Differenzielle Behandlung von Persönlichkeitsstörungen und neur

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Symptomspezifität und Interventionshomogenität
Klaus Heinerth
Der politische Kampf der Gesprächspsychotherapie um die rechtliche
Anerkennung als wissenschaftlich bei einer bereits vorhandenen
internationalen wissenschaftlichen Anerkennung gründet auf dem
Missverstehen der Vertreter anderer theoretischer Anschauungen, die
störungsorientiert denken. Uns Gesprächspsychotherapeuten fällt es daher
schwer, die Denkmodelle dieser Vertreter zu bedienen. Nach deren
Vorstellungen sollen wir nach ihrem Verständnis störungsspezifisch die
Wirksamkeit unsere Arbeit beweisen, obgleich wir nicht
symptomorientiert, sondern ganzheitlich, eher systemisch, und
prozessorientiert denken und arbeiten. So ist es zu verstehen, dass wir eine
Unzahl erfolgreicher empirischer Untersuchungen vorweisen können, aber
dies nicht differenziert nach Störungsbildern. Wir fokussieren auf die Not
des Klienten (auf seine Inkongruenz zwischen Selbst und Erfahrung), nicht
auf die weitgehend zufällig produzierten Symptome, die alle (alle!)
Lösungsversuche des Klienten sind, deshalb häufig gewechselt und
ausprobiert werden können und auch Moden unterliegen (typisch für
Hysterie und Multiple Persönlichkeiten). Unser eigene Anschauung wird
bestärkt durch 1. die weit verbreitete Komorbidität bei allen Störungen, 2.
einer sehr hohen Interkorrelation aller Symptome, sowie 3. durch die
Beobachtung, dass viele Klienten im Laufe der Zeit sehr viele und auch
widersprüchliche Diagnosen erhalten. (Ich habe noch das Gelächter einer
Klientin im Ohr, die sich darüber belustigte, dass sie im Laufe ihrer
diversen Klinikaufenthalte und Therapeutenkontakte fast alle möglichen
Diagnosen erhalten habe.)
Im Folgenden soll diesen eher formalen Gesichtpunkten ein inhaltlicher,
theoretisch begründeter Ansatz unterlegt werden. Es wird ein Modell
vorgestellt, dass die Verwandtschaft aller Symptome aufweist, die in einer
einheitlichen Ursache begründet sind, nämlich in der Not des Klienten
aufgrund einer Inkongruenz zwischen Selbst und Erfahrung. So wird
plausibel, dass Gesprächspsychotherapeuten zu recht nur auf Eins setzen,
um diese Inkongruenz zu behandeln, nämlich auf die Beziehung zwischen
dem Klienten und seinem Psychoherapeuten. Diese Beziehung von Person
zu Person ist beschrieben durch wenige Bedingungen, von denen die
Therapeutenmerkmale einfühlendes Verstehen, unbedingte Wertschätzung
für den Klienten und eigene Selbstkongruenz notwendig und hinreichend
sind (Die notwendigen Klientenmerkmale Kontaktfähigkeit, Leiden unter
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Inkongruenz und mindestens minimale Wahrnehmung des
Beziehungsangebots können hier außer Betracht bleiben).
Die genannten Therapeutenmerkmale sind theoretisch unangefochten, auch
wenn sie durch andere Merkmale spezifiziert werden können:
Strukturgebung, Konfrontation, Selbsteinbringung, Focusing, Integration
erlebensaktivierender Interventionen wie Körperkontakt oder anderer
archaischer Interventionen.
Alle diese zusätzlichen Merkmale sind effektiv, aber nur dann, wenn sie
auf dem Hintergrund der genannten Therapeutenmerkmale realisiert
werden. Sie laufen sonst Gefahr schädlich zu sein, indem sie eine
Retraumatisierung ermöglichen. So genügt es hier, wie in der
klientenzentrierten Theorienbildung üblich, sich auf die notwenigen und
hinreichenden Therapeutenmerkmale zu beschränken, zudem auch die
genannten zusätzlichen Interventionsstrategien nicht störungsspezifisch
klassifiziert werden können.
