Harmonische Teilung Ein wenig Harmonik Das Gebiet der ästhetischen Qualitäten mathematischer Proportionen hat schon seit Jahrhunderten Anlass zu zahllosen Kontroversen gegeben. Nach von Naredi-Rainer1 gehört die Frage nach der richtigen Proportion zu den faszinierendsten und zugleich umstrittensten Problemen künstlerischen Gestaltens. Der goldene Schnitt ist wohl die bekannteste und vielleicht auch beliebteste Proportion, aber er ist keineswegs alleiniger Repräsentant von Schönheit. Albrecht Dürer, welcher sich ein Leben lang mit Proportionen beschäftigt hat, erkannte schliesslich, dass es ein einziges „rechtes Mass“ als das „wirklich Beste“ und absolut Schöne nicht geben kann. Die Natur offenbare sich in vielfältigen Formen und erlaube daher nur die Erkenntnis einer „bedingten Schönheit“2. Rationale oder kommensurable3 Proportionen spielen in der Architektur der Antike, des Mittelalters und der frühen Neuzeit eine hervorragende Rolle. Kommensurable Proportionen erscheinen auch in der musikalischen Harmonielehre, bei den pythagoreischen und reinen Intervallen. Nach eingehenden Untersuchungen der Proportionen an den Tempeln von Paestum kommt Hans Kayser, der in unserer Zeit die „Harmonik“ (die Theorie der kommensurablen Proportionen) neu aufgegriffen hat, zur Auffassung, Architektur sei „gefrorene“ Musik4. Mittelbildung Wir beginnen mit dem Vergleich des arithmetischen, des geometrischen und des harmonischen Mittels von zwei positiven reellen Zahlen p, q. Das arithmetische Mittel ist gegeben durch pq . Das geometrische Mittel wird definiert durch mg p q . Schliesslich versteht ma 2 2 pq man unter dem harmonischen Mittel den Ausdruck mh . Man beachte, dass pq 2 pq 1 pq 1 1 1 2 p q Somit ist das harmonische Mittel von p und q gleich dem Kehrwert des arithmetischen Mittels der Kehrwerte von p und q. Ferner erkennt man leicht, dass mh ma mg 2 und somit mh : mg mg : ma . Auf dieser Proportion beruht eine sehr ansprechende Visualisierung der drei Mittel im rechtwinkligen Dreieck mit den Hypotenusenabschnitten p und q (s. Figur)5. Wir nehmen hier an, dass p q ist. 1 2 3 4 5 Paul von Naredi-Rainer: Architektur und Harmonie. Zahl, Maß und Proportion in der abendländischen Baukunst. Dumont, Köln 1982 Erwin Panofsky: Das Leben und die Kunst Albrecht Dürers. München 1977 Streckenlängen heissen kommensurabel, falls sie ein gemeinsames Mass besitzen; d.h., falls es eine Strecke e gibt derart, dass die gegebenen Streckenlängen ganzzahlige Vielfache der Länge von e sind. Hans Kayser: Lehrbuch der Harmonik, Occident-Verlag, Zürich, 1950 Auf diese Figur wurden wir von Heinz Surber (St. Gallen) aufmerksam gemacht. Seite 1 Vergleich der drei Mittel von p AH und q BH Dabei ist M der Mittelpunkt der Hypotenuse und H der Höhenfusspunkt. Die Ecke C liegt ja auf dem Thaleskreis über AB; deshalb ist MC das arithmetische Mittel von p und q. Dass HC deren geometrisches Mittel ist, folgt aus dem Höhensatz. Da sich J C zu HC gleich verhält wie HC zu MC , folgt aus obiger Bemerkung, dass J C das harmonische Mittel von p und q ist. Aus Figur 1 liest man übrigens die Ungleichung mh mg ma ab. Dabei gilt Gleichheit offensichtlich nur dann, wenn p q ist. Die harmonische Teilung Strecken können nicht nur innen sondern auch aussen in einem gegebenen Verhältnis geteilt werden. Die Figur zeigt die Konstruktion der inneren und äusseren Teilung einer gegebenen Strecke AB im Verhältnis 3:2. Werden die Teilungspunkte mit X (innen) bzw. Y. (aussen) bezeichnet, so gilt somit AX : BX AY : BY 3 : 2 . Innere und äussere Teilung der Strecke AB im Verhältnis 3:2. Man zeigt nun leicht, dass die Länge der Strecke AB das harmonische Mittel der Streckenlängen AX und AY ist: Zum Beweis setzen wir Seite 2 x : AX , b : AB , y : AY . Nach Voraussetzung gilt x : (b x ) y : ( y b) oder, anders geschrieben x ( y b) (b x) y Löst man diese Gleichung nach b auf, so ergibt sich b 2x y , x y also ist AB das harmonische Mittel von AX und AY , wie behauptet wurde. • Aus diesem Grund spricht man in der gegebenen Situation auch von harmonischer Teilung: In Figur 2 teilen die Punkte X und Y die Strecke AB harmonisch im Verhältnis 3:2. Man beachte, dass hier die Strecke AB als gerichtete Strecke zu betrachten ist. Die Strecke BA wird durch die Punkte X, Y harmonisch im Verhältnis 