Kontrolle. Des Weiteren ermöglicht diese Technik
das Einnehmen der Position des anderen und bewirkt somit die nötige kritische Distanz,
um die eigenen Verhaltensweisen besser wahrnehmen und bewerten zu können. Häufig
hat der Rollentausch erstaunliche Verhaltensänderungen zur Folge. Es kann zu einem
kathartischen
Emotionsausbruch
kommen,
der
neue
Bewältigungsmechanismen
hervorbringt (Petzold, 1970). Das eigene Selbstverständnis kann durch den Rollentausch
vertieft oder erneuert werden. Die Technik des Rollentausches hat sich vor allem auch bei
der Bearbeitung von Beziehungskonflikten bewährt. Als Beispiel für diese Technik soll
folgende Fallvignette, bei der es um die Beziehungsstörung eines Ehepaares geht, dienen.
Der Konflikt zwischen dem Abhängigen und seiner Frau äußert sich während eines
Angehörigenseminars in einem Streit:
Die Frau überschüttete ihren Mann mit Vorwürfen, dass er zu wenig auf sie eingehen würde,
überhaupt zu wenig Verständnis und Liebe für sie zeige. Diese Interaktion zwischen den Eheleuten
war der Ausgangspunkt für das folgende kurze Spiel. Die szenische Rekonstruktion lieferte den
Anlass
für
die
weitreichende
Schlussfolgerung
der
Frau:
ein
kurz
vor
Beginn
des
Angehörigenseminars geführtes Telefongespräch. Der Mann hatte von seiner Frau eine Absage
erhalten (sie könne ihn am Wochenende nicht besuchen) und war dabei so in Rage geraten, dass er
die Frau beschimpfte und ihr androhte, sich in der nächsten Kneipe vollaufen zu lassen. Er schmiss
den Telefonhörer hin, während die Frau zu Hause weinend saß. Soweit die Spielszene.
Der im psychodramatischen Spiel eingesetzte Rollentausch hilft, die Partner aus der Rollenfixierung
zu lösen, und ermöglicht einen Einstieg in die fremdseelige Welt des Partners. Im Rollentausch
106
erleben beide Partner die Gefühle des anderen: der Mann in der Rolle der Frau Angst und
Unsicherheit; die Frau in der Rolle des Mannes Ärger und Wut über die Absage der Frau. Beide
Partner können so die Ursache dieser Beziehungsstörung erkennen, die im Gefühlsbereich wurzelt,
im Gefühl gegenseitiger Abhängigkeit. Diese Beziehungsklärung vertieft die extreme Verletzlichkeit
und Kränkbarkeit ihres Mannes, der Mann nimmt die geringe Belastbarkeit und erhöhte Angst seiner
Frau wahr. Nach dieser Beziehungsklärung ist es jedoch auch notwendig, neues Verhalten
auszuprobieren, um in der Zukunft ähnliche Beziehungsstörungen vermeiden zu können. In einem
neuerlichen Rollenspiel versucht der Protagonist, in einer ähnlichen Situation (die Frau versagt ihm
den Wunsch) anders zu reagieren, und entdeckt dabei neue Reaktionsmöglichkeiten bei sich selbst. In
einem dritten Anlauf verhält er sich in einer Weise, welche den Beifall der ganzen Gruppe findet. Auf
die Absage hin antwortet er: „Ich kann schon verstehen, dass du zu kaputt bist, um kommen zu
können; aber du musst auch verstehen, dass ich ziemlich enttäuscht bin, nachdem ich mich so auf
unser Wiedersehen gefreut habe.“ (Truöl, 1981, S. 213/214).
Aus entwicklungspsychologischer Sicht entspricht das „role-taking“ dem Stadium der
Du-Erkenntnis und wird von Kindern im Spiel erprobt und geübt. Der Rollentausch ist als
Basis für eine gelingende menschliche Kommunikation zu betrachten, die im
Psychodrama weiterentwickelt und gezielt eingesetzt wird (Ottomeyer, 1987).
3.11.2 Das Doppeln
Der
Methode
des
Doppelns
wird
in
der
psychodramatischen
Therapie
mit
Abhängigkeitskranken ein zentraler Stellenwert beigemessen. Man unterscheidet
zwischen Doppeln und Doppelgänger, wobei das Unterscheidungskriterium in der Dauer
des Einsatzes der Technik liegt. Der Doppelgänger steht dem Protagonisten das gesamte
Spiel hindurch als Unterstützung zur Seite. Das Doppel (oder der Doppler) kommt nur
kurz zum Einsatz. Sowohl der Doppelgänger als auch das Doppel werden meist vom
Protagonisten ausgewählt, es kann sich jedoch auch jedes Gruppenmitglied für diese Rolle
anbieten oder vom Psychodrama-Leiter, der seinerseits auch doppeln kann, eingesetzt
werden. „Der psychodramatische Doppelgänger ist eine Hilfs-Person, die in der Lage ist,
sich in den Patienten einfühlen zu können, dieselben Handlungen, Gefühle und Gedanken,
auch dieselbe Art der Verkörperung darzustellen, wie sie der Patient zeigt (...)“ (Moreno,
1993, S. 85/86). Das therapeutische Ziel dieser psychodramatischen Technik besteht in
der Klärung der Emotionen und Kognitionen des Protagonisten.
Bei beiden Varianten befindet sich die doppelnde Person seitlich hinter dem Protagonisten
und versucht, sich mit ihm zu identifizieren, um artikulieren zu können, was dieser in der
betreffenden Situation nicht ausdrücken kann, was er nicht oder zu wenig genau weiß oder
107
nicht fähig ist zu verbalisieren. Das für das Doppeln notwendige Nachahmen der
Körperhaltung des Protagonisten soll dem Doppel die Annäherung an die Gefühle des
Protagonisten erleichtern. Der Protagonist kann der Darstellung des Dopplers zustimmen
oder diese auch ablehnen.
Die Technik des Doppelns ist im Gegensatz zum Spiegeln und dem Rollentausch wenig
konfrontativ. Es schafft Vertrauen und Gemeinsamkeit und kommt den Bedürfnissen nach
Nähe entgegen. In der Therapie mit Abhängigkeitskranken kommt vor allem der Ichstützenden Wirkung des Doppelns große Bedeutung zu. Das Stützende Doppeln – eine der
zahlreichen Varianten des Doppelns – zielt speziell auf diese Funktion ab. Der Doppler
wiederholt bei dieser Technik wortwörtlich die Aussagen des Protagonisten und vermittelt
ihm dadurch ein Gefühl der Sicherheit.
Das Doppeln bietet des Weiteren die Möglichkeit, an frühkindliche Erfahrungen
anzuknüpfen. Ontogenetisch entspricht das Doppeln der Phase der frühesten Kindheit, in
der dem Neugeborenen ein Hilfs-Ich in Form der Bezugsperson zur Seite steht. Es können
Gefühle des Einsseins mit anderen wiedererlebt werden. Der Protagonist kann beim
Doppeln eine Reaktivierung der frühen Mutter-Kind-Beziehung – der Phase der AllIdentität – erfahren, die es ihm ermöglicht, in der nachzuholenden Ich-Entwicklung Nähe
und Sicherheit zu erfahren (Waldhelm-Auer, 1994b).
Bezogen auf die oben genannten Hypothesen Göbs zur Drogenabhängigkeit65 stellt die
Technik des Doppelns eine Möglichkeit dar, die Ängste und Unsicherheiten der
Trennungsphase von All-Identität zur All-Realität durch positivere Gefühle zu ersetzen
und somit die Spontaneität zu fördern.
Bei den verschiedenen Varianten des Doppelns erfährt der Protagonist in der aktiven
Rolle das Erleben eines Gefühls des Geben-Könnens und des Bereichert-Werdens. Angst
und Unsicherheit werden reduziert – ein Prozess, der positive Auswirkungen in Bezug auf
die Spontaneität des Protagonisten zeigt. Der Protagonist kann jedoch auch ablehnend auf
die Äußerungen des Doppelgängers reagieren, wodurch neue, im psychodramatischen
Spiel zu bearbeitende Aspekte auftauchen können.
Petzold (1970) schildert ein Beispiel für die Doppelgängermethode aus seiner Arbeit mit
Alkoholikern, bei dem der Protagonist unter dem ständigen Streit zwischen seiner Mutter
und seiner Frau leidet. In diesem kurzen Ausschnitt aus einer Therapiesitzung wird auch
deutlich,
wie
der
Psychodramaleiter
(als
Doppelgänger)
mit
Hilfe
der
Doppelgängertechnik therapeutisch-direktiv Einfluss auf die Situation nehmen kann – eine
65
Siehe Kapitel 3.6.2.
108
Möglichkeit der psychodramatischen Methode, die in der Therapie mit Abhängigen
häufiger als bei anderen Patientengruppen angewendet wird:
D1:
Aber warum ist das immer so? Ich muss mir über den Grund des Streites klar werden!
P:
Elisabeth versteht Mutter eben nicht. Aber mit ihr ist ja auch oft schwer auskommen. Ich gerate
mit ihr ja auch oft aneinander. Aber schließlich ist sie meine Mutter.
D1:
Mute ich Elisabeth da nicht zu viel zu? Eine junge Frau will doch ihren eigenen Haushalt
haben und nicht immer bevormundet werden.
P:
Ja, das ist es. Eigentlich habe ich es immer für selbstverständlich gehalten, dass Elisabeth mit
zu Hause lebt. Mutter hat ihr Zimmer, und die restliche Wohnung ist doch groß genug für uns.
D1:
Aber es ist doch die Wohnung von Mutter, und sie führt ja auch das Regiment.
P:
Für Elisabeth ist das nichts. Der Ärger wird ja immer schlimmer. Sie will ja auch Kinder
haben, aber nicht bei uns, hat sie gesagt, und Mutter wünscht sich so sehr Enkelkinder.
D1:
Wie soll das erst bei der Erziehung werden? Ich muss irgendeine Lösung finden, schließlich
bin ich mit Elisabeth verheiratet und nicht mit meiner Mutter.
P:
Das ist eigentlich wahr. Aber ich kann doch nicht von Mutter weggehen.
D1:
Aber Elisabeth geht doch daran kaputt und meine Ehe und ich selbst auch.
P:
Ich sehe da keinen Ausweg.
Der Protagonist bleibt verbissen schweigend stehen. Hat den Blick gesenkt und nimmt kein Angebot
des Doppelgängers mehr auf.
In dieser Situation kommt die multiple Doppelgängermethode zum Einsatz. Für
Abhängige charakteristische ambivalente Tendenzen können mit dieser bewusst gemacht
und aus-gespielt werden (die Doppelgänger vertreten die gegensätzlichen Tendenzen).
Verantwortungs- und Selbstwertgefühl steigen, persönliche Entscheidungen können
erleichtert werden:
D1:
Vielleicht wäre es gut, wenn wir uns eine eigene Wohnung nehmen würden.
P:
schweigt
D2:
Und Mutter, ich kann sie doch nicht allein lassen.
D1:
Ich werde sie ja gar nicht allein lassen. Aber ich brauche doch nicht wie ein kleiner Junge
immer an ihren Rockzipfeln zu hängen.
D2:
Mutter hat immer alles geregelt, und immer ist alles gut gelaufen.
D1:
Aber ich bin doch erwachsen. Ich bin doch selbständig genug, meine Sachen alleine zu regeln.
Im Büro tue ich das doch auch. Ich muss endlich einmal zeigen, dass ich selbständig bin und
allein meinen Mann stehen kann. Das wäre für alle besser. Letztlich auch für Mutter.
D2:
Ich kann doch nicht einfach mit Elisabeth ausziehen. Was wird Mutter dazu sagen?
109
D1:
Ich kann es wohl tun. Ich muss es sogar tun. Ich will nicht länger von ihr unterdrückt werden.
Immer macht sie es so. Mit Vater hat sie es genauso gemacht. Immer hat sie ihn unter dem
Pantoffel gehalten.
P:
(laut schreiend) Ja, ja, ja! Ich will nicht mehr! Ich kann diese Spannung nicht länger ertragen!
Ich muß da raus! Ich kann mich doch nicht nur immer besaufen! Ich muß raus! Ich will frei
sein! Ich will endlich ich sein, hört ihr? Ich will ich sein!
Der Protagonist wird von dem Hilfs-Ich, das D1 gespielt hat, auf seinen Stuhl geführt und beruhigt
sich allmählich. Der Therapeut leitet das Gruppengespräch über die vorangegangenen Szenen ein.
Die Gruppe und der Protagonist kommen zu dem Ergebnis, daß eine Lösung der Schwierigkeiten und
auch des Problems des Trinkens nur möglich ist, wenn sich der Patient von der Mutter löst. Der
Patient faßt mit der Gruppe den Entschluß, die Sache in die Hand zu nehmen, sich um die
Beschaffung einer Wohnung zu kümmern (…) Der Protagonist kommt deshalb mit der Gruppe zu
dem Entschluß, daß er im Hinblick auf die bevorstehende aktive Auseinandersetzung mit seiner
Konfliktsituation unbedingt den Alkohol meiden muß (ebd., S. 395/396).
Weitere
ich-stützende
Techniken
sind
die
Reproduktion
positiver
Vergangenheitserlebnisse sowie das anerkennende Behind-your-back-Gespräch der
Psychodramagruppe (siehe nachfolgendes Kapitel).
3.11.3 Der psychodramatische Spiegel
Das Spiegeln oder der psychodramatische Spiegel ist eine konfrontative Technik, die eine
Vertrauensbasis in der Gruppe voraussetzt und hohen aufdeckenden Charakter hat. Die
Gefahr, den Protagonisten zu verletzen und die Gruppe zu sprengen ist bei dieser Technik
besonders groß, weshalb sie vorsichtig eingesetzt werden muss. Ähnliche Wirkung erzielt
die Hinter-dem-Rücken-Technik (behind-your-back), die weniger konfrontativ ist und in
der Regel vor der Spiegeltechnik eingesetzt wird. Bei dieser psychodramatischen Technik
unterhält sich die Gruppe in symbolischer Abwesenheit des Protagonisten über dessen
Verhalten und seine Wirkung auf die Gruppe.
Die Spiegeltechnik kann sowohl auf der Bühne, als auch als eigenständige Technik
angewandt werden. Der Protagonist wird durch die übertreibende Nachahmung (der
Körperhaltung oder typischer Sätze) durch das Hilfs-Ich mit der eigenen Handlungsweise
konfrontiert und kann diese kommentieren. Die übrigen Gruppenmitglieder schließen sich
an – in weiterer Folge stehen mehrere Spiegelbilder des Protagonisten im Raum.
Bei einer weiteren Variante der Spiegeltechnik wird die Gruppe geteilt. Die beiden
Untergruppen wählen ein Mitglied der jeweils anderen Gruppe und spiegeln diesen. Das
110
Spiegeln ermöglicht es dem Protagonisten, sich seines Verhaltens und dessen Wirkung
bewusst zu werden und steigert seine Kritikfähigkeit. Die Technik zielt darauf ab „die
sogenannten blinden Flecke in der Selbstwahrnehmung bewusst und dem Klienten als
Wissen verfügbar zu machen“ (Truöl, 1981, S. 215). Cuvelier & Mattheeuws (1970)
sprechen von der „Metaidentität“ des Abhängigen, die es dem Betroffenen verunmöglicht,
sich selbst in realistischer Form wahrzunehmen oder darzustellen. Seine abnormen
Verhaltensweisen, seine Egozentrik und Aggressivität können ihm mit der Technik des
Spiegelns bewusst gemacht werden. Der Protagonist hat die Möglichkeit, mit dem
spiegelnden Hilfs-Ich zu tauschen und sich selbst darzustellen.
In folgendem Beispiel wird das Verhalten eines 27jährigen Medikamentenabhängigen
durch den Co-Therapeuten gespiegelt. Ein anderes Gruppenmitglied spielt den
Therapeuten (Truöl, 1981, S. 214/215):
Therapeut:
Wie fühlen Sie sich? Was möchten Sie heute machen?
Spiegel:
Eigentlich fühle ich mich recht wohl; ich merke, dass ich aufpassen muss,
nicht zu bequem zu werden!
Therapeut:
Meinen Sie damit, dass Sie in der Gruppe mehr tun könnten als Sie im
Augenblick tun?!
Spiegel:
Ja, das stimmt schon! Mir geht es hier in der Gruppe, wie im Forum
(Großgruppe): Manchmal möchte ich etwas sagen, aber dann lasse ich es und
denke, der andere wird es schon tun!
Therapeut:
Haben Sie eine Idee, wer oder was Sie am Sprechen hindert?
Spiegel:
Manchmal denke ich, die anderen könnten etwas Negatives über mich sagen!
(Pause) Mich auslachen oder so?
Therapeut:
Ist Ihnen das schon einmal hier in der Gruppe passiert?
Spiegel:
Wenn ich so darüber nachdenke, eigentlich noch nicht.
Therapeut:
Und wenn Sie an Ihre Kindheit oder Schulzeit zurückdenken: vielleicht
haben Sie es da erlebt?
Spiegel:
Eigentlich nicht.
Therapeut:
Und uneigentlich?
Spiegel:
(Nach längerer Pause, zögernd) Vielleicht habe ich es doch damals erlebt!
Dem Betroffnen wird somit die Möglichkeit eröffnet rational über sein Verhalten und
bestimmte Eigenschaften zu urteilen und Konsequenzen aus den neu gewonnenen
Erkenntnissen zu ziehen. Im Idealfall findet eine Auseinandersetzung mit dem
gespiegelten Verhalten und eine Änderung des dysfunktionalen Verhaltens statt.
111
Ontogenetisch entspricht das Spiegeln der Entwicklungsstufe der All-Realität, in der das
Kind zwischen sich und den anderen zu differenzieren beginnt.
3.11.4 Das „Soziale Atom“
Das Soziale Atom als kleinste soziale Einheit bezeichnet das (für den Einzelnen
lebensnotwendige) sozioemotionale System von Beziehungen zwischen Individuen. In
diesem System entwickelt sich die individuelle Persönlichkeit eines Menschen, sein
gesamtes Lebensschicksal ist mit diesem System eng verbunden. Die Analyse des sozialen
Atoms ermöglicht eine differenzierte Betrachtung des interpersonellen Beziehungsgefüges
eines Individuums. Moreno entwickelte das Konzept des Sozialen Atoms 1934. Er war zur
Überzeugung gelangt, dass sich die menschliche Identität vor allem über die sozialen
Beziehungen und die Rollen des Individuums entwickelt (Frank, 1995). Das Soziale Atom
setzt sich aus dem Individuum selbst und seinen Bezugspersonen zusammen. Der Klient
wird im Psychodrama als auf andere Menschen bezogenes Individuum, das soziale Atom
als Schutz und Stütze betrachtet.
Abbildung 17: Das sozioemotionale System des Sozialen Atoms
Quelle: Original aus Sociometric Review 1, 1936, unveränderter Nachdruck in Sociometry 10, 1947, zit. n.
Zeintlinger-Hochreiter, 1996, S. 132.
SOZIALES ATOM
Kern der Personen, die zum Subjekt
in emotionaler Beziehung stehen
(innerer und äußerer Kern)
INNERER KERN
Kern der Personen,
Mit denen Beziehungen
vollzogen sind
ÄUßERER KERN
Kern der Personen,
mit denen Beziehungen
gewünscht werden
BEKANNTSCHAFTSVOLUMEN
Bekanntschaften ohne besondere
emotionale Bedeutung
für das Subjekt
112
Das Selbst ist im Sinne Morenos als Produkt der Rollen zu betrachten, die ein Individuum
im Laufe seines Lebens inne gehabt hat. Bei einer gelingenden Rollenentwicklung
„integriert sich das Rollenselbst mit einem sozialen Atom kreativ handelnd und spontan
verändernd in das kulturelle Atom und schafft sich durch dieses Handeln sein eigenes
soziales, kulturelles Atom“ (Schwehm, 1989, S. 32).
Abbildung 18: Das Selbst-Rollendiagramm
Quelle: Original aus Moreno, Group Psychotherapy, Vol. XV, Beacon House, 1962, p. 116, zit n. Petzold &
Matthias, 1982, S. 293
Psychosomatische Rollen
Individuelle Rollen
Handlungsverbindung
Psychodramatische Rollen
Soziale Rollen
Symbole:
Äußerer großer Kreis
Kleine Kreise im großen
= Selbst
= Ein Rollenbereich - Psychosomatische Rollen
Psychodramatische Rollen und Soziale Rollen
Kleinste Kreise in den Kreisen = Individuelle Rollen (private Rollen)
Verbindende Linien
= Handlungsverbindungen
Morenos Definition der sozialen Beziehungen innerhalb des Sozialen Atoms umfasst
sämtliche sozialen Relationen ohne Unterscheidung ihrer Intensität oder ihrer Art. Zu den
Individuen des Sozialen Atoms zählen jedoch ausschließlich diejenigen, mit denen das
Subjekt emotional bedeutsame Beziehungen anstrebt oder bereits führt (siehe Abb. 15).
Zu den Teilbereichen des Sozialen Atoms zählen das Lebens-, Werk-, sexuelle und
kulturelle Atom. Diese Teilmengen sollten untereinander verträglich sein und im Idealfall
durch die Wahl als Ausdruck der Spontaneität des Individuums zu Stande kommen.
Die Struktur des Sozialen Atoms ist für das Individuum von entscheidender Bedeutung.
Der Konsistenzwert eines Sozialen Atoms, dessen Ausmaß Aussagen bezüglich IchStärke und Identität eines Individuums zulässt, kann an Hand folgender Dimensionen
ermittelt werden (Zeintlinger-Hochreiter, 1996):
 Der äußere Umfang bezeichnet die Quantität der Beziehungen innerhalb des Sozialen
Atoms. Moreno sieht das emotionale Ausdehnungsvermögen (die Reichweite des
113
Sozialen Atoms) als begrenzte Größe. Das „Tele“ eines Individuums spielt in diesem
Zusammenhang eine entscheidende (limitierende) Rolle. Als „idealen soziometrischen
Status“ beschreibt Moreno den Zustand, bei dem Bekanntschaftsvolumen und
Volumen des Sozialen Atoms identisch sind.
 Die innere Konstitution im Sinne der Qualität der Beziehungen.
 Die Intensität der Beziehungen (der Grad der Anziehung bzw. Abweisung).
 Der Status und die Bedeutung des Kernindividuums in seinem sozialen
Beziehungsgefüge in Bezug auf konkrete Gruppen. Ein entscheidendes Merkmal des
Status ist seine Relativität. Laut Moreno bestehen positive Korrelationen zwischen
soziometrischem Status und spontaner Handlungsaktivität, der Möglichkeit zu
persönlicher Bedürfnisbefriedigung und dem Status in einer konkreten Interaktion
(Interaktionsstatus).
 Unter Konnektierung versteht man die gesellschaftliche Dimension des Sozialen
Atoms. Sie gibt Aufschluss über den Grad der Vernetztheit eines Beziehungsnetzes
mit einem anderen.
 Den Integrationsstandard: Der Grad der Kohäsion und Harmonie innerhalb eines
Sozialen Atoms ist umso höher, je größer die Zahl der Anziehungen zwischen den
Mitgliedern der Gruppe ist.
 Beziehungslöcher: In Sozialen Atomen können gewünschte Beziehungen oder
Beziehungen zu nicht mehr verfügbaren Personen einen hohen Stellenwert haben.
An Hand des Sozialen Atoms können die soziale Perzeptionsfähigkeit sowie die
Reziprozität des Individuums untersucht werden. Des Weiteren bietet das Soziale Atom
als psychodramatische Technik die Möglichkeit, das aktuelle Beziehungsgeflecht von
Gruppenmitgliedern mit Hilfe von Antagonisten (oder auch mit Stühlen, Münzen, Steinen
oder auf Papier) darzustellen und auf ihre Intensität zu untersuchen66. In dieses
Beziehungsnetz werden auch die Freizeitgestaltung und der Beruf des Protagonisten
einbezogen.
Bei Abhängigkeitskranken kann es auf Grund von Beziehungsstörungen dazu kommen,
dass Objekte (auch der Alkohol) oder Tätigkeiten einbezogen werden, da diesen eine
stützende Funktion zukommt. Mit der Technik des Sozialen Atoms kann dem Abhängigen
spür- und begreifbar gemacht werden, welche Rolle die psychoaktive Substanz bzw. das
Das von der PSB Sigmaringen in diesem Zusammenhang verwendete Behandlungsblatt „Soziales Atom“
befindet sich im Anhang B.
66
114
abhängige Verhalten in der Psycho- sowie Soziodynamik spielt. Im Falle einer
Abhängigkeitserkrankung tritt die Substanz in das Soziale Atom ein, bestehende
Beziehungen werden zunächst entwertet, in weiterer Folge umgewertet und im Sinne der
psychoaktiven Substanz funktionalisiert. Dieser Prozess führt in der Regel dazu, dass sich
das Soziale Atom ausschließlich aus dem Abhängigen und der psychotropen Substanz
zusammensetzt. Tatsächlich scheint sich das Soziale Atom der Betroffenen schon einige
Jahre vor dem eigentlichen Stadium der Abhängigkeit zu verändern. Das Soziale Atom im
eigentlichen Sinn dünnt aus, während das Bekanntschaftsvolumen zur gleichen Zeit
zunimmt (Groterath, 1994). Die Wiederbelebung des Sozialen Atoms stellt folglich eines
der wesentlichen Therapieziele in der Behandlung von Abhängigkeitserkrankungen dar.
Die folgende Abbildung stellt das soziale Atom eines 28jährigen Alkoholikers dar, das im
Rahmen einer stationären Entwöhnungsbehandlung bearbeitet wurde:
Abbildung 19: Beispiel eines Sozialen Atoms eines Alkoholabhängigen
Quelle: Truöl, 1981, S. 217
O O
OOO
Beruf?
