2004-02-02_Wagner - la:sf Lehranstalt für systemische

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Systemische Notizen 02/04
Forensische Psychiatrie
ELISABETH WAGNER
SYSTEMKOMPETENZ
IN DER FORENSISCHEN PSYCHIATRIE
EINLEITUNG
Wenn systemische Therapie nicht in privater Praxis oder in Beratungsstellen, wo ein klassisches
Therapiesetting mit den konstituierenden Merkmalen von Freiwilligkeit und Verschwiegenheit besteht,
sondern in öffentlichen Institutionen wie Psychiatrischen Krankenhäusern, Suchtkliniken, Jugendämtern,
Gefängnissen, zur Anwendung kommt, müssen die der systemischen Therapie zugrunde liegenden
Konzepte kritisch reflektiert und differenziert werden. Da öffentliche soziale Institutionen immer auch die
Schutz- und Ordnungsinteressen der durch den Staