2004-01-02_Bartl - la:sf Lehranstalt für systemische

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Systemische Notizen 01/04
Therapiemethoden
IRMGARD BARTL
THERAPEUTISCHE PSYCHOLOGIE –
PSYCHOLOGISCHE THERAPIE
Gemeinsames und Verschiedenes
Seit vielen Jahren beschäftige ich mich mit dem Thema „Schnittstellen von Psychotherapie und klinischer
Psychologie“. Da ich selbst in Personalunion sowohl Psychotherapeutin als auch klinische Psychologin bin,
trage ich den fachlichen Diskurs der beiden Disziplinen fortwährend in meinem Inneren.
Diese Zweigleisigkeit wählte ich vor geraumer Zeit freiwillig, als ich mich mit dem Gedanken auseinander
setzte, einen Beruf zu ergreifen, in welchem die seelische Gesundheit von Menschen im Mittelpunkt steht. In
den Jahren der psychotherapeutischen Ausbildung und des zeitgleich absolvierten Psychologiestudiums
erwies sich der Plan, eine persönliche Kombination der beiden Fachgebiete herzustellen, nicht nur als
erfolgversprechend, sondern auch als überaus interessant. Das Erlernte, Erlebte und Erfahrene verbindet
sich nun zu fachlicher und menschlicher Grundlage für meine Tätigkeit.
1 Zur Differenzierung der Tätigkeit von Psychotherapeuten und klinischen Psychologen:
Im österreichischen Psychotherapiegesetz und den Erläuterungen dazu liest man:
Die Ausübung der Psychotherapie im Sinne dieses Bundesgesetzes ist die nach einer allgemeinen
und besonderen Ausbildung erlernte, umfassende, bewusste und geplante Behandlung von
psychosozial oder auch psychosomatisch bedingten Verhaltensstörungen und Leidenszuständen mit
wissenschaftlichpsychotherapeutischen Methoden in einer Interaktion zwischen einem oder mehreren
Behandelten und einem oder mehreren Psychotherapeuten mit dem Ziel, bestehende Symptome zu
mildern oder zu beseitigen, gestörte Verhaltensweisen und Einstelllungen zu ändern und die Reifung,
Entwicklung und Gesundheit des Behandelten zu fördern.
...der Entwurf sieht jedoch keine Monopolisierung psychotherapeutischer Tätigkeiten vor...
... ermöglicht es vielmehr, dass die in ärztlichen, pädagogischen, psychologischen, seelsorgerischen,
sozialbetreuenden und anderen Tätigkeiten enthaltenen Anteile psychotherapeutischer Tätigkeit auch
weiterhin als integrale Bestandteile dieser Tätigkeit erhalten bleiben.
Psychotherapie etabliert sich zunehmend als eigenständige wissenschaftliche Disziplin, die Zahl der
Lehrstühle für Psychotherapie an den Universitäten steigt, und die Diskussion um die Akademisierung der
Psychotherapieausbildung in Österreich ist derzeit heftig im Gange.
Im österreichischen Psychologengesetz und den Erläuterungen dazu liest man:
Die Ausübung des psychologischen Berufes im Bereich des Gesundheitswesens ist die durch den
Erwerb fachlicher Kompetenz im Sinne dieses Bundesgesetzes erlernte Untersuchung, Auslegung,
Änderung und Vorhersage des Erlebens und Verhaltens von Menschen unter Anwendung
wissenschaftlich-psychologischer Erkenntnisse und Methoden.
Die Ausübung des psychologischen Berufes... umfasst insbesondere
1. die klinisch-psychologische Diagnostik ...
2. die Anwendung psychologischer Behandlungsmethoden zur Prävention, Behandlung und
Rehabilitation von Einzelpersonen und Gruppen oder die Beratung von juristischen Personen
sowie die Forschungs- und Lehrtätigkeit auf den genannten Gebieten und
3. die Entwicklung gesundheitsfördernder Maßnahmen und Projekte. ...