X
Dreiecke = Männer
Kreise = Frauen
X = Protagonist
Die Größe der Symbole entspricht der Intensität der Beziehung
Truöl führt dazu aus: „Der Klient beschreibt sein soziales Atom folgendermaßen: Er stehe ziemlich
allein im Leben und müsse sehen, wie er sich durchschlägt. (Man beachte die Größe des X!) Schon in
sehr jungen Jahren habe er in die Fremde und das Elternhaus verlassen müssen. Der runde Kreis in
seiner Nähe stelle die Mutter dar, an welcher er heute noch hänge. Allerdings könne er sie nur selten
besuchen, da sie in Österreich lebt. Das Fragezeichen beim Beruf drücke seine augenblickliche
Unsicherheit aus. Eigentlich habe er diesen Beruf – Kellner – nur gewählt, weil er hier viel Geld
115
verdienen kann; vielleicht auch noch deshalb, weil er es in diesem Beruf mit Menschen zu tun hat.
Der zweite runde Kreis (der nächst kleinere Kreis, Anm. d. Verf.) stelle die Wirtin dar, die Besitzerin
der Kneipe, in welcher er arbeitet und wohnt. Sie sei wie eine Mutter zu ihm und unterstütze ihn, wo
es nur geht. Er habe bei ihr auch Schulden. Die kleinen Dreiecke und Kreise stellen lockere
Beziehungen
zu
Arbeitskollegen
und
Gästen
dar;
es
seien
Zechkumpane
und
lose
Frauenbekanntschaften.
Diese Beschreibung ruft bei der Gruppe lebhaftes Interesse und ein starkes Echo hervor. Eine Reihe
von Fragen werden gestellt: Warum gibt es in diesem sozialen Atom so viele leere Stellen? Was
haben die unausgefüllten Räume zu bedeuten? Hast du keine feste Freundin? Keinen Freund? Was
machst du denn in deiner Freizeit? Wie sieht es mit dem Kontakt zu Geschwistern und Vater aus?
Und vieles mehr!“
Truöl beschreibt, dass das soziale Atom des Klienten auf ihn recht verkümmert und undifferenziert
wirkt. Er vermutet, dass der Klient eine weitgehend infantile Beziehung zur Umwelt hat, geprägt von
der starken Mutterbindung und einer narzisstischen Einstellung.
In dieser und den folgenden Gruppensitzungen beschäftigt sich die Gruppe recht intensiv mit den
Themen Alkoholismus und Beruf; insbesondere mit der Frage, ob die Rückkehr des Klienten in das
alkoholnahe Berufsmilieu nicht eine erhöhte Rückfallgefahr mit sich bringe. Auch die weiteren
Themen: Freizeitgestaltung, Partnerschaft und Freundeskreis nach der Behandlung ergeben sich aus
der Analyse des sozialen Atoms des Klienten (Truöl, 1981, S. 217/218).
Im Sozialen Atom werden gegenwärtige Beziehungen berücksichtigt bzw. gewünschte
oder fehlende Beziehungen deutlich gemacht. Die Technik des sozialen Atoms fördert die
Selbstreflexion, die Auseinandersetzung mit sowie Impulse zur Veränderung der aktuellen
sozialen Beziehungsstruktur. Aus diesen Erkenntnissen können im psychodramatischen
Spiel die Gestaltung des Sozialen Atoms und des Rollenrepertoirs entwickelt und erprobt
werden. Des Weiteren besteht die Möglichkeit, mit der Interventionstechnik des Sozialen
Atoms innerpsychische Prozesse darzustellen und zu bearbeiten. Das, sich aus dem
Sozialen Atom entwickelnde Verständnis bezüglich der eigenen Person sowie des
Gegenübers, fördert die Chance zur Bewusstwerdung der inneren und äußeren Realität
und in weiterer Folge zur Korrektur von einschränkenden Sichtweisen des
Abhängigkeitskranken und fördert somit den Antrieb zur Bewältigung der Lebenssituation
unter Berücksichtigung der realen Gegebenheiten. Das Soziale Atom bietet – wie auch das
Kulturelle Atom, das im nächsten Kapitel beschrieben wird – die Möglichkeit, emotional
defizitäre Ich-Anteile psychodramatisch mit Gefühlen zu beleben (Waldhelm-Auer,
1994b). Diesem Aspekt kommt vor allem in Bezug auf die bei vielen Abhängigen
notwendige nachträgliche Ich-Entwicklung und der Integration abgespaltener Ich-Anteile
entscheidende Bedeutung zu.
116
Das dargestellte Soziale Atom bildet den Rahmen für differenzierte psychodramatische
Beziehungs- und Problemklärungen im Sinne der Herstellung von Tele-Beziehungen über
kreative
Interaktionen
mit
dem
therapeutischen
Ziel
der
Verbesserung
des
Beziehungsgeflechts des Klienten (Krüger, 1994). Darüber hinaus werden die
Gruppenmitglieder
bei
dieser
Interventionstechnik
zur
Identifikation
mit
dem
Protagonisten oder Teilen seines Sozialen Atoms angeregt, was die Bewusstmachung des
eigenen Sozialen Atoms fördert. Die grafische Darstellung soll in jeder Sitzung an die
Wand geheftet werden, um im Bedarfsfall Bezug nehmen zu können. Das Soziale Atom
gibt eine Struktur vor, an der sich die Therapie orientieren und entwickeln kann und bildet
zugleich ein Gegengewicht zur symbolisch im Raum stehenden psychoaktiven Substanz.
Es bezieht sich in der Regel ausschließlich auf die Bewältigung der Gegenwart.
Mit Hilfe des Sozialen als auch das Kulturellen Atoms können Fort- und Rückschritte im
therapeutischen Prozess festgestellt werden.
3.11.5 Das Kulturelle Atom
Das Kulturelle Atom wurde wie das Soziale Atom aus der spezifischen Rollentheorie
Morenos heraus entwickelt und hat als subjektives Bild der eigenen Rollen ebenfalls eine
ich-stützende Wirkung. Erlebt sich der Klient in einer Rolle als stark und bekommt von
den Gruppenmitgliedern im Rollen-Feedback eine ähnliche Beurteilung seines Agierens in
dieser Rolle, so kann er dazu ermutigt werden, andere eigene Rollen zu erproben. Rollen
entwickeln sich im Verlauf des Lebens. Man unterscheidet in der psychodramatischen
Theorie zwischen dem
 Rollenrepertoire, das die aktuell gespielten Rollen umfasst; dem
 Rolleninventar – der Gesamtheit der im Leben gespielten Rollen und den
 Wunschrollen, die nicht (oder noch nicht) realisierbar sind.
Manche dieser Rollen sind situations- und zeitbedingt (z.B.: Kind, Jugendlicher), andere
bestehen lebenslänglich (z.B.: Geschlechtsrollen). Rollen, die dem Rolleninventar
angehören, können auch nach längerer Zeit wieder aufgenommen werden (z.B.:
Alkoholiker, Student). Für eine Situationsanalyse werden sämtliche Rollen herangezogen.
Die Darstellung des Kulturellen Atoms erfolgt (entsprechend den Möglichkeiten beim
Sozialen Atom) mit Hilfe von Symbolen, Gegenständen und Menschen oder zeichnerisch,
sowohl in der Gruppe als auch in der Einzeltherapie.
117
Abbildung 20: Schematische Darstellung eines Kulturellen Atoms
Quelle: Stimmer, 2000, S. 134.
Sportlerin
Beraterin
Freundin
Mutter
Partnerin
Frau Müller (Lehrerin)
Tochter
Pädagogin
Bürokratin
Autofahrerin
Bei der Analyse des Kulturellen Atoms wird das Hauptaugenmerk auf Konflikte, vor
allem aber auch auf Ressourcen und stabilisierende Rollen bzw. Co-Rollen. CoRollenspieler können bei Abhängigen zu für die Störung relevanten Intrarollenkonflikten
führen – Konflikte, die in einer Rolle auftreten, wenn die Ansprüche der Co-Rollenspieler
unvereinbar sind: Rolle des Abhängigen – ein Teil der Co-Rollenspieler (die Frau, Kinder
oder die Eltern) fordern Abstinenz, der andere das Weitertrinken (Freundeskreis,
Saufkumpane). Auch Interrollenkonflikte (Alkoholiker und Mediziner) sind wichtige
Anhaltspunkte zur Klärung Kultureller Atome. Wie bei der Analyse des Sozialen Atoms
spielen auch beim Kulturellen Atom die Dimensionen Quantität (Anzahl an Rollen),
Qualität (subjektive Bewertung), Nähe und Distanz, Kohäsion (Verbindung oder
Vereinzelung der Rollen), Rollenlöcher („vergessene“ Rollen oder im Vergleich zu
118
„Normalbiographien“ nicht existierende Rollen) und Konnektierung (Umfang der
Verbindungen der einzelnen Rollen mit Co-Rollen) (Stimmer, 2000).
3.11.6 Das Probehandeln, Zukunftsprobe oder zukunftsgerichtetes Rollenspiel
Die Technik des Probehandelns zählt zu den pädagogisch-didaktischen Methoden des
Psychodramas. Es richtet sich auf die prospektiven Aspekte der Lebenssituation des
Klienten und kann als Trainingsprogramm gestaltet werden. Psychodramatische
Zukunftsprojektionen
und
Rollenspiele
zielen
in
erster
Linie
auf
eine
Verhaltensmodifikation ab, die als Grundlage für die Wiedereingliederung des
Abhängigen in ein funktionierendes und befriedigendes soziales Beziehungsgefüge dienen
soll. Nach den Regeln des Psychodramas können zukünftig zu lösende Aufgaben schon
einmal erlebt werden und im Zuge dessen situationsgerechte Verhaltensweisen eingeübt
werden. Erfolgloses Verhalten kann korrigiert, irreale und reale Ängste sukzessive
abgebaut werden. Das positive Feedback der Gruppe dient als verhaltenstherapeutische
Belohnung und Verstärkung. Die Technik der Zukunftsprojektion wird vor allem in der
Reintegrationsphase
der
Therapie
angewendet.
Petzold
bezeichnet
das
verhaltenstherapeutisch orientierte Psychodrama als tetradisches Psychodrama, wobei
jedoch zu bemerken ist, dass bereits Moreno Phasen, in denen Verhalten geübt wurde, in
das psychodramatische Spiel integriert hatte (Zeintlinger-Hochreiter, 1996). Bei extrem
ich-schwachen Abhängigen mit drohendem oder bereits eingetretenem Identitätsverlust
werden Rollenspiele in der Regel erst nach dem Einsatz ich-stützender Techniken
durchgeführt.
Truöl (1981) lässt den Protagonisten einen Katalog von Situationen erstellen, in denen
dieser mit dem Suchtmittel in Kontakt kommt. Die Situationen werden vom Betroffenen
nach persönlich empfundenen Schwierigkeitsgrad gereiht und in Rollenspielen inszeniert.
Die Situation wird aufgebaut und wichtige Inhalte kurz umrissen. Die Gruppenmitglieder
spielen die Szene nach den Vorgaben in ihrer jeweiligen Rolle, die sie unter Umständen
auch nach ihren eigenen Vorstellungen modifizieren und mitgestalten können. Durch die
Vorwegnahme zukünftig zu erwartender Ereignisse lernt der Abhängige sich mit den
Realitäten auseinander zu setzen und konstruktive Lösungen für bevorstehende Probleme
zu finden. Mit diesen Konfliktsituationen im Zusammenhang stehende Ängste werden
durch
das
Probehandeln
abgebaut,
suchtmittelfreien Zukunft wird vertieft.
das
Bewusstsein
für
Gefährdungen
einer
119
Beckenbach (1980) beschreibt ein, im Therapiezentrum Münzesheim speziell zur
Behandlung Alkoholkranker entwickeltes Konzept zum Rollenspiel, das auf die
Bedürfnisse dieser Klientel abgestimmt wurde. Es wurden soziale Situationen, die in der
Rehabilitation Abhängiger zu Problemen führen bzw. die Abstinenz gefährden können, in
einem
therapeutischen
Team
gesammelt.
In
dieser
Diskussion
wurden
vier
Verhaltensbereiche definiert, die sich als besonders kritisch in Bezug auf die
Rückfallvermeidung erwiesen:
 Alkohol-Konfrontationssituationen
 Alkohol bei sozialen Spannungszuständen
 Situationen, in denen Alkohol eine positive Rolle spielt und
 durch Gewohnheit geprägtes Trinkverhalten.
Diese Analyseeinheiten wurden auf einem dreidimensionalen Schema aufgetragen, was
die Anwendung für die Rollenspielpraxis erheblich erleichtert.
Durch die Zusammenfassung unterschiedlicher sozialer Situationen zu Analysebereichen
können bestimmte Verhaltensweisen in wechselnden Rollenspielsituationen geübt werden,
was dazu führt, dass ermüdende Wiederholungen vermieden werden. Des Weiteren
ermöglicht das Schema ein nach Schwierigkeitsgraden gestuftes Vorgehen, d. h., dass die
Schwierigkeitsstufe individuell variiert werden kann, sodass jedes Gruppenmitglied
bestimmte Situationen erfolgreich meistern kann. Hat ein Gruppenteilnehmer soziale
Kompetenz auf einer Stufe erreicht, so kann ein Rollenspiel der nächst höheren Stufe im
gleichen Sozialbereich oder aus einem anderen Sozialbereich gewählt werden. Der
Schwierigkeitsgrad der Konfrontation mit dem Suchtmittel steigt, wenn man sich auf einer
oder mehreren Dimensionen im Schema voranbewegt:
120
Abbildung 21: Dreidimensionales Schema zur Analyse von Alkohol-Konfrontationssituationen
Quelle: Beckenbach, 1980, S. 70
Handlung
Konsequenz
6
„Wenn ich jetzt ein
Glas trinke, werde
ich rückfällig“
5
5
4
„Ich bin alkoholkrank“
4
3
„Ich muss unbedingt
völlig abstinent
Leben“
„Nein danke, ich
darf keinen Alkohol
trinken“
3
2
1
Versuch umzustimmen
Eisiges Schweigen / Unverständnis
2
Nachdenkliche Musterung / „Na ja“
1
Einfaches „Nein“
Macht sich lustig / Spott, Hohn
Spannung weicht / Verständnis
1
Zu sich
selbst
2
3
Oberfläch- Guter
lich BeBekannter
kannter
Arbeitskollege
4
mehrere
Bekannte
oder Verwandte
5
Vorgesetzter,
Meister
6
Eltern
7
Ehefrau,
Kinder
BezugsPerson
Partner
Zum besseren Verständnis des praktischen Vorgehens soll ein von Beckenbach
geschildertes Beispiel des Verhaltensbereichs Alkohol-Konfrontationssituationen dienen:
Schwierigkeitsstufe 1.1.1. bei Alkoholkonfrontation
Der Patient geht bei sich zu Hause in den Keller, um dort etwas zu holen, und stößt dabei – für ihn
überraschend – auf einen Restbestand Wein. Er nimmt die Flasche in die Hand und überlegt, was zu
tun sei. Ihm kommt der Gedanke, die Flasche zu öffnen und daran zu riechen. Er sagt sich jedoch
„Nein!“, worauf er aufatmet und erleichtert den Keller verlässt. Er beschließt, den Alkohol später
vernichten zu lassen.
Anmerkung: Gedanken oder anders gesagt „Selbstgespräche“ werden genau wie offenes Verhalten
behandelt und der Kritik der Gruppenmitglieder zugänglich gemacht. Die verführerischen
121
Gedanken können auch von Mitspielern suggeriert werden, die sich hinter den Patienten stellen
und die inneren Dialoge doubeln. Der Alkoholkranke lernt so, auf gefährliche Einfälle zu
achten und entsprechende Gegenreaktionen auszubilden.
Weitere Situationen, in denen die gleiche oder eine ähnliche Handlung ausgeführt werden muss:
Der Patient ist bei Freunden oder Verwandten zu Besuch. Plötzlich bekommt er großen Durst,
während alle anderen nichts zu trinken haben wollen. Der Gastgeber fordert den Patienten auf, sich
am Kühlschrank in der Küche selbst zu bedienen. Im Kühlschrank findet der Patient nur alkoholische
Getränke vor.
An der Arbeitsstelle des Patienten hat ein Kollege Geburtstag und spendiert für jeden eine Flasche
Bier. Als der Patient am Morgen an seinen Arbeitsplatz kommt, steht dort schon die Flasche für ihn
bereit.
Der Patient geht allein spazieren und kommt an einem Café vorbei. Er bekommt Lust, ein Eis zu
essen und nimmt im Café Platz. Er bestellt sich einen Eisbecher, der ihm auch bald darauf serviert
wird. Erst als der Eisbecher schon vor ihm steht, merkt der Patient, dass dieser Alkohol enthält.
Spiele auf der Schwierigkeitsstufe 1.2.1. bei Alkoholkonfrontation
Der Patient trifft einen früheren Arbeitskollegen auf der Straße, den er schon lange nicht mehr
gesehen hat, den er jedoch sympathisch findet. Man beschließt, in die nächste Kneipe zu gehen und
sich über alte Zeiten und jetzige Lebensumstände zu unterhalten. Der Bekannte möchte den Patienten
zu einem Bier einladen. Dem Patienten ist bewusst, dass er früher als trinkfest bekannt war.
Schließlich sagt er: „Nein, ich möchte etwas anderes trinken“, worauf der Arbeitskollege ohne
weiteres das Alternativgetränk bestellt. Die Unsicherheit weicht vom Patienten.
Anmerkung:
Dieses Spiel lässt sich leicht durch die Bezugspersonen „guter Bekannter“, „mehrere
gute Bekannte bzw. Verwandte“ abwandeln (Schwierigkeitsstufen 1.3.1. bzw. 1.4.1.).
Ebenso kann man die Konsequenzen mit „nachdenklicher Musterung / na ja“ und
„eisigem Schweigen“ variieren, da keine gesonderte Reaktion des Patienten erfolgen
muss (Schwierigkeitsstufen 1.2.2., 1.2.3., 1.3.3. bzw. 1.4.2., 1.4.3.).
Die Schwierigkeit auf der Handlungsskala würde sich erhöhen, wenn der Arbeitskollege mit der
Antwort des Patienten nicht zufrieden ist (Schwierigkeitsstufe 1.2.4.):
Situation wie oben, aber mit der Antwort „Nein, ich möchte etwas anderes trinken“ gibt sich der
Arbeitskollege nicht zufrieden und versucht, den Patienten umzustimmen. Er sagt z.B. spöttisch: „Ein
Glas Bier hat noch keinem geschadet, du warst doch früher nicht so!“ Darauf muss der Patient
reagieren:
Schwierigkeitsstufe 2.2.1. bei Alkoholkonfrontation
„Nein danke, ich darf keinen Alkohol trinken.“ Das sieht der Kollege ein und lässt das gewünschte
Getränk kommen.
Auf der Basis dieses Dialogs lassen sich die Handlungsschwierigkeiten leicht weiter steigern, sodass
schließlich alle Schwierigkeitsstufen auf dieser Dimension durchgespielt werden können (z.B.
Schwierigkeitsstufe 3.2.1.: Dem Patienten wird das Geständnis abgenötigt: „Ich muss unbedingt
völlig abstinent leben“, oder Schwierigkeitsstufe 5.2.1.: Der Patient muss zugeben: „Ich bin
alkoholgefährdet, wenn ich jetzt ein Glas trinke, werde ich rückfällig“). Weiterhin lassen sich die
122
Bezugspersonen in ihrer Einflussstärke bzw. Autorität für den Patienten steigern (Beckenbach, 1980,
S. 70 u. 72).
An Hand dieses Beispiels aus der Praxis wird deutlich, wie Rollenspiele mit Hilfe der
Einstufung des Gefährdungs- bzw. Schwierigkeitsgrades von Alkoholrückfallsituationen
auf die Patienten individuell abgestimmt und schrittweise durchgespielt werden können.
Lindenmeyer et al. (1995) wenden bei der Rückfallbehandlung von Alkohol- und
Medikamentenabhängigen
die
Exposition
in
vivo
an.
Da
meist
kurzfristige
Überforderungen des Abhängigen in Risikosituationen zu Rückfällen führen, müssen
diese individuellen Rückfallsituationen möglichst realitätsnah geübt werden, um die
physiologischen und kognitiven Automatismen entkoppeln zu können. Weitere
langfristige Rehabilitationsmaßnahmen können laut Lindenmeyer et al. (1995) durch
dieses Vorgehen vermieden werden. Möglichst große Realitätsnähe bei Rollenspielen ist
auch für Petzold (1970) ein wichtiges Kriterium. So werden bei Petzold „echte“
Requisiten wie Weinflaschen und Gläser für das Rollentraining (eine der der
Zukunftsprojektion sehr ähnliche Technik) verwendet. Beim Rollentraining werden
Situationen nachgestellt, mit denen die Abhängigen tatsächlich konfrontiert waren, die für
die Betroffenen problematisch waren oder die zu Rückfällen geführt haben. Beck (1995)
regt an, den Erfolg einer Abhängigkeitsbehandlung an Hand von Rollenspielen über
Verhaltensbeobachtungen bei Expositionen in vivo zu messen.
3.11.7 Der „Sobriety-Shop“
Der Sobriety-Shop stellt eine Modifikation der psychodramatischen Standardtechnik des
Zauberladens dar, in dem sich jedes Gruppenmitglied imaginativ zu einem Zauberladen
begibt, in dem alle seine Wünsche erfüllt werden können. Es können bei dieser Technik
persönliche dysfunktionale Eigenschaften, Ansichten oder Handlungsweisen durch andere
(erwünschte)
ersetzt
werden,
die
dem
Teilnehmer
z.
B.
helfen,
die
Abhängigkeitserkrankung zu überwinden und ihn dazu befähigen, die Abstinenz
durchzuhalten.
Die Technik des Sobriety-Shops wurde 1985 von Rustin & Olsson (1994) im Rahmen
eines stationären Abhängigkeitsprogramms entwickelt. Die Differenz zur klassischen
Form liegt vor allem im Ablauf: der Psychodramaleiter fordert den Protagonisten nicht
zuerst auf, sich eine Eigenschaft auszusuchen, sondern eine nicht erwünschte aufzugeben.
Rustin & Olsson (1994) beschreiben diese psychodramatische Technik folgendermaßen:
123
der Psychodramaleiter spielt den Verkäufer, der den Preis des Tauschgeschäfts (die
Verpflichtung zu neuen Handlungsweisen oder die Aufgabe bestimmter Eigenschaften)
bestimmt. Probleme, die in der Rehabilitation auftreten, können vorweggenommen und
für diese Phase relevante Verhaltenskomponenten und Handlungsweisen trainiert werden.
Die Begründung für dieses Vorgehen liegt in der Tatsache, dass viele negative
Verhaltensweisen für die Aufrechterhaltung der Abhängigkeit für den Betroffenen
notwendig und deshalb auch enorm wichtig sind. Die Aufgabe einer dieser Eigenschaften
lässt Rückschlüsse auf die Motivation des Abhängigen zur Behandlung der
Abhängigkeitserkrankung zu. Der Fokus liegt auch bei dieser Technik auf der Lösung – es
werden unmittelbar nach dem Handel Möglichkeiten zur Umsetzung der neu erworbenen
Eigenschaften gesucht und erprobt.
Rustin und Olsson (1994) sehen in der Technik des Sobriety-Shops eine sehr wirksame
Methode zur Behandlung Abhängiger: „Das Verfahren bietet mehreren Patienten die
Möglichkeit, ihre Anliegen im Rahmen einer einzelnen Sitzung zu explorieren, wobei die
Gruppe mehr als bei einer regulären Psychodramaarbeit beteiligt ist und sich der
gemeinsame Fokus auf den Prozess der Abkehr vom Suchtmittel richtet“ (ebd., 1994, S.
245).
3.11.8 Phantasiespiele
Phantasiespiele eignen sich im Psychodrama zum ressourcenorientierten Vorgehen, d.h.
zur Orientierung an Stärken und angenehmen Gefühlen, die beim Abhängigen latent
vorhanden sind oder vor der Abhängigkeitserkrankung erlebt wurden. Der Protagonist
kann im Phantasiespiel Traumrollen darstellen.
3.11.9 Die Symbolbildung
Ein Gruppenmitglied wird aufgefordert, jeweils ein Symbol für den „Freund Alkohol“
sowie für den „Feind Alkohol“ zu finden und diese im Raum entsprechend der subjektiv
empfundenen Nähe anzuordnen. Das Aufstellen der Symbole wird in jeder weiteren
psychodramatischen Sitzung wiederholt (jeweils in der aktuell empfundenen Anordnung).
Diese Technik soll dem Patienten die Bedeutung der Abstinenz und die latent vorhandene
Bedrohung durch die psychotrope Substanz vor Augen führen.
124
3.11.10
Die Technik der „psychodramatisch gelenkten Aggression“
Die in Kapitel 3.9 geschilderte orale Bedürftigkeit und damit einhergehende
Erwartungshaltungen und Wünsche, die in der Therapie nicht erfüllt werden (können und
sollen) sowie die in der Abstinenz auftretenden Entzugssymptome führen in Kombination
mit der üblicherweise sehr geringen Frustrationstoleranz von Abhängigen häufig zu
aggressiven Ausbrüchen von Seiten der Betroffenen. Die Technik der psychodramatisch
gelenkten Aggressionen, die von Petzold auf der Grundlage seiner langjährigen Erfahrung
mit Alkoholikern entwickelt wurde, zielt darauf ab, den, die Behandlung behindernden
Aggressionsdruck bewusst und gezielt aufzulösen und dabei vom Therapeuten, von
Familien- oder Gruppenmitgliedern auf den Alkohol (symbolisiert durch eine Flasche) als
Zielobjekt der Aggression zu lenken (Petzold, 1971). Die Technik stellt eine Kombination
der Vorgehensweise des verhaltensmodifizierenden Aversionstrainings mit dem
kathartischen acting-out dar.
Den Abschluss der Sitzung bilden in der Technik der psychodramatisch gelenkten
Aggression „Signal“- oder „Hypnobilder“, die der visuellen und auditiven Verankerung
des positiven Effekts der Abstinenz dienen sollen. Die Abschlusstechnik der Signal- oder
Hypnobilder wurde von Petzold entwickelt und wirkt im Sinne einer beruhigenden
Suggestion, die nach Petzold in Anbetracht des der Erschöpfung vorausgehenden
kathartischen Affektausbruchs den üblichen feed-back Techniken und dem Sharing
vorzuziehen ist.