Wie aber lässt sich nun erklären, dass Menschen spezifische, sehr
unterschiedliche Störungsmuster entwickeln und dass trotzdem ein
einheitliches homogenes therapeutisches Verhalten theoretisch
gerechtfertigt und praktisch bestätigt wird. Diese Homogenität der
Intervention ist in der klientenzentrierten Entwicklungspsychologie
begründet: Da das Selbstkonzept über eine Beziehung mit den
Bindungspersonen aufgebaut wird, ist es auch durch diese Beziehung
gefährdet, und zwar durch eine fehlerhafte und/oder durch eine mangelnde.
Die so in einer Beziehung erworbene Störung des Selbstkonzepts kann
deswegen auch nur in einer Beziehung verändert werden. Eine solche
heilende Beziehung ist durch die oben genannten Merkmale
gekennzeichnet, und es sind dieselben, die auch in der kindlichen
Entwicklung notwendig sind resp. gewesen wären.
Die Unabhängigkeit der Intervention von der Art der je verschiedenen
Symptomatik lässt sich stresstheoretisch auf soziobiologischer Grundlage
erklären. Kasten 1 „Spezifität von Symptomen und Homogenität der
Intervention“ soll diesen Gedankengang veranschaulichen. Das Schema
zeigt den Verlauf inkongruenten Erlebens, nachdem nun das Unglück
geschehen und die Aktualisierungstendenz gespalten ist. Eine nicht
bewältigte Not des Menschen entfremdet ihn von sich selbst, sodass es
nicht zur Selbstentfaltung kommt, die in der voll entfalteten Person ihre
Vollendung fände, sondern es kommt bei dem Bedürfnis der
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Selbsterhaltung zu einer Inkongruenz zwischen Selbst und Erfahrung.
Entsprechend der klientenzentrierten Störungslehre kommt es zum
störungsdeterminierenden Geschehen, der Inkongruenz zwischen Selbst
und Erfahrung. Dieses Phänomen lässt sich unter den drei
Bestimmungsgliedern gesondert betrachten:
- Inkongruenz
- beschädigtes Selbstkonzept
- unvollständige Symbolisierung einer Erfahrung.
Zum beschädigten Selbstkonzept
Das Selbstkonzept entspricht nicht den gesamtorganismischen
Erfahrungen, weil das Bedürfnis nach Anerkennung von Bindungspersonen
größer ist als die Anerkennung eigener Erfahrungen. Das so verletzbare
Selbst bleibt durch die Abwehr eigener Erfahrungen weiterhin und
verstärkt verletzbar, Symbolisierungen werden verzerrt, neurotisches
Erleben wird möglich, wie es das entsprechende Feld erläutert.
Zur unvollständigen Symbolisierung einer Erfahrung
Wenn Erfahrungen nicht nur abgewehrt werden, sondern gar nicht erst
symbolisiert werden können, weil die Bindungspersonen entsprechende
Erfahrungen nicht haben empathisch begleiten können, so haben sie im
Selbstkonzept keine Repräsentanz. Die im Selbstkonzept nicht
repräsentierten Erfahrungen versperren Symbolisierungen und können ein
Erleben bedingen, das zu Persönlichkeitsstörungen führen kann (Heinerth
2002), wie es das entsprechende Feld erläutert.
Die in den genannten Feldern zusammengestellten Erlebensformen haben
zunächst keinen Krankheitswert. Die Dynamik dieses problematischen
Erlebens erhalten sie erst durch die mit der Inkongruenz verbundenen
Spannung.
Zur Inkongruenz
Die Inkongruenz zwischen Selbst und Erfahrung verlangt einen Aufwand,
der Energie erfordert. Inkongruenz wird als Angst erlebt, mindestens als
Spannung (z.B. haben auch Depressive einen erhöhten Cortisolspiegel: cf.
Freuds Hypothese, Depression sei nach innen gewendete Aggression).
Diese Spannungen gehören unmittelbar zur Inkongruenz, sind unspezifisch
und können als Stresssymptome gedeutet werden. Sie sind die Grundlage
psychosomatischer Erkrankungen, wobei der Organismus da nachgibt, wo
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er seine schwächsten Stellen hat (selten dort, wo es einen sinn macht). Hier
ist es gerechtfertigt, auch angeborene oder erworbene körperliche
Beeinträchtigungen zu vermuten, solche, die nicht durch Lernprozesse und
Erfahrung erworben wurden.