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Therapiemethoden
im Zentrum jeder psychologischen Berufsausübung steht die Anwendung der Erkenntnisse und
Methoden der wissenschaftlichen Psychologie …
psychologische Behandlungsmethoden beziehen sich dabei auf psychische Phänomene somatischer
Erkrankungen und auf psychische Störungen und Leidenszustände.... dabei kommt unter anderem
auch dem integrativen Einbau verschiedener psychotherapeutischer Ansätze große Bedeutung zu.
In der klinisch-psychologischen Behandlung sind psychotherapeutische Inhalte vorhanden, mit deren Hilfe
psychologisches Wissen umgesetzt wird.
2 Das Interface von klinischer Psychologie und Psychotherapie
Psychotherapie ist demnach eine eigenständige Disziplin, deren Inhalte und Interventionsmodi jedoch in der
klinisch psychologischen Behandlung (ebenso wie in der Pädagogik, in Beratungen etc.) Anwendung finden
können. Die aus der klinischen Psychologie und zugrunde liegenden Forschungen stammenden Theorien
können andrerseits wichtige Hinweise für psychotherapeutische Arbeit bilden. Hypothesen, die sich aus
psychologischen Theorien ableiten, sind für den (systemischen) Psychotherapeuten nicht „wahrer“ als
andere, sondern „vielleicht wahrscheinlicher“, da sie sich an die Untersuchung vieler Menschen anschließen.
Ich sehe die Schnittmenge der beiden Fachgebiete folgend:
In der Abbildung wird sowohl die Eigenständigkeit als auch das
Gemeinsame der beiden Gebiete deutlich. Wenn es gelingt,
die Informationen, Kenntnisse und Erfahrungen der Fächer
miteinander zu kombinieren, entsteht ein breiteres Spektrum
an Möglichkeiten, das für die Patienten eingesetzt werden kann.
3 Psychotherapeutisch - klinisch psychologische Arbeit mit Patienten
Herr Andreas: von der psychiatrischen/psychologischen Diagnose
zur psychotherapeutischen Intervention
Herr Andreas (25 Jahre) kommt in stationäre Behandlung an eine psychiatrische Abteilung eines
Landeskrankenhauses, nachdem er zuvor einige Male in der Ambulanz und in Psychotherapie gewesen war.
Da er sich jedoch zunehmend schlechter gefühlt und Selbstmordgedanken angegeben hatte, zeigt er sich
mit der Aufnahme an die Station einverstanden.
In der Anamnese sind weder Voraufenthalte in psychiatrischen Krankenhäusern oder Selbstmordversuche
noch Suchtmittel- oder Medikamentenmissbrauch erhebbar. Zum Zeitpunkt der Aufnahme gibt der Patient
an, in den Wochen davor durch einen Berufswechsel massiv belastet gewesen zu sein. Er habe sich den
Anforderungen in seinem neuen Job nicht gewachsen gefühlt und mit schweren Schlafstörungen reagiert. Er
grüble nur mehr über sein Leben und seine Situation, fühle sich depressiv und ratlos, habe keine
Perspektiven und trage sich mit dem Gedanken an Selbstmord.
An der psychiatrischen Abteilung wird Herr Andreas medikamentös behandelt, es kommt zu einer leichten
Stimmungsaufhellung und der Biorhythmus kann sich stabilisieren. Die Diagnose der Ärzte lautet:
Depression bei gemischter Persönlichkeitsentwicklungsstörung. Der psychologische Befund gibt deutlichen
Hinweis auf eine Borderline- Persönlichkeitsstruktur.
Ungeachtet – oder gerade wegen – der psychopathologischen Diagnose ist eine psychotherapeutische
Behandlung, die auf Ressourcen und Lösung fokussiert, angezeigt. Es sollte möglich sein, die gesunden
Anteile zu stärken, Ressourcen zu aktivieren, Lösungsvorschläge zu erarbeiten und der etikettierenden,
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defizitorientierten Problembeschreibung die förderlichen Aspekte einer salutogenetisch orientierten Therapie
entgegen zu halten. Die Interventionen zielen daher darauf ab, seine Sichtweisen zu erweitern, Unterschiede
aufzuzeigen und den Focus auf Ressourcen und Lösungen zu richten:
● So wird z.B. in mehreren Skulpturen und Externalisierungen deutlich, welche zusätzlichen
Perspektiven möglich sind und was sich bereits verbessert hat,
● die Zielformulierungen werden mittels Skalierungsaufgaben auf kleine Erfolge überprüft und diese
werden ausgiebig besprochen,
● der Bogen zwischen „entweder“ und „oder“ wird in Teilbereiche aufgelöst und es ergeben sich
„sowohl – als – auch“ und „weder – noch“ Lösungsideen etc.