Die Signal- oder Hypnobilder stellen „artifizielle katathyme Bilder“ dar, die im Zustand
eines durch Fremdsuggestion oder autogenen Trainings hervorgerufenen leichten
Hypnoids, mit Hilfe von Schautafeln oder Projektion von Diapositiven zur Wirkung
gebracht werden und zwar in einer Serie von Bildern, die in alternierender hypnotischer
Abfolge die schädlichen Folgen des Alkohols und die Vorteile der Nüchternheit
darstellen. Die sieben Bilder, die die Schädlichkeit des Alkohols und die Vorteile der
Abstinenz
zeigen
sollen,
werden
in
der
ursprünglichen
Sitzordnung
der
psychodramatischen Gruppe präsentiert:
z. B. ein heftig streitendes Ehepaar mit dem Folgebild einer glücklichen Familie; eine Szene, in der
ein angefahrenes Kind vor dem Wagen eines Betrunkenen liegt, auf die dann die Darstellung eines
glücklichen Urlaubers in seinem Wagen folgt. Eingeleitet und abgeschlossen wird die Serie durch ein
Signalbild, eine Flasche mit Totenkopf und ein durchgestrichenes Glas. Das Bild ist von den
Komplementärfarben Grün und Rot bestimmt, die durch ihre Intensität den durch das autogene
125
Training vorgegebenen leicht hypnoiden Zustand der Patienten verstärken. Die Bilder werden am
wirkungsvollsten als Diapositive im abgedunkelten Therapieraum an die Wand projiziert, können
aber auch als Schautafeln gezeigt werden (…) Zu den Bildern werden vom Therapeuten kurze,
formelhafte Sätze gegeben (z. B. Alkohol zerstört Leben, Nüchternheit erhält Leben; Alkohol schafft
Unfrieden und Streit, Nüchternheit schafft Frieden und Glück), die das Dargestellte verstärkend
unterstreichen. Dem Signalbild am Anfang wird die Formel „zu keiner Zeit, an keinem Ort“
beigegeben, die für das Schlussbild in folgender Fassung verwandt wird: „Ich trinke keinen Alkohol,
zu keiner Zeit, an keinem Ort, bei keiner Gelegenheit. Ich bin jetzt ganz ruhig, bin meiner ganz
sicher, Alkohol ist ganz gleichgültig. Ich weiß, daß ich nichts mehr trinke.“
Nach dieser Formel erfolgt die Zurücknahme und das Ende der Therapiestunde. Die Patienten fühlen
sich beruhigt, sicher, gelöst und entspannt (Petzold, 1970, S. 400/401).
Durch
das
acting-out
hervorgerufene,
latente
affektive
Prozesse
sowie
Restspannungszustände sollen mit Hilfe dieser Suggestionen abgebaut und der Effekt der
Technik optimiert werden.
Dieser Ansatz Petzolds wird in der Literatur (z. B.: Waldhelm-Auer, 1994; Simonsen,
1990) teilweise kritisiert – seine Kausalerklärung der Aggression, die in der Therapie mit
Alkoholikern auftreten, sowie die Auseinandersetzung und der therapeutische Umgang
mit diesen Emotionen wird als zu oberflächlich beurteilt.
3.11.11 Das Axiodrama
Das Axiodrama stellt weniger eine Technik der psychodramatischen Therapie als
vielmehr eine spezielle Anwendungsform des Psychodramas dar, das sich mit dem
Themenkreis „Probleme der privaten oder kollektiven Moral“ (Zeintlinger-Hochreiter,
1996, S. 26) beschäftigt. Das Axiodrama wird in dieser Aufzählung psychodramatischer
Techniken bei Abhängigkeitserkrankungen angeführt, da Leutz (1973) seine Anwendung
bei diesem Störungsbild explizit empfiehlt. Im Speziellen erwähnt sie die Indikation für
die erste Phase der Abhängigkeit – der Gefährdung – für den Fall, dass der Konsum der
psychotropen Substanz auf Basis des Strebens nach Bewusstseinserweiterung als auch aus
einem Mangel an befriedigenden Freizeitgestaltungsoptionen geschieht. Leutz beschreibt
das Axiodrama als eine Möglichkeit „sich mit seinen höchsten Werten auseinander zu
setzen und mit den schöpferischen Kräften und Gestalten, wie Helden, Heiligen und Gott
z.B. durch Doppeln oder Rollentausch handelnd zu identifizieren“ (Leutz, 1973, S. 65).
Das Ziel der Anwendung des Axiodramas in der Behandlung Abhängiger bzw.
Gefährdeter ist die bessere Bewältigung der Realität sowie der eignen Rolle.
126
3.11.12 Das Soziodrama
Eine weitere Anwendungsform des Psychodramas, die in der Therapie mit
Abhängigkeitsstörungen Verwendung findet, ist das Soziodrama, das Beziehungen
zwischen Gruppen und kollektive Ideale zum Inhalt hat. Es handelt sich um ein Verfahren,
bei dem „die persönliche Ausgestaltung von Rollen zurück tritt zugunsten der
Rollenübernahme
nach
ideologischen
Vorgaben
und
gesellschaftlichen
oder
subkulturellen Vorurteilen“ (Stimmer, 2000, S. 179). In der Arbeit mit Abhängigen
spielen solche von den Mitgliedern der Gesellschaft internalisierten Rollenmuster,
Normen, Wertvorstellungen, kollektive Ideologien und Vorurteile vor allem auch in
Hinblick auf deren Beteiligung für die Entstehung und Aufrechterhaltung von
Abhängigkeitserkrankungen eine entscheidende Rolle. Stimmer (2000) nennt einige
Themen für Soziodramen mit Abhängigen: der Abstinente bzw. Alkoholkranke in unserer
Gesellschaft, der Alkoholiker in der Nachbarschaft oder am Arbeitsplatz oder eine
Konferenz von Fachleuten über wirksame Alkoholreklame.
Eine Möglichkeit der Anwendung des Soziodramas ist das „Soziodrama – x-Eck“. Meist
wird für diese Technik ein Dreieck auf dem Boden markiert. Es werden drei Gruppen
gebildet, von denen eine kompromisslos für eine bestimmte Ideologie eintritt, eine andere
dagegen und die dritte Gruppe die Stellung „sowohl als auch“ einnimmt. Die Gruppen
entwerfen kurze Texte mit Argumenten und ordnen sich auf den (eventuell mit
Gegenständen markierten) Seiten des Dreiecks an. Die Gruppen wählen nach einer
Diskussionsphase einen Gruppensprecher, der von den übrigen Gruppenmitgliedern mit
Hilfe der Dopplertechnik unterstützt wird. Meist folgt eine lebhafte Diskussion zwischen
den drei Gruppen. Der Gruppenleiter lässt nach einiger Zeit die Gruppen ihre Plätze im
Uhrzeigersinn tauschen, so dass am Ende jede Gruppe alle drei Ideologien und Vorurteile
vertreten hat. Diese Perspektivenwechsel sollen deutlich machen, dass die Zugehörigkeit
zu einer bestimmten Gruppe reflexartige Reaktionen hervorruft und schaffen über die
Bewusstmachung der Vorurteile Voraussetzungen für kommunikatives Handeln.
3.11.13 Beziehungsskulpturen
Bei dieser Technik werden aktuelle Beziehungskonflikte aus der Sicht des Betroffenen
und/oder seiner Beziehungspersonen aufgebaut. Mit Hilfe des Prinzips des Rollentausches
127
sowie Erweiterungen der ausschließlich verbalen Auseinandersetzung mit dem Problem
durch symbolische Bilder und Amplifikationen67 wirkt diese Technik integrierend und
zugleich erhellend im Hinblick auf Konflikte im Beziehungsgefüge.
In einem Angebot des Morenoinstituts zur Weiterbildung in psychodramatischer
Suchttherapie ist ein weiteres Beispiel psychodramatischer Arbeit mit Abhängigen zu
finden: die multiple Bühnenarbeit, die mit Hilfe einer ´Drehbühne` die differenzierte
Wahrnehmung des Abhängigen verbessern soll. Gleiche Personen und gleiche
Handlungen werden aus verschiedenen Perspektiven inszeniert, wodurch neue SinnZusammenhänge unterschiedlicher Ordnung erschlossen werden können.
Am Ende dieses Kapitels soll ein protagonistenzentriertes Spiel als Beispiel für ein
Vorgehen auf der Symptomebene geschildert werden. Es handelt sich um ein
psychodramatisches Spiel in einer Gruppe alkoholkranker Männer an einer stationären
Rehabilitationsabteilung. Um die psychologische Bedeutung des Suchtmittels für den
Betroffenen transparent machen zu können, kann dieses durch ein Gruppenmitglied
verkörpert werden. Gefördert wird dabei vor allem die Krankheitseinsicht des
Abhängigen, die im Hinblick auf die Behandlungsmotivation eine entscheidende Rolle
spielt.
Am Ende der Anwärmphase zeigt sich, dass die Geschichte eines 40jährigen Facharbeiters das
lebhafteste Echo bei der Gruppe gefunden hat, und ich frage diesen, ob er diese Geschichte in
psychodramatischer Weise angehen möchte. Nach einigem Zögern stimmt er meinem Vorschlag zu.
Das Spiel:
Die erste Szene spielt am Arbeitsplatz, auf der Baustelle. Der Protagonist verlässt gerade die Baubude
und macht sich auf den Weg zum Parkplatz. Im Selbstgespräch äußert er seine Unzufriedenheit mit
sich, seiner Frau, den Arbeitskollegen. Beim Erzählen fällt ihm eine Situation ein, in der er ziellos
durch die Stadt fährt und schließlich auf einem Feldweg ankommt. Hier unterbricht der
Psychodramaleiter das Selbstgespräch und bittet den Protagonisten, diese Szene einmal zu spielen.
Die folgende Szene enthält den gerafften Dialog zwischen dem Protagonisten und dem durch einen
Mitspieler verkörperten Alkohol.
Protagonist:
67
Was soll ich jetzt nur machen? (Pause) Eigentlich blöd hier so allein!
Krüger (1994) beschreibt im Zusammenhang mit der erweiterten Auseinandersetzung mit
Beziehungskonflikten die Möglichkeit der Anwendung von Selbstsymbolen, die zu bestimmten Personen aus
dem Sozialen Atom des Betroffenen in Beziehung gesetzt werden.
128
Protagonist Alkohol:
(Rollentausch. Protagonist in der Rolle des Alkohols) Nun so ganz allein bist
du ja auch nicht. Ich bin ja auch noch da – im Ablegefach!
Antagonist:
(= Mitspieler in der Rolle des Alkohols) Wer redet denn hier vom Saufen!
Ein kleines Schlückchen kannst du dir doch genehmigen!
Protagonist:
Das stimmt schon. Aber ich habe mir vorgenommen heute nicht zu trinken.
Außerdem habe ich Hildegard (Ehefrau) versprochen, nichts mehr zu trinken!
Protagonist:
Gestern habe ich mich über Hildegard geärgert!
Therapeut doppelt in der Rolle des Protagonisten: Mir stinkt, dass Hildegard so wenig Zeit für mich
hat!
Protagonist:
Ja, das stimmt! Ich ärgere mich schon lange darüber, dass ich abends so oft
alleine bin.
Therapeut doppelt:
Ein kleiner Schluck kann nicht schaden.
Protagonist (fragend): Einen kleinen Schluck werde ich mir schon genehmigen können!
Therapeut doppelt:
Da fühlt man sich gleich besser, nicht wahr!
Protagonist:
Ja, das tut gut – das brennt richtig schön in der Kehle!
Protagonist:
Morgens fühle ich mich ziemlich mies; das Zittern und so.
Therapeut doppelt:
Ich brauche schon morgens Alkohol!
Protagonist:
Ja, das stimmt!
Therapeut:
Ich bin abhängig vom Alkohol!
Protagonist:
Da ist etwas Wahres dran. Ich denke schon. – Ohne ihn schaffe ich das Leben
einfach nicht mehr!
Nach dieser Sequenz folgen Rollenfeedback und Sharing (Truöl, 1981, S. 207/208).
Die Darstellung der zahlreichen unterschiedlichen Techniken und Anwendungsformen des
Psychodramas macht deutlich, dass neben der ausschließlichen Therapie mit
psychodramatischen Methoden auch einzelne psychodramatische Elemente in jede Form
der Gruppentherapie mit Abhängigen integriert werden können.
129
4. FRAGESTELLUNG, ZIELE, UNTERSUCHUNGSPLAN,
METHODIK
UND
RAHMENBEDINGUNGEN
DER
EVALUATIONSSTUDIE
4.1 Problemstellung und Ziele der Evaluationsstudie
Die Ziele der vorliegenden Evaluationsstudie wurden von der PSB Sigmaringen
festgelegt. In weiterer Folge wird zur Diskussion stehen, in wie weit diese Fragestellungen
im Hinblick auf das Untersuchungsdesign und die zur Verfügung stehenden Daten
beantwortet werden können.
I. Sämtliche Therapiegruppen der psychosozialen Beratungs- und Behandlungsstelle
Sigmaringen werden psychodramatisch geführt, wobei Standardinterventionen wie
die
Soziometrie,
Familienaufstellungen,
das
soziale
Atom,
das
protagonistenzentrierte Rollenspiel zur Anwendung kommen.
Von besonderem Interesse ist aus diesem Grund die Eignung der Therapiemethode
des Psychodramas in der ambulanten Therapie von Abhängigkeitserkrankungen.
II. Die Überprüfung der Effektivität des Therapiekonzepts: der Erfolg und der dafür
betriebene Aufwand sollen in Korrelation zu den demographischen Daten, der
Diagnose, den späteren Behandlungen, der Teilnahme an Selbsthilfegruppen, der
Eingangsmotivation als auch der Therapievorbereitung eruiert werden. Die für
diese
Analyse
herangezogenen
und
in
der
Therapie
von
Abhängigkeitserkrankungen allgemein geläufigsten Erfolgskriterien sind die
durchschnittlichen Abstinenz- und Besserungsraten sowie die soziale, familiäre,
gesundheitliche und berufliche Zufriedenheit.
III. Neben der Überprüfung der Effektivität des Konzepts sollen die Determinanten
des therapeutischen Erfolgs bzw. Misserfolgs in dieser Arbeit evaluiert werden.
Die
Frage
nach
der
differentiellen
Wirksamkeit
der
unterschiedlichen
Interventionstechniken und Behandlungselemente steht hier im Mittelpunkt.
IV. Die Prüfung der Qualität der Umsetzung des Therapiekonzepts in die Praxis
(Treatmentimplementierung), des Behandlungsprozesses und des Settings. Die in
diesem Rahmen zu treffenden Aussagen beziehen sich vor allem auf die
Räumlichkeiten und die Erreichbarkeit der Beratungsstelle, die Stimmung und
Kompetenz des Personals sowie die Behandlungsmethode.
130
V. Die Überprüfung der Wirksamkeit des Therapiekonzepts für die unterschiedlichen
Teilgruppen der Abhängigkeitserkrankten.
4.2 Das Konzept der Psychosozialen Beratungs- und Behandlungsstelle
Sigmaringen
Die PSB Sigmaringen besteht als selbständige Institution seit April 1974 und ist eine
Einrichtung der Arbeitsgemeinschaft für Gefährdetenhilfe und Jugendschutz in der
Erzdiözese Freiburg e.V. (AGJ), die ein Verbundnetz von vorbeugenden ambulanten,
teilstationären und stationären Einrichtungen der Gefährdetenhilfe für Betroffene, deren
Angehörige und Bezugspersonen anbietet. Die AGJ ist als katholischer Fachverband
Mitglied des Diözesan-Caritasverbandes der Erzdiözese Freiburg e.V. sowie Mitglied des
Verbandes der ambulanten Behandlungsstellen für Suchtkranke/Drogenabhängige e.V.
(VABS). Die AGJ unterhält acht Psychosoziale Beratungsstellen, zwei Jugend- und
Drogenberatungsstellen, 19 Außenstellen und drei Fachkliniken für Abhängige sowie
Einrichtungen für wohnungslose Personen (in etwa 30 Plätze). Darüber hinaus führt die
AGJ Veranstaltungen im Bereich Jugendschutz durch und ist Träger einer speziellen
Einrichtung für Kinder von Suchtkranken (Modellprojekt Arbeit mit Kindern von
Suchtkranken: MAKS). Den PSBs sind in etwa 30 Selbsthilfegruppen sowie vier
Elternkreise angeschlossen. Zudem besteht eine enge Zusammenarbeit mit den
Kreuzbund-Gruppen (ca. 40) in der Diözese Freiburg.
Zur Gewährleistung der wohnortnahen Versorgung hat die PSB Sigmaringen
Außenstellen in Pfullendorf, Saulgau, Gammertingen und Setten. Sie ist gemäß den
Richtlinien für Psychosoziale Beratungsstellen des Landes Baden-Württemberg anerkannt
und wird entsprechend gefördert. Die ambulante Suchtrehabilitation findet seit 1992 nach
der „Empfehlungsvereinbarung Ambulante Rehabilitation Sucht“ (EVARS)68 statt, die
eine Regelung der Kostenzuständigkeit brachte. Des Weiteren entstanden durch die
EVARS auf Grund der Möglichkeit, ausschließlich ambulante Rehabilitation bei
Abhängigkeitserkrankungen durchzuführen und ambulante mit stationären Maßnahmen zu
kombinieren, neue Impulse und Tendenzen zur Zusammenarbeit im Sinne einer
Individualisierung und Flexibilisierung der Therapielandschaft, die bislang vorhandene
Versorgungslücken schließen konnten. Die aus dieser Zusammenarbeit resultierenden
131
Synergieeffekte sollten zu einem wirtschaftlichen und bedarfsgerechten Leistungssystem
für Abhängige führen (Arbeitsvorlage zur Empfehlungsvereinbarung Sucht 199969, 1998).
4.2.1
Aufgaben und Ziele
Die Konzeption der PSB Sigmaringen wurde auf der Basis der „Qualitätsstandards der
Suchtkrankenhilfe AGJ“, der „Rahmenkonzeption für die Psychosozialen Beratungs- und
Behandlungsstellen der Arbeitsgemeinschaft für Gefährdetenhilfe und Jugendschutz in der
Erzdiözese
Freiburg
angeschlossenen
e.V.“
Einrichtungen
sowie
der
Betreutes
den
Psychosozialen
Wohnen,
Arbeit
mit
Beratungsstellen
Kindern
von
Abhängigkeitskranken, Aufsuchende Suchtberatung entwickelt. Sie berücksichtigt sowohl
die regionale Struktur, die personellen und räumlichen Bedingungen und die individuelle
Schwerpunktsetzung der Einrichtung.
Die PSB bietet im Einzugsbereich des Landkreises Sigmaringen als Beratungs-,
Informations-, Behandlungs- und Koordinationsstelle Menschen mit psychosozialen
Störungen
unter
dem
Primärsymptom
der
Alkohol-,
Medikamenten-
und
Drogenabhängigkeit, sowie der Diagnosegruppen der Störungen der Impulskontrolle und
der
Essstörungen
Unterstützung
an.
Die
Prävention
und
Rehabilitation
abhängigkeitsgefährdeter und abhängiger Menschen, aber auch die Öffentlichkeitsarbeit
fallen in ihren Aufgabenbereich.
Die wichtigsten Ziele der Institution sind die Entwicklung und Erhaltung von
Kompetenzen und Lebensmöglichkeiten der Abhängigkeitserkrankten oder –gefährdeten
sowie deren Angehörigen, Kollegen, Vorgesetzten, Nachbarn und Freunden. Die
Auswirkungen dieser Störungen sollen gemildert und der Gesundungsprozess unterstützt
werden. Dieser Zielkomplex ähnelt vom Inhalt dem Modell der harm reduction70, das in
den USA in der Arbeit mit Abhängigkeit vorherrschend ist. Die PSB unterstützt
Selbsthilfegruppen ehemals abhängiger Menschen, insbesondere den „Kreuzbund“ als
katholische Helfergemeinschaft Abhängigkeitskranker.
68
Die Empfehlungsvereinbarung Ambulante Rehabilitation Such ist bei Tasseit (1994) zu finden.
Die Empfehlungsvereinbarung Sucht wird von den Bundesverbänden der gesetzlichen Krankenkassen, dem
Verband Deutscher Rentenversicherungsträger und der Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der
Sozialhilfe erarbeitet und definiert. Vereinbart werden Grundsätze, Begriffe und Regelungstatbestände der
kurativen und rehabilitativen Hilfe für Suchtkranke. „Ziel der Vereinbarung ist die menschenwürdige, am
körperlichen, seelischen und sozialen Wohl der abhängigkeitskranken Bürger orientierte umfassende und
bundeseinheitliche Hilfe – auch durch Hilfe zur Selbsthilfe – auf der Grundlage der Gesundheits- und
Sozialgesetzgebung der Bundesrepublik Deutschland. Die erbrachten Leistungen müssen dabei ausreichend,
zweckmäßig und wirtschaftlich sein (§§70, 12 SGB V, zit. n. Arbeitsvorlage zur Empfehlungsvereinbarung
Sucht, 1999, S. 5).
69
132
Dem multifaktoriellen Bedingungsmodell von Abhängigkeitserkrankungen entsprechend
ist in der PSB ein Team von Diplom-Sozialarbeitern, Diplom-Sozialpädagogen, DiplomPsychologen, Psychotherapeuten und Ärzten tätig.
Ihre Aufgaben werden von der PSB in folgende Bereiche aufgegliedert (Konzeption der
Psychosozialen Beratungs- und Behandlungsstelle Sigmaringen, 1997):
 Allgemeine und spezielle Gesundheitsförderung durch Prävention
 Niederschwellige Hilfen
 Information, Beratung und Behandlung für Suchtmittelgefährdete, Suchtkranke
und deren Bezugspersonen sowie andere Ratsuchende
 Nachsorge
 Förderung von Selbsthilfe und Ehrenamt
 Öffentlichkeitsarbeit
 Entwicklung und Förderung von Kooperations- und Netzwerkstrukturen.
Die Qualitätssicherung und –entwicklung und die damit verbundenen Aufgabenbereiche
Dokumentation und Statistik nehmen in der institutionellen Arbeit mit Abhängigen in
Deutschland einen immer breiter werdenden Raum ein. Sämtliche Psychosozialen
Beratungsstellen der – in Deutschland nach wie vor so genannten – Suchtkrankenhilfe
sind
der
Einrichtungsbezogenen
Informationssystem
(EBIS)-Dokumentation
angeschlossen. EBIS stellt ein Dokumentationssystem dar, das der Klienten- und
Leistungsdokumentation dient und statistische Auswertungen auf der Einrichtungsebene
ermöglicht. Zusätzlich erfolgt eine Dokumentation der Aktivitäten in Bezug auf den
jeweiligen Jahresbericht der Beratungsstelle und eine klientenbezogene Verlaufs- und
Ergebnisdokumentation71.
Auf Grund der Tatsache, dass sich die psychosozialen Problembereiche Arbeitslosigkeit
und Abhängigkeit gegenseitig beeinflussen und oft auch gegenseitig bedingen, hat die
Zusammenarbeit mit dem Arbeitsamt sowie mit Beschäftigungsinitiativen und
Bildungsträgern große Bedeutung in der Behandlung dieser Klientel.
Die Grundlagen der Arbeit der PSB werden beeinflusst vom verbandlichen Auftrag, dem
in
der
PSB
vorherrschenden
Verständnis
von
Abhängigkeitsgefährdung
und
Abhängigkeitserkrankung und den Arbeitsprinzipien der ambulanten Suchtkrankenhilfe.
Der verbandliche Auftrag hat vor allem die Unterstützung der gesunden Entwicklung des
Einzelnen, der Familie und gesellschaftlicher Gruppen sowie die Vorbeugung
70
Das Modell wurde in Kapitel 2.1.5 vorgestellt.
133
psychosozial bedingter Gefährdungen zum Ziel. Das ganzheitliche Hilfeverständnis dieses
Ansatzes ist geprägt von den Grundwerten des katholischen Glaubens.
Das dem Konzept der PSB Sigmaringen zu Grunde liegende Verständnis von
Abhängigkeitsgefährdung und –erkrankung sieht in der Abhängigkeit eine komplexe
Störung, die unterschiedliche negative Auswirkungen in physischen, psychischen und
psychosozialen Bereichen mit sich bringt. Die Annahmen bezüglich der Genese
abhängigen
Verhaltens
entsprechen
dem
allgemein
gültigen
multifaktoriellen
Erklärungsmodell. Das abhängige Verhalten wird als misslungener Selbstheilungsversuch
verstanden. Dieser Lösungsversuch führt jedoch im Verlauf der Entwicklung des
abhängigen Verhaltens zum Entstehen neuer Problembereiche und Konflikte. Der Prozess
einer
Abhängigkeitserkrankung
wird
in
Relation
zur
individuellen
Persönlichkeitsentwicklung und der Erlebnisverarbeitung eines Menschen sowie der durch
das abhängige Verhalten beabsichtigten und erreichten Wirkung gesehen. Auf die
Aktivierung
der
Ressourcen
der
Betroffenen
wird
in
der
Arbeit
mit
den
Abhängigkeitskranken in der Psychosozialen Beratungs- und Behandlungsstelle
Sigmaringen besonderer Wert gelegt. In diesem Zusammenhang spielt die Suche nach
einer individuellen Weltanschauung und nach religiöser Orientierung eine wesentliche
Rolle in der Behandlung.
4.2.2
Struktur und Arbeitsbereiche
Das umfassende Feld der Suchtkrankenhilfe ist in der PSB in verschiedene
Arbeitsbereiche gegliedert:
1. Suchtprävention: Das Ziel der Prävention von Abhängigkeitserkrankungen ist die
Vorbeugung krankmachender Entwicklungen und Verhaltensweisen und die
Förderung der individuellen Ressourcen. Die Mitarbeiter der PSB arbeiten in der
Präventionsarbeit in regionalen und überregionalen Arbeitskreisen zusammen. Die
Projekte, die im Bereich Prävention von der Beratungsstelle geleitet werden umfassen:
 SuPrion – ein Projekt zur Prävention von Abhängigkeitserkrankungen: sechs,
in der Suchtberatungsstelle ausgebildete Multiplikatoren arbeiten mit
Kindergärten und Grundschulen, Jugendlichen und Erwachsenen.
