1 Forum für Persönlichkeitsstörungen 4. Symposium: Selbstunsichere Persönlichkeitsstörung 1. November 2008 in Berlin Angst als Erste Rettung Klaus Heinerth, Universität München 9.11.2008 Abstract Empathie, das zentrale Medium der Gesprächspsychotherapie, gründet weniger auf einer Diagnose, als vielmehr auf dem Verstehen von Phänomenen als Ausdruck der persönlichen Not des Klienten, die hinter allen Äußerungen steht. Das Ziel der Behandlung ist die Überwindung der Angst, die ein unverstelltes Erleben verhindert, das zur Verarbeitung notwendig ist. Zwei differentialdiagnostische Mängel gilt es jedoch zu unterscheiden. Zum Verstehen des Erlebens macht es einen Unterschied, ob eine Erfahrung abgewehrt wird, weil sie Angst macht, da sie nicht ins Selbstkonzept passt, oder ob eine Erfahrung grundsätzlich unmöglich ist, weil das Selbstkonzept keine Kriterien hat, sie zu verstehen, sich nicht in Worte gießen lässt, also die Welt und das eigene Erleben unverständlich, bedrohlich bleibt, Angst macht. Diese Unterscheidung ist bedeutsam, da das Verstehen, die Grundlage der Gesprächspsychotherapie, zunächst unmöglich ist, da der frühgestörte Klient mit seinem defizitären Selbstkonzept sich selbst nicht verstehen kann, den Therapeuten nicht verstehen lässt, und ihn damit auflaufen lässt, auflaufen lassen muss. Es werden Interventionen aufgezeigt, die ein Verstehen ermöglichen, um das Verstandene in Worte fassen zu können. Die Darstellung berücksichtigt besonders die Einbettung in das klientenzentrierte Konzept der Gesprächspsychotherapie. Angst als Erste Rettung 1/46 9. Nov. 2008 Sie werden sich sicher wundern, dass ein Gesprächspsychotherapeut zu einer Diagnose etwas sagen kann, da er ja – gleichgültig, welche Diagnose vorliegt – immer das Gleiche realisiert, nämlich die berühmten drei Beziehungsmerkmale: 2 Beziehungsmerkmale sensu Carl R. Rogers 1.: empathische Einfühlung einschließlich der Kunst des Kommunizierens dieser Empathie 2.: unbedingte Wertschätzung der Person und ihrer Gefühle, nicht unbedingt ihres Verhaltens 3.: eigene Authentizität, die Kongruenz zwischen Selbst und Erfahrung mindestens in der Beziehung zum Klienten Diese Beziehungsmerkmale sind Ihnen geläufig, sie haben in allen anerkannten Psychotherapieverfahren ihren Platz, wenn auch mit anderen Begriffen. Spektakulär ist weniger, dass sie notwendig sind, sondern dass sie den Anspruch haben, hinreichend zu sein. Diese Herausforderung gilt es anzunehmen, auch hinsichtlich der Frühen Störungen, hier der Angst und Selbstunsicherheit. Angst als Erste Rettung 2/46 9. Nov. 2008 Wenn wir Gesprächspsychotherapeuten ohnehin immer das Gleiche machen, wird verständlich, dass Diagnosen nicht wesentlich sind – höchstens gegenüber der Forschung und der KV. Nicht einmal die Symptomatologie ist im Fokus, sondern es sind die einzelnen Symptome, genauer die Phänomene, die ins Zentrum des Verstehens rücken. Unsere Aufgabe ist es, derlei Phänomene zu verstehen, hier der Ausdruck von Angst, Unsicherheit, Selbstunsicherheit, Misstrauen, sowie das Verstandene in Worte zu fassen, damit der Klient eine Chance erhält, sich selbst zu verstehen. Dabei ist es sicher hilfreich, ja notwendig, Psychopathologie zu kennen, um Phänomene auch in ihrem Zusammenhang verstehen zu können. Um diese vermeintliche Einfachheit zu verstehen, müssen wir die Theorie bemühen und betrachten zunächst die genannten drei Merkmale im Zusammenhang, wie sie Rogers formuliert hat. Dort sind es nicht drei, sondern sechs notwenige und hinreichende Bedingungen: Die drei weiteren betreffen Merkmale von Klienten, sie sind fett gedruckt: 3 1. Zwei Personen befinden sich in Kontakt. 2. Die erste Person, die wir Klient nennen, befindet sich in einem Zustand der Inkongruenz; sie ist verletzlich oder voller Angst. 3. Die zweite Person, die wir den Therapeuten nennen, ist kongruent in der Beziehung. 4. Der Therapeut empfindet bedingungslose positive Wertschätzung gegenüber dem Klienten. 5. Der Therapeut erfährt empathisch den inneren Bezugsrahmen des Klienten. 6. Der Klient nimmt zumindest in geringem Ausmaße die Bedingungen 4 und 5 wahr, nämlich die bedingungslose positive Wertschätzung des Therapeuten ihm gegenüber und das empathische Verstehen des Therapeuten. Angst als Erste Rettung 3/46 9. Nov. 2008 Die Theorie der Gesprächspsychotherapie ist komplex. Ihre lineare Darstellung ist nur mit Redundanzen möglich. Das ist einmal nicht zu vermeiden, zeigt jedoch zum anderen die Vernetzung und ihre Einfachheit, Eleganz und Stringenz. 4 Theoretische Grundlegung des Klientenzentrierten Konzepts 1 Persönlichkeitspsychologische Grundlegung 2 Entwicklungspsychologische Grundlegung 3 Psychobiologische Aspekte a) Das Axiom der Aktualisierung b) Das Primat der Gefühle vor den Kognitionen 4 Wahrnehmungspsychologische Aspekte 5 Kognitionspsychologische Aspekte 6 Störungstheoretische Aspekte a) Versperrte Symbolisierung b) Verzerrte Symbolisierung c) Zerstörte Symbolisierung 7 Zur Theorie der Praxis Angst als Erste Rettung 4/46 9. Nov. 2008 1 Persönlichkeitspsychologische Grundlegung Grundsätzliche Annahme ist die Aktualisierungstendenz, eine dem Organismus innewohnende Kraft zu wachsen, sich zu realisieren: sich an sich selbst anzupassen. Aus dieser Aktualisierungstendenz und parallel zu ihr erwächst die Selbstaktualisierungstendenz. Diese Tendenz ist die Grundlage dafür, dass der Organismus aus seinen Erfahrungen Selbst-Erfahrungen macht (das sind Erfahrungen über sich selbst und seine Beziehungen), die das Grundmaterial für das Selbstkonzept sind. Der Aufbau des Selbstkonzepts geschieht über die Symbolisierung (Gewahrwerden, Bewusstwerden) von Selbst-Erfahrungen, einem Prozess, in dem alle auftretenden Vorstellungen, Empfindungen, Gefühle, Gedanken, Worte und Sätze in einem sinngebenden Bezug zu einem Ganzen verwoben werden. Erfahrungen sind immer verbunden mit organismischen Bewertungen und damit Grundlage jeder Anpassung (an sich selbst!). Diese Bewertungen werden als Gefühl oder Affekt erlebt (Gefühle sind Affekte in einer kognitiven Fassung) und steuern unser Denken und Verhalten im Sinne der Befriedigung der erlebten Bedürfnisse, besonders der Wachstumsbedürfnisse. Angst als Erste Rettung 5/46 9. Nov. 2008 2 Entwicklungspsychologische Grundlegung Dass Erfahrungen zu Selbst-Erfahrungen werden, ist zunächst nur möglich im Kontakt mit Bindungspersonen, die erstens einfühlsam sind und damit in der Interaktion helfen, dass Erfahrungen symbolisiert werden, entweder durch entsprechende Verbalisierungen, oder, in frühester Kindheit, durch angemessene, d.h. prompte und passende Bedürfnisbefriedigung, und zweitens einer Wertschätzung fähig sind, die unbedingt ist. Der Aufbau des Selbstkonzepts geschieht entsprechend der Befriedigung des Bedürfnisses nach Anerkennung (need for positive regard, umfassende unbedingte Wertschätzung und empathisches Verstehen) und ist charakterisiert durch den Wunsch, in seinem eigenen Erleben gesehen, geachtet, gewürdigt und verstanden zu werden als lebens- und liebenswertes, unverwechselbares und mit sich selbst identisches Individuum. Das Bedürfnis muss nicht notwendig bewusst sein, ist aber im gesunden Fall bewusstseinsfähig. Angst als Erste Rettung 6/46 9. Nov. 2008 3 Psychobiologische Aspekte a) Das Axiom der Aktualisierung Die Kritik am sog. Axiom des Klientenzentrierten Konzepts, der Annahme einer Wachstumstendenz, ist verstummt, seit die Soziobiologie eben diese Annahme nahe legt und in der ganzen belebten Welt als treibende Kraft anerkennt. Die Psychologie des