Der so bedrohte Organismus steht unter Spannung und hat potenziell die
Energie, einer Bedrohung zu begegnen. Wenn er das tun könnte, wäre er in
der Lage, sein Problem zu lösen, ohne dass es zu weiteren emotionalen
Beeinträchtigungen käme. Nun sind aber die Bedrohungen von einer Art,
die so einfach nicht zu lösen sind: Es ist das Ausbleiben von Bedingungen,
die der Organismus benötigt, um zu wachsen, um sein Selbstkonzept zu
bilden: nämlich die Anerkennung durch eine selbstkongruente
Bindungsperson. Der Organismus hat ein Bedürfnis nach optimalen
Bedingungen für seine Entwicklung und damit ein Gespür dafür, dass ihm
bestimmte Entwicklungsbedingungen vorenthalten werden. Zugleich hat er
die Gewissheit, diese Bedingungen nicht selbst herstellen zu können. So
kommt es zum Stress, und zwar zu einem Krypto-Stress, weil er nicht als
solcher erkannt werden kann. Dennoch produziert er wie jeder Stress als
Dauerstress evolutionär bedingt organismische Lösungsstrategien, von
denen die bekanntesten Kämpfen und Fliehen sind. Mindestens vier
evolutionäre Begegnungsstrategien lassen sich identifizieren: neben
Kämpfen und Fliehen auch Täuschen und Erstarren (Biermann-Ratjen
1993).
Der zweite Kasten „Symptome als Versuch der Begegnung einer
Bedrohung“ schließt sich hier an und zeigt die Konsequenzen, wenn
Kämpfen, Fliehen, Täuschen und Erstarren nicht zu einem Erfolg führen.
Die jeweils bevorzugte Strategie zeigt sich dann in den genannten
Symptomen.
Zunächst kommt es zur akuten Belastungsreaktion, später zur
posttraumatischen Belastungsreaktion und, wenn die Probleme unbehandelt
aus der Kindheit stammen, zu den klassischen neurotischen Syndromen,
und schließlich, wenn die Störungen sehr früh waren, zu
Persönlichkeitsstörungen.
Symptome, so verstanden, sind Phänomene des Erlebens und Verhaltens
von Organismen, die einer Bedrohung auszuweichen versuchen, der nicht
auszuweichen ist. Es sind die Relikte des evolutionären Programms,
Bedrohungen zu erwidern, selbst dann, wenn dies keinen Sinn macht.
Solche unentrinnbaren Notfälle sind für das Selbstkonzept das Fehlen von
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Entwicklungsbedingungen wie Empathie und unbedingter Wertschätzung
von selbstkongruenten Bezugspersonen.
Resümee
Die stresstheoretische soziobiologisch begründete Betrachtung von
Prozessen eines bedrohten Organismus legt nahe, dass seine Reaktionen
breitbandig differieren können, und zwar unabhängig von der Art der
Bedrohung. Nicht Symptome und Klassifikationen sind entscheidend für
eine differentielle Behandlung, sondern das Fehlen von
Entwicklungsbedingungen in Zeiten der Krisen. Weder die ursächliche
Bedrohung des Individuums, noch die daraus resultierende Störung ist
entscheidend für die Behandlung, sondern die Fokussierung auf den
Umgang mit der Bedrohung des Selbstkonzepts. Psychotherapie ist die
Erleichterung der Selbstexploration durch die nachgeholten
Entwicklungsbedingungen genaue Empathie und unbedingte
Wertschätzung durch eine selbstkongruente Person, unabhängig von der
Art der ursprünglichen oder gegenwärtigen Bedrohung und der Art des
Lösungsversuchs durch das Individuum. Differenzielles Intervenieren
meint im Klientenzentrierten Konzept differenzielle Empathie für den
einzigartigen augenblicklichen Prozess der Selbstexploration des Klienten.
Referenzen
Bierman-Ratjen, E.-M. & Swildens, H. (1993). Entwurf einer ätiologisch
orientierten Krankheitslehre im Rahmen des Klientenzentrierten
Konzeptes. In: Eckert, J., Höger, D. & Linster, H. (Hrsg.). Die Entwicklung
der Person und ihre Störung. Bd.1. Köln: GwG-Verlag, p 43-142.
Heinerth, K. (2002). Versperrte und verzerrte Symbolisierungen. Zum
differentiellen Verständnis von Persönlichkeits- und neurotischen
Störungen in Theorie und Praxis. In:
Prof. Dr. Klaus Heinerth, Universität München, Department für
Psychologie. [email protected]
Veröffentlicht in: Gesprächspsychotherapie und Personzentrierte
Beratung 1/2002, 23 – 26
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