 Das Projekt Mobile Fachkraft für offene Jugendarbeit im Landkreis
Sigmaringen
71
(MOFA),
das
den
Jugendlichen
Nähere Informationen zum EBIS-Dokumentationssystem in Kapitel 4.4.2.1.
die
Möglichkeit
zur
134
partnerschaftlichen Auseinandersetzung mit Erwachsenen außerhalb ihres
institutionalisierten Lebensraumes bieten soll. Mitbestimmung, Übernahme
von Verantwortung und das Austragen von Konflikten sind wichtige Ziele der
offenen Jugendarbeit.
 Die Kinder- und Jugendagentur hat ihren Schwerpunkt in der Prävention und
arbeitet sozialraumorientiert. Die Fachrichtungen Jugendpflege, Jugendhilfe,
Erziehungshilfe und Suchtkrankenhilfe sollen vernetzt werden, was zur
Nutzung von Synergieeffekten führen soll.
 SkiPP – Das Sigmaringer Kinderprojekt der PSB stellt ein Angebot für Kinder
abhängigkeitskranker
abhängigkeitspräventiven
Eltern
Ziel
dar.
der
Diese
Stärkung
werden
der
mit
Persönlichkeit
dem
von
Sozialpädagogen betreut.
 Schülermultiplikatorenseminare.
 Zusammenarbeit mit sogenannten Suchtpräventionslehrern und einzelnen
Schulen in Form von Seminaren, Gruppenarbeiten und gemeinsamen
öffentlichen Veranstaltungen.
2. Multiplikatorenarbeit
3. Streetwork
4. Offener Kontaktbereich
5. Medizinische Versorgung
6. Information für Ratsuchende
7. Motivationsarbeit
8. Vermittlung in stationäre Entwöhnungsbehandlung
9. Ambulante Rehabilitation und ambulante Behandlung
10. Nachsorge: Die Nachsorge im Anschluss an eine stationäre Behandlung hat die
Stabilisierung des in der Therapie Erreichten und die weitere Förderung der
beruflichen und sozialen Wiedereingliederung der Betroffenen zum Ziel.
11. Krisenintervention: Diese einmaligen Kontakte finden in der Regel in der offenen
Sprechstunde für Drogenkonsumenten, während der Krisensprechstunde oder am
Telefon statt.
12. Arbeit mit Bezugspersonen
13. Arbeit mit Kindern von Abhängigkeitskranken
14. Psychosoziale Substitutionsbegleitung
15. Schuldnerberatung
135
16. Freizeitangebote
17. Aufsuchende Arbeit im Vollzug
18. Betreutes Wohnen
19. Begleitung von Selbsthilfegruppen
20. Klientenbezogene Kooperation
21. Institutionelle Kooperation
22. Öffentlichkeitsarbeit:
Mit
Hilfe
der
Öffentlichkeitsarbeit
soll
den
Abhängigkeitskranken oder –gefährdeten der Zugang zur PSB erleichtert werden. Die
Öffentlichkeit soll über Abhängigkeitserkrankungen, deren Entwicklung und
Entstehungszusammenhänge informiert werden, mögliche Lösungswege sollen
angeboten werden. Die diversen Veranstaltungen richten sich vor allem an verbandlich
organisierte Jugendgruppen, Schulklassen, Auszubildende, Eltern, kirchliche und freie
Verbände. Die Homepage der PSB Sigmaringen bietet allgemeine und spezifische
Information zu verschiedenen Themen aus dem Bereich „Sucht und Drogen“. Unter
anderem besteht die Möglichkeit, die eigene Abhängigkeitsgefährdung in einem von
der WHO entwickelten Selbsttest72 fest zu stellen.
23. Mitwirkung bei sozialpolitischen Entscheidungsprozessen
24. Sinn und Seelsorge
25. Tagesstrukturierende Angebote bei Arbeitslosigkeit
26. Angebote für in Bezug auf den Konsum psychotroper Substanzen auffällige
Verkehrsteilnehmer: diese Angebote umfassen hauptsächlich Seminare, in denen sich
Abhängigkeitskranke über den Verlauf von Alkoholismus informieren können und
lernen, ihr eigenes abhängiges Verhalten realistisch einzuschätzen.
Das Ziel der psychosozialen Beratung ist die Motivation zu einer dauerhaften
Veränderung des Verhaltens von Abhängigkeitskranken und –gefährdeten. Der Prozess
von Beratung und Behandlung ist ein fließender. Er umfasst die Bereiche
Kontaktaufnahme, Einmalkontakt bzw. Krisenintervention, Beratung und Motivation,
Seminare für alkoholauffällige Verkehrsteilnehmer, niederschwelliges Angebot für
Drogenkonsumenten,
Vermittlung
in
stationäre
Therapie,
Kombinationstherapie,
ambulante Behandlung und Nachsorge.
Der Kontakt zur PSB wird auf sehr unterschiedliche Weise aufgenommen.
72
Dieser Selbsttest befindet sich im Anhang C oder unter
http://www.drogenberatung-sigmaringen.de/05test/test.htm
136
Abbildung 22: Wege der Kontaktaufnahme mit der PSB Sigmaringen im Jahr 2000 (Angaben in Prozent)
Quelle: Arbeitsgemeinschaft für Gefährdetenhilfe und Jugendschutz in der Erzdiözese Freiburg e. V., 2001,
S. 16
ohne Vermittlung
24,42
Angehörige/Freunde
17,9
Schule/Betrieb
4,4
ärztl./Psychotherapeut. Praxis
7,6
Krankenhaus
5,5
Renten-/Krankenversicherung
2,32
Selbsthilfegruppe
2,95
Arbeits-/Sozial-/Jugendamt
4,42
Straßenverkehrsbehörde
9,26
Fachkliniken
8,42
andere Beratungsstellen
2,95
keine Angaben
2,53
sonstige
7,33
0
5
10
15
20
25
30
Motivation und Beratung bilden den Schwerpunkt der Arbeit in der Beratungsstelle. Ein in
diesem Zusammenhang sehr wichtiges Angebot stellt die offene Motivations- und
Informationsgruppe dar. Entscheidend in dieser Gruppe ist die positive Vorbildwirkung
des selbst betroffenen Ehrenamtlichen, der mit einer hauptamtlichen Fachkraft die
Gruppenleitung innehat.
137
4.2.3
Arbeitsprinzipien
Die Arbeitsprinzipien der PSB Sigmaringen entsprechen den „Qualitätsstandards der
Suchtkrankenhilfe der AGJ“ und können wie folgt zusammengefasst werden (Konzeption
der Psychosozialen Beratungs- und Behandlungsstelle Sigmaringen, 1997):
Arbeitsprinzipien, die sich auf die unmittelbare Arbeit mit den Klienten beziehen
 Verbesserung der Lebensqualität als handlungsleitendes Prinzip
 Orientierung an den Klienten und deren Ressourcen
 Vertraulichkeit
 Freiwilligkeit
 personelle Kontinuität
 Transparenz und Kommunikation.
Arbeitsprinzipien, die sich auf Struktur und Arbeitsweise der Einrichtung beziehen
 regionale Vernetzung sowie die Vernetzung im Therapieverbund
 bestmögliche Erreichbarkeit
 kontinuierliche Weiterentwicklung
 Partnerschaft von Haupt- und Ehrenamt
 fachliche und persönliche Weiterqualifikation der Mitarbeiter
 Dokumentation
 Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit.
4.2.4 Das Therapiekonzept und Indikation der ambulanten Rehabilitation und
Behandlung
Die Ambulante Rehabilitation und Behandlung ist eine Entwöhnungsbehandlung im
ambulanten Setting mit dem Ziel der Wiedererlangung der psychischen und physischen
Gesundheit,
der
Leistungsfähigkeit
im
Erwerbsleben
sowie
der
allgemeinen
Lebenszufriedenheit. Im Vorfeld dieser Behandlung erfolgen die Motivationserklärung,
die Diagnostik sowie die Indikationsstellung. Von großer Bedeutung sind die
individuums- und prozessorientierte Zielfindung und die an Hand anamnestischer Daten
vorgenommenen Erarbeitung eines individuellen Therapieplans.
Eine erfolgreiche Behandlung von Abhängigkeitserkrankungen ist ein vielschichtiger
Prozess, der vom Erstkontakt bis zum Abschluss der Nachbehandlungsphase bis zu fünf
138
Jahre dauern kann. Im Therapiekonzept der PSB Sigmaringen (wie auch in vielen anderen
Psychosozialen Behandlungsstellen Deutschlands) stellt die ambulante Gruppentherapie
einen
äußerst
wichtigen
Behandlungsbaustein
dar.
Die
unterschiedlichen
Behandlungsphasen bei Abhängigkeitserkrankungen sowie die dabei relevanten
therapeutischen Einrichtungen sind in folgender Abbildung unter Berücksichtigung der
besonderen Bedeutung der ambulanten Gruppentherapie am Beispiel Alkoholismus
dargestellt:
Abbildung 23 Die Bedeutung der ambulanten Gruppenarbeit während der Behandlungsphasen des
Alkoholismus.
Quelle: Stimmer & Gneist, 1987, S. 154.
Ärztliche Praxis / psychiatrische oder psychotherapeutische
Praxis
Ambulante Gruppenpsychotherapie (offene oder
geschlossene Gruppen) /
Einzelpsychotherapie
Erstkontakt
Motivierung
-ambulant: Praxis, Beratungsstelle,
Selbsthilfegruppen
-stationär: Nervenklinik u. a.
Entgiftung
-ambulant: Praxis
-stationär: Allgemeinkrankenhaus
Entwöhnung
-ambulant: Praxis, Beratungsstelle,
Selbsthilfegruppen
-stationär: Fachklinik
Nachsorge
ambulant: Praxis, Beratungsstelle,
Selbsthilfegruppen
stationär: Rehabilitationsheime
Beratungsstellen unterschiedlicher Institutionen
Ambulante Gruppenpsychotherapie (offene oder
geschlossene Gruppen) /
Einzelpsychotherapie
139
An Hand dieser Abbildung wird deutlich, dass die Gruppentherapie für alle Phasen in der
Behandlung von Abhängigkeitserkrankungen relevant ist. Viele Autoren weisen auf die
besondere Effektivität der ambulanten und stationären Gruppenarbeit mit Abhängigen 73 in
den verschiedenen Behandlungsphasen mit unterschiedlichen Zielsetzungen hin (Feuerlein
et al. 1998, Schmidtobreick 1975, Stimmer 1990):
 In der Phase des Erstkontakts besteht das primäre Ziel der Interventionen in der
Förderung der Motivation für eine weiterführende Behandlung, die Information in
Bezug auf die Therapiemöglichkeiten sowie die Unterstützung bei akuten
Problemen.
 In
der
Entwöhnungsphase
stehen
die
Abstinenz
sowie
die
Therapie
problematischer psycho-sozialer Entwicklungen im Vordergrund.
 In der Nachsorgephase, in der Gruppentherapie hauptsächlich zur Anwendung
kommt, werden als Hauptziele die Stabilisierung des Therapieerfolgs, die
Krisenintervention in Bezug auf Rückfallgefahren sowie der damit in
Zusammenhang stehenden psychischen und sozialen Belastungen, das vertiefende
Bearbeiten
bestehender
psychosozialer
Probleme,
die
Förderung
der
Selbstverwirklichungstendenzen, des autonomen Handelns sowie der sozialen
Fertigkeiten definiert (Stimmer & Gneist, 1987).
Die gemeindenahe ambulante Versorgung Abhängiger, wie sie in Deutschland praktiziert
wird, verhindert einerseits die langfristige Ausgliederung, Stigmatisierung und Isolierung
der Betroffenen und bietet andererseits eine kostengünstige Alternative zu ausschließlich
stationärer Behandlung.
Allgemein betrachtet ist die ambulante Rehabilitation Abhängiger als planvolles und
zielgerichtetes therapeutisches Vorgehen zu verstehen. Die wichtigsten Inhalte sind:
 Erlebnisverarbeitung
 Verhaltensänderung
 Erwerb von Bewältigungsstrategien
 Aufarbeitung der Lebensgeschichte und des Verlaufs der Abhängigkeit
 Stärkung der Selbstregulation
 Entwicklung von Selbsthilfefertigkeiten
73
In Kapitel 3.8 wurde bereits auf die besondere Bedeutung der Gruppe als therapeutisches Agens in der
Behandlung Abhängiger hingewiesen.
140
 Reflexion der Therapiefortschritte
 Anwendung des in der Therapie Erlernten im Alltag.
Die Indikation für den, in dieser Untersuchung relevanten Bereich der ambulanten
Behandlung wird gemäß der Empfehlungsvereinbarung ambulante Rehabilitation Sucht
festgestellt.
4.2
Ablauf der Ambulanten Rehabilitation in der Psychosozialen
Beratung- und Behandlungsstelle Sigmaringen
Der ambulanten Behandlung in der PSB geht eine Beratung voraus, deren Ziel es ist,
Betroffene zur Therapie zu motivieren. Die Entscheidung, das Behandlungsangebot
anzunehmen ergibt sich in der Regel auf Grund des enormen Leidensdrucks der
Betroffenen, aber auch durch die unterschiedlichsten sozialen Zwänge wie Familien- und
Ehekrisen, Arbeitslosigkeit, Vereinsamung oder finanzielle Probleme. Der Patient wird
meist erst nach wiederholten Versuchen, selbst mit diesen Spannungen und Konflikten
fertig zu werden, bei der Beratungsstelle vorstellig. Beim Erstkontakt kommt der
psychosoziale Grunddatenbogen der Suchtkrankenhilfe, der Bogen zur psychosozialen
Diagnose, zur Sozialanamnese und zum Hilfeplan, sowie der EBIS- Bogen Erstkontakt
und Erstgespräch zur Anwendung74. Alle Klienten der PSB Sigmaringen durchlaufen die
gleiche Motivations- und Beratungsphase.
Entsprechend den Richtlinien der PSB gelten folgende Parameter als Voraussetzung für
die Behandlung:
 ein intaktes soziales Umfeld
 die Bereitschaft und Fähigkeit zur Suchtmittelabstinenz
 die Fähigkeit und Motivation zur aktiven Mitarbeit
 die berufliche und soziale Integration.
Ausschlusskriterien für eine Behandlung an der PSB sind schwere psychiatrische
Erkrankungen sowie ausgeprägte physische und neurologische Folgeschäden. Die
genannten Indikationskriterien für die ambulante Behandlung an der PSB Sigmaringen
weisen einen hohen Selektionsgrad auf. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass eine
141
ambulante Therapie von Abhängigkeitserkrankungen in Deutschland nicht sehr
betreuungsintensiv ist (in der Regel findet eine Gruppensitzung wöchentlich statt) und in
einem – im Vergleich zum stationären Setting – relativ ungeschützten Rahmen abläuft.
Wie bereits erwähnt gelten für die Behandlung von Abhängigkeitserkrankungen die
Richtlinien der Empfehlungsvereinbarung Sucht. Die formalen Indikationskriterien für
eine ambulante Rehabilitation an einer PSB sind (Nicklau, 1995):
1) Fähigkeit, nach erfolgter Entgiftung abstinent zu bleiben.
2) Nichtvorhandensein schwerer/akuter neurotischer und psychotischer
Symptomatik.
3) Keine gesundheitlichen Beeinträchtigungen, die eine längerfristige
medizinische Behandlung notwendig machen.
4) Fähigkeit, Verpflichtungen und Absprachen regelmäßig nachzukommen.
5) Eine ausreichende Eigenmotivation (d. h. die Behandlungsmotivation
beruht nicht ausschließlich auf einem Nachgeben gegenüber äußerem
Druck).
6) Im Ansatz vorhandene Introspektionsfähigkeit.
7) Sicherheit in sozialen Bezügen (Arbeitsplatz, familiäre Beziehungen usw.)
8) Bereitschaft zum Abschluss eines Therapievertrages.
9) Bereitschaft des Klienten sowie seiner Bezugsperson, spezifische Angebote
der Beratungsstelle wahrzunehmen (Gruppe, Paargespräche usw.)
10) Fähigkeit zur Gruppenarbeit.
Die Entscheidung, welche Art der Behandlung im Einzelfall erfolgen soll bzw. ob eine
ambulante Rehabilitation im jeweiligen Fall sinnvoll erscheint, obliegt jedoch dem
zuständigen Leistungsträger – im vorliegenden Fall der PSB Sigmaringen bzw. dem
zuständigen Psychologen, Arzt oder Sozialarbeiter. Der Abhängige ist auf Basis des
Aushandlungsprinzips in den Entscheidungsprozess einzubeziehen (Arbeitsvorlage zur
Empfehlungsvereinbarung Sucht 1999, 1998). Bei den individuellen Entscheidungen der
Mitarbeiter der PSB`s spielen äußere (z. B.: Erreichbarkeit der PSB für den Klienten,
Vereinbarkeit der Therapie mit der Arbeit) und innere Bedingungen (z. B.:
Gruppenfähigkeit, soziale Anbindung des Klienten) subjektiver und objektiver Art eine
entscheidende Rolle. Das Bestreben nach Sicherheit bezüglich eines „störungsfreien“
Ablaufs
74
der
Rehabilitationsmaßnahmen
Die Erhebungsbögen befinden sich im Anhang D 1-6.
ist
dabei
unverkennbar.
„Zu
hohe
142
Risikobereitschaft ist dem Gruppengeschehen nicht förderlich, wenn ständig Mitglieder
fehlen, Rückfälligkeit mit dem Suchtmittel laufend Thema ist und sich die Gruppengröße
wegen Abbruch oder Umschreibung von Klienten in die stationäre Therapie chronisch
reduziert (…) zusätzliche Kriseninterventionen, Antragstellungen bzw. Umschreibungen
in stationäre Therapie würden die Drucksituation innerhalb unserer PSB-Arbeit
verstärken“ (Funk, 1995, S. 32). Auch Parameter wie die persönliche Einstellung des
Beurteilenden sowie seine methodische Ausrichtung bestimmen die Akzentuierung
bestimmter Indikationskriterien (Nicklau, 1995). Zusammenfassend kann bezüglich der
Indikationskriterien für die ambulante Rehabilitation an den PSB`s festgestellt werden,
dass diese eine hohe Selektionsrate innerhalb der Klientel zur Folge haben, was mit hoher
Wahrscheinlichkeit die Ergebnisse von Messungen der Behandlungserfolge positiv
beeinflusst.
Der konkrete Behandlungsplan wird je nach vorliegender Störung und Problematik und
psychosozialer Diagnose erstellt. Zur Auswahl stehen Einzel-, Gruppen-, Partner- und
Familiengespräche. Das Behandlungsangebot der PSB Sigmaringen richtet sich auch an
die Angehörigen der Abhängigen, die Beteiligung liegt im Schnitt bei 10-15% der
Gesamtklientel. Auf Grund des beidseitigen Betroffenseins in einem System
wechselseitiger Abhängigkeiten ist eine Einbeziehung der Angehörigen in die Therapie
von entscheidender Bedeutung für den Behandlungserfolg. Weyhreter, Tschuschke, Obert,
Zimmermann und Tauschek (1998) stellten in ihrer Katamnesestudie fest, dass auch die
Angehörigen alkoholabhängiger Personen erhebliche Defizite – vor allem in Bezug auf
das Selbstwertgefühl und das Selbstbild – aufweisen. (Psycho-)Somatische Beschwerden
sind bei den Partnern sogar häufiger anzutreffen als bei den Betroffenen. Die Partnerschaft
leidet meist erheblich unter der Symptomatik des Abhängigen.
Die Motivation der Betroffenen stellt einen weiteren entscheidenden Faktor bei der Wahl
der Therapieform dar – dies gilt im Speziellen für die Teilnahme an der
psychodramatischen Gruppentherapie. In etwa 10 Prozent der Klientel der PSB
Sigmaringen erfüllen die Kriterien für diese Form der rehabilitativen Behandlung. Die
Entscheidung beruht auf der Einschätzung des zuständigen Mitarbeiters der PSB.
Der Behandlungsprozess wird im EBIS-Verlaufsbogen75 festgehalten. Zusätzlich wird die
Suizidalität
75
der
Patienten
mit
Hilfe
Der EBIS-Verlaufsbogen befindet sich im Anhang E.
der
Risikoliste
zur
Abschätzung
der
143
Selbstmordgefährdung76 eruiert. Im Behandlungsverlauf und zum Abschluss der
Behandlung werden von den Mitarbeitern der PSB weitere Variablen wie die Art der
Beendigung der Behandlung und die Einschätzung in Hinblick auf Veränderungen im
abhängigen Verhalten erhoben.
Die in der vorliegenden Evaluationsstudie einbezogenen Patienten nahmen an einer
wöchentlichen
geschlossenen
psychodramatischen
Gruppentherapie
teil.
Die
Teilnehmerzahl war dabei auf 10 Gruppenmitglieder je Psychodramagruppe beschränkt.
Es werden bei einer psychodramatischen Gruppentherapie in der PSB Sigmaringen
jeweils 20 Sitzungen mit einer Dauer von in etwa zwei Stunden abgehalten. Die
regelmäßige Teilnahme an der Gruppentherapie ist Grundvoraussetzung für die weitere
Behandlung. Die Gruppenmitglieder sind zur Einhaltung der Schweigepflicht sowie zur
Abstinenz für den gesamten Zeitraum der Therapie verpflichtet. Wird einer der
Teilnehmer in der Behandlungsphase rückfällig, so muss er seine Probleme in der Gruppe
thematisieren und sich mit den Ursachen auseinandersetzen77. Die Gruppentherapie wird
von zwei Mitarbeitern der PSB Sigmaringen geleitet. Beide sind ausgebildete
Psychodramatherapeuten.
Zu Beginn der psychodramatischen Gruppentherapie wird das sogenannte Namensspiel
durchgeführt, bei dem ein Ball unter den Teilnehmern weitergegeben wird78. Bei dieser
Übung steht die Beschäftigung mit dem eigenen Namen im Mittelpunkt, den
Gruppenmitgliedern soll der Einstieg erleichtert und auf spielerische Art das
Kennenlernen und Vertrautwerden ermöglicht werden.
In einer der folgenden Gruppentherapien wird das Bild „sich in Bewegung setzen“
behandelt. Es geht dabei um ein Bild der Veränderung, die im Gruppenprozess geschehen
soll. Ein Beispiel für diese Gruppenübung ist das Bild der „Reise mit einem Schiff“, das
einige Gruppenmitglieder betreten wollten. Dieses Bild wird in weiteren Sitzungen
verdeutlicht, indem sich die Gruppe mit Gepäckstücken, die auf die Reise mitgenommen
oder zurückgelassen werden sollen, auseinandersetzt. Diese oft sehr lebhaften
Gruppenprozesse, in denen die Teilnehmer miteinander verhandeln, werden mittels
Flipchart verdeutlicht und festgehalten.
76
Die Risikoliste zur Abschätzung der Selbstmordgefahr befindet sich im Anhang F.
Einzelheiten zu den Vereinbarungen vor Gruppenbeginn finden sich in der „Einladung zur Gruppentherapie“
finden sich im Anhang G.
78
Diese sowie die folgenden Ausführungen zur konkreten psychodramatischen Arbeit in der PSB Sigmaringen
basieren auf Informationen, die von Herrn Harter, dem Gruppenleiter, der auch der Leiter der PSB ist, in einem
persönlichen Gespräch weitergegeben wurden (Gespräch vom 24.07.2001).
77
144
In den folgenden fünf bis sechs Gruppensitzungen werden die Sozialen Atome der
Gruppenteilnehmer dargestellt79. Es werden in der Regel die drei wichtigsten Personen im
Leben der Gruppenmitglieder aufgestellt, wobei die räumliche Nähe bzw. die Qualität der
Beziehungen diskutiert wird. Der Protagonist sucht im Anschluss an die Aufstellung für
jede Person seines Sozialen Atoms einen charakteristischen Satz, den diese auch
aussprechen. Für den Protagonisten eröffnet sich durch diese Technik die Möglichkeit in
Interaktion mit diesen Personen zu treten und Veränderungen in seinen Beziehungen
durchzuspielen und zu proben.
In drei Gruppensitzungen werden Entspannungstechniken (Muskelrelaxation nach
Jacobsen und Autogenes Training) vorgestellt und geübt. Ein Termin ist für die Ärztin, die
die Gruppentherapie
begleitet
und eine Nachbesprechung mit
den einzelnen
Gruppenmitgliedern nach Beendigung des Therapieprogramms durchführt, reserviert.
Dabei werden für die Betroffenen wichtige Themen wie Komorbidität, Sexualität und
Folgeerkrankungen diskutiert. An einem Termin wird ein ,Belastungstraining’ in der
Natur durchgeführt. Es handelt sich dabei um sportliche Aktivitäten wie z.B. Klettern. Im
weiteren Verlauf der Gruppentherapie werden wieder verstärkt psychodramatische
Techniken angewendet. Wie bereits erwähnt wird Wert auf die regelmäßige Teilnahme an
den Gruppensitzungen gelegt. Laut Gruppenregeln muss bei einem versäumten Termin
eine Hausarbeit gemacht werden, die meist darin besteht ein Bild zu malen oder etwas zu
basteln, das dann in der Gruppe gezeigt und besprochen wird.
4.3 Untersuchungsmethoden
Die Durchführung einer Katamneseuntersuchung in der ambulanten Therapie von
Abhängigkeitserkrankungen
dient
vor
allem
der
Therapieerfolgsmessung
und
Qualitätssicherung. Der Erfolg wird an Erfolgskriterien gemessen, deren Erfüllung eine
Prognose über den Verlauf der Abhängigkeit und der Folgeprobleme der betroffenen
Personen
erlaubt.