Klientenzentrierten Konzepts folgt nahtlos aus der Biologie hierarchisch geordneter Bedürfnisse (Maslow 1973, 1981), zu denen schließlich auch Wachstumsbedürfnisse zählen. Es gibt einen evolutionären Vorteil, nicht nur die Umwelt wahrzunehmen und zu bewerten (förderlich oder bedrohlich), sondern auch sich selbst in ihr, den eigenen Organismus und das eigene Selbstkonzept, das wahrgenommen und bewertet wird. So werden endlich auch Wachstumsbedürfnisse bewertet und im gegebenen Fall wird die Befriedigung wahrgenommen und über das Limbische System als Freude, Dankbarkeit und Glück bewertet. Im defizitären Fall folgt Angst und Stagnation. Die Vererbung des Selbst-Bewusstseins geschieht über die entscheidenden Vehikel der Entwicklung des Selbstkonzepts, die angeborenen Bedürfnisse zu verstehen und verstanden zu werden, und wertzuschätzen und wertgeschätzt zu werden. Sowohl die Soziobiologie als auch das Klientenzentrierte Konzept stellen Anpassung und Aktualisierung in den Vordergrund, sei es für den Organismus, sei es für die aus dem Hintergrund wirkenden Gene, sei es für das Selbstkonzept. Angst als Erste Rettung 7/46 9. Nov. 2008 b) Das Primat der Gefühle vor den Kognitionen Der Anpassung des Organismus an die Erfordernisse des Überlebens dienen seit Jahrmillionen die Emotionen, erst seit Jahrtausenden die Kognitionen. Insofern kommt den Gefühlen das Primat zu, sie steuern unser Verhalten elementar. Kognitionen tun dies nur, insofern sie Gefühle provozieren, die ihrerseits handeln lassen. So kommt dem Selbstkonzept eine besondere Bedeutung zu, da es für Bewertungen (Affekte) eine kognitive, nämlich verbale Repräsentanz zur Verfügung stellt. Selbsterfahrungen interagieren mit affektiven und kognitiven Prozessen. Dabei ist es für das Klientenzentrierte Konzept charakteristisch, dass emotionale Prozesse im Mittelpunkt stehen und die kognitiven Prozesse lediglich Möglichkeiten zur Verfügung stellen, Erfahrungen zu symbolisieren. Gefühle sind die Elemente der fundamentalen Regulierungsprozesse des Organismus als Antwort auf die unmittelbare Bewertung einer jeden Erfahrung. Werden die Affekte verstanden, können sie benannt werden, so werden sie zu Emotionen. Emotionen sind kognitiv gefasste Affekte. Das Primat der Gefühle zeigt sich in der zentralen Tätigkeit des Therapeuten: Er verbalisiert die emotionalen Erlebnisinhalte der Klientenäußerung. Im Falle früher Störungen kann jedoch nicht davon ausgegangen werden, dass kognitive und emotionale Aspekte korrespondieren. Hier gilt es, auch die Kognitionen zu verbalisieren. Angst als Erste Rettung 8/46 9. Nov. 2008 4 Wahrnehmungspsychologische Aspekte Die Person steht im Mittelpunkt ihrer Welt, ihres Erfahrungsfeldes, wie sie es erlebt. Dieses Feld ist ihre Realität und besteht aus ihren Wahrnehmungen und sonst aus nichts. Die Wahrnehmungen umfassen ihre Körperempfindungen z.B. wie sie sitzt, oder ihre Gallenbeschwerden. Sie umfassen die Wahrnehmungen ihres Selbstkonzepts, z.B. ihrer Traurigkeit, und sie umfassen die Außenwelt, besonders ihre sozialen Partner einschließlich des Therapeuten. Diese Wahrnehmung durchläuft mehrere Stufen der Bewertung. Die erste Bewertung ist eine organismische und entspricht den Bedürfnissen der Aktualisierung des Organismus. Alle Erfahrungen werden dahingehend bewertet, ob sie für den Organismus relevant sind oder nicht. Irrelevante Wahrnehmungseinheiten werden nicht weiter verarbeitet, sehr wohl aber solche Wahrnehmungsinhalte, die als signifikant erkannt werden. Signifikant heißt, dass sie für den Organismus als förderlich oder bedrohlich bewertet werden. Allein diese Bewertung ist Kriterium für Signifikanz. Diese Bewertungen setzen den Organismus unter Spannung, d.h. bewirken in ihm Gefühle, Gestimmtheiten. Diese Affekte führen zum Handeln oder wenigstens zu Handlungsimpulsen, wie Wollen, Wünschen und Fürchten. Sie dienen dem Organismus, sich zu regulieren, für sich und in der Auseinandersetzung mit seiner Umwelt. Diese Bewertungen auf der zweiten Stufe bilden das interne Erfahrungsfeld. Gewöhnlich sind sie unterschwellig, aber ein Gewahrwerden ist möglich, sie können bei Bedarf ins Bewusstsein geholt werden. Dieser Prozess des Gewahrwerdens heißt Symbolisierung. Symbolisierung ist ein Prozess der Wahrnehmung relevanter Erfahrungen in einem Augenblick zu einem sinngebenden Zusammenhang. Bei Gelingen spürt die Person eine Freude, eine Bewegung, einen "Schritt" (felt sense), der mit Entspannung verbunden ist. Zugleich stößt dieser Prozess kognitive Prozesse an, die im Verlauf ihrer Verarbeitung wieder verändert werden können. In dieser Stufe der Bewertung werden diese Erfahrungen einerseits entsprechend dem Bedürfnis nach Anerkennung und andererseits entsprechend dem Selbstkonzept bewertet. Das Ergebnis dieser Bewertung befindet darüber, wie weit die Erfahrung das Selbstkonzept verletzt, ihm widerspricht, es dort hineinpasst oder nicht, es bestätigt oder gar erhöht. Auch hier gilt das Kriterium: für das Selbstkonzept bedrohlich oder förderlich. Erfahrungen, die durch diesen Filter der Bewertung durch das Selbst gegangen sind, werden Selbsterfahrungen genannt. Sofern diese bewusst sind, reden wir von Selbsterleben. Auch diese Selbsterfahrungen, einschließlich des Selbsterlebens, interagieren mit kognitiven Prozessen. Die fundamentaleren Regulierungsprozesse des Organismus sind jedoch affektiv, emotional. Angst als Erste Rettung 9/46 9. Nov. 2008 5 Kognitionspsychologische Aspekte Zentraler Gegenstand der Betrachtung ist die Person, der Gesamtorganismus mit seinem Selbstkonzept. Dies ist eine ganzheitliche Gestalt aus der Summe und der Vernetzung aller bedeutsamen Erfahrungen, die der Organismus je symbolisiert hat. Es besteht aus Vorstellungen, Bildern, Empfindungen, Gefühlen, Gedanken, Worten, Sätzen und den dazugehörigen Werten. Es ist die Vorstellungsgestalt des Individuums von der eigenen Person und seinen wechselseitigen Beziehungen zur Umwelt. Dazu gehören insbesondere Beziehungen zu emotional bedeutsamen Menschen, die mit ihm derartig verbunden sind, dass sie sich gegenseitig beeinflussen (quasi von Selbstkonzept zu Selbstkonzept, Buber: "Das Ich wird am Du"). Es handelt sich um Beziehungserfahrungen (Erfahrungen aus interpersonalen Prozessen), die in ihrer Bedeutung für das Selbstkonzept als wesentlich (fördernd, behindernd, bedrohend) bewertet und als Selbsterfahrung anerkannt werden. Seine Funktionen sind: Identität (durch Selbst-Bewusstsein, Kontinuität, Gedächtnis und Kohärenz der Selbstüberzeugungen), Steuerung des Denkens und Handelns (Auseinandersetzung zwischen Person und Umwelt) und Bewertung einer Erfahrung hinsichtlich ihrer Kongruenz mit seinen Inhalten (Selbstüberzeugungen). Angst als Erste Rettung 10/46 9. Nov. 2008 6 Störungstheoretische Aspekte Ohne Anerkennung, (empathisches Verstehen und unbedingte Wertschätzung) durch die Bezugsperson kommt es zu keiner akkuraten Symbolisierung der Erfahrungen des Organismus, das Selbstkonzept kann nicht gebildet oder nicht entfaltet werden. Mindestens drei Gefährdungen lassen sich unterscheiden: 5 Störungen beim ersten Aufbau des Selbstkonzepts: Fehlt es in einem Bereich an der notwendigen Anerkennung von Bedürfnissen (z.B. von aggressiven Impulsen, Angst und/oder von Bindungswünschen), kommt es zu keinen Symbolisierungen dieser Erfahrungen, sie bleiben versperrt. Störungen bei der Differenzierung des bereits vorhandenen Selbstkonzepts: Werden Bedürfnisse und ihre Gefühle nur bedingt anerkannt, kommt es nur zu einer verzerrten Symbolisierung. 