2:3 geteilt. Die harmonische Teilung ist im Grunde eine Eigenschaft von vier Punkten auf derselben Geraden. Genauer gilt nämlich: Teilen die Punkte X und Y die Strecke AB harmonisch, so teilen auch die Punkte B und A die Strecke YX harmonisch. Denn aus AX : BX AY : BY folgt sofort auch XB : YB XA : YA . Folglich gilt auch: Die Streckenlänge Y X ist das harmonische Mittel von YB und Y A . Der Harmonische Wurf • Die folgende äusserst elegante Konstruktion der harmonischen Streckenteilung nennt man „harmonischen Wurf“; er beruht auf einem Ergebnis der Projektiven Geometrie. Die Strecke AB werde durch den Punkt X innen im Verhältnis m : n geteilt. Wir wollen zu den drei Punkten A, B und X den vierten harmonischen Punkt konstruieren, dh. denjenigen Punkt Y, der die Strecke AB aussen im Verhältnis m : n teilt. Die Gerade durch A und B nennen wir im Folgenden die Basis. Wir ziehen durch A zwei beliebige Geraden g, h und durch B eine weitere Gerade k, welche sich aber nicht in einem einzigen Punkt treffen (vgl. die Figur). Seite 3 Konstruktion des Punktes Y so, dass X und Y die Strecke AB harmonisch teilen. Die Geraden g und k schneiden sich im Punkt N; h und k im Punkt Q. Nun verbinden wir X mit N durch die Gerade l; h und l schneiden sich im Punkt P. Die Verbindungsgerade von B und P schneidet g in O (vgl. Figur 3). Schliesslich legen wir die Gerade durch O und Q, welche die Basis im vierten harmonischen Punkt Y schneidet. Diese Konstruktion beruht darauf, dass das Viereck NOPQ als perspektivisches Bild eines Parallelogramms mit der Basis als Fluchtgerade interpretiert werden kann6. Der Kreis des Apollonios Man kann eine Strecke aber auch im gegebenen Verhältnis m : n innen und aussen teilen, indem man wie folgt vorgeht: Über der Strecke AB konstruieren wir ein Dreieck ABC mit den Seitenlängen AC me und BC ne (wobei die positive reelle Zahl e so zu wählen ist, dass m e n e AB ; vgl. Figur 4). Durch B wird nun eine Paralelle zu AC gelegt und von B aus auf beiden Seiten Strecken der Länge ne abgetragen. Die Endpunkte D‘ bzw. D“ verbinden wir mit C, und die Verbindungsgeraden, die wir mit w‘ bzw. w“ bezeichnen,schneiden wir mit der Gerade durch A und B. Die Schnittpunkte werden mit X bzw. Y bezeichnet. Nach dem zweiten Strahlensatz haben wir die Strecke AB somit innen und aussen im gleichen Verhältnis m : n geteilt. Die Punkte X, Y teilen die Strecke AB harmonisch im Verhältnis m : n . 6 Für eine ausführlichere Darlegung werden tiefer liegende Begriffe aus der projektiven Geometrie benötigt (s. z.B. [Ha]) Seite 4 Weil nun sowohl die Winkel BDX und ACX (Wechselwinkel an Parallelen) als auch BDX und BCX (Basiswinkel des gleichschenkligen Dreiecks CDB ) gleich sind, gilt auch ACX BC X . Analog kann man zeigen, dass die Gerade w“ die Halbierende des zugehörigen Aussenwinkels ist. Daraus folgt der Satz von den Winkelhalbierenden im Dreieck Die Halbierenden eines Dreieckswinkels und des zugehörigen Aussenwinkels teilen die Gegenseite harmonisch im Verhältnis der anliegenden Seiten. Da sich Innen- und Aussenwinkel bei C zu einem gestreckten Winkel ergänzen, bilden die Winkelhalbierenden w‘ und w“ einen rechten Winkel. Errichten wir nun den Kreis mit Durchmesser XY, so muss dieser durch C gehen (Thaleskreis). Nimmt man umgekehrt irgend einen Punkt C‘ auf diesem Kreis an, so gilt stets AC : BC m : n , d.h. dass bei Verschiebung der Ecke C längs des Kreises über XY das Verhältnis der Seitenlängen unverändert bleibt. Kreis des Apollonios zur Strecke AB und zum Verhältnis AX : BX Dieser Kreis ist somit der geometrische Ort aller Punkte, deren Abstände von den Endpunkten einer Strecke ein konstantes Verhältnis haben. Die beidenPunkte, welche die gegebene Strecke in diesem Verhältnis harmonisch teilen, bestimmen den Durchmesser des Kreises (vgl. Figur 5). Ausserdem gehen die Halbierenden des Winkels AC’B und seines Aussenwinkels stets durch X bzw. Y Diesen Kreis nennt man den zur Strecke AB und dem Verhältnis m : n gehörigen ApolloniosKreis; er ist benannt nach Apollonios von Perge7. Der Apollonios-Kreis wird auch Divisionskreis (Ort gleicher Quotienten von zwei Punkten aus) genannt. 7 Apollonios von Perge (262-190 v. Chr.), griechischer Mathematiker und Astronom, verfasste ein achtbändiges Werk über Kegelschnitte Seite 5