Das
häufigste
Erfolgskriterium
in
der
Therapie
von
Abhängigkeitserkrankungen ist das der Abstinenz. Als weitere objektive Kriterien des
Erfolgs einer Therapie gelten die physische Gesundheit, der Erwerbsstatus, die
Partnersituation und die Freizeitaktivitäten. Zu den subjektiven posttherapeutischen
Kriterien zählen die allgemeine Lebenszufriedenheit, Emotionalität sowie physische und
79
Eine detaillierte Ausführung zur psychodramatischen Technik des Sozialen Atoms ist im Kapitel 3.11.4. zu
finden.
145
psychische Beschwerden. Für diese Untersuchung soll die Annahme gelten, dass sowohl
die subjektiv empfundene Lebenszufriedenheit der Patienten als auch die Abstinenz
entscheidende Parameter der Lebensqualität eines Individuums darstellen und somit auch
in der Katamnese Berücksichtigung finden sollen. Nicht alle der oben genannten
Parameter sind im in dieser Untersuchung verwendeten Katamnesefragebogen enthalten.
In Katamneseuntersuchungen wird seit einiger Zeit zwischen völlig abstinent und
gebessert unterschieden (Pfeiffer, Fahrner & Feuerlein, 1987, S. 314 zit. n. Beck, 1995)80.
Diese Differenzierung stellt sich in der Praxis als durchaus sinnvoll dar, da ein einmaliger
Rückfall im Hinblick auf den wechselhaften Verlauf von Abhängigkeitserkrankungen
nicht unbedingt als Therapiemisserfolg gedeutet werden kann.
Die Datenerhebung erfolgt in – nach spezifischer Fragestellung der Untersuchung und den
einrichtungsspezifischen Bedingungen – unterschiedlichen Zeiträumen. Es herrscht
gegenwärtig keine Einigkeit darüber, ob sich der Verlauf der Abstinenz- und
Besserungsraten bei Abhängigkeitserkrankungen nach einem Jahr nach Therapieende
stabilisiert. Unter dieser Prämisse wäre dies ein sinnvoll gewählter Zeitpunkt für eine
Katamneseuntersuchung. Eine längere Katamnesedauer ist meist mit einer geringeren
Beteiligung an der Befragung verbunden und bedingt somit Probleme bezüglich der
Differenz zwischen pessimistischen und optimistischen Schätzungen der Erfolgsraten. Der
optimale Katamnesezeitraum ist von der jeweiligen Fragestellung der Studie abhängig.
Um Aussagen über die Ursache von Rückfällen zu erhalten, sind 3- und 6-MonatsKatamnesen zu empfehlen. Die zahlreichen Probleme, die sich im Zuge der
Therapieerfolgsmessung ergeben, wurden in Kapitel 2.2 bereits diskutiert. Die
Schwierigkeiten, die sich im Zuge der Analyse der vorliegenden Daten ergaben, sollen in
den folgenden Kapiteln erörtert werden.
4.4.1 Planung und Durchführung der Untersuchung
Ursprünglich bildete die methodische Grundlage der vorliegenden Evaluationsstudie ein
Experimentalgruppen-Design. Die Experimentalgruppe sollte aus Teilnehmern, die ein
halbjähriges, gruppenpsychotherapeutisches, psychodramatisch orientiertes Programm an
der Psychosozialen Beratungsstelle Sigmaringen in den Jahren 1993-1997 absolvierten,
bestehen. Die Kontrollgruppe sollte nach Symptomatik, Geschlecht, Alter und
Familienstand mit den Teilnehmern der Experimentalgruppe parallelisiert ausgewählt
80
Näheres zu den Evaluationskriterien in Kapitel 2.2.
146
werden,
wobei
jeweils
zwei
Kontrollgruppenmitglieder
für
jedes
Experimentalgruppenmitglied bestimmt werden sollten.
Diese Klienten der Beratungsstelle sollten nach der Motivations- und Beratungsphase
keiner psychodramatischen Gruppenpsychotherapie zugeführt, sondern Einzeltherapie
erhalten, einer stationären Therapie zugeführt oder nicht weiter behandelt werden. Leider
wurde dieser Untersuchungsplan in der Praxis nicht realisiert. In den folgenden Kapiteln
wird auf die Änderungen des Designs sowie die daraus entstandenen methodischen
Mängel der Untersuchung eingegangen.
Die soziodemographischen Merkmale der Stichprobe werden in Kapitel 5.1 dargestellt.
Der Datenerhebungsplan umfasst drei Messzeitpunkte:

Der Pretest wurde beim zweiten Kontakt mit der Beratungsstelle durchgeführt und
erfolgte im Zeitraum 1993 - 1997.

Der Posttest nach der Motivations- und Beratungsphase sowie 20 Wochen
psychodramatischer
Gruppentherapie
sollte
ausschließlich
in
der
Experimentalgruppe erhoben werden. Den Posttest nur in der Experimentalgruppe
durchzuführen ist methodisch nicht korrekt, es konnte keine Begründung für dieses
Vorgehen gefunden werden.

Die Follow-up Katamnese erfolgte im Frühjahr 1998, d.h. je nach dem Zeitpunkt
des Erstkontaktes 1 bis 4 Jahre nach Beendigung der Therapie an der
Beratungsstelle.
Abbildung 24: Datenerhebungsplan und verwendete Diagnostika
2. Kontakt mit
der
PSB
EBIS-A mit
ICD-10
Diagnose
Nach der Motivations- und
Beratungsphase erfolgen 20
Wochen
Gruppenpsychotherapie
Katamnese 1998 –
zwischen 1 und 4 Jahre
nach der Intervention
EBIS-A mit ICD-10 Diagnose
(s. Kap. 4.4.2.1)
Katamnesefragebogen, der
aus dem SEDOSNachbefragungsbogen V
1.0 (s. Kap. 4.4.2.2) und
den
Dokumentationsstandards
für die Behandlung von
Abhängigen entwickelt
wurde
147
Zur Methodik der Untersuchung ist kritisch zu bemerken, dass die Festlegung der
Katamnesedauer auf ein vom Zeitraum nach dem Behandlungsende unabhängiges Datum
für einen direkten Vergleich der Ergebnisse der Fragebögen nicht optimal ist. Auch
Vergleiche mit anderen Therapiemethoden oder anderen ambulanten Einrichtungen
werden
mit
dieser
Vorgehensweise
erschwert
bzw.
unmöglich
gemacht.
Katamneseergebnisse sind in der Regel – neben zahlreichen anderen Voraussetzungen –
nur vergleichbar, wenn die Katamnesezeiträume identisch sind.
Die Katamneseerhebung wurde allen Klienten, die das halbjährige psychodramatisch
orientierte Behandlungsprogramm in den Jahren 1993-1997 absolviert hatten, von der
PSB Sigmaringen schriftlich angekündigt81. Der Katamnesebogen wurde von 64% der
Experimentalgruppenmitglieder der ambulanten Psychodramagruppe der Psychosozialen
Beratungs- und Behandlungsstelle Sigmaringen beantwortet, der Datenschwund beträgt
somit lediglich 36%. Von den 70 Patienten der Katamneseteilnehmer beendeten 6 die
Behandlung an der PSB 1993, 7 Patienten 1994, 11 Patienten 1995, 24 Patienten 1996 und
22 im Jahr 1997. Unter Behandlung ist in diesem Kontext die psychodramatische
Gruppentherapie zu verstehen. Die Behandlung und Beratung an der PSB ist in der Regel
nach Beendigung der Gruppentherapie nicht abgeschlossen.
4.4.2 Messinstrumente
Die in der Untersuchung verwendeten Messinstrumente entsprechen dem international
anerkannten
Standard
der
Therapieforschung
auf
dem
Gebiet
der
Abhängigkeitserkrankungen und bilden die Basis zahlreicher Katamneseuntersuchungen
in der Bundesrepublik Deutschland und in anderen Ländern.
4.4.2.1 Das EBIS-A-System:
EBIS (Einrichtungsbezogenes Informationssystem) ist ein Dokumentationssystem für
ambulante,
stationäre
und
teilstationäre
Einrichtungen
der
Suchtkrankenhilfe,
Wohnungslosen- und Straffälligenhilfe in der Bundesrepublik Deutschland und dient der
Klienten- und Leistungsdokumentation. Es wurde von der Deutschen Hauptstelle gegen
Suchtgefahren in Zusammenarbeit mit dem Institut für Therapieforschung (IFT), einem
81
Das Schreiben befindet sich im Anhang H.
148
nicht staatliches Forschungsinstitut mit Aufgabenschwerpunkten im Bereich der
Epidemiologie, der Prävention und der Behandlung substanzbezogener Störungen und
pathologischem Spielverhalten, das verhaltenstherapeutisch orientierte Aus-, Fort- und
Weiterbildungen anbietet, in München entwickelt und 1980 erstmals eingesetzt. Die
Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren wurde 1947 als Hauptarbeitsgemeinschaft
zur Abwehr der Suchtgefahren gegründet. Ihr Zweck ist es, Themen der Suchtpolitik
aufzugreifen, fachliche Diskussionen anzuregen, Stellungnahmen abzugeben und
Richtlinien bzw. Rahmenkonzeptionen zu entwickeln, Fachkonferenzen durchzuführen,
zum Erfahrungsaustausch und Meinungsbildung beizutragen. Die DHS befasst sich mit
sämtlichen Fragestellungen und Problemen, die sich auf stoffunabhängige und
stoffabhängige Störungen beziehen.
Das EBIS-System erfasst Daten zum Versorgungsangebot, zur Nutzung des Angebots, zur
Klientel und zum Stand der Ergebnisse bei Behandlungsende. Mit Hilfe des EBISSystems können auf Einrichtungsebene statistische Auswertungen zur Kontrolle der
eigenen Leistung und zur Entwicklung von Verbesserungsansätzen erstellt werden.
Auf (über)regionaler Ebene dient das EBIS-System vor allem der umfassenden
Darstellung der Versorgungs- und Drogensituation in der Bundesrepublik. Die Teilnahme
an EBIS ist freiwillig.
Auf
Einrichtungsebene
dient
das
EBIS-Dokumentationssystem
vor
allem
der
administrativen und therapeutischen Arbeit mit den Patienten. Die Daten und
Informationen aus dem EBIS-System werden darüber hinaus auf regionaler, nationaler
Ebene genutzt.
Das EBIS-A-System wurde 1989 als computergestützte Version allen interessierten
Einrichtungen der ambulanten Suchtkrankenhilfe zur Verfügung gestellt. EBIS-A82 setzt
sich aus dem EBIS-Kerndatensatz und aus vielen zusätzlichen Datenmodulen und
Arbeitshilfen, dem sogenannten EBIS-spezifischen Datensatz, zusammen. Beide
Datensätze werden vom Institut für Therapieforschung betreut, weiterentwickelt und
ausgewertet. In der vorliegenden Evaluationsstudie wurde der EBIS-A Grunddatenbogen
aus dem Jahr 199683 verwendet. Dieser erfasst Daten zur Klientel, zu Vorbehandlungen,
zur sozialen Anamnese, zur psychosozialen Diagnose, zur (abhängigkeitsbezogenen)
medizinischen Diagnose nach ICD 10, zum Behandlungsverlauf, zur Art der Beendigung
der Behandlung sowie zur Abschlussdiagnostik.
82
Näheres zum System und Programm EBIS unter http://www.ebis-ift.de
149
1999 lag die Teilnehmerzahl des EBIS-A-Projekts bei etwa 530 ambulanten
Einrichtungen der Suchtkrankenhilfe (Simon & Palazzetti, 1998). Träger des EBISSystems ist die EBIS-Arbeitsgemeinschaft (AG), die sich aus folgenden Mitgliedern
zusammensetzt: der Deutschen Hauptstelle gegen die Suchtgefahren e.V., Hamm (DHS),
dem
Deutschen
Caritasverband
e.V.,
Freiburg
(DCV,
Gesamtverband
für
Suchtkrankenhilfe in den Diakonischen Werken der Evangelischen Kirche Deutschlands
e.V., Kassel (GVS), dem Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe e.V. (buss),
dem Fachverband Sucht e.V., Bonn (FVS), dem Deutschen Orden Suchthilfe KdöR,
München (DOS) und dem Institut für Therapieforschung, München.
4.4.2.2 Der Katamnesefragebogen
Der Katamnesefragebogen84 wurde aus den Dokumentationsstandards für die Behandlung
von Abhängigen der Deutschen Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie e.V.
und dem SEDOS-Nachbefragungsbogen V 1.0 der Deutschen Hauptstelle gegen
Suchtgefahren und dem Institut für Therapieforschung in München entwickelt.
Die Dokumentationsstandards wurden 1991 in Überarbeitung der 1985 publizierten
Katamnesestandards von Fachleuten der Deutschen Gesellschaft für Suchtforschung und
Suchttherapie festgelegt. Sie stellen einen Leitfaden zur Erhebung, Darstellung und
Analyse von Grunddaten bei wissenschaftlichen Studien über Abhängigkeitserkrankungen
dar und umfassen den gesamten Bereich der Therapiedokumentation bei Abhängigen. Die
Zielsetzung der Entwicklung der Standards lag vor allem in der Schaffung einer Basis
einheitlicher
Regeln
der
Datenerhebung
für
vergleichbare
wissenschaftliche
Untersuchungen und der Hinweisfunktion für das therapeutische Vorgehen.
Die Katamnesestandards sind speziell für die Behandlung von Abhängigkeitskranken
konzipiert und für sämtliche Behandlungsvarianten (ambulant, stationär und teilstationär)
anwendbar.
Für folgende Bereiche wurden in den Standards Vorgaben festgelegt:
83
84

Planung und Durchführung von Katamnesen

Festlegung wichtiger Fragen mit Antwortkategorien

Auswertung und Publikation der Ergebnisse.
Der EBIS-A Grunddatenbogen befindet sich im Anhang I.
Der Katamnesefragebogen ist im Anhang A zu finden.
150
Die Katamnesestandards unterscheiden zwischen absoluten Mindeststandards und
ergänzenden Standards, die nur bei Bedarf Berücksichtigung finden sollen, sowie
zwischen
Routinekatamnesen
und
Forschungskatamnesen.
Für
erstere
wurden
vollständige Fragebögen entwickelt, die den Anforderungen der Minimalstandards
entsprechen. Diese enthalten folgende Vorgaben:
 Drei Erhebungszeitpunkte: Eingangsuntersuchung, Entlassungsuntersuchung und
eine 1-Jahres-Katamnese. Zusätzlich sind eine 2- und eine 5-Jahres-Katamnese
möglich.
 Eine schriftliche oder mündliche Patientenbefragung als Erhebungsmethode.
 Verfahren der Stichprobenauswahl sind eine Zufallsstichprobe mit mindestens 50
Patienten bzw. sämtliche Patienten eines Untersuchungszeitraums.
Als zusätzliche Festlegungen für Forschungskatamnesen gelten:
 Die Durchführung muss durch eine externe Institution erfolgen.
 Die Durchführung methodenkritischer Untersuchungen: bei einer schriftlichen
Patientenbefragung sind zusätzlich 10% der Patienten mündlich, bei mündlicher
Befragung zusätzlich 10% schriftlich zu befragen.
Das oben erwähnte SEDOS (Stationäres Einrichtungsbezogenes DOkumentationsSystem)
wurde als Dokumentations- und Informationssystem entwickelt und wird vom Institut für
Therapieforschung fachlich betreut. Der Nachbefragungsbogen des SEDOS diente als
Grundlage für den Katamnesefragebogen. Träger des seit 1994 bestehenden Systems ist
die SEDOS-Arbeitsgemeinschaft, der der Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe
(buss) e.V., die Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren e.V., der Deutsche Orden
KdöR
–
Suchthilfe,
der
Fachverband
Sucht
e.V.,
der
Gesamtverband
für
Suchtkrankenhilfe im Diakonischen Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland e.V.
sowie das Institut für Therapieforschung angehören. Die Ziele liegen vor allem in der
Analyse der Versorgungsangebote und des Bedarfs im Bereich der Suchtkrankenhilfe, der
Qualitätssicherung sowie auf Einrichtungsebene der Unterstützung der Diagnostik und der
Durchführung
der
Therapie.
Der
SEDOS-Erhebungsbogen
erfasst
Daten
zu
soziodemographischen Merkmalen der Klienten, Schul- und Berufsausbildung, Wohnund Lebenssituation, Vorbehandlungen, zum Konsum im sozialen Umfeld und zu
Diagnosen. In der Bundesrepublik Deutschland beteiligen sich in etwa ein Drittel aller
stationären Einrichtungen an SEDOS.
151
Der Katamnesefragebogen erfasst Daten analog zu EBIS-A. Die Minimalstandards
enthalten 37 Fragen mit vorgegebenen Antwortkategorien in folgenden Bereichen:
 soziodemographische Daten
 Sozialbeziehung und Lebenssituation
 Schule, Arbeit, Einkommen
 Psychische und physische Gesundheit
 Vorbehandlung und Unterbringung
 Konsum illegaler Drogen
 Medikamentenkonsum
 Alkoholkonsum
 Klassifikation des Suchtmittelmissbrauch
Wird ein Patient aus der Behandlung entlassen, so sind die Behandlungsdauer, die Art und
die Ursache der Entlassung, ein eventueller Rückfall während der Behandlung,
disziplinarische Verstöße sowie die soziale Situation zum Zeitpunkt der Entlassung und
eventuell bestehende psychiatrisch Erkrankungen zu dokumentieren.
Auch bestimmte Merkmale der Behandlungseinrichtung wie die Art der Behandlung, die
Zielgruppe, die Regelverweildauer, der Kostenträger, die Selektionskriterien bei
Aufnahme und Angaben zum Personal sind zu erheben.
Als Erfolgskriterien wurden folgende Parameter definiert: Suchtmittelkonsum, berufliche
Integration, Sozialverhalten und körperliche Gesundheit. Hierbei ist kritisch zu bemerken,
dass sich ein großer Teil der Fragen auf die qualitative und quantitative Erfassung des
Suchtmittelverhaltens bezieht. Der Suchtmittelkonsum wird über exakte quantitative
Kategorien zum täglichen Konsum der psychotropen Substanzen, über Fragen zu
Trinkmustern, über die Dauer von Abstinenzphasen sowie über die Art der konsumierten
psychotropen Substanzen definiert. Gerade durch die quantitativen Daten ergeben sich
jedoch Probleme in Hinsicht auf die Reliabilität und Validität von Patientenangaben. Die
Reliabilität und Validität von Patientenangaben bezüglich ihres Konsums psychotroper
Substanzen waren Gegenstand vieler Studien, die einheitlich zum Ergebnis gelangten,
dass diese in hohem Maße invalide sind. Reliable und valide Ergebnisse resultieren aus
Fragen in groben objektivierbaren Kategorien nach Rückfällen, nach Symptomen von
Abhängigkeit und nach Wiederbehandlungen im Katamnesezeitraum, wenn diese mit
einer konservativen Schätzung zu einer Gesamtaussage (abstinent, zeitweilig abstinent
oder rückfällig) geformt werden (Süß, 1995).
152
Auch gilt für Deutschland als Therapieziel bei Abhängigkeitserkrankungen die Abstinenz,
was eine quantitative Erfassung des Konsums der psychotropen Substanz verzichtbar
macht.
Wie bereits erwähnt kann die Katamnese sowohl in Form eines Interviews, als auch in
Form einer schriftlichen Befragung vorgenommen werden, wobei der persönliche Kontakt
mit einem qualifizierten (externen und unabhängigen) Interviewer in der Regel
vorzuziehen ist, da die Motivation zur Teilnahme an weiteren Befragungen steigt und eine
Überprüfung der Aussagen durch Urinanalysen und Atemluftkontrollen ermöglicht wird.
Generell kann jedoch nicht davon ausgegangen werden, dass schriftliche Katamnesen zu
weniger validen Aussagen führen (Deutsche Gesellschaft für Suchtforschung und
Suchttherapie
e.V.
(DG-Sucht),
1992).
Die
Wahl
der
Methode
zur
Katamnesedurchführung ist verständlicherweise primär durch die in der Studie bzw. der
Einrichtung vorhandenen Ressourcen bestimmt. Zur Erhöhung der Rücklaufquote bei
Katamnesen wird in den Dokumentationsstandards der DG-Sucht zur Implementierung
eines Erinnerungssystems geraten. Wird ein Anschreiben bei schriftlicher Katamnese
kurzfristig nicht beantwortet, so folgen in Abständen Mahnbriefe bzw. Telefonanrufe,
anschließend eine direkte Kontaktaufnahme durch einen Interviewer.
Die Katamnese sollte – wie bereits erwähnt – im Idealfall nach einem festgelegten
Zeitraum je nach Beendigung der Behandlung stattfinden, unabhängig von der Art der
Beendigung (planmäßig oder vorzeitig wegen Abbruch, disziplinarischer Entlassung oder
Verlegung). Die DG-Sucht empfiehlt für die Standard-Katamnese ein Jahr nach Abschluss
der Behandlung, für die Evaluation kurzfristiger Veränderungen ein zusätzliches
Interview nach sechs Monaten und längerfristige Katemnesen unter Berücksichtigung von
in diesem Zeitraum erfolgten Einflüssen auf den Behandlungserfolg (z.B. eine erneute
Therapie) nach zwei bzw. fünf Jahren.
Als zusätzliches Messinstrument wurde von den Mitarbeitern der PSB – dem jeweiligen
Berater oder Therapeuten – während der Intervention ein nicht standardisiertes
Behandlungsblatt85 (auch Verlaufsbogen genannt) geführt, auf dem stichwortartig die
Abläufe, Gesprächsinhalte, eigene Eindrücke, Überlegungen zu Übertragungen, etwaige
Abmachungen und Merkposten festgehalten wurden. Des Weiteren arbeitet die PSB
Sigmaringen mit dem Gruppenklima-Fragebogen86 (GCQ-S), der das subjektive Befinden
85
Das Behandlungsblatt konnte aus Datenschutzgründen im Rahmen dieser Studie nicht eingesehen werden. Die
Daten des EBIS-Systems sind verschlüsselt.
86
Original-Fragebogen ist im Anhang J zu finden.
153
sowohl der einzelnen Gruppenmitglieder als auch der gesamten Gruppe in der aktuellen
Gruppensitzung sowie die Einschätzung der Kommunikation und der Beziehungen
innerhalb der Gruppe thematisiert.
Folgende Unterlagen87 sind ebenfalls an die Gruppenmitglieder weitergegeben worden,
um eine detaillierte Evaluation der Interventionen zu ermöglichen:
 Ein Wochenbericht, bei dem jeder Teilnehmer am Rehabilitationsprogramm
täglich
die
Bereiche
Rückfallgefährdung
an
Partnerschaft,
Hand
Familie,
eines
Beruf,
Freizeit
Stimmungsbarometers
und
beurteilt.
Auffälligkeiten, die im Wochenverlauf auftreten werden in der Gruppe
besprochen.
 Der Bogen: „Wege zum Ziel. Möglichkeiten zur Problemlösung“ der Gesellschaft
zur Qualitätssicherung der Sozial- und Suchttherapie, bei dem die Ausgangslage
sowie das Ziel der Behandlung definiert und die schrittweise Umsetzung
dokumentiert wird.
 Der Abstinenzbogen: der Patient hält Gefährdungen der Abstinenz bzw. Anlässe
zum Rückfall fest und beschreibt Coping-Strategien, die er in der jeweiligen
Situation anwenden konnte.
 Auf einem weiteren Blatt sollen die individuellen Vor- und Nachteile bzw. die
Gründe für oder gegen den Alkoholkonsum schriftlich dokumentiert werden.
 Das Blatt „Energiekuchen“ dient der subjektiven Einschätzung der Verteilung der
Energieressourcen der Gruppenmitglieder.
 Auf dem Bogen: „Wie viel Raum nehmen meine Gefühle in meinem Leben ein?
Was wünsche ich mir anders?“ sollen die Patienten ihre individuellen Gefühle der
Wut, Trauer, Angst und der Freude auf Skalen von 0 bis 10 einstufen.
 Eine
Unterlage
ermöglicht
die
Einschätzung
des
Verlaufs
der
Abhängigkeitserkrankung. Die Trinkmenge soll im Lebensverlauf eingeschätzt
und besondere Ereignisse in Relation dazu gesetzt werden.
Die beschriebenen Unterlagen sollen vor allem bei der Beantwortung folgender, von der
PSB Sigmaringen formulierten Fragestellungen dienen:
(1) Welche Situationen haben im Verlauf der Rehabilitation zu einem Rückfall
entscheidend beigetragen?
87
Die Unterlagen sind im Anhang K 1-7 zu finden.
154
(2) Welche Einstellungen des Patienten haben zum Rückfall in das
Suchtverhalten beigetragen?
(3) Welche protektiven Faktoren wurden in der Rehabilitationsphase vom
Betroffenen als unterstützend erlebt?
Die oben genannten, von der PSB Sigmaringen zusätzlichen erhobenen Behandlungsdaten
wurden für diese Untersuchung nicht herangezogen, da eine Anonymisierung nicht
möglich war und die Einhaltung der Verschwiegenheitspflicht Vorrang hatte.
4.4.3 Auswertungsmethoden und Operationalisierung
Die Daten wurden mit Hilfe des EBIS-Programms88 verarbeitet. Diese Software stellt ein
leistungsfähiges und einfach zu bedienendes Programm mit hoher Funktionalität dar. Es
zeichnet sich durch seine „intuitive Bedienbarkeit“ aus, d. h. es ist selbsterklärend. Die
Grundversion des EBIS-Programms dient vor allem der Datenverwaltung und ermöglicht
die Definition beliebiger Zeit- und Datenfilter. Die Daten können über eine
Exportschnittstelle zur grafischen Darstellung in das EXCEL-Programm importiert
werden. Des Weiteren ermöglicht EBIS für alle Variablen Häufigkeitsverteilungen und für
beliebige Kombinationen Kreuztabellen für die einrichtungsinterne Statistik.
Die statistischen Berechnungen wurden mit dem Programmsystem SPSS 10.089
durchgeführt. Das Alpha-Signifikanzniveau wurde mit 5% definiert. Zur Prüfung von
Mittelwertsunterschieden
Vergleichsstichprobe
verschiedener
sowie
zur
Variablen
Katamnesestichprobe
Veränderungsmessung
mit
(Beginn
der
der
Therapie/Katamnesezeitpunkt) wurden t-Tests, zur Feststellung der Zusammenhänge von
Variablen untereinander Korrelationen und zum Vergleich von Häufigkeiten Chi-QuadratTests durchgeführt.