6 7 Störungen bei existenzbedrohendem Stress für das bestehende Selbstkonzept: Werden Erfahrungen infolge eines Psychotraumas zu bedrohlich (Psychotraumatische Belastungsreaktion), so schützt sich der Organismus durch eine Zerstörung der Symbolisierungsfähigkeit: Stress ist in der Lage, synaptische Verbindungen zu lösen. Angst als Erste Rettung 11/46 9. Nov. 2008 Im Einzelnen: a) Versperrte Symbolisierung Das Selbstkonzept ist von Beginn an unterentwickelt, da bestimmte Affekte (z.B. Bindungsgefühle, Aggressivität, Selbstbewusstsein, Angst) nicht empathisch begleitet wurden und deswegen nie verstanden werden konnten. Die Inkongruenz zwischen Selbst und Erfahrung ist eine Spaltung (keine aktive Abwehr) zwischen Selbst und Erfahrung, eine Dissoziation, die zu Persönlichkeitsstörungen (z.B. Borderline-Persönlichkeitsstörungen, Selbstunsicherheit, Angst) führen kann (frühe Störungen durch Defizite im frühen Angenommenwerden sensu Biermann-Ratjen 1993). Angst als Erste Rettung 12/46 9. Nov. 2008 b) Verzerrte Symbolisierung Bei der Entwicklung des Selbstkonzepts ist es unvermeidlich, dass das Bedürfnis nach Anerkennung gelegentlich mit anderen organismischen Bedürfnissen konfligiert, wenn nämlich die Bindungsperson Anerkennung vermissen lässt (besonders unbedingter Wertschätzung nicht fähig ist), und infolge eigener defizitärer Selbstaktualisierung (Selbstinkongruenzen) eigene Bedürfnisse in den Vordergrund stellt (dass z.B. der Sohn Karriere machen möge). Wenn das Bedürfnis nach Anerkennung stärker als andere organismische Bedürfnisse ist, kommt es zu Introjekten. Diese Differenz zwischen den organismischen Erfahrungen und dem fälschlich introjizierten Selbstanteil führt zur Inkongruenz. („Inkongruenz zwischen Selbst und Erfahrung“). So entwickelt sich neben einem Selbstkonzept (bewusstseinsfähig) auch ein Abwehrkonzept (nur beschränkt dem Bewusstsein zugänglich). Erfahrungen, die dann nicht in das Selbstkonzept passen, werden abgewehrt: geleugnet oder nur verzerrt symbolisiert. Es kommt zu einer Spaltung der Selbstaktualisierungstendenz, nämlich zwischen Selbstentfaltung (bei Anerkennung durch Bezugspersonen) und der Selbsterhaltung (Stabilisierung des nun rigiden Selbstkonzepts, um Anerkennung zu erhalten, aber um den Preis, dass neue diskrepante Erfahrungen die Anerkennung in Frage stellen und abgewehrt werden müssen). Das führt durch Selbstbehauptung zur Stagnation (statt durch Offenheit gegenüber Erfahrungen zu Wachstum). Da die Selbstentfaltung auf organismischer Bewertung beruht und sich die Selbsterhaltung auf das Selbstkonzept bezieht, ist ihre Spaltung zugleich eine Spaltung zwischen Aktualisierungs- und Selbstaktualisierungstendenz (neurotische Störungen durch Defizite im richtigen Verstandenwerden sensu Biermann-Ratjen 1993). Bleibt die Inkongruenz in Maßen, kommt es durch die Abwehr zu einer Verletzlichkeit, zu Spannung und Angst. Bei stärkerer Inkongruenz kommt es im Falle einer Krise zu einer Dekompensation, d.h. zur Ausbildung von neurotischen Symptomen als Ausdruck der Abwehr. Hier gilt: Werde, der du bist! Statt: Werde, damit Du bist!, wie es bei versperrter Symbolisierung gilt. Angst als Erste Rettung 13/46 9. Nov. 2008 c) Zerstörte Symbolisierung Wird das voll entwickelte Selbstkonzept einem zu großen Schock ausgesetzt, so dass es sich schützen muss, gehen bestimmte Bereiche des Selbstkonzepts der bewussten Zugänglichkeit verloren, entsprechende Erfahrungen können nicht mehr symbolisiert werden, die Person zieht sich in sich zurück (Konstriktion, Reddemann & Sachsse 1997). Die Inkongruenz zwischen Selbst und Erfahrung setzt den Organismus unter Spannung, entsprechende Erfahrungen werden nicht erinnert, an die Erinnerung führende Erfahrungen werden vermieden, da sie Flash-backs auslösen können. Flash-backs sind keine Erinnerungen, da diese Erfahrungen nicht integriert werden konnten. Die mangelhafte Integration aufgrund der stabilen Inkongruenz kann zu Ausbrüchen von Angst, Panik und/oder Aggression führen. Die Symptomatik ähnelt jener einer BorderlinePersönlichkeitsstörung mit versperrter Symbolisierung und erklärt, warum sich eine Borderlinestörung wie eine Posttraumatische Belastungsreaktion zeigen kann, so als ob sie auf einer sehr frühen Traumatisierung beruht. Im Unterschied zur versperrten Symbolisierung (fundamentale Spaltung zwischen Selbst und Erfahrung, da entsprechende Erfahrungen nie zu Selbsterfahrungen werden konnten) liegt hier bei der zerstörten Symbolisierung eine nachträgliche Abspaltung vor, da das Selbstkonzept ja bereits entwickelt war. Die Unterscheidung von verzerrter, versperrter und zerstörter Symbolisierung lässt sich auch organismisch begreifen: Synaptische Nervenverbindungen werden in den ersten drei Jahren nicht aufgebaut (versperrte Symbolisierung), aufgebaut und später durch Stresshormone blockiert (zerstörte Symbolisierung), oder aufgebaut und später aktiv vermieden (verzerrte Symbolisierung). Der Ort mangelhafter synaptischer Verbindungen dürfte die Amygdala sein, der Ort von Vermeidung und Verzerrung hingegen der Kortex. Diese Unterscheidung ist für das Verständnis der Symptomatologie von Bedeutung. So sind z.B. verzerrte Symbolisierungen dem Bewusstsein prinzipiell zugänglich und sprachlich zu fassen, versperrte und zerstörte hingegen nicht. Empathisches Verstehen wird unterschiedlich ausfallen müssen, je nach den unterschiedlichen Erfahrungswelten der Klienten und ihrer sprachlichen Zugänglichkeit. Angst als Erste Rettung 14/46 9. Nov. 2008 Zum Verständnis der Phasenabhängigkeit des Systems Selbstkonzept: Phasen von Systemen Aufbau Beruf Beziehung Firma Grippe Herrschaft Motor Lehre/Studium Aufnahme Gründung Inkubation Aufrichtung Start Selbstkonzept Aufbau Entstehung Einrichtung Errichtung Angst als Erste Rettung 15/46 Ausbau Berufstätigkeit Gestaltung Führung Ausbreitung Ausübung Betrieb Ausbau, Gestaltung Anpassung Umstrukturierung Differenzierung 9. Nov. 2008 8 Zum Verständnis von Frühen Störungen ein Vergleich mit neurotischen Störungen: 9 Störungen in der: Aufbauphase Ausbauphase 1. Anerkennung durch selbstkongruente Bezugsperson ist ungenügend, besonders der Mangel an: einfühlendem Verstehen unbedingter Wertschätzung nicht anerkannt falsch (nicht “unbedingt“) anerkannt 3. Erfahrungen, weil unverstanden: versperrt, blockiert weil nicht ins SK passend: verzerrt: gefiltert oder umgedeutet, abgewehrt, „verdrängt“ 4. Symbolisierung ist: fehlend, versperrt falsch, verzerrt nicht falsch Fragmentierungen Introjekte 2. Selbst-Erfahrungen wurden: 5. Integration von bestimmten SelbstErfahrungen geschieht: 6. Selbstentwicklung ist behindert durch: 7. Inkongruenz besteht zwischen: Angst als Erste Rettung fragmentiertem Selbst-Introjekten und Selbst und (falsch symbolisierten) (unsymbolisierten) Erfahrungen Erfahrungen 16/46 9. Nov. 2008 10 Das zentrale Trauma der Frühen Verletzung ist Empathieversagung in den ersten drei Jahren durch: a) b) c) d) e) emotionale Vernachlässigung, Verwahrlosung, Misshandlung, sexuellen oder emotionalen Missbrauch, Überbehütung, Verwöhnung, Strukturversagung etc. (Kinder zu verwöhnen ist ein selbstsüchtiger, aggressiver Akt). Diese Empathieversagung tut weh, der erlebten Verletzung muss begegnet werden: Angst als Erste Rettung 17/46 9. Nov. 2008 11 Folgen der Vermeidung von Schmerzen aufgrund von Empathieversagung: Das Selbstkonzept kann nicht angemessen an den Erfahrungen wachsen, Symbolisierungen sind partiell nicht möglich. Aus dieser gesperrten Symbolisierungsfähigkeit folgen: Misstrauen: "Ich kriege doch nicht das, was ich brauche!" "Ich nehme Abstand, ich will nicht wieder verletzt werden!" Vermeidungsverhalten in sozialen Bezügen „Ist das Gegenüber gefährlich? Kann man ihm trauen?