Während der Zeit des stationären Aufenthaltes erkrankt die Großmutter des Patienten und muss ins Spital.
Herr Andreas besucht sie mehrmals und erhält auch die Erlaubnis, die Station nachmittags zu verlassen, um
sich mit seinem Bruder gemeinsam um die Wohnung der Großmutter zu kümmern und dort aufzuräumen,
was die alte Dame wegen ihrer Krankheit nicht geschafft hatte.
Als er diese Aufgaben erledigt, wird er – vermutlich nicht zuletzt durch die Ablenkung von seinen eigenen
Sorgen – sicherer und lebhafter.
In den therapeutischen Gesprächen wird ressourcen- und lösungsorientiertes Arbeiten immer besser
möglich, die medizinische Betreuung kann insofern umgestellt werden, als er nur mehr als Tagpatient an die
Station kommt.
Danach erfolgt die Überweisung an eine therapeutische Einrichtung, in welcher er einige Wochen bleibt und
er wird anschließend in ambulante Nachbetreuung entlassen. In diesem Beispiel wird deutlich, wie
Entlastung und Zukunftsorientierung möglich ist, wenn (systemisch) psychotherapeutisches
Methodeninventar verwendet wird. Der Blickwinkel erweitert sich von der pathologieorientierten
psychiatrischen Diagnose auf eine Gesamtschau des Patienten mit all seinen Fähigkeiten, Ressourcen und
dem Streben nach Gesundheit, das allen Menschen inne wohnt.
Herr Bernhard: Psychotherapie entlang psychologischer Theorien
Herr Bernhard (36 Jahre) kommt in die psychotherapeutische Praxis, da er, wie er sagt, „eingefahrene
Situationen“ erlebe. Er sei verheiratet, habe drei Kinder und arbeite im technischen Bereich. Er erzählt von
schwerer Kindheit und einsamer Jugend: er sei Einzelkind, sein Vater habe seine Mutter bereits vor der
Geburt des Kindes verlassen. Er habe sich von seiner Mutter nie angenommen gefühlt, sei in den ersten
Lebensjahren bei einer gefühlsarmen alten Verwandten aufgezogen worden und in weiterer Folge immer wie
ein lästiges, belastendes Etwas vom Kindergarten zum Hort und in ein Internat abgeschoben worden, habe
mit 16 Jahren bereits alleine gelebt. Er habe seine Ausbildung beendet, seinen Beruf begonnen und nach
wenigen kurzen Erfahrungen mit Mädchen im Alter von 20 Jahren seine Frau kennen gelernt. Kurz darauf
hätten sie geheiratet und ein Haus gebaut. Die finanziellen Belastungen der Familie seien durch die Geburt
der Kinder noch größer geworden und die Entfremdung von seiner Frau habe bereits vor Jahren begonnen.
Nun seien Erziehungsprobleme mit dem Sohn dazu gekommen, und auch in seinem beruflichen
Tätigkeitsfeld zeichneten sich starke Belastungen ab, die er nicht abwenden könne. Er fühle sich
ausgebrannt, ängstlich, depressiv, mutlos. Diese Schilderungen regen Hypothesenbildungen
verschiedenster Art über das Denken, Fühlen und Handeln des Patienten an, die sich (unter anderem) an
psychologischen Theorien orientieren:
Herrn Bernhards Beschreibung seiner Kindheit und Jugend lässt vermuten, dass es schon früh in seinem
Leben großen Mangel im Sinne Eriksons (1959;1998) gegeben hat. Bereits in der Phase zwischen 0 und 1
Jahren, in welcher ein Kind „Urvertrauen“ entwickelt, dürften die entscheidenden Bezugspersonen gefehlt
haben.