Die Variable Abstinenz wird im Katamnesefragebogen mit folgender Frage erfasst:
Wie beschreiben Sie selbst Ihren Umgang mit Suchtmitteln im letzten halben Jahr?
88
1
Kein Suchtmittelkonsum mehr
2
Nur gelegentlicher Konsum
3
Wöchentlicher Konsum
4
Täglicher/fast täglicher Konsum
5
Täglich mehrmaliger Konsum
Nähere Informationen zur EBIS-Systemfamilie unter: http://www.ift.de/download/Ebis_Broschüre2003.pdf
Auf die für die Analyse der Daten verwendeten Verfahren wird in diesem Zusammenhang nicht näher
eingegangen – sie sind im SPSS-Handbuch (Bühl & Zöfel, 2000) erläutert.
89
155
Für die statistische wurde für die Berechnungen in eine dichotome Variable umgewandelt:
per definitionem gilt ein Patient als abstinent, wenn er in den letzten sechs Monaten vor
der Katamneseuntersuchung kein Suchtmittel konsumiert hatte.
156
5. UNTERSUCHUNGSERGEBNISSE
Die Datenanalyse basiert auf der von der PSB Sigmaringen entworfenen Fragestellungen.
Auf Grund der bereits angesprochenen methodischen Mängel und der Tatsache, dass der
Katamnesefragebogen auf einige Bereiche nicht ausreichend eingeht, blieben manche
Fragen offen. Im folgenden Abschnitt werden die Probleme, die im Zuge der
Datenanalyse entstanden sowie die Ergebnisse der Analyse besprochen.
5.1 Soziodemografische Merkmale der Stichprobe
Die Katamneseteilnehmer waren bestimmten Auswahlkriterien unterworfen. Die
Selektion der Katamnesestichprobe erfolgte in mehreren Schritten:
 Zunächst mussten die oben beschriebenen Zugangskriterien für eine Behandlung
in der PSB im Allgemeinen sowie für die psychodramatische Gruppentherapie im
Speziellen erfüllt werden. Die Motivation der Betroffenen spielt in diesem
Zusammenhang in der PSB Sigmaringen – laut Auskunft des Leiters der
Einrichtung – eine besondere Rolle. Diese Tatsache stellt in Hinblick auf die
Vergleichbarkeit der Ergebnisse ein nicht unrelevantes Kriterium dar.
Insgesamt wurden für die Katamneseuntersuchung alle Klienten, die zwischen 1993 und
1997 an einer psychodramatischen Gruppentherapie an der PSB teilgenommen hatten,
angeschrieben.
 20 von den 173 Klienten konnten nicht erreicht werden.
 26 von den 153 Personen, die auf das Schreiben reagiert haben, lehnten die
Teilnahme an der Erhebung ohne Angabe von Gründen ab.
 Weitere 17 Klienten nahmen trotz anfänglicher Zusage nicht an der
Katamneseuntersuchung teil. Es bleiben somit 110 Personen, die an der
Katamneseuntersuchung teilgenommen haben.
 Das Beratungs- und Behandlungsangebot der PSB gilt prinzipiell auch für
Angehörige
und
sonstige
Katamneseuntersuchung
Bezugspersonen
wurden
der
ausschließlich
Betroffenen.
Personen
mit
In
der
eigener
Suchtproblematik berücksichtigt. 40 Klienten mussten aus diesem Grund von der
Analyse ausgeschlossen werden.
157
Abbildung 25: Selektion der Katamneseteilnehmer
20
nicht erreicht
abgelehnt
26
70
zugesagt, jedoch nicht
teilgenommen
ohne eigene
Suchtthematik
teilgenommen
17
40
Von den nach der beschriebenen Selektion für die Untersuchung relevanten 70 Personen
(immerhin 40,46%) nahmen 24 (13,9%) schriftlich und 46 (26,6%) mündlich an der
Untersuchung teil. Davon wurden 18 Klienten im Zuge eines Hausbesuchs von einem
externen Interviewer befragt, 28 in der PSB. Wird in den folgenden Abbildungen und
Statistiken von der Katamnesestichprobe gesprochen, so beziehen sich die Zahlen
ausschließlich auf diese 70 Katamneseteilnehmer.
Die Non-Responder (Personen, die nicht auf die Kontaktaufnahme der PSB bezüglich der
Katamneseuntersuchung reagiert haben) gehen in den folgenden Analysen in die
Stichprobe
der
Gesamtheit
der
Klienten
der
PSB
ein.
Non-Responder
bei
Katamneseuntersuchungen haben in der Regel ungünstige Behandlungsergebnisse und
Prognosen. Wird jedoch der Non-Responder-Anteil auf die Gesamtklientel bezogen, so
werden die Abstinenz- und Besserungsraten unterschätzt, auch wenn sich die
Behandlungsergebnisse direkt proportional zur Höhe der follow-up Quote verhalten. Geht
man davon aus, dass alle Non-Responder nicht erfolgreich (abstinent) sind, so unterschätzt
man im Allgemeinen den Erfolg einer Behandlung. Nimmt man jedoch an, dass sie
repräsentativ für alle Behandelten sind, so überschätzt man den Erfolg. Der tatsächliche
Wert ist „zwischen den beiden Quoten jeweils bei vorzeitiger und planmäßiger
Beendigung der Behandlung zu erwarten, da erfahrungsgemäß auch unter den
Nichterreichten erfolgreiche Patienten/innen anzutreffen sind“ (DGSS, 1992).
158
Auf Grund der Tatsache, dass für diese Studie keine Kontrollgruppendaten vorliegen
wurden als Vergleichsstichprobe die Personen der Gesamtklientel der PSB aus den Jahren
1992-1999 herangezogen, die wie die Teilnehmer an der Katamnesebefragung auf Grund
einer Abhängigkeitserkrankung an der PSB Sigmaringen behandelt oder beraten wurden
(1668 Personen). An Hand des Vergleichs soll vor allem die Repräsentativität der
Katamnesestichprobe ermittelt werden.
Bei häufigen signifikanten Unterschieden zwischen der Gesamtklientel der PSB und der
Katamnesestichprobe ist eine Verallgemeinerung der Ergebnisse nur bedingt möglich.
Kann eine Repräsentativität festgestellt werden, so ist eine Vergleichbarkeit der
Ergebnisse mit Stichproben aus anderen Suchtberatungsstellen bzw. mit Ergebnissen aus
ähnlichen Bereichen möglich, die ebenfalls für die Gesamtklientel repräsentative
Stichproben verwenden.
Die folgende Tabelle stellt die Daten der Klienten der PSB Sigmaringen90, die in den
Jahren 1992 bis 1999 die Beratungsstelle wegen einer Abhängigkeitsproblematik
aufgesucht haben, der Katamnesegruppe gegenüber. Angehörige der Abhängigen, die
ebenfalls zur Klientel der PSB zählen, wurden (wie bei der Katamnesestichprobe) nicht in
die Berechnungen aufgenommen.
Abbildung 26: Darstellung der signifikanten Abweichungen bei bestimmten Parametern im Vergleich
zwischen Katamnesestichprobe und Gesamtklientel der PSB Sigmaringen aus den Jahren 1992-1999
(signifikante Unterschiede sind grau unterlegt)
Katamnese
in Prozent
Familienstand
Ledig
Verheiratet
Verheiratet, getrennt lebend
Geschieden
Verwitwet
Partnerbeziehung
Alleinstehend
Zeitweilige Beziehungen
feste Beziehung(en)
Vorbehandlungen
Keine
90
Gesamt
asymptotische
Signifikanz
in Prozent
25,7
57,1
2,9
10
2,9
41,5
35,9
4,5
13,5
1,7
22,9
7,1
68,6
35,3
11,1
51,1
P < .01
P < .001
n. s.
n. s.
n. s.
n. s.
P < .05
n. s.
p < .005
38,6
35,5
n. s.
Bei allen Klienten, die die PSB Sigmaringen aufsuchen, kommt der EBIS-A Grunddatenbogen zur
Anwendung. Der Aufbau der folgenden Tabelle ist an diesem Bogen orientiert.
159
Entgiftungsbehandlung
ambulante Suchtbehandlung
stationäre Entwöhnung
Substitutionsbehandlung
sucht-bezogene Selbsthilfegruppe
nicht-suchtspezifische Institution
Beruflicher Status
Azubi/Umschüler
(Hilfs-)Arbeiter
Facharbeiter
Angestellter
Beamter
Mithelfendes Familienmitglied
Selbständiger
Sonstige Erwerbsperson
Schüler/Student
Hausmann
Rentner
Sonstige Nichterwerbsperson
Erwerb derzeit
Vollzeitbeschäftigung
Teilzeitbeschäftigung
arbeitslos gemeldet
Arbeitssuchend gemeldet
Sonstiges (z.B. Erziehungsurlaub
Einkommen
Lohn/Gehalt/Einkommen
Ausbildungsbeihilfe/AFG/Unterhaltsgeld
Krankengeld/Übergangsgeld
Rente/Pension
Angehörige
Vermögen
Arbeitslosengeld
Arbeitslosenhilfe
Sozialhilfe
Gelegenheitsjobs/unregelm.
Einkommen
Sonstige Einkünfte
Beendigung der Behandlung
Planmäßig durch Vermittlung
Planmäßig durch Einrichtung
Abbruch durch Einrichtung
Abbruch durch Klient
Tod
Sonstiges
51,4
50
44,3
k. A.
15,7
k. A.
56,2
45,1
4,9
0,8
7
0,5
n. s.
n. s.
n. s.
n. s.
p < .005
n. s.
4,3
18,6
17,1
27,1
2,9
1,4
8,6
k. A.
k. A.
5,7
2,9
7,1
4,1
27,6
18,9
10,1
0,7
1,1
4,7
1,4
3,8
6,2
4,3
4,5
n. s.
n. s.
n. s.
P < .002
P < .05
n. s.
n. s.
n. s.
n. s.
n. s.
n. s.
n. s.
41,4
10
2,9
1,4
k. A.
k. A.
71,4
1,4
k. A.
2,9
7,1
k. A.
5,7
1,4
4,3
27,6
4,1
16
1,6
1
P < 0.5
P < .05
P < .001
n. s.
n. s.
47,9
2,7
1,9
5
10,4
0,2
10,4
9
8,5
P < .001
n. s.
n. s.
n. s.
n. s.
n. s.
n. s.
P < .05
n. s.
k. A.
2,9
0,6
1
n. s.
n. s.
11,4
65,7
0
20
0
0
12,1
27,1
3,3
43,5
0,4
2,35
n. s.
P < .002
n. s.
P < .001
n. s.
n. s.
Die Klienten der Katamnesestichprobe waren im Schnitt 40,6 Jahre alt, die Personen der
Vergleichsgruppe durchschnittlich drei Jahre jünger, was einen signifikanten Unterschied
darstellt. Des Weiteren hatten die Katamneseteilnehmer im Vorfeld der Behandlung an
der PSB signifikant häufiger Kontakt zu Selbsthilfegruppen Abhängiger, befanden sich
häufiger in einer festen Beziehung und waren zu einem geringeren Anteil arbeitslos
160
gemeldet bzw. waren sie beruflich besser integriert. Der Unterschied bezüglich des Alters
der Klienten ist für den Behandlungserfolg als weniger relevant einzustufen als eine
stabile Partnerschaft und berufliche Integration.
In Anbetracht der Tatsache, dass der Familienstand eine wichtige Prognosevariable des
Therapieerfolgs darstellt (Süß, 1988) soll die folgende Abbildung der Verdeutlichung des
hohen Prozentsatzes (58%) an verheirateten Katamneseteilnehmern dienen. 68,6% der
Befragten gaben an, in einer festen Partnerschaft zu leben.
Abbildung 27: Familienstand der Katamneseteilnehmer (in Prozent)
58%
3%
Ledig
Verheiratet
10%
verheiratet, getrennt lebend
Geschieden
3%
Verwitwet
26%
Bei den Parametern Geschlecht, Art der Berufsausbildung, gleichzeitig zur Behandlung in
der PSB stattfindende stationäre Behandlung, Vorliegen einer problematischen
Verschuldung, Wohnsituation oder Wohnorte ergaben sich im Vergleich keine
signifikanten Abweichungen.
Entscheidende
Unterschiede
konnten
im
Hinblick
auf
einige
Parameter
des
Behandlungssettings festgestellt werden. Die Teilnehmer an der Katamnese wurden im
Schnitt in etwa 40 Wochen länger betreut und hatten signifikant häufiger Kontakt zur
Beratungsstelle (im Durchschnitt 35 gegenüber 12 Einzel- und 29 gegenüber 5
Gruppenkontakte). Dieser Punkt lässt Zweifel darüber aufkommen, in wie weit die
Katamnesestichprobe in Bezug auf den Behandlungserfolg durch die psychodramatische
Gruppentherapie besonders aussagekräftig ist. Die Häufigkeit der Gruppenkontakte kann
durch die Teilnahme an der Psychodramatherapie erklärt werden. Die Tatsache, dass auch
161
häufiger Einzelkontakte91 stattfanden, bringt die Vermutung nahe, dass diese
Klientengruppe als nicht repräsentativ für die Gesamtheit der Klientel der PSB
Sigmaringen betrachtet werden kann. Für zukünftige Untersuchungen sollte die
Vergleichbarkeit im Hinblick auf das Behandlungssetting besondere Beachtung finden.
Die in der Studie festgestellte positive Wirkung der Behandlung an der PSB Sigmaringen
kann auf Grund der intensiveren Betreuung der Teilnehmer nicht eindeutig auf die
Therapiemethode bezogen werden.
Ein Abbruch der Behandlung durch den Klienten fand in der Katamnesegruppe wesentlich
seltener statt als in der Gesamtklientel (20 zu 43,5 Prozent). Es ist zu vermuten, dass
dieses Ergebnis darauf zurückzuführen ist, dass bei der Auswahl der mit
psychodramatischer Gruppentherapie behandelten Patienten auf die Motivation der
Betroffenen in der PSB Sigmaringen besonderer Wert gelegt wird.
Bezüglich der Diagnosen lässt sich feststellen, dass es im Vergleich zwischen der
Katamnesegruppe und der Gesamtklientel ausschließlich in Bezug auf die Häufigkeiten
der Diagnose pathologisches Spielverhalten und Missbrauch von Substanzen, die keine
Abhängigkeit
hervorrufen
signifikante
Unterschiede
gibt
(häufiger
in
der
Katamnesegruppe).
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass vor allem die signifikanten Unterschiede
in Bezug auf
 die soziale und berufliche Integration (in der Katamnesegruppe besser)
 das Alter (Altersdurchschnitt in der Katamnesegruppe um 3 Jahre höher) sowie
 das Behandlungssetting (im Schnitt eine 40 Wochen längere Betreuung bei den
Katamneseteilnehmern sowie häufigere Einzelkontakte)
 die ICD-10 Diagnosen pathologisches Spielverhalten und Missbrauch von
Substanzen, die keine Abhängigkeit hervorrufen (in der Katamnesegruppe
häufiger)
bei der Beurteilung des Erfolgs der psychodramatischen Gruppentherapie an der PSB
Sigmaringen Berücksichtigung finden müssen. Die oben beschriebene Selektion der
Katamnesestichprobe ergab eine Patientengruppe, die als nicht repräsentativ für die
91
Die Einzeltherapie wird vor psychodramatischem Hintergrund und mit entsprechenden Interventionen
durchgeführt (die Information stammt aus einem persönlichen Gespräch mit dem Leiter der PSB Sigmaringen
vom 24.07.2001).
162
Gesamtklientel der PSB Sigmaringen einzustufen ist. Es können demnach nach
wissenschaftlichen Kriterien auch keine Vergleiche mit Ergebnissen aus Studien anderer
Beratungsstellen gezogen werden.
Ein potentieller Behandlungserfolg muss bei dem vorliegenden Untersuchungsdesign
ohne Randomisierung und ohne Kontrollgruppen kritisch betrachtet werden.
5.2 Ergebnisse der Katamneseuntersuchung
Im Hinblick auf die Ergebnisse der Katamneseuntersuchung ist in erster Linie das
Erfolgskriterium Abstinenz von Interesse. Es soll in diesem Zusammenhang nochmals
festgehalten werden, dass für diese Untersuchung der Begriff Abstinenz im Sinne von
Suchtmittelfreiheit (während der letzten 6 Monate vor der Katamneseuntersuchung)
definiert ist, weshalb auch die entsprechende Frage des Katamnesebogens „Wie
beschreiben Sie selbst Ihren Umgang mit Suchtmitteln im letzten Jahr“ mit fünf
Antwortkategorien (kein Suchtmittelkonsum mehr, nur gelegentlicher Konsum,
wöchentlicher Konsum, täglicher/fast täglicher Konsum und täglich mehrmaliger
Konsum) für die Auswertung in eine dichotome Variable (abstinent bzw. rückfällig)
umgewandelt wurde.
Folgende Tabelle zeigt die Angaben der Klienten der PSB bezüglich ihres
Suchtmittelkonsumverhaltens im letzten halben Jahr vor dem Katamnesezeitpunkt auf.
Dazu ist zu bemerken, dass die Katamnesebefragung im Einzelfall ein bis vier Jahre nach
der Therapie in der PSB stattfand, was auch im Hinblick auf den Zeitraum der Abstinenz
eine große Spannbreite bedeutet. Vergleiche mit Ergebnissen aus anderen Studien werden
durch den uneinheitlichen Katamnesezeitraum erheblich erschwert.
163
Abbildung
28:
Angaben
zum
Suchtmittelkonsum
während
des
letzten
Halbjahres
vor
der
Katamnesebefragung
Täglich mehrmaliger Konsum
0
Täglicher / fast täglicher
Konsum
2
Wöchentlicher Konsum
1
Gelegentlicher Konsum
8
Kein Suchtmittelkonsum
51
0
10
20
30
40
50
60
Anzahl der Betroffenen
Die Abstinenzrate, die sich in der Katamneseuntersuchung ergibt, liegt bei 72,9 Prozent
der Befragten (51 von insgesamt 70 Personen). Im Vergleich zu anderen
Evaluationsstudien ambulanter Abhängigkeitsbehandlungen handelt es sich um einen sehr
hohen Wert92. Elf der befragten Katamneseteilnehmer wurden im letzen halben Jahr
rückfällig, acht Personen machten keine Angaben bezüglich ihres Suchtmittelkonsums. Zu
dieser Gruppe ist zu sagen, dass bei sieben der acht Personen die Befragung mündlich
durchgeführt wurde und bei vier Klienten eine Essstörung vorlag, bei der die Frage nach
dem Suchtmittelkonsum nicht geeignet ist. Die Ermittlung der Abstinenz bei Essstörungen
hätte über Angaben zur Gewichtszunahme oder die Häufigkeit an bulimischen Anfällen
erfolgen können. Unter den 8 Katamneseteilnehmern, die die Frage nach dem
Suchtmittelkonsum nicht beantwortet hatten, waren 4 Personen, bei denen eine Essstörung
diagnostiziert worden war. Die für diese Patienten ungeeignete Fragestellung dürfte die
Ursache für die Nichtbeantwortung gewesen sein. Warum die anderen 4 Personen diese
Frage nicht beantworten wollten, ist unklar.
Betrachtet man die häufigsten Störungsbilder in Hinsicht auf die Abstinenzraten im
Einzelnen, so ergibt sich folgendes Bild:
92
Pfeiffer, Fahrner & Feuerlein (1987) stellten eine Abstinenzrate von 52% für die ambulante Therapie mit
Alkoholabhängigen fest. Bei Soyka et al. (1997) betrug die Abstinenzquote in ähnlichem Setting 48%.
164
Abbildung 29: Abstinenzraten einzelner Störungsbilder im Vergleich
50%
Opiate
3
prozentueller Anteil in der
jeweiligen Suchtmittelkategorie
Anzahl der Rückfälle
29,51%
Alkohol
20
0
5
10
15
20
25
In der Gruppe der Alkoholabhängigen (60 Personen) gaben lediglich 29,51 Prozent der
Befragten an, in den letzten 6 Monaten vor der Katamneseuntersuchung nicht abstinent
gewesen zu sein. Bei den Opiatabhängigen (4 Personen) waren es immerhin 50 Prozent
der Katamneseteilnehmer.
Im Zusammenhang mit der Abstinenzrate muss erwähnt werden, dass sich 16
Katamneseteilnehmer (davon 11 Rückfällige) nach der Behandlung an der PSB im
Katamnesezeitraum einer erneuten Behandlung unterzogen hatten. Die überwiegende
Anzahl der Betroffenen befand sich in einer stationären Behandlung in einer
suchtspezifischen Einrichtung (64,7 Prozent). In diesen Fällen kann die Abstinenz nicht
eindeutig auf die Behandlung an der PSB Sigmaringen zurückgeführt werden. Des
Weiteren ist zu beachten, dass sich die entsprechende Frage im Katamnesebogen auf den
Suchtmittelkonsum im letzten halben Jahr vor der Katamnesebefragung bezieht. Es kann
nicht ausgeschlossen werden, dass die Abstinenzrate geringer ausfallen würde, wenn sich
die Frage den gesamten Zeitraum nach der Behandlung erfassen würde.
165
Folgende Abbildung soll der Veranschaulichung der Verteilung der ICD-10 Diagnose
„Abhängigkeitssyndrom“ in der Katamnesegruppe nach Substanzgruppen aufgeteilt
dienen.
Abbildung 30: Verteilung der Häufigkeiten bestimmter Störungsbilder in der Katamnesegruppe
(Mehrfachnennungen waren möglich)
Missbrauch von Substanzen,
die keine Abhängigkeit
hervorrufen
1
Cannabinoide
2
Tabak
3
Essstörungen
4
Opioide
4
Alkohol
60
0
10
20
30
40
50
60
70
Anzahl der Betroffenen
Die große Mehrheit der Katamneseteilnehmer zeigten ein Abhängigkeitssyndrom durch
Alkohol (F10) (60 Personen, 85,7%), jeweils 4 Personen waren abhängig von Opioiden
(F11) bzw. hatten Essstörungen (F50) (jeweils 5,7%), drei Personen waren Tabakabhängig
(F17) (4,3%), 2 Personen waren abhängig von Cannabinoiden (F12) (2,9%) und eine
Person von Substanzen, die keine Abhängigkeit hervorrufen (F55 – eigentlich
„Missbrauch von nichtabhängigkeitserzeugenden Substanzen“, in der PSB wurde jedoch
eine Abhängigkeit diagnostiziert; gemeint sind Arzneimittel und Naturheilmittel wie
Laxanzien, Antidepressiva und Analgetika) (1,4%).
Schädlichen Gebrauch von Alkohol wiesen 5 Personen auf, von Substanzen, die keine
Abhängigkeit hervorrufen 3 Personen, jeweils 2 Personen in Bezug auf Cannabinoide und
Hypnotika bzw. Sedativa (F13), eine Person betrieb schädlichen Gebrauch von Opioiden
und 3 Personen fielen unter die Diagnosegruppe pathologisches Spielverhalten (F63). In
166
der Katamnesestichprobe gab es keine Diagnosen bezüglich Kokain (F14), andere
Stimulantien (F15), Halluzinogene (F16) oder andere psychotrope Substanzen (F19).
Von großem Interesse ist in diesem Kontext natürlich die Frage nach den Ursachen für die
Rückfälle93. Im Katamnesefragebogen beschäftigen sich einige Fragen (Frage 14-27) mit
den Lebensumständen während des letzten halben Jahres vor der Katamneseuntersuchung.
Frage 14 zielt direkt auf konkrete Situationen, die zum Suchtmittelkonsum beigetragen
haben ab. Folgendes Diagramm stellt die Antworten auf diese Frage dar.
Abbildung 31: Suchtmittelkonsum begünstigende Situationen (Mehrfachnennungen waren möglich)
1
Direkte Suchtmittelangebote
3
Isolation / Einsamkeit
5
Langeweile
6
Streit / Ärger / Frust
Probleme mit Polizei und
Justiz
1
Gesundheitliche Probleme
1
Situationen in der
Partnerschaft/Familie
4
0
Situationen im Arbeitsleben
0
1
2
3
4
Anzahl der Betroffenen
93
Zum aktuellen Stand der Rückfallforschung siehe Kapitel 2.2.
5
6
7
167
Aus der Abbildung geht deutlich hervor, dass die Klienten hauptsächlich Situationen, in
denen Streit, Ärger und Frust erlebt wurden, als Auslöser für einen Rückfall genannt
haben. Es folgen Langeweile, Situationen in Partnerschaft und Familie sowie das Gefühl
der Einsamkeit und Isolation. Nur je ein Mal wurden direkte Suchtmittelangebote,
Probleme mit Polizei und Justiz sowie gesundheitliche Probleme als Rückfallssituationen
angegeben. Situationen im Arbeitsbereich führten laut Angaben der Befragten in keinem
der Fälle zum Suchtmittelkonsum.
Abbildung 32: Suchtmittelkonsum begünstigende Einstellungen (Mehrfachnennungen waren möglich)
Sonstiges
2
Konsum ohne
ersichtlichen Grund
4
Konsum, um akzeptiert
zu werden
0
Konsum wegen
freudiger Ereignisse
2
Konsum, um
Willensstärke zu testen
0
Konsum, um positive
Wirkungen zu entwickeln
6
Konsum, um Probleme
zu bewältigen
6
Anzahl der Betroffenen
0
1
2
3
4
5
6
7
Als Einstellungen, die zu einem Rückfall in das abhängige Verhalten im letzten halben
Jahr vor der Befragung geführt haben, wurden die Problembewältigung und die
Entwicklung positiver Wirkungen bzw. positiver Gefühle am häufigsten genannt (je sechs
168
Personen) gefolgt vom Konsum ohne ersichtlichen Grund (vier Betroffene) und dem
Konsum auf Grund freudiger Ereignisse, gehobener Stimmung und Glücksgefühlen sowie
der Kategorie „sonstiges“ (je zwei Personen). Die Antwortkategorie Konsum, um die
eigene Willensstärke zu testen wurde von keinem der Katamneseteilnehmer genannt, sie
erscheint prinzipiell sehr fragwürdig.