“ Angst: „Ich verstehe die Welt nicht“ „Ich weiß nicht!“ „Ich genüge nicht!“ Das Unverstandene bedroht, macht Angst. Selbstunsicherheit Verständnislosigkeit von sich, und für die Partner: keine Empathie ohne Selbstempathie. Angst als Erste Rettung 18/46 9. Nov. 2008 Die Funktion der Angst: 12 1. Angst schützt die Person davor, wiederholt schmerzliche Erfahrungen machen zu müssen, nämlich nicht verstanden und angenommen zu werden. 2. Angst ist Selbstschutz, eine Schutzhaft. 3. Angst ist eine Erste Rettung 4. Angst ist nur eine erste Rettung Schutzhaft ist auch ein Gefängnis 5. Angst ist Wegweiser! Hinter der Angst ist der Weg aus der Schutzhaft Alternativen wären je nach Konstitution: Aggressivität (Borderline) Depressivität (Affektive Störungen) Narzissmus Angst als Erste Rettung 19/46 9. Nov. 2008 Das führt zu spezifischen Schwierigkeiten mit Frühgestörten: 1. Der frühgestörte Klient mit seinem defizitären Selbstkonzept kann sich selbst nicht verstehen, lässt den Therapeuten nicht verstehen, und lässt ihn dadurch notwendigerweise auflaufen. Angst und Isolation habituieren. 2. Gegenläufige Erfahrungen können nicht greifen, das Misstrauen lässt keine Lernerfolge zu. 3. Die Beziehungslosigkeit ist verbal und mental undurchdringlich. 4. Die soziale Isolation verhindert Kontakt, auch mit dem Therapeuten. 5. Angst kann nicht wegerklärt werden. 6. Angst, die Rettung vor Verletzungen, wird zum unüberwindlich empfundenen Hemmnis, zum Gefängnis. Angst als Erste Rettung 20/46 9. Nov. 2008 13 14 7 Zur Theorie der Praxis: Definition der Gesprächspsychotherapie Die Interventionen bei Frühen Störungen 15 Definition von Gesprächspsychotherapie Psychotherapie ist die Behandlung von Selbst-Inkongruenz durch die nachträgliche Begegnung, nicht mehr zwischen Bindungsperson und Kind, sondern zwischen Therapeut und Klient: von Selbstkonzept zu Selbstkonzept (von Person zu Person) mit dem Ziel der Selbstexploration des Klienten, die ihm hilft, seine SelbstErfahrungen zu symbolisieren, sich ihnen zu öffnen und sie neu zu bewerten, um seine Selbststruktur angemessen zu differenzieren, notfalls sie zu korrigieren. Diese Definition zielt darauf ab, dass es um eine Beziehung geht. Der Therapeut versucht nicht nur, als Alter Ego das Selbstkonzept des Klienten zu verstehen, sondern er bietet sich selbst als Partner an, der auch seine Gegenübehrtragungen reflektieren, sogar einbringen muss. Angst als Erste Rettung 21/46 9. Nov. 2008 16 Die Interventionen bei Frühen Störungen 1 Selbstkongruenz, die Gestaltung einer authentischen Beziehung: 2 Realisierung unbedingter Wertschätzung 3 Kommunizieren des empathischen Verstehens 3.1 Verbalisierung emotionaler Erlebnisinhalte 3.2 Sicherheit bietende Interventionen 3.3 Erlebensinduzierende Interventionen 3.4 Archaische Kommunikation a Primäre Bedürfnisse befriedigen b Induktion wahlfreier Regression c Förderung emotionaler Expressivität d Körperkontakt 1 Überwinden der Sprach- und Begriffslosigkeit 2 Die Kunst des rechten Augenblicks 3 Klammern und Lassen 4 Verstehen durch Taten kommunizieren 5 Zweifel an der Existenz und Identitätsprobleme 6 Körperkontakt nach sexuellem Missbrauch 7 Vom Kontakt zum Gespräch e Atemkontrolle Angst als Erste Rettung 22/46 9. Nov. 2008 1 Selbstkongruenz, die Gestaltung einer authentischen Beziehung: Besonders die stark behinderte Verbalisierungsfähigkeit und die demotivierende Gefühlsarmut machen es Gesprächspsychotherapeuten schwer zu verstehen, Kontakt aufzunehmen, eine befriedigende Beziehung zu installieren und eine unbedingte Wertschätzung zu empfinden. Die Gefühlsverbalisierung als AlterEgo ist unzureichend, wenn nicht besonderer Wert auf die Beziehung gelegt wird. Die dann nahe liegenden nonverbalen Interventionen erhalten ihren Wert durch die sie begleitenden Verbalisierungen. Die Gesprächspsychotherapie kennt, auf den Punkt gebracht, nur ein einziges wirksames Merkmal der therapeutischen Beziehung: Seine Authentizität, beruhend auf der Kongruenz zwischen seinem Selbst und seinen Erfahrungen. Nur wenn der Therapeut, mindestens in der Beziehung mit diesem Klienten und in Bezug auf das Thema selbst, nicht abwehren muss, ist er in der Lage, auch die anderen notwendigen Bedingungen zu realisieren. Er wird, wenn in diesem Sinne gesund, aus einem menschlichen Impuls heraus, sogar unreflektiert, dem Klienten anerkennend begegnen, also den Wachstumsprozess empathisch und wertschätzend begleiten, so wie eine Mutter die Entwicklung ihres Kindes gewöhnlich naturgegeben unreflektiert empathisch und unbedingt wertschätzend begleitet - sofern sie selber ausreichend selbstkongruent ist. Angst als Erste Rettung 23/46 9. Nov. 2008 Bei verzerrter Symbolisierung ist die Realisierung der Kontaktgestaltung relativ einfach. Das zentrale Bedürfnis der Klienten nach Anerkennung: Verständnis und Wertschätzung. Dieses Bedürfnis nach Nähe ist das einzige Bedürfnis, das sich der Mensch nicht selbst befriedigen kann. Dazu braucht er das Gegenüber, um auch verbal kommunizieren zu können. Diese Beschränkung unterscheidet diese Klienten von Kleinkindern und Personen mit versperrter Symbolisierung, die nur durch passende und prompte Befriedigung auch anderer Bedürfnisse erreicht werden können, s. u. Die Authentizität des Psychotherapeuten steht bei Frühen Störungen permanent auf dem Prüfstand. Das Misstrauen des Klienten schärft punktuell dessen Wahrnehmung bis zur Paranoia, und der Therapeut wird laufend auf seine Motive hin überprüft. Persönliche Wertungen werden erfragt und jede Unsicherheit, die nicht eingestanden wird, wird erspürt, bloßgelegt und kann Ursache für Missverständnisse und Beziehungskrisen werden. Größte Wahrhaftigkeit und auch eigene Selbstexploration des Therapeuten sind wichtig. Die Beziehung, die dem Klienten angeboten wird, muss eben real gestaltet werden - wenn auch nur im vorgegebenen Rahmen. Das Gespür des Klienten für TherapeutenInkongruenzen ist groß: Schnell ist für ihn die gesamte Beziehung fundamental in Frage gestellt. So erklärt sich auch die hohe Rate von Therapieabbrüchen und Therapeutenwechseln. Angst als Erste Rettung 24/46 9. Nov. 2008 2 Realisierung unbedingter Wertschätzung Personen mit einer verzerrten Wahrnehmung unterscheiden sich von gesunden Menschen (gehen wir davon aus, dass der Psychotherapeut dazu zählt) nur graduell, quantitativ. Der Klient ist - mindestens beim verhandelten Thema gestörter als sein Therapeut, der ihn aufgrund seines Verständnisses durchaus wertschätzen kann. Der Klient erscheint seinem Therapeuten ähnlich unbedingte Wertschätzung ist gut möglich. Anders verhält es sich bei einem Menschen mit versperrtem Symbolisierungsvermögen. Da der Therapeut seinen Klienten, der qualitativ anders erlebt und fühlt als er selbst, zunächst nicht, später vielleicht nur ungenau versteht, fällt auch die Wertschätzung schwer. Für einen Therapeuten, der selbst behütet und sicher gebunden aufwuchs, ist es schwer, einen Menschen wertzuschätzen, der aufgrund emotionaler Verwahrlosung und unsicherer Bindung befremdlich fühlt und denkt und sich sprachlich nicht ausdrücken kann. So machen es z.B. besonders aggressive Borderline-Persönlichkeiten ihren Therapeuten schwer, sie unbedingt wertzuschätzen. Bei ängstlichen und selbstunsicheren Klienten staunt der Therapeut über deren Unzugänglichkeit, die ihn auch verzweifeln lässt. Vier Überlegungen erleichtern den Umgang