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Die Bindung an die Mutter scheint im Sinne Bowlbys (1969,1973,1980) „unsicher“ gewesen zu sein, woraus
eine Haltung des Vermeidens von engen Beziehungen und Zweifel an der Möglichkeit der Existenz
dauerhafter Liebe entstanden sein könnte.
Der Patient macht den Eindruck, er verwende überwiegend einen externalen, stabilen, globalen
Attributionsstil, der nach der Theorie von Abramson, Seligman und Teasdale (1978 „Theorie der gelernten
Hilflosigkeit“) Gefühle von Hilflosigkeit und Selbstunwirksamkeit fördern, welche in Traurigkeit und
Depression münden können.
Weitere Fragen entlang psychologischer Theorien tauchen auf, z.B.
● sind die Schwierigkeiten, die der Patient in der Erziehung seines Sohnes angibt, eine Folge der
Tatsache, dass er selbst über kein Modell eines Vaters verfügt? War also Modelllernen, wie es
Bandura (1971) versteht, unmöglich?
● gibt es Anzeichen von beruflichem und/oder privatem Burnout, die als Erklärung für das Gefühl des
„Ausgebrannt-Seins“ dienen können (beschrieben z.B. in Maslach, 1982)?
● oder sind die Symptome differentialdiagnostisch eher dem depressiven Formenkreis zuzuordnen
(nach ICD-10)?
● könnten psychologische Tests zur Differentialdiagnose nützlich sein? u.s.w.
Im diesem Beispiel werden entlang der psychologischen Theorien viele Muster im Verhalten und Erleben
des Herrn Bernhard verständlicher und Erklärungsmodelle angeboten, die der Neugier der Therapeutin
entgegenkommen. Die von psychologischer Theorie geleiteten Überlegungen und die Ergebnisse
psychologischer Tests werden im Rahmen einer (systemischen) Psychotherapie ebenso auf ihre
Nützlichkeit, Brauchbarkeit und Passung untersucht, wie aus anderen Quellen stammende Hypothesen und
fügen sich somit hilfreich in die Behandlung ein.
4 Resümee
Diese, und andere hier nicht beschriebene Fallbeispiele ermutigen, die Bereiche Psychotherapie und
klinische Psychologie miteinander zu verbinden und die resultierende Vielfalt an Möglichkeiten als
Bereicherung der Arbeit mit Patienten zu nützen. Heißt das nun, jeder Psychotherapeut müsste auch
klinischer Psychologe sein, oder jede klinische Psychologin sollte eine Psychotherapieausbildung
absolvieren? Keinesfalls!
Die gegenseitige Bereicherung der Berufsgruppen kann auf viele Arten erfolgen: durch persönliche Kontakte
und Zusammenarbeit, Fachliteratur, Vorträge, Erfahrungen im Berufsalltag usw. Immer ist das Interesse und
die Aufgeschlossenheit des Psychotherapeuten/ der klinischen Psychologin ein wesentlicher Faktor für die
Integration von Inhalten aus benachbarten Disziplinen. Jeder Therapeut, jede Psychologin entscheidet dabei
selbst, was und wie viel ihm/ihr für seine/ihre umfassende Arbeit mit Patienten nützlich sein kann.
Ich plädiere für
● Zusammenarbeit statt Konkurrenz
● Informationsaustausch statt Methodengehorsam
● Offenheit statt berufspolitischer Isolation
● Interesse statt Schwellenangst
und wünschte, diese Haltungen würden bereits in den Ausbildungen zum Psychotherapeuten und im
Psychologiestudium vermittelt, denn im Mittelpunkt steht immer die Unterstützung der seelischen Gesundheit
unserer Patienten.
MAG. IRMGARD BARTL ist klinische und Gesundheitspsychologin, Psychotherapeutin in freier Praxis – systemische
Familientherapie (Wien), Biofeedbacktherapeutin und Supervisorin.
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