Abbildung 33: Abstinenz unterstützende Faktoren (Mehrfachnennungen waren möglich)
1
Nichts
5
Sonstiges
Unterstützung durch
Selbsthilfegruppe
16
Unterstützung durch
Beratungsstelle
16
Unterstützung durch
Arzt
8
Unterstützung durch
Betrieb / Kollegen
8
Unterstützung durch
Partner / Familie
24
42
mein eigener Wille
0
5
10
15
20
25
30
35
40
45
Anzahl der Betroffenen
Als protektive Faktoren gaben die überwiegende Anzahl der Befragten den eigenen
Willen an (42 Personen). Weiters wurden als im Umgang mit der Abstinenz die
Unterstützung durch Partner und Familie (24 Nennungen), durch Beratungsstellen und
Selbsthilfegruppen (je 16 Personen), den Arzt, den Betrieb und die Kollegen (je 8
Personen) als hilfreich bewertet.
169
Im Zusammenhang mit den Erfolgskriterien in Evaluationsstudien psychotherapeutischer
Interventionen wurde in Kapitel 2.2 unter anderem das Konstrukt der Lebensqualität
diskutiert. Wie bereits erwähnt enthält der, in dieser Untersuchung angewandte
Katamnesefragebogen einige Fragen, die sich auf die subjektiv empfundene Zufriedenheit
in bestimmten Lebensbereichen, die laut Definition für die Erfassung der Lebensqualität
relevant sind, beziehen.
Folgende Tabelle soll die Mittelwerte der Zufriedenheit in den Bereichen Beruf bzw.
Schule, physische und psychische Gesundheit und Freizeitgestaltung bei Abstinenten und
Rückfälligen einander gegenüberstellen.
Abbildung 34: Mittelwerte der subjektiv empfundenen Zufriedenheit in verschiedenen Lebensbereichen bei
abstinenten und rückfälligen Patienten im Vergleich.
1 = sehr zufrieden
6 = sehr unzufrieden
3,5
Freizeitgestaltung
2,8
3,2
Partnerschaft
2,4
3,5
Psychische Gesundheit
Rückfällig
2,4
Abstinent
3,4
Physische Gesundheit
2,3
3,9
Berufliche / schulische
Situation
2,3
1
2
3
4
5
6
Anzahl der Betroffenen
Mit Ausnahme des Lebensbereichs Freizeitgestaltung zeigte sich in sämtlichen Skalen ein
signifikanter Zusammenhang zwischen der subjektiv empfundenen Zufriedenheit der
Befragten und deren Abstinenz. Diese Korrelation (zwischen mittlerem Ausmaß an
170
Unzufriedenheit und Abstinenz beträgt die Korrelation: r = .38; p ≤ .0194) gilt
insbesondere für den Bereich Beruf/Schule. Zusammenfassend kann festgestellt werden,
dass sich Abstinente zum Zeitpunkt der Katamneseuntersuchung in fast allen
Lebensbereichen als zufriedener einstufen als Patienten, die nach der Behandlung
rückfällig wurden. Leider gibt es zu diesen Outcome-Kriterien keine prätherapeutischen
Daten, ein Vergleich der Zufriedenheit mit bestimmten Lebensbereichen vor und nach der
psychodramatischen Gruppentherapie ist nicht durchführbar.
Eine weitere, für diese Untersuchung relevante Frage des Katamnesebogens ist die nach
den durch die Therapie veränderten Lebensbereichen. Diese Variable ist als vom Patienten
subjektiv wahrgenommene therapeutische Wirksamkeit zu verstehen.
Abbildung 35: Durch die Therapie beeinflusste Lebensbereiche (Mehrfachnennungen möglich)
Situation am
Arbeitsplatz
25
Familie /
Partnerschaft
41
Beziehung zu
anderen Menschen
40
Umgang mit
Problemen
52
Selbstbewusstsein
47
keine Veränderung
5
0
10
20
30
40
50
60
Anzahl der Betroffenen
94
Die durchschnittliche Unzufriedenheit der Katamneseteilnehmer wurde aus den Daten zur Zufriedenheit mit
dem psychischen und physischen Gesundheitszustand, mit der Partnerbeziehung, mit der beruflichen bzw.
schulischen Situation, der Freizeitgestaltung sowie mit den generellen Lebensumständen berechnet. Die Werte
wurden addiert und durch die Anzahl der Werte geteilt.
171
Bei dieser Frage gab es sehr viele Mehrfachnennungen. Immerhin 17 (24%)
Katamneseteilnehmer gaben alle angeführten Lebensbereiche an. Lediglich 5 Personen
gaben an, dass kein Lebensbereich durch die Therapie verändert wurde. Dabei ist zu
bemerken, dass Personen, die im Katamnesezeitraum einen Rückfall hatten, signifikant
weniger Bereiche als verändert beurteilten. Bei den angegebenen Veränderungsbereichen
liegt der Umgang mit Problemen mit 52 Nennungen knapp vor dem Selbstbewusstsein,
das 47 Personen als durch die Therapie beeinflusst bewerteten. Die Situation am
Arbeitsplatz wurde am seltensten (von 25 Personen) genannt. Es zeigte sich, dass bei einer
größeren Anzahl an angegebenen Veränderungsbereichen häufiger abstinente Patienten zu
finden waren. Kritisch zu bemerken ist, dass die Operationalisierung der therapeutischen
Wirksamkeit mit der Frage im Katamnesebogen „Welche einzelnen Bereiche Ihres Lebens
veränderten sich durch die Therapie?“ sowohl negative als auch positive Veränderungen
einschließt.
Vergleicht man die Anzahl der als verändert genannten Lebensbereiche bei Abstinenten
und Rückfälligen, so zeigt sich folgendes Bild:
Abbildung 36: Anzahl der veränderten Bereiche des Lebens von abstinenten und rückfälligen
Katamneseteilnehmern
Rückfällige
Anzahl der Lebensbereiche
(Mittelwert)
Abstinente
0
1
2
3
4
172
Abstinente gaben signifikant mehr Lebensbereiche als durch die Therapie verändert an
(p≤.005).
Abbildung 37: Vergleich der Art der Beendigung der Behandlung an der PSB zwischen Katamnesegruppe
und Gesamtklientel
800
700
600
500
Katamnesestichprobe
400
Gesamtklientel
300
200
100
0
regulär
Abbruch durch Klient
Abbruch durch Einrichtung
Die Abbruchquote liegt bei der Gesamtklientel der PSB Sigmaringen doppelt so hoch wie
bei der Katamnesestichprobe. Lediglich 20% der Teilnehmer an der psychodramatischen
Gruppentherapie beendeten die Behandlung vorzeitig.
Die Ursache für dieses Ergebnis kann in der Tatsache liegen, dass die Motivation einen
entscheidenden Faktor für die Teilnahme an der Psychodramagruppe darstellte.
173
Abbildung 38: Bewertung der PSB
Diskretion
zur Verfügung
stehende Zeit
Fachkompetenz der
Therapeuten
schlecht
befriedigend
gut
Freundlichkeit der
Therapeuten
sehr gut
Freundlichkeit der
Sekretärinnen
Räumlichkeiten
Anzahl der Nennungen
0
10
20
30
40
50
Die PSB Sigmaringen wurde von den Teilnehmern an der Katamnese sehr positiv
beurteilt, wobei die Bewertung der Freundlichkeit und Fachkompetenz der Therapeuten
am besten ausfiel (45 bzw. 41 Personen urteilten mit sehr gut, 22 bzw. 25 mit gut, keiner
der Befragten bewertete die Therapeutenvariablen schlecht). Alle Katamneseteilnehmer
gaben an, die PSB als empfehlenswert einzustufen. 69 der 70 Befragten würden die PSB
bei erneuten Problemen wieder aufsuchen. Auf die Frage, ob das Angebot der PSB als
ausreichend empfunden wurde, antworteten 58 Katamneseteilnehmer zustimmend. 12
Personen gaben an, dass die Angebote mehr an spezifische Probleme angepasst werden
müssten.
Zusammenhänge
zwischen
Patientenmerkmalen,
Behandlungsfaktoren
und
dem
abstinenten bzw. dem rückfälligen Verhalten zum Zeitpunkt der Katamnese zeigten keine
signifikanten Zusammenhänge. Zu vermuten ist, dass die sehr hohe Anzahl an
Abstinenten (51 Personen) im Gegensatz zu den 11 Nicht-Absinenten dafür
verantwortlich war.
174
Lediglich in Bezug auf das mittlere Ausmaß an Unzufriedenheit zum Katamnesezeitpunkt
können folgende Aussagen getroffen werden: lag eine Beteiligung des Partners an der
Therapie vor, waren die Klienten zufriedener (15 Personen, p ≤ .05), gab der Klient an,
unter psychischen Störungen zu leiden (19 Personen, p ≤ .001), handelte es sich um eine
Wiederaufnahme an der PSB (23 Personen, p ≤ .005) und zeigte sich eine
Abhängigkeitsproblematik im familiären Umfeld (p ≤ .05), so waren die Betroffenen
signifikant unzufriedener95.
95
Die Berechung erfolgte über schrittweise multiple Regressionen.
175
6. DISKUSSION
Das abschließende Kapitel soll vor allem der Beantwortung der Frage dienen, ob sich auf
Grund der vorliegenden Arbeit unter Berücksichtigung bereits bestehender Studien sowie
der Analyse der Berichte aus der psychodramatischen Praxis generalisierbare Aussagen
bezüglich der Eignung der psychodramatische Methode in der Behandlung von
Abhängigen treffen lassen.
Die Psychodramatherapie gilt in Österreich als staatlich anerkanntes Therapieverfahren, in
Deutschland ist derzeit noch keine Anerkennung attestiert. Der wissenschaftliche Beirat
Psychotherapie der Bundesärztekammer hat im „Gutachten zur Psychodramatherapie als
wissenschaftliches Psychotherapieverfahren“ aus dem Jahr 2000 festgestellt, dass auf der
Basis der im Antrag auf Anerkennung vorgelegten Originalarbeiten keine Aussagen zur
Wirksamkeit
der
Psychodramatherapie
getroffen
werden
konnten96.
Auch
die
theoretischen Grundlagen der Methode wurden in dem oben genannten Gutachten
kritisiert. Positive Erwähnung fanden hingegen „Grundlagenstudien, die als Fundierungen
einzelner Elemente (unterschiedlicher Therapieverfahren) durchaus bedeutsam sein
können (z. B. emotionale Veränderungen durch Rollentausch) (Wissenschaftlicher Beirat
Psychotherapie, 2001, S. 351).
Im Gegensatz dazu kommen Grawe et al. (1994) in ihrer Metaanalyse über die Wirkung,
Wirkungsweise und Indikation sämtlicher Psychotherapiemethoden in Bezug auf die
vorliegenden Studien zur Evaluation der Psychodramatherapie zu folgendem Resümee:
Trotz methodischer Mängel werden die Voraussetzungen für eine Wirksamkeitsprüfung in
fünf der sechs analysierten Studien erfüllt. Das Psychodrama kann „als zusätzliche
Komponente einer umfassenderen Behandlung einige Wirkungsnachweise für sich in
Anspruch nehmen“ (ebd., S. 110). Diese Aussage gilt insbesondere für die Bereiche
zwischenmenschlichen Beziehungsverhaltens und Persönlichkeit. Beides Bereiche, denen
in der Behandlung Abhängiger auf der Basis gängiger Ätiologiemodelle eine
entscheidende Bedeutung haben. Die Tatsache, dass das Psychodrama bei Grawe eher als
Behandlungskomponente denn als allein ausreichende Behandlung betrachtet wird, liegt
vor allem an den Untersuchungen, auf denen diese Analyse basiert: einerseits lagen im
Im Text des Gutachtens wird der Sachverhalt folgendermaßen dargestellt: „Zur Prüfung vorgelegt wurden
insgesamt circa 50 Originalarbeiten (von einer Seite bis circa 250 Seiten, von Diplomarbeiten bis zu
Zeitschriftenbeiträgen, zum Teil unpublizierte Arbeiten). Nach Einschätzung des Wissenschaftlichen Beirates
Psychotherapie erfüllt nicht eine einzige Arbeit die vom Wissenschaftlichen Beirat erstellten
Mindestanforderungen“ (Wissenschaftlicher Beirat Psychotherapie, 2001, S. 351).
96
176
Gesamten betrachtet zu wenige empirische Befunde vor, die andererseits der
psychodramatischen Therapie nicht den Stellenwert einer für sich allein genügenden
therapeutischen Behandlung beimaßen. Die Ergebnisse der bislang durchgeführten
Evaluationsstudien der Psychodramatherapie im Bereich der Störungen durch psychotrope
Substanzen sind – wie bereits in Kapitel 3.1 erwähnt – durchwegs positiv.
Die vorliegende Studie hatte zum Ziel, Antworten auf folgende Fragen der PSB
Sigmaringen zu liefern:
1) Kann an Hand der Ergebnisse bezüglich der allgemein geläufigen
Erfolgskriterien der Behandlung Abhängiger – der Abstinenzrate sowie der
allgemeinen Lebenszufriedenheit – ein Behandlungserfolg festgestellt werden?
2) Ist die psychodramatische Methode für die ambulante Therapie von
Abhängigkeitserkrankungen geeignet?
3) Können Aussagen bezüglich der differentiellen Wirksamkeit unterschiedlicher
Interventionstechniken und Behandlungselemente getroffen werden?
4) Können
bestimmte
Patientenmerkmale
als
Prädiktoren
für
den
Behandlungserfolg festgestellt werden?
5) Wie ist die Qualität der Umsetzung des Therapiekonzepts in die Praxis zu
beurteilen?
Im Folgenden sollen diese Punkte diskutiert werden, eine Zusammenfassung der
methodischen Mängel leitet die Diskussion der Fragestellungen dieser Arbeit ein.
Einschränkungen bezüglich der Aussagekraft empirischer Untersuchungen stellen sowohl
den Leser als auch den Autor immer wieder vor Ernüchterungen. Auch in dieser Studie
kann darauf nicht verzichtet werden. Es muss darauf hingewiesen werden, dass im
Bereich der Evaluationsforschung ein dringender Bedarf an Vereinheitlichung und
Standardisierung der Forschungsmethodik besteht. Wie bereits festgestellt, gab es in der
vorliegenden
Katamneseuntersuchung
methodische
Mängel
und
Probleme,
die
überwiegend aus dem Untersuchungsplan und aus unterschiedlichen Selektionseffekten
resultierten:
 Der Katamnesezeitpunkt war für die Befragten uneinheitlich, die absolvierte
psychodramatische Gruppentherapie lag unterschiedlich lang zurück (ein bis 4
177
Jahre nach der Behandlung), Vergleiche mit anderen Studien sind aus diesem
Grund nicht aussagekräftig. Die Klienten nach Katamnesezeiträumen zu klustern
und getrennt auszuwerten wäre bei einer größeren Stichprobe ein sinnvolles
Vorgehen. Die Deutsche Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie
(1992) rät in ihren ´Katamnesestandards` zu einer Mindeststichprobengröße von
50 Personen um statistische Testverfahren sinnvoll anwenden zu können. Für
bestimmte Fragestellungen sind wesentlich größere Stichproben nötig.
 Leider fehlte im Rahmen des vorliegenden Untersuchungsdesigns eine
Kontrollgruppe,
was
eine
Aussage
bezüglich
der
Wirkung
der
Psychodramatherapie im Vergleich zum natürlichen Verlauf der Störung bzw. im
Vergleich
zu
anderen
Behandlungsmethoden
erheblich
erschwert.
Therapieunabhängige Einflussfaktoren können nicht ausgeschlossen werden.
 Auch die nicht vorgenommene Randomisierung der Katamnesestichprobe muss als
methodischer Mangel betrachtet werden; auf Grund der, in Kapitel 5.1
beschriebenen Selektionsprozesse bei der Auswahl der Teilnehmer an der
psychodramatischen Gruppentherapie (hier ist vor allem die Motivation der
Klienten als Hauptkriterium zu nennen) ist eine Verallgemeinerung der Ergebnisse
nicht uneingeschränkt vornehmbar. Auch der Schweregrad der Abhängigkeit, der
mit dem ASI erfasst werden kann, stellt einen Faktor der Patientenselektion dar.
Diese Parameter sind wichtig im Hinblick auf die Frage der externalen Validität
(Generalisierbarkeit) der Ergebnisse.
 Ein Vergleich zwischen Katamnesestichprobe und Gesamtklientel der PSB
Sigmaringen aus den Jahren 1992-1999 ergab signifikante Unterschiede bezüglich
der sozialen und beruflichen Integration der Abhängigen. Es fanden sich mehr
stabile Partnerschaften sowie weniger Arbeitslose in der Katamnesegruppe. Des
Weiteren wurden die Katamneseteilnehmer an der PSB Sigmaringen intensiver
betreut (längere Behandlungsdauer, mehr Einzel- und Gruppenkontakte). Die
Katamnesestichprobe ist demnach nicht repräsentativ für die Gesamtklientel der
PSB Sigmaringen.
Ad 1) Zunächst soll die Frage diskutiert werden, ob an Hand der vorliegenden Daten ein
Behandlungserfolg festgestellt werden kann. Die, im Vergleich zu anderen Studien zur
Evaluation von therapeutischen Interventionen bei Abhängigkeitserkrankungen, hohe
Abstinenzrate von 72,9% (51 von 70 Katamneseteilnehmern) kann auch unter
178
Berücksichtigung der methodischen Einschränkungen als positives Ergebnis im Hinblick
auf die Einschätzung der Wirkung der psychodramatischen Gruppentherapie gewertet
werden. In aktuellen Studien wird auch bei Untersuchungsdesigns ohne Randomisierung
und ohne Kontrollgruppe bei entsprechenden Abstinenzraten von ´Behandlungserfolgen`
gesprochen (z. B.: Mundle, Brügel, Urbaniek, Länge, Buchkremer & Mann, 2001).
In der allgemeinen Psychotherapieforschung wird von der Ein-Drittel-Regel ausgegangen:
Ein Drittel der Patienten zeigt einen sehr guten Behandlungserfolg, ein Drittel kann als
gebessert eingestuft werden und das letzte Drittel zeigt keinen Behandlungserfolg.
Folgende Abbildung zeigt eine Übersicht über die Ergebnisse einiger Studien zur
Behandlung von Alkoholabhängigen:
Abbildung 39: Überblicksarbeiten zur Behandlung von Alkoholabhängigen
Quelle: Feuerlein et al., 1998, S. 326
Studie
Stationäre Behandlung
Emrick (1974/1975)
(113 bzw. 114 Studien mit
Variabler Katamnesedauer)
Abstinent
33,8%
Abstinent oder
Gebessert
UngeBessert
67,2%
32,8%
Baekeland u. Mitarb. (1975)
(30 Studien)
48,8%
51,2%
Costello u. Mitarb. (1977)
(80 Studien mit 1-JahresKatamnesen)
26,0%
74,0%
76,6%
23,4%
Baekeland (1977)
41,6%
58,4%
Küfner (1981)
46,8%
53,2%
Feuerlein (1984)
(15 Studien mit mindestens
4-Jahres-Katamnesen)
7-23%
Süß (1995)
(36 Studien, mittlere Katamnesedauer 15,2 Monate)
34,9%
Ambulante Behandlung
(variable Katamnesedauer)
Vergleicht man die Erfolgsquoten der oben genannten Studien mit der vorliegenden
Abstinenzrate, so zeigt sich zwar ein sehr hoher Wert – zumal stationäre Therapien im
179
Schnitt etwas höhere Besserungsraten aufweisen. Die unterschiedliche Patientenselektion
sowie die unterschiedlichen Katamnesezeiträume müssen jedoch mitberücksichtigt
werden. 16 Katamneseteilnehmer (davon 11 Nicht-Abstinente) gaben an, nach der
Behandlung an der PSB Sigmaringen weitere Therapien in Anspruch genommen zu
haben, diese Tatsache darf bei der Bewertung des Behandlungserfolgs nicht vergessen
werden. Der Erfolg kann in diesen Fällen nicht ausschließlich auf die psychodramatische
Gruppentherapie bezogen werden.
Auch die Definition des Kriteriums ´Abstinenz` spielt bei der Erfolgsmessung von
Therapien bei Abhängigen eine entscheidende Rolle und ist im Vergleich der einzelnen
Studien nicht einheitlich (siehe Kap. 2.2).
In der vorliegenden Untersuchung galten Klienten, die in den 6 Monaten vor der
Katamneseuntersuchung
keine
psychotropen
Substanzen
konsumiert
bzw.
kein
abhängiges Verhalten gezeigt hatten, als abstinent. Nicht ausgeschlossen werden kann
jedoch, dass vor dem relevanten Zeitraum Rückfälle stattfanden. Für die Essstörungen und
das pathologische Spielen sollten in Bezug auf das Kriterium Abstinenz im
Katamnesefragebogen spezielle Items angeboten werden (´kein abhängiges Verhalten`
anstelle von ´kein Suchtmittelkonsum`).
Als Rückfallursachen oder –auslöser gaben die Katamneseteilnehmer an erster Stelle
Situationen an, in denen Streit, Ärger und Frust erlebt wurden an, gefolgt von Langeweile,
Situationen in Partnerschaft und Familie und dem Gefühl der Einsamkeit und Isolation.
Auch wenn später noch auf die Ergebnisse der Literaturrecherche eingegangen wird, so
soll an dieser Stelle auf eine spezielle psychodramatische Technik hingewiesen werden:
die Analyse der Rückfallsituationen kann in der psychodramatischen Therapie genutzt
werden: in Kapitel 3.11 wurde die psychodramatische Technik des Probehandelns
ausführlich beschrieben. Mit Hilfe dieser Methode können Situationen, die sich als
besonders kritisch für die Abhängigen in der Rehabilitationsphase herausgestellt haben im
Sinne eines Trainingsprogramms auf die Klientel abgestimmt und geübt werden. Diese
Technik hat sich therapieschulenübergreifend in der Arbeit mit Abhängigen bewährt.
Neben der Abstinenz stellt die Lebensqualität einen weiteren entscheidenden Indikator für
den Behandlungserfolg dar. Unter gesundheitsbezogener Lebensqualität versteht man die
subjektiv vom Klienten erlebte Gesundheit, die laut Gesundheitsdefinition der WHO
körperliche, psychische und soziale Aspekte einschließt. Der in dieser Studie angewandte
180
Katamnesebogen enthält Fragen zu den Bereichen Zufriedenheit mit dem physischen und
psychischen Gesundheitszustand, der Partnerschaft, Freizeitgestaltung und den generellen
Lebensumständen.
Es können keine Aussagen bezüglich der Wirkung der psychodramatischen Methode auf
die allgemeine Lebenszufriedenheit getroffen werden, da diesbezüglich keine praetherapeutischen Daten erhoben wurden. Die Analyse der vorhandenen Daten zeigte
lediglich, dass Abstinente signifikant häufiger angaben zufrieden zu sein als rückfällige
Katamneseteilnehmer (r = .38, p ≤.01).
Zum methodischen Vorgehen und den verwendeten Messinstrumenten ist zu bemerken,
dass die Messung subjektiver Kriterien für den Therapieerfolg schwierig ist.
Unerwünschte Effekte entstehen häufig durch Offenheit, soziale Erwünschtheit,
Klagsamkeit oder Methodenartefakte (Süß, 1988). Die Durchführung standardisierter
Tests, vor allem in Bezug auf die allgemeine Lebensqualität bzw. die Lebenszufriedenheit
vor und nach der therapeutischen Intervention würde die Beurteilung der Wirksamkeit der
Behandlung in Hinblick auf Reliabilität und Validität verbessern. Als standardisierter Test
zur Erfassung der allgemeinen Lebensqualität hat sich in internationalen Studien das
Lancashire Quality of Life Profile (LQLP; Oliver, 1991) etabliert. Es existiert bereits eine
deutsche Version von Priebe, Gruyters, Heinze, Hoffmann und Jäkel (1995). Mit Hilfe
dieses Instruments kann die subjektive Lebensqualität sowohl global als auch in Bezug
auf unterschiedliche Lebensbereiche erfasst und beurteilt werden. Süß (1988) empfiehlt in
diesem Zusammenhang den FPI-R, besonders die Skalen Lebenszufriedenheit,
Gehemmtheit,
Beanspruchung,
körperliche
Beschwerden,
Gesundheitssorgen,
Extraversion, Emotionalität und Offenheit. Die Skala Offenheit wäre vor allem auch in
Hinblick auf die Prüfung der Zuverlässigkeit der Patientenangaben von großem Interesse.
Die revidierte Version des Freiburger Persönlichkeitsinventars ist ein faktorenanalytisch
und itemmetrisch begründetes Persönlichkeitsverfahren. Die Konstruktbereiche (neben
den oben genannten die soziale Orientierung, Leistungsorientierung und Aggressivität)
wurden pragmatisch auf Grundlage von Erfahrungen der Autoren sowie Literaturanalysen
ausgewählt. Auch die subjektive Zufriedenheit der Betroffenen mit der Behandlung sollte
mit Hilfe von standardisierten Manualen erhoben werden.
Weitere im Kontext mit der Therapieerfolgsmessung interessante Messinstrumente sind
die Skala 8 – körperliche Beschwerden – des FPI-R und eine Beschwerdenliste wie
beispielsweise die Freiburger Beschwerdenliste (Fahrenberg, 1975). Auch die Münchner
Lebensqualitäts-DimensionenListe (Heinisch et al., 1991), das Inventar interpersoneller
181
Probleme (Horowitz et al., 2000) und Antonovskys Fragebogen zur Erfassung des
Kohärenzsinns
(SOC) werden als
Messinstrumente in
Evaluationsstudien von
Abhängigkeitstherapien verwendet (Schiepek, Noichl, Tischler, Honermann & Elbing,
2001).