mit diesem Personenkreis und die unbedingte Wertschätzung: Angst als Erste Rettung 25/46 9. Nov. 2008 A Wir können und müssen davon ausgehen, dass alle Gefühle einen Grund haben, auch dann, wenn weder Klient noch Therapeut ihn kennen, oder dieses Gefühl für unpassend oder unlogisch halten. Dieser Gedankengang erleichtert es, ein Gefühl wertzuschätzen, wenn auch nicht unbedingt das daraus resultierende Verhalten. Die Trennung von Gefühlen, die nicht zu verantworten sind, und den daraus folgenden Handlungen, die sehr wohl zu verantworten sind, ist hilfreich. Wir können jeden Hass unbedingt wertschätzen, nicht den Mord. Die unbedingte Würdigung des Hasses ist auch dann möglich, wenn wir ihn noch nicht verstehen. Ein näher liegendes Beispiel: Ein Kontaktwunsch ist leicht unbedingt wertzuschätzen, auch dann, wenn daraus ein Klammerverhalten resultiert, das seinerseits nicht akzeptabel ist. Die Kunst besteht darin, Klammerverhalten zu begrenzen, ohne die Unbedingtheit der Wertschätzung des Nähewunsches zu mindern. Das wirklich Wesentliche dieser therapeutischen Bedingung ist nicht die Wertschätzung allein, sondern ihre Unbedingtheit. Wertschätzung allein ist selbstverständliche Bedingung und zunächst kein Merkmal spezifischen klientenzentrierten Handelns. Wertschätzung ist einfach, wenn sich das Gegenüber freundlich verhält. Was aber ist, wenn der Klient von moralisch bedenklichen Handlungen berichtet oder den Therapeuten bedroht? Die Trennung von Handeln und Gefühlen hilft hier weiter: Feindselige Gefühle, selbst Wut gegen den Therapeuten, sind wertzuschätzen, weil im Prinzip verstehbar, wenn auch nicht die darauf möglichen Taten. Taten des Klienten, z.B. seine Feigheit, unterliegen seiner Verantwortung und können bewertet werde. Eine therapeutische Selbsteinbringung, nämlich das Bekenntnis zu eigenen Werten und Gefühlen ist angezeigt. Im Sinne einer authentischen Beziehung ist diese Konfrontation erforderlich, darf jedoch weder moralisierend, noch entwertend oder aggressiv sein. Andererseits sind die Gefühle des Klienten (auch wenn sie handlungsleitend sind) unbedingt wertzuschätzen. Erst wenn ihre Exploration nicht an Bedingungen geknüpft wird, ist ihre Würdigung möglich und eine vertiefte Selbstexploration zu erwarten. Angst als Erste Rettung 26/46 9. Nov. 2008 B Andererseits ist Wertschätzung sehr vorsichtig zu kommunizieren, zu leicht erweckt sie Misstrauen. Die Wertschätzung für negative Gefühle ist so ungewohnt, dass eine Falle gewittert wird. Vorsicht und Misstrauen des Klienten sind zu würdigen, eine angemessene Distanz ist notwendig. C Unbedingte Wertschätzung für zerstörerische Gefühle wird durch die Überlegung erleichtert, dass wir unseres Credo bewusst sind: Der Mensch ist gut. Scheint der Klient unserer Erwartung zu widersprechen, so gibt es dafür einen triftigen Grund, den es zu entdecken gilt. Unsoziales Fühlen (Angst) und Handeln (Isolierung) ist der (verzweifelte, wenn auch untaugliche) Versuch, Verletzungen zu begegnen. D Wir können davon ausgehen, dass sich der so gestörte Klient selbst nicht versteht. Sein scheinbar unmotiviertes Verhalten beruht nicht auf Bosheit, sondern auf Mustern, die sich in der Vergangenheit einmal als nützlich erwiesen haben, in solchen Situationen, in denen er sich nicht verstand. Verräterisch ist der häufige Satz "Ich weiß nicht!". Und er weiß es wirklich nicht! Niemand hatte ihm geholfen, sich zu verstehen, was mit jemandem geschieht, der verletzt wird. Angst als Erste Rettung 27/46 9. Nov. 2008 3 Kommunizieren des empathischen Verstehens Die einfache Gleichung Gute Selbstexploration führt zu Wachstum gilt für Störungen aufgrund versperrter Symbolisierungen nur bedingt. Bei diesen fundamentalen Störungen der Symbolisierung sind manche Erfahrungen nicht bewusstseinsfähig, sei es, weil diese Symbolisierung nicht gelernt werden konnte (mangelnde empathische Begleitung durch die Bindungsperson), oder gesperrt werden musste (übergroße Bedrohung bei Psychotraumata). Empathisches Verstehen kann hier nicht nur verbal kommuniziert werden. Das Ansprechen von Gefühlen ist schwierig, da Gefühle gewöhnlich nicht wahrgenommen bzw. abgewehrt werden. So geht eine einfache Verbalisierung emotionaler Erlebnisinhalte ins Leere, sie trifft nicht auf ein Selbst, das damit eine Anerkennung wahrnehmen könnte. Empathisches Verstehen muss ursprünglicher, auch nonverbal kommuniziert werden. Dabei ist wichtig, nonverbale Signale auch verbal zu begleiten, da das integrierte Selbst wesentlich verbal organisiert ist. Zu berücksichtigen ist, dass eine Flucht in die Begrifflichkeit das Einzige ist, was der Klient gelernt hat. Dieser „Verbalismus“ kann nonverbal umgangen werden. So war es beispielsweise bei einer Patientin manchmal das einzige Zeichen von Anerkennung, das sie wahr- und annehmen konnte, ihre Hand im rechten Augenblick zu berühren. Jahre später schrieb sie mir: „Das Beste, das mir in meinem Leben passiert ist, ist deine Hand.“ Hier ist eine nur verbale Empathie nicht erfolgreich, sie erreicht die Klienten nicht, es gibt keine Repräsentanz von Worten für diese Gefühle. Verbal fixierte Selbstexploration führt daher nicht zu Wachstum, sondern zu Selbstrechtfertigungen. Da die Klienten in wesentlichen Bereichen keine Selbstempathie besitzen, sind sie auch für empathische Verbalisierungen unempfänglich. Beispiel: Einer Klientin laufen bei einem traurigen Thema Tränen über die Wangen. Auf Schmerzen angesprochen, reagiert sie schroff: „Wie kommst du denn darauf?!“ Diese Unerreichbarkeit der Klienten macht Persönlichkeitsstörungen so enttäuschend, wenn man den Bezugsrahmen nicht genügend kennt und berücksichtigt. Um die Klienten zu erreichen, sind andere Formen der Empathie gefragt, einerseits gefühlsinduzierende und Sicherheit bietende Interventionen, die es dann zu verstehen und zu verbalisieren gilt, andererseits archaische (s.u.). Angst als Erste Rettung 28/46 9. Nov. 2008 3.1 Verbalisierung emotionaler Erlebnisinhalte Auch wenn dieses klientenzentrierte Standardvorgehen bei verhinderter Symbolisierung problematisch ist, muss es ständig versucht werden. Dies ist wichtig, weil der Weg gelernt werden muss, Gefühle beim Namen zu nennen, um das Selbstkonzept verbal verständlich aufzubauen. 3.2 Sicherheit bietende Interventionen Verletzte Menschen brauchen gegen ihr Misstrauen, das ihnen das Leben sicherer gemacht hat, neue Erfahrungen, die auf vorsichtigem Beziehungsangebot und voller Transparenz beruhen müssen. Sie sind auf Grund ihrer Erfahrungen sehr wachsam und äußerst sensibel auf Unstimmigkeiten auf Seiten des Therapeuten. Ihre Beziehungsabwehr und Misstrauen sind schnell aktiviert. 17 Mögliche Interventionen zur Angstreduktion sind: - Zuspruch - Kommentieren der Situation - reden lassen - im Rapport bleiben - Atemkontrolle - kognitiven Diskussionen, eigentlich in der Gesprächspsychotherapie verpönt, sollte nicht ausgewichen werden, wie z.B. Was ist Beziehung, wozu ist sie nötig? Wie geht man mit Verletzungen um? - Hilfestellungen beim Aufbau von Verbundenheit wie z.B. Zuverlässigkeit und Kontinuität im Kontakt Selbsteinbringung des Therapeuten. - Körperkontakt (unbedingter Sicherheitsauslöser) - Nonverbale Kommunikation (Gesten doppeln, unverständliche Handlungen kopieren) - Ansprechbarkeit des Therapeuten auch zwischen den Sitzungen. Angst als Erste Rettung 29/46 9. Nov. 2008 3.3 Erlebensinduzierende Interventionen Es ist deutlich geworden, dass Verbalisierungen der Gefühle der frühverletzten Klienten in bestimmten Bereichen bei ihnen nicht ankommen. Daher sind eher nonverbale, gestalterische, fokussierende, erlebensaktivierende und archaische Interventionen angezeigt. Zusammen mit begleitenden Verbalisierungen können Klienten lernen, ihre Gefühle zu verstehen. 18 Bewährt haben sich verschiedene Ansätze: - gestalterische (Tanz, Malen, Arbeiten mit Ton) - fokussierende (Wahrnehmungsübungen, Focusing) - erlebensaktivierende (z.B. gruppendynamische Übungen) zur Aktivierung wünschbarer Gefühle (Psychokatharsis) zum Erübrigen blockierender Gefühle (Angst und Depression) zum Provozieren von unsymbolisierten Erfahrungen, um sie zu verstehen - aktiv Gefühle machen statt Ritzen besser Chilischoten kauen lassen oder haarken Näher rücken - Körperkontakt ansprechen - Körperkontakt bieten Hyperventilation Konfrontation: verbal - Blickkontakt Affirmationen, erfahrene oder gewünschte wiederholen - lauter wiederholen - mit Blickkontakt wiederholen Natur bieten: Landschaft - Feuer - Springbrunnen - Blumen - Tiere (Reittherapie) Diese meist vorsprachlichen Formen der Kommunikation erlauben den Zugang zu solchen Erfahrungen, besonders den Mangelerfahrungen, wie sie in den ersten drei Jahren geschehen. Der Sinn liegt nicht in ihnen selbst, sondern darin, dass dann diese Erfahrungen verbalisiert werden können. Erst die Verbalisierung ermöglicht die Integration in das Selbstkonzept. Angst als Erste Rettung 30/46 9. Nov. 2008 3.4 Archaische Kommunikation a Primäre Bedürfnisse befriedigen Empathisches Einfühlen in den persönlichkeitsgestörten Klienten ist von ihm nicht leicht erfahrbar, Empathie ist verbal häufig nicht zu kommunizieren. Weder ist es für den Psychotherapeuten leicht, empathisch zu sein, noch kann der Klient eine verbale Anerkennung durch den Therapeuten sicher wahrnehmen, da Worte nicht mit den entsprechenden Empfindungen und Affekten verbunden sein müssen. Hier bietet es sich an, auf frühe Formen der Einfühlung, wie sie in der vorsprachlichen Zeit vorherrschend sind, zurückzugreifen. Therapeutische Empathie kann dann in passenden Gesten ihren Ausdruck finden, wenn sie augenblickliche Bedürfnisse befriedigen. Die prompte und richtige Befriedigung von Bedürfnissen ist dann der "Empathie-Beweis". Solche Gesten können sein: Körperkontakt (z.B. im rechten Moment ein An-die-Hand-Nehmen) oder die Befriedigung anderer konkreter Bedürfnisse. So ist es denkbar, dass ich bei Durst ein Glas Wasser bringe, und zwar nicht erst dann, wenn ich ausdrücklich darum gebeten werde. Der Therapeut muss wie die "einfühlsame Mutter" der Bindungstheorie die Bedürfnisse richtig und prompt erfühlen und erfüllen. Angst als Erste Rettung 31/46 9. Nov. 2008 b Induktion wahlfreier Regression Das Verstehen des Gesprächspsychotherapeuten hat sich auf die Erfahrungen zu richten, die das Erleben des Klienten im Hier und Jetzt bestimmen. Das kann bei frühen Störungen das Erleben sein, wie es Kinder haben, die noch nicht drei Jahre alt sind. Regelhaft stellt sich dabei eine Beziehung ein, wie sie zwischen Mutter und Kind in dieser Zeit üblich ist. Der Klient regrediert und überträgt seine kindlichen Erwartungen und Gefühle auf den Therapeuten. Das bedeutet, dass in der Regression nicht nur die Geborgenheit des Kindes in den Armen der Mutter gesucht wird, sondern zugleich auch Angst und Misstrauen auftauchen wie damals, nämlich als Ausdruck primärer Inkongruenz auf Grund früherer Verletzungen. Ambivalent werden Sehnsucht und Distanzwünsche erlebt, die jetzt selbstexplorativ integriert werden können. In der Bearbeitung dieses Misstrauens liegt die Chance für die Beziehung, die es erlaubt, Nähe aufzubauen, dem Klienten Sicherheit zu geben, ihn die Sicherheit spüren zu lassen, um in dieser Sicherheit eine neue Autonomie zu wagen. Wichtig ist, dass sich der regressive Prozess auf die Dauer der Sitzung begrenzen lässt, d.h., dass der Klient die Möglichkeit hat, die Regression zu nutzen und sie auch zu beenden. Anderenfalls kommt es zur malignen Regression, einer solchen, die nicht mehr wahlfrei ist, sondern passiert und nicht zu beenden ist. Hier ist Sorge zu tragen, dass der Klient Zeit erhält, entsprechend seinem Tempo wieder aufzutauchen. Mindestens ist ein Raum zur Verfügung zu stellen, wo sich der Klient sicher fühlen kann und wo er bleiben kann und muss, bis der Therapeut wiederkommt und ihn nach einem kurzen Gespräch entlassen kann. Angst als Erste Rettung 32/46 9. Nov. 2008 c Förderung emotionaler Expressivität Persönlichkeitsgestörte Menschen ziehen sich häufig in Ermangelung einer sicher gegründeten Autonomie in eine Autarkie zurück: "Ich brauche niemanden!". Stolz ("Um meine Würde zu wahren!") neigen sie dazu, sich von den Menschen abzuwenden, um Verletzungen zu entgehen. Es ist der Versuch, Gefühle zu verheimlichen, zuerst vor anderen, schließlich auch vor sich selbst. Ihr Motto ist: "Dir zeig' ich nichts!". Diese Klienten versuchen, jeden echten und starken Gefühlsausbruch zu vermeiden, besonders den der Wut (müssen sie doch Gefahr laufen, dass sie dafür Konsequenzen zu tragen haben), und den des Schmerzes, dessen Erfahrung kaum symbolisiert werden kann. Sie haben gelernt, dass ihr Schreien nach Nähe ungehört geblieben ist, ihre Bedürfnisse zu wenig anerkannt wurden. Wenn ein Klient diesen Mangel erfährt und doch weint, weint er gewöhnlich nach innen, d.h. er versucht, seine Tränen zu vermeiden, um zu verhindern, dass seine Gefühle sichtbar werden, und dass er selbst gesehen und wieder verletzt wird. Die Förderung des Ausdrucks durch Ermutigung und Anerkennung in Sicherheit erleichtern die Annahme bedrohlicher Gefühle. Der direkte, wenn auch kanalisierte und ritualisierte Ausdruck schützt den Klienten und sein Gegenüber, den Therapeuten und die Beziehung. So ist es ein wichtiger Schritt für Klienten, dass sie zu ihren Gefühlen stehen und sie ohne Angst zum Ausdruck bringen können, d.h. Mut fassen, Wut und Angst und später den dahinter liegenden Schmerz wirklich auszudrücken, so dass Weinen hörbar wird, laut sein kann. Dadurch bekommen Gefühle wieder ihre kommunikative Funktion. Der Prozess des Ausdrucks von Gefühlen befriedigt und verstärkt sich selbst, bis zum Schreien. Die kathartische Wirkung wird durch die Anerkennung, die der angemessene Ausdruck erfährt, weiter verstärkt, eine Symbolisierung von Schmerz und Wut gefördert. Die Förderung emotionaler Expressivität bedeutet: Aktivierung wünschbarer Gefühle: Weinen, Wüten, Lachen Würdigung blockierender Gefühle: Angst, Depression, Ärger, Spott Hilfreich ist die Unterscheidung des Ausdrucks von Wut gegen den anderen ("Du Idiot!") und des Ausdrucks von Wut für mich ("Ich bin wütend!"). Über Kriterien der Angemessenheit von Psychokatharsis habe ich 1995 berichtet: Angst als Erste Rettung 33/46 9. Nov. 2008 Kriterien angemessener Psychokatharsis 19 1: Emotionalität: Kognitionen allein verändern Fehleinstellungen nicht, hilfreich sind sie nur soweit, wie sie entsprechende Gefühle hervorrufen oder ändern können. Nur Emotionen motivieren, nur sie liefern die notwendige Grundlage für eine Einstellungs- und Verhaltensänderung. 2: Expressivität: Die Richtung der Katharsis muss nach außen gewandt sein, nicht nach innen wie bei Depressivität und Selbstbestrafungen (mit dem Kopf durch die Wand wollen, sich Haare ausreißen). 3: Authentizität: Nur der Ausdruck echter, unmittelbarer Gefühle ist hilfreich, nicht artig absolvierte Übungen oder hysterische Übertreibungen. 4: Aktualität: Gefühle können nur hier und jetzt ausgedrückt werden. Erinnerte Gefühle müssen erst in das Erleben gebracht werden. 