Eine
weitere
Möglichkeit
zur
Überprüfung
der
Validität
der
Angaben
der
Katamneseteilnehmer ist die Durchführung zusätzlicher Interviews und Befragungen
wichtiger Bezugspersonen oder von Personen am Arbeitsplatz. Die Bewertung des
Therapieerfolgs durch den Therapeuten ist einerseits ebenfalls subjektiv, andererseits ist
eine quantitative Auswertung der in Gesprächen gewonnenen Daten nicht möglich. Die
Evaluation des Erfolgs einer Behandlung über die Messung der Lernerfolge in Bezug auf
den Erwerb von Verhaltens- und Handlungsstrategien in Rollenspielen wird nur selten
durchgeführt. Die regelmäßige Überprüfung der Blutwerte kann ebenfalls als
Kontrollmöglichkeit für abstinentes Verhalten herangezogen werden
Die hohe Lebenszufriedenheit der Klienten bzw. ihre Zufriedenheit mit der Behandlung
können nur dann als Erfolgskriterium gewertet werden, wenn ein Vergleich mit Angaben
vor Beginn der Therapie (oder ein Gruppenvergleich) angestellt werden kann. Bei einem
hohen Wert ohne Vergleichsdaten kann auch angenommen werden, dass es sich dabei um
eine State-Variable – eine temporäre Stimmung – des jeweiligen Patienten handelt. Diese
Zusammenfassung der methodischen Probleme dieser Evaluationsstudie macht die
Grenzen der empirischen Fundierung der Schlussfolgerungen deutlich.
Ad 2) Die soeben diskutierte Fragestellung knüpft an die zweite an: eine Eignung der
psychodramatischen Methode in der ambulanten Therapie mit Abhängigen kann auf
Grund des festgestellten Behandlungserfolgs vermutet werden. Die Analyse der
Praxisberichte – auf die später noch genauer eingegangen wird – kommt zum selben
Ergebnis.
Ad 3) Bezüglich der Frage nach der Wirksamkeit bestimmter Interventionstechniken kann
keine differenzierte Antwort gegeben werden, da es im Katamnesefragebogen keine
entsprechenden Items gibt. Es können diesbezüglich lediglich folgende Aussagen
getroffen werden: Als protektive Faktoren gaben die überwiegende Anzahl der Befragten
den eigenen Willen an (42 Personen). Da viele Psychodrama-Therapeuten aus ihrer Arbeit
mit Abhängigen die Möglichkeit der Ich-Stärkung und die Entwicklung des Betroffenen
182
zum aktiven Mitgestalter des eigenen Lebens mit Hilfe der psychodramatischen Methode
besonders hervorheben, wäre ein Vergleich dieses Ergebnisses mit dem anderer Studien
und Therapiemethoden äußerst interessant. Auch eine subjektive Einschätzung der
Klienten hinsichtlich der positiven Wirkung der psychodramatischen Gruppentherapie
beziehungsweise der in der Gruppe gewonnenen Einsichten könnte weitere Erkenntnisse
hervorbringen. Das von der PSB Sigmaringen postulierte Kriterium der Motivation als
Voraussetzung
für
eine
psychodramatische
Gruppentherapie
muss
in
diesem
Zusammenhang nochmals erwähnt werden, da die Motivation zur Abstinenz und Therapie
einen moderierenden Einfluss auf die Wirkung der Behandlung zu haben scheint. Eine
andere Hypothese wäre, dass zwischen Motivation und posttherapeutischem Zustand ein
von der Therapie unabhängiger Zusammenhang besteht.
Bei den Veränderungsbereichen nannten 47 Katamneseteilnehmer das Selbstbewusstsein,
was oben angeführte These bezüglich der Wirkung der psychodramatischen Therapie
unterstützt. Weitere häufig genannte Antwortkategorien waren die Beziehung zu anderen
Menschen (40 Personen) und die Familie bzw. Partnerschaft (41 Nennungen). Diese
Bereiche betreffen einen weiteren äußerst wichtigen Zielkomplex der psychodramatischen
Therapie mit Abhängigen – die Beziehungsprobleme bzw. die Rollendefizite der
Betroffenen. Eine differentielle Wirksamkeit der psychodramatischen Behandlung in den
Bereichen Ich-Stärke und Beziehungsfähigkeit kann gemutmaßt werden.
Ad 4) Ursprünglich ging man in der Therapieforschung davon aus, dass den
Patientenmerkmalen
weitaus
Behandlungsergebnisses
größere
zukommt
als
Bedeutung
den
für
die
Prognose
Behandlungsmerkmalen.
des
Aktuelle
Vergleichsstudien (Miller & Hester, 1986) zeigten jedoch, dass keine bzw. nur minimale
Unterschiede bestehen.
Süß (1988) fasst in seiner Meta-Analyse zur Evaluation von Alkoholismustherapie die
wichtigsten Prognosevariablen für den Erfolg bei der Behandlung zusammen: in
verschiedenen Studien konnten übereinstimmend folgende Variablen gefunden werden:
 Der Schweregrad der Abhängigkeit
 Psychische und physische Folgeschäden
 Stabilität und Unterstützung durch die Partnerschaft/Ehe
 Berufliche Stabilität
 Soziale Isolierung
 Unterstützung durch die Herkunftsfamilie
183
 Lebensraum mit mäßigem Alkoholkonsum
 Weitere Lebensprobleme
 Soziale Fertigkeiten und persönliche Ressourcen
 Selbstwirksamkeits- und Ergebniserwartung
 Änderungsmotivation/Erfolgserwartung
 Abstinenzmotivation
 Realistische Zielsetzungen für den Therapieverlauf und die individuelle
Lebensplanung
 Wunsch nach Partizipation an Entscheidungen in der Behandlung
 Motivation zur Nachsorgebehandlung/Mitarbeit enger Bezugspersonen in der
Rehabilitation
 Vorbereitung zur stationären Behandlung
 Nachsorgebedingungen
In der MEAT-Studie (Küfner & Feuerlein, 1989) fand man außerdem die
Prognosemerkmale Wohnortgröße unter 100000, kein Suizidversuch, nicht vorher in einer
Suchtfachklinik, nicht in Wohnheim oder obdachlos, in Eigenheim oder Wohneigentum.
In der vorliegenden Untersuchung konnten keine signifikanten Zusammenhänge zwischen
einzelnen Patientenmerkmalen und der Variable Abstinenz festgestellt werden97.
Probleme ergaben sich vor allem aus der Tatsache, dass eine zu starke Polarisierung
vorhanden war (51 Abstinente und 11 Rückfällige). Auch die Symptomatik der
Katamneseteilnehmer, die Behandlung und methodische Variablen zeigten keine
Zusammenhänge. Die Zahl der Teilnehmer an der vorliegenden Katamnesestudie liegt
zwar über der in den Hinweisen zur Nutzung der Katamnesestandards der Deutschen
Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie (1992) geforderten Mindestgröße von
50, ist jedoch für diese Fragestellung dennoch zu gering98. Hinsichtlich der
Zusammenhänge zwischen Patientenmerkmalen und der von den Katamneseteilnehmern
angegebenen Zufriedenheit können folgende Aussagen getroffen werden: bei Problemen
mit psychischen Störungen zu Beginn der Behandlung, im Falle einer Suchtproblematik
97
Die Berechnung erfolgte über schrittweise vorwärts gerichtete Regressionsanalysen.
Im Text der DGSS heißt es dazu: „ eine Stichprobengröße von 50 erscheint als Mindestgröße, wenn man
Datenausfälle berücksichtigt und an die Anwendung statistischer Testverfahren denkt. Die Stichprobengröße ist
also in hohem Maße abhängig von der Fragestellung: um differenzierte Aussagen zur Indikation machen zu
können sind beispielsweise sehr viel größere Stichproben erforderlich als zur Feststellung des Therapieerfolgs
eines bestimmten Behandlungsprogramms (Deutsche Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie, 1992,
S. 118).
98
184
im familiären Umfeld und wenn es sich um eine Wiederaufnahme handelte gaben die
Klienten in der Katamnesebefragung an, unzufriedener zu sein. Signifikant höhere
Zufriedenheit fand sich bei Katamneseteilnehmern, bei denen der Partner an der Therapie
teilgenommen hatte.
Ad 5) Zur Evaluation der Umsetzung des Therapiekonzepts in die Praxis kann die
Bewertung der PSB Sigmaringen durch die Katamneseteilnehmer herangezogen werden,
da die Qualität einer Therapie nicht ausschließlich über die Effektivität und die
ökonomischen Aspekte beurteilt werden kann, sondern vor allem auch über die Akzeptanz
durch die Patienten. Prinzipiell kann eine hohe Zufriedenheit der Klienten in Hinsicht auf
unterschiedliche Aspekte der Behandlung in der PSB festgestellt werden. Mit sehr gut
beurteilten 45 Personen die Freundlichkeit der Therapeuten, 41 Personen die
Fachkompetenz,
22
Therapeutenvariablen
bzw.
25
schlecht.
mit
Die
gut,
keiner
PSB
der
Befragten
Sigmaringen
wurde
bewertete
von
die
allen
Katamneseteilnehmern als empfehlenswert eingestuft. 69 der 70 Befragten gaben an, sich
bei erneuten Problemen wieder in der PSB behandeln zu lassen.
Die Variable Zufriedenheit mit der Behandlung wird in der Literatur kritisch diskutiert,
gewinnt jedoch als Aspekt der Qualitätssicherung in Evaluationsstudien zunehmend an
Bedeutung. Es herrscht bislang keine Einigkeit darüber, ob Zufriedenheit als Trait- oder
Statevariable zu definieren ist. Traits können als „relativ breite und zeitlich stabile
Dispositionen zu bestimmten Verhaltensweisen, die konsistent in verschiedenen
Situationen auftraten“ definiert werden (Amelang & Bartussek, 1990, S. 61/62). Mit dem
Begriff State hingegen meint man temporäre Zustände oder Stimmungen, das würde im
Zusammenhang mit der Variable Zufriedenheit bedeuten, dass diese von äußeren
Umständen abhängt, im anderen Fall jedoch stabil und wenig beeinflussbar ist. Die
Unterscheidung zwischen State- und Trait-Faktoren ist umstritten, da sie „in gewisser
Weise willkürlich ist“ (Allen & Potkay, zit. n. ebd., S. 69).
In vielen Studien konnte kein relevanter Zusammenhang zwischen der subjektiven
Patientenzufriedenheit und objektiven Erfolgskriterien einer Therapie gefunden werden
(Hannöver, Dogs & Kordy, 2000). Ob die Zufriedenheit der Patienten tatsächlich Schlüsse
auf die Effizienz und Qualität einer Behandlung zulässt, muss prinzipiell in Frage gestellt
werden. Nicht unerwähnt bleiben darf, dass Patienten äußerst selten posttherapeutische
Unzufriedenheit mit der Behandlung angeben. Die hohe festgestellte Zufriedenheit hätte
in jedem Fall mehr Aussagekraft, wenn die Daten mit denen einer Kontrollgruppe
185
verglichen werden könnten oder die Messung mit einem standardisierten Verfahren
durchgeführt worden wäre. Ein international häufig angewandter Fragebogen zur
Erfassung der Patientenzufriedenheit ist der ZUF-8 (Schmidt & Wittmann, 2002). Die
diesbezüglichen Items im Katamnesefragebogen sind mit denen im ZUF-8 (8 Items)
vergleichbar, haben jedoch nicht bei jedem Item 4 vorgegebene Antwortmöglichkeiten
ohne eine „neutrale“ Antwortmöglichkeit. Der ZUF-8 ist kein spezifisches, jedoch ein gut
geeignetes Verfahren zur Erfassung der Zufriedenheit mit psychotherapeutischer
Versorgung.
Aussagen über die Beurteilung des Behandlungsprozesses sowie die Räumlichkeiten, die
Erreichbarkeit der Einrichtung, die Behandlungsmethode und die allgemeine Stimmung
können nicht getroffen werden, da der Katamnesefragebogen keine entsprechenden Items
enthält.
Die Abbrecherrate war in der Katamnesegruppe gering: es gab keinen Abbruch durch die
Einrichtung und lediglich 20% der Klienten (in der Gesamtklientel war die Rate doppelt
so hoch) brachen die Therapie selbst ab. Vermutet werden kann ein Zusammenhang
zwischen dieser geringen Rate und dem hohen Stellenwert, der der Motivation als
Indikationskriterium
für eine
psychodramatische Gruppentherapie
in
der
PSB
beigemessen wird. Die geringe Abbrecherrate kann jedoch auch als Hinweis auf die
Zufriedenheit der Patienten mit der Therapie gewertet werden. Ein vorzeitiger
Therapieabbruch ist in der Regel ein negativer Prädiktor für den Behandlungserfolg
(Feuerlein et al., 1998).
Für zukünftige Untersuchungen, mit denen Aussagen bezüglich der allgemeinen sowie der
differentiellen Wirksamkeit der psychodramatischen Methode getroffen werden sollen,
wird ein Untersuchungsdesign mit randomisierten Stichproben sowie einer bzw. mehreren
Kontrollgruppen empfohlen. Bei unverändertem Untersuchungsplan können mit der
Prüfung der Stabilität der Ergebnisse mittels weiterer Katamnesen und der Replikation der
Befunde sicherere Aussagen getroffen werden. Eine Modifikation wäre jedoch in jedem
Fall die bessere Variante.
Wünschenswert wäre auch ein Prä-Post-Vergleich (idealer Weise auch vor und nach der
Motivations- und Beratungsphase) der subjektiven und objektiven Outcome-Kriterien, d.
h. Erhebungen vor und nach der Therapie, um die persönlichen Veränderungen der
Klienten unmittelbar nach Behandlungsende ohne Beeinflussung durch weitere
Interventionen feststellen zu können.
186
Positiv zu bemerken ist, dass die Teilnahmequote von 63.6% (Klienten mit eigener
Suchtthematik, ohne Angehörige: 40.5% - 70 Personen) an der Katamneseuntersuchung
als relativ hoch bezeichnet werden kann und der dabei verwendete Katamnesefragebogen
ein differenziertes Instrumentarium darstellt.
Im Zusammenhang mit den methodischen Mängeln muss nochmals darauf hingewiesen
werden, dass sich die Behandlung in der PSB nicht auf die psychodramatische
Gruppentherapie beschränkt, sondern auch Einzeltherapie sowie Entspannungstraining,
Psychoedukation und Erlebnispädagogikelemente in den Behandlungsplan integriert
wurden. Für die Beurteilung der Wirkung einer psychotherapeutischen Methode sollten
die Wirkungen methodenfremder Behandlungselemente abgegrenzt werden können. Auch
die Behandlungsdauer (die Teilnehmer an der Psychodramagruppe wurden im Schnitt 40
Wochen länger als die übrige Klientel der PSB betreut, und hatten deutlich mehr Einzelund Gruppenkontakte) muss für Therapieerfolgsmessungen vereinheitlicht werden.
Es gab in der Bearbeitung der Daten keine Detail-Hypothesen, auf der Basis der
Literaturrecherche und –analyse konnte jedoch von der Annahme ausgegangen werden,
dass die Psychodramatherapie eine wirkungsvolle Behandlungsmethode in der Arbeit mit
Abhängigen darstellt. Im Folgenden soll zusammenfassend auf die Analyse der
zahlreichen Praxis- und Erfahrungsberichte eingegangen werden.
J.L. Moreno prägte den Ausspruch „Handeln ist heilender als Reden“ – für die Therapie
mit Abhängigen kann im Hinblick auf deren spezifische Defizite diese These durchaus zur
Diskussion gestellt werden. Das bloße Verbalisieren von intrapsychischen Konflikten und
Beziehungsproblemen wird durch die szenische Darstellung in der Semirealität der
psychodramatischen Bühne bereichert. Die Störungen durch psychotrope Substanzen bzw.
das abhängige Verhalten wird im Psychodrama hauptsächlich als Ausdruck von
Rollendefiziten in sozialen Beziehungen sowie in der Beziehung zu sich selbst verstanden.
Das psychodramatische Krankheitsmodell und Verständnis dieser Störungen lässt sich
jedoch sehr gut in die gängigen Theorien zur Ätiologie der Abhängigkeit als
multifaktorielles
Geschehen
integrieren.
Abhängigkeit
entsteht
in
einem
multikonditionalen Bedingungsgefüge – in der Behandlung dieser Störungen müssen
sowohl biologische als auch psychologische und soziologische Aspekte berücksichtigt
werden. Ein Grund dafür, das Psychodrama als sehr gut geeignete Therapiemethode bei
Abhängigkeitserkrankungen zu bezeichnen ist, dass es an vielen Problembereichen ansetzt
187
– Petzold (1970) bezeichnet das Psychodrama als „multilaterales therapeutisches
Instrument“. Ein weiteres wichtiges Kriterium ist, dass es eine Gruppentherapiemethode
darstellt. Dieses therapeutische Setting hat in der Behandlung Abhängiger mehrere
Vorteile:
 Die Behandlungsmotivation sowie die Motivation zur Abstinenz werden in der
Gruppentherapie mit Gleichgesinnten über die Krankheitseinsicht gefördert.
Zudem eignet sich das psychodramatische Spiel besonders dafür, das Wissen um
die Abhängigkeit sowie die Einsicht in die Zusammenhänge zwischen
Persönlichkeitsstruktur und der konsumierten Substanz eindringlich zu vermitteln.
 Für viele Abhängige stellt die Tatsache, dass andere die gleichen Probleme und
Emotionen haben, eine völlig neue Erfahrung dar, die ein Gemeinschaftsgefühl
erzeugt.
 Die Feststellung, in der Gruppe akzeptiert, verstanden und gebraucht zu werden,
sowie das Rollenspiel im Allgemeinen haben positive Auswirkungen auf die
soziale Kompetenz der Gruppenmitglieder, die ihnen den Wiederaufbau und die
Neugestaltung ihrer durch die Abhängigkeit beeinträchtigten Beziehungen
erleichtert und die für Abhängige charakteristische Selbstwertproblematik bessert.
 Die aktive Teilnahme an Selbsthilfegruppen wird erleichtert.
 In
der
psychodramatischen
Gruppentherapie
bieten
sich
zahlreiche
Identifikations- und Erfahrungsmöglichkeiten.
 Im Gruppen-Setting im Allgemeinen und in der psychodramatischen Therapie im
Speziellen hat das Lernen am Modell große Bedeutung. Die psychodramatische
Technik des Probehandelns hat in diesem Zusammenhang einen besonderen
Stellenwert.
 Das
Psychodrama
eignet
sich
auch
hervorragend
als
Instrument
zur
Gruppendiagnostik. In diesem Zusammenhang sind die soziometrischen
Techniken zu nennen, die vor allem die Bestimmung und Bearbeitung von
Beziehungsnetzwerken zum Ziel haben und zudem das interpersonale Lernen,
dem
in
der psychodramatischen Gruppentherapie besondere
Bedeutung
beigemessen wird, fördern.
Die wichtigsten therapeutischen Zielkomplexe in der psychodramatischen Behandlung
von Abhängigen sind die Ich-Stärkung und die psychosoziale Nachreifung bzw. die
Wiederbelebung des sozialen Atoms des Betroffenen. Das Psychodrama stellt eine Reihe
188
von
Interventionstechniken
und
Therapieelementen
zur
Verfügung
um
diese
Problembereiche zu behandeln. In Bezug auf die bei Abhängigen häufig bestehenden IchDefizite sind vor allem die Technik des Doppelns und der Rollentausch zu nennen. Die für
das Psychodrama charakteristische Orientierung am Hier-und-Jetzt trägt ebenfalls zur IchStützung und -Stärkung bei. Beziehungsstörungen werden mit Hilfe der im
psychodramatischen Spiel emotional durchlebten Konflikt- und Problemsituationen
aufgearbeitet. Die Fixierung an passiv-orale Erwartungshaltungen und erstarrte
Rollenrepertoires wird durch das handlungsorientierte Vorgehen aufgelöst. Vor allem die
Loslösung von der Negativ-Rolle des „Abhängigen“ und der Rollenwechsel zwischen
dem, der Hilfe annimmt und dem, der (als Hilfs-Ich) Hilfe anbietet sind in diesem Kontext
wichtige therapeutische Faktoren. Spontaneität und Kreativität werden gefördert. Für
Abhängige typische Affektblockaden können im Psychodrama in kathartischer Weise
aufgelöst werden. Neue Verhaltensweisen im Umgang mit problematischen oder
konfliktreichen Situationen (z. B.: Rückfallsituationen) werden spielerisch eingeübt, was
zu einer erhöhten Selbstakzeptanz des Betroffenen führt.
Die in der Arbeit zitierten Erfahrungsberichte aus der psychodramatischen Therapie mit
Abhängigen bieten einen Einblick in die Lebendigkeit und Vielseitigkeit der Methode.
Des Weiteren ist festzustellen, dass die psychodramatische Methode im Bereich der
Arbeit mit Abhängigen bereits ein sehr verbreitetes Behandlungsinstrument darstellt, das
sich bislang in der Praxis außerordentlich gut bewährt hat. Einzelne Elemente der
psychodramatischen Methode werden auch von anderen psychotherapeutischen Schulen
in der Behandlung Abhängiger angewandt. Sämtliche in der Therapie von Abhängigen
relevanten
Zielkomplexe
können
mit
Hilfe
des
breiten
Spektrums
an
Interventionsmethoden der psychodramatischen Methode bearbeitet werden.
In diesem Zusammenhang soll auch erwähnt werden, dass das Moreno Institut Stuttgart
und SZENEN – Institut in Bonn und Heidelberg eine 3-jährige Weiterbildung in
psychodramatischer Suchttherapie anbietet. Diese Ausbildung umfasst die Vermittlung
theoretischen und methodischen psychodramatischen Wissens
unter besonderer
Berücksichtigung der Anwendung im Arbeitsfeld Abhängigkeit und wird vom Verband
Deutscher
Rentenversicherungsträger
anerkannt.
Die
Weiterbildung
in
psychodramatischer Suchttherapie stellt einen weiteren Beleg für die gute theoretische
189
und
praktische
Fundierung
der
Anwendung
des
Psychodramas
im
Bereich
Abhängigkeitserkrankungen dar.
In Bezug auf die derzeit vorherrschende Orientierung an den Kosten und den
Effizientkriterien therapeutischer Interventionen ist abschließend zu sagen, dass diese der
Qualität dieser Behandlungen nicht immer zuträglich ist. Evaluationsstudien sollten
weniger unter dem Rationalisierungsaspekt, als im Sinne einer „Rückmeldeschleife im
kontinuierlichen Optimierungsprozess des Systems Suchttherapie“ gesehen werden (Beck,
1995, S. 28).
Am Ende dieser Arbeit soll der Hoffnung Ausdruck verliehen werden, dass der Wert und
die positive Wirkung der Psychodramatherapie für die Therapielandschaft im
Allgemeinen und in der Arbeit mit Abhängigen im Besonderen in dieser Studie zum
Ausdruck gebracht werden konnten und diese auch in weiteren Analysen mit verbesserten
Untersuchungsplänen bestätigt werden.
190
7. ZUSAMMENFASSUNG
Die vorliegende Studie dient der Evaluation psychodramatischer Gruppentherapie von
Abhängigkeitserkrankungen. Auf der Basis der Analyse relevanter psychodramatischer
Praxisberichte sowie dem aktuellen Stand der Kenntnisse in der Psychotherapieforschung
werden die Ergebnisse der Katamneseerhebung der Psychosozialen Beratung- und
Behandlungsstelle Sigmaringen diskutiert. In die Stichprobe gingen 70 Klienten –
hauptsächlich Alkoholabhängige – ein, die in den Jahren 1993-1997 an einer ambulanten
psychodramatische Gruppentherapie teilgenommen hatten. Die Ausschöpfungsrate lag bei
rund 64%.
Die Untersuchung fand ohne Kontrollgruppe statt, weshalb ein Vergleich mit der
Gesamtklientel der PSB durchgeführt wurde. In der Katamnesegruppe zeigten sich
signifikante Unterschiede bezüglich der sozialen und beruflichen Integration sowie eine
längere Behandlungsdauer.
Die Fragestellung der Untersuchung bezog sich vor allem auf die Feststellung der
Eignung der psychodramatischen Gruppentherapie für die ambulante Behandlung von
Abhängigkeitserkrankungen sowie den Prognosevariablen für den Therapieerfolg.
Als Messinstrumente wurden der EBIS-A Grunddatenbogen, der von der Deutschen
Hauptstellen gegen die Suchtgefahren in Zusammenarbeit mit dem Institut für
Therapieforschung entwickelt wurde, und ein auf den Dokumentationsstandards für die
Behandlung von Abhängigen der Deutschen Gesellschaft für Suchtforschung und
Suchttherapie und dem SEDOS-Nachbefragungsbogen der Deutschen Hauptstelle gegen
die
Suchtgefahren
und
dem
Institut
für
Therapieforschung
basierender
Katamnesefragebogen angewendet.
Die Katamneseerhebung fand 1998 statt, ein bis vier Jahre nach der Behandlung. Es
wurde eine Abstinenzrate von 72,9% erreicht. Bei den abstinenten Klienten zeigte sich
eine signifikant höhere Zufriedenheit mit unterschiedlichen Lebensbereichen als bei den
Rückfälligen (r = .38, p ≤.01). In Bezug auf die Abstinenz konnte kein Zusammenhang
mit Merkmalen der Klienten, der Symptomatik oder der Behandlung festgestellt werden.
Die Zufriedenheit mit unterschiedlichen Lebensbereichen war zum Zeitpunkt der
Katamneseuntersuchung höher, wenn zu Beginn der Behandlung keine Probleme mit
psychischen Störungen vorlagen, wenn es sich nicht um eine wiederholte Behandlung an
der PSB handelte, wenn der Partner an der Therapie teilgenommen hatte und wenn keine
Probleme mit Abhängigkeit im familiären Umfeld vorhanden waren.
191
Die Patientenzufriedenheit mit der Behandlung in der PSB Sigmaringen wurde von der
überwiegenden Anzahl der Katamneseteilnehmer mit „sehr gut“ und „gut“ bewertet.
In der Zusammenschau der Ergebnisse der Untersuchung sowie der psychodramatischen
Praxisberichte kann von einem Behandlungserfolg und einer positiven Wirkung der
psychodramatischen
Gruppentherapie
in
Abhängigkeitserkrankten gesprochen werden.
der
ambulanten
Behandlung
von
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