5: Bewußtheit: Der Klient muss sich seines Tuns und seines Zustandes voll bewusst sein. Blindes Agieren entlädt zwar die Spannung des Organismus, ändert letztlich aber nichts an der Wahrnehmung der Situation; die Gründe für die Verletzung bleiben erhalten, werden nicht gesehen, eine Umstrukturierung kann nicht stattfinden. 6: Selbstverantwortung: Katharsis darf kein Ausbruch gegen jemanden sein, denn das würde eher wieder Schuldgefühle oder Reaktionen von außen provozieren, die neuerlich verletzen. Der Ausbruch muß erlebt werden als etwas, das der Klient für sich selbst tut, nicht als etwas, das er gegen andere richtet: "Ich bin wütend!" statt "Du bist ein Idiot!". 7: Bezogenheit: Es bedarf des Partners, wie es auch für die Fehlentwicklung der Beziehung bedurft hatte. 8: Sicherheit: Nur in der Geborgenheit kann der Klient das Risiko wagen, seine Abwehr zu lockern; Sicherheit gibt es nur in einer angstfreien Beziehung. 9: Festigkeit der Selbststruktur: Die Lockerung der Abwehr ist nur so weit indiziert, wie die Struktur des Selbstkonzeptes gefestigt ist. Allzu heftige Gefühlseruptionen könnten ängstigen und damit die Realität verstellen. 10: Notwendigkeit: Zur Definition von Katharsis gehört, daß eine emotionale Verletzung bisher unbearbeitet blieb und sich ein Spannungspotential erhielt, das bisher lediglich inadäquat (gewöhnlich als neurotisches Symptom) zum Ausbruch strebte, durch die Inadäquanz des Ausdrucks sich jedoch selbst wieder zu verfestigen droht. (Das Ausleben eines Symptoms erleichtert nur vordergründig, letzten Endes verletzt es neuerlich und verhindert Wachstum.) 11: Phänomenologie: Katharsis ist ein elementares Phänomen, das nicht unbemerkt bleiben kann. Jeder Versuch, eine stattfindende Katharsis zu verbergen, behindert sie notwendigerweise. 12: Vollständigkeit: Dieses Kriterium zeigt sich darin, daß der Spannungszustand nicht nur verstärkt, sondern auch sichtbar wieder abgebaut wird, so dass nachfolgend eine Erleichterung eintritt: Der Spannungsbogen muss sich wieder schließen. 13: Funktionale Regression: Da es sich um Gefühle aus der Vergangenheit handelt, konkretisiert eine entsprechende (funktionale, d.h. nicht maligne) Regression das Erleben. 14: Passung: Die Richtung der Gefühle muss passen. (Es genügt nicht, z.B. den Kindern die Wut zu zeigen, wenn sie dem Chef gilt.) Angst als Erste Rettung 34/46 9. Nov. 2008 Körperkontakt 1 Überwinden der Sprach- und Begriffslosigkeit Bestimmte Körperempfindungen und Gefühle, wenn sie denn wahrgenommen werden, haben bei persönlichkeitsgestörten Klienten keine begrifflichen Fassungen; sie müssen erst wie Vokabeln gelernt werden. Der häufige Satz "Ich weiß nicht!" repräsentiert diesen Mangel. Er ist Hinweis darauf, dass organismisch etwas geschieht, das nicht verstanden wird. Eine Anerkennung dieses Geschehens durch den Therapeuten mag sich als schwierig erweisen. Der Therapeut hat dann anzuerkennen, dass dieser Satz eine Metapher für unverstandenes Geschehen ist, nicht dafür, dass wirklich nichts ist - was die Klienten gewohnt sind, sich selbst vorzumachen. Umgekehrt blieben auch bestimmte Kognitionen unverstanden. Sätze wie "Ich vertraue Dir!" oder "Ich mag Dich!" haben keine Repräsentanz im Organismus, solange sie nicht mit organismischen Erfahrungen verbunden werden können. So halten die Betroffenen den Zustand der Liebe, den sie nie so recht erlebt haben, für eine Krankheit. Eine erprobte Methode, Begriffe und organismisches Geschehen in Beziehung zu setzen, bietet neben Focusing Körperkontakt. Angst als Erste Rettung 35/46 9. Nov. 2008 2 Die Kunst des rechten Augenblicks Die Indikation für Körperkontakt ist das Eine, seine praktische Realisierung das Andere. Körperkontakt kann man nicht einfach geben oder nicht. Es bedarf des rechten Augenblicks. Persönlichkeitsgestörte sind durch Misstrauen gekennzeichnet und haben Angst vor Nähe, die das Potential zur Verletzung in sich birgt, das aus den Verletzungen des mütterlichen Versagens resultiert. Geblieben ist in der Tiefe die Sehnsucht nach Nähe, die mitunter sichtbar wird und die das Fenster bildet, das der Therapeut empathisch zu erspüren hat, um den Klienten auch mittels Körperkontakt zu berühren. Die Kunst des rechten Augenblicks hat verschiedene Ebenen: Körperkontakt - kann vom Klienten erbeten werden: Ich brauche! - kann vom Therapeuten angeboten werden: Ich habe den Wunsch, dich in den Arm zu nehmen! - kann vom Therapeuten gegeben werden: Ich nehme deine Hand! - auch wortlos. Körperkontakt kann als ein Geschenk vom Klienten erlebt und angenommen werden. Dieses Geschenk, wahrgenommen als unbedingte Wertschätzung, kann wichtiger sein, als die Selbstverantwortung, die in einem darum Bitten liegt. Das Bitten bedeutet ein Verzicht auf Wichtigeres: Was ich mir nehme, kann mir nicht mehr geschenkt werden! Angst als Erste Rettung 36/46 9. Nov. 2008 3 Klammern und Lassen Der alte Schwur: „Ich komme alleine zurecht - ich brauche niemanden - ich lasse mich nicht noch einmal so verletzen!“ macht autark (nicht autonom), aber einsam. Fundamentale Bedürfnisse werden enttäuscht. Durch das verlässliche Beziehungsangebot des Therapeuten kippt dieser Schwur, Bedürfnisse werden wieder spürbar, der Klient projiziert seine Beziehungswünsche auf den Therapeuten, er kann sich „verlieben“. Seine Bindungsgefühle können so stark werden, dass es zum Klammern kommt. Diese kindliche Liebe (Maslow: bedürftige Liebe) muss reifen zu einer erwachsenen Liebe (Maslow: selbstlose Liebe), deren Substanz Rogers mit Agape beschreibt. Verbunden ist diese Liebe, wenn sie über Agape hinausgeht, auf Grund der Unerfüllbarkeit, mit unstillbarer Sehnsucht, die schmerzt. Baltes: Sehnsucht ist die Verarbeitung vergangener unerfüllter Bedürfnisse. Die damit verbundenen Schmerzen vermögen Klienten nur dann zu verkraften, wenn sie sich verbunden fühlen. Die Gradwanderung des Therapeuten ist, Verbundenheit zu bieten, ohne Hoffnung auf endgültige Erfüllung zu machen, nicht im reellen Leben, und nur begrenzt im Hier und Jetzt. Angst als Erste Rettung 37/46 9. Nov. 2008 4 Empathisches Verstehen durch Taten kommunizieren. Verstehen kann bei Persönlichkeitsstörungen nicht nur verbal kommuniziert werden. Das Ansprechen von Gefühlen ist schwierig, da Gefühle gewöhnlich nicht wahrgenommen bzw. verleugnet werden. So geht eine einfache Verbalisierung emotionaler Erlebnisinhalte häufig ins Leere, sie trifft nicht auf ein Selbst, das damit eine Anerkennung wahrnehmen könnte. Empathisches Verstehen muss ursprünglicher, auch nonverbal kommuniziert werden. Dabei ist wichtig, nonverbale Signale auch verbal zu begleiten, da das integrierte Selbst schließlich wesentlich verbal organisiert ist. Zu berücksichtigen ist dabei, dass eine Flucht in die Begrifflichkeit die Funktion einer Abwehr haben kann. Diese verbale Abwehr kann nonverbal umgangen werden. So kann es manchmal wirkungsvoll sein, zur rechten Zeit zu lachen, die Hand zu nehmen, oder die Haltung oder den eigenen Atem spüren zu lassen. Akkurates empathisches Verstehen der Gefühle ist mitunter problematisch, da der Persönlichkeitsgestörte weniger seinem Fühlen als seinem Handeln Bedeutung beimisst. Die auf Grund seines Verhaltens vermuteten und angesprochenen Gefühle mögen weitgehend geleugnet werden, so dass die Gefahr besteht, dass sich der Klient auch bei überprüfbar richtigen Verbalisierungen nicht verstanden fühlt. Kognitive Aufklärungsarbeit kann hier hilfreich sein. Auch ist die Unterscheidung zwischen Gefühlen und Verhalten hilfreich. So ist z.B. ein Nähewunsch anzuerkennen, nicht aber ein entsprechendes Verhalten, Klammern. Angst als Erste Rettung 38/46 9. Nov. 2008 5 Zweifel an der Existenz und Identitätsprobleme Viele Klienten berichten von Selbstverletzungen, z.B. Haare ausreißen. Sie ermöglichen es ihnen, über den Schmerz das Gefühl zu erfahren zu existieren. Selbstverstümmelung ist ein Mittel der erzwungenen Selbstwahrnehmung. Sie werden weniger als schmerzend, eher als beruhigend empfunden. Ähnliche Ursachen haben Sich-Wiegen und Jaktationen. Angst als Erste Rettung 39/46 9. Nov. 2008 6 Körperkontakt nach sexuellem Missbrauch Die besondere Brisanz von Körperkontakt bei Persönlichkeitsstörungen liegt in der hohen Wahrscheinlichkeit, dass solche Personen sehr häufig in ihrer Kindheit auch sexuellen Missbrauch erfahren haben. Hier sind Misstrauen und Ängste vor Nähe besonders zu respektieren. Andererseits ist hier jedoch die Chance gegeben, eine andere als die erlebte, gewohnte und gefürchtete Art des Körperkontaktes wieder erfahren zu lassen, um Sicherheit zu geben und um die körperliche Nähe von der zwangsmäßigen Assoziation mit Sexualität samt Schmerzen, Angst und Ekel zu trennen. Intimität wird wieder erfüllend erfahren. Abgewehrte Sehnsüchte werden lebendig und überwinden Einsamkeit und Angst. Angst als Erste Rettung 40/46 9. Nov. 2008 7 Vom Kontakt zum Gespräch Körperkontakt ist keine Einbahnstraße: Er wird genommen und gegeben, er wird aber auch beantwortet. Bei einer Umarmung kann ich spüren, wie sich jemand anvertraut oder sperrt, ob er Angst hat oder sich sein lassen kann. Körperliche Spannung und Atmung geben über den organismischen Zustand des Klienten Auskunft. Diese Auskunft kann ich beantworten mit körperlichen Interventionen zur Verbesserung des Atmens, ich kann helfen, besser auszuatmen, also Angstatmung zu mindern. Die Betonung der Ausatmung stimuliert das parasympathische System. Gefühle werden möglich, wenn die Angst als Gegenspieler von Gefühlen vermindert wird. Mitunter bringt das Klienten unter Druck. Sie haben die Wahl zwischen Angst bei einer Betonung der Einatmung (Hyperventilation) und Gefühlen, die durchaus bedrohlich sein können. Wenn das fällige Gefühl Schmerz ist und sein Ausdruck wünschenswert, empfiehlt sich Körperkontakt und eine damit verbundene Hilfe der Atmung. Ein Sich-Sperren kann in einer Umarmung vom Therapeuten sofort erspürt und beantwortet werden. Ein wichtiges interaktives Berühren ist die Unterstützung des Atmens: Statt einer Angstatmung kann durch entsprechendes Drücken der Atem vertieft werden, vom oberen bis zum unteren Anschlag, dort wo die Gefühle sind (cf Folie Atemschemata:) Angst als Erste Rettung 41/46 9. Nov. 2008 20 Atemschemata Volumen in Litern Atem bei Angst 6 maximale Inspiration InspirationsReservevolumen 3,5 Inspirationslage Atemvolumen 3 Expirationslage Atem bei Arbeit Atem in Ruhe Expirationsvolumen Atem bei emotionalem Schmerz 1,2 maximale Expiration Residual-Volumen 0 Kollapslunge Angst als Erste Rettung Zeit 42/46 9. Nov. 2008 Schon Goethe wusste um die differentielle Wirkung des Atmens: 21 Im Atemholen sind zweierlei Gnaden Die Luft einziehen, sich ihrer entladen. Jenes bedrängt, dieses erfrischt So wunderbar ist das Leben gemischt. Du danke Gott, wenn er dich prüft, und dank ihm, wenn er dich wieder entlässt. Die Einladung an ängstliche Klienten, sie sollen atmen, ist falsch, denn sie versuchen, noch mehr Luft zu erhalten, erhöhen die Spannung und riskieren eine Hyperventilation. Ängstliche Klienten müssen in Sicherheit sein und angeleitet werden, auszuatmen. Die aufscheinenden Gefühle, die jetzt eine Chance haben, können dann gefühlt, betrachtet, benannt, verarbeitet und erledigt zu werden, die Angst wird überflüssig. Angst als Erste Rettung 43/46 9. Nov. 2008 Literatur Meine themenrelevanten Veröffentlichungen Erlebensaktivierende Methoden in der klientenzentrierten Gesprächspsychotherapie. Vortrag auf dem Ersten Internationalen Kongress für Gesprächspsychotherapie vom 28.9. bis 4.10.1974 in Würzburg. In: Peter Jankowski et al. Klientenzentrierte Psychotherapie heute. Göttingen: Hogrefe, 135-140, 1976. Die klientenzentrierte Gesprächspsychotherapie und die Schreitherapie von Daniel Casriel (New Identity Process). Praxis der Psychotherapie und Psychosomatik. 121-126, 1981. Schreien und Körperkontakt im klientenzentrierten Konzept. In: J. Howe. Integratives Handeln in der Gesprächspsychotherapie. Weinheim: Beltz, 191202, 1982. Die emotionale Verarbeitung von aktuellen und aktualisierten Frustrationen. Vortrag (über eine empirische Studie) auf dem Kongress der Gesellschaft für Wissenschaftliche Gesprächspsychotherapie, Köln, Februar 1989. In: Behr, M. und U. Esser. Macht Therapie glücklich - Neue Wege des Erlebens in Klientenzentrierter Psychotherapie. Köln: GwG-Verlag, 74-100, 1991. Adäquates Schreien des Klienten unterstützt die Umstrukturierung seines Selbstkonzeptes. Poster auf dem Kongreß der DGPs in Hamburg, 1994. In: J. Eckert. Forschung zur klientenzentrierten Psychotherapie. Köln: GwG-Verlag, 89-103, 1995. Körperkontakt in der klientenzentrierten Psychotherapie. In: Esser et. al. Erlebnisaktivierende Methoden. Köln: GwG-Verlag, 5-23, 1997. Borderline-Persönlichkeitsstörung. In: Eckert et al. Praxis der Gesprächspsychotherapie - Störungsbezogene Falldarstellungen. Stuttgart: Kohlhammer, 50-72, 1997. Versperrte und verzerrte Symbolisierungen: Zum differentiellen Verständnis von Persönlichkeits- und neurotischen Störungen in Theorie und Praxis. In: Iseli, C.; Keil, W. W., Korbei, L.; Nemeskeri, N.; Rasch-Owald, S.; Schmid P. F. & Wacker P. G. (Hrsg.). Identität - Begegnung - Kooperation. Person- / Angst als Erste Rettung 44/46 9. Nov. 2008 Klientenzentrierte Psychotherapie und Beratung an der Jahrhundertwende. Köln: GwG-Verlag, 145-180, 2002 Heinerth, K. (2002). Symptomspezifität und Interventionshomogenität. In: Gesprächspsychotherapie und Personzentrierte Beratung 1/2002, 23-26 www.heinerth.de/Symptomspez.doc Heinerth, K. (2002). Hat sich die Gesprächspsychotherapie zu Tode gesiegt? – Zur Eigenständigkeit des Klientenzentrierten Konzepts. Gesprächspsychotherapie und Personzentrierte Beratung 1/2002, 63 – 66 Heinerth, K. (2003), Persönlichkeitstheorie. In: Stumm, G., Wiltschko, J., Keil, W. W.. Grundbegriffe der Personen/Klientenzentrierten und Focusing-orientierten Psychotherapie und Beratung. Pfeiffer bei Klett-Cotta, S. 230-233 Heinerth, K. (2003), Selbst, Selbstkonzept. In: Stumm, G., Wiltschko, J., Keil, W. W. (2003). 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Abstracts S. 166 Symbolisierungsstörungen und emotional instabile Persönlichkeitsentwicklung. (zusammen mit Christian Brandt) In: Person 1, 5 – 13, 2006 Differentielles Verstehen bei verzerrter und versperrter Symbolisierung. In: Kriz, Jürgen & Slunecko, Thomas. Gesprächspsychotherapie – Die therapeutische Vielfalt des personzentrierten Ansatzes. Wien: fakultas WUV UTB 2870, S. 269285, 2007. Angst als Erste Rettung 45/46 9. Nov. 2008 Weitere Referenzen Biermann-Ratjen, E.-M & Swildens, H. (1993). Entwurf einer ätiologisch orientierten Störungslehre im Rahmen des klientenzentrierten Konzeptes. In: Eckert, J., Höger, D & Linster, H. Die Entwicklung der Person und ihre Störung. Köln: GwG-Verlag, 57-142. Biermann-Ratjen, E.M. et al. (2000) Gesprächspsychotherapie - Verändern durch Verstehen. Stuttgart: Kohlhammer (ab 7. Auflage). Eckert, J. (1996). Gesprächspsychotherapie. In: Reimer, Chr. Eckert, J., Hautzinger, M., Wilke, E., Psychotherapie - ein Lehrbuch für Ärzte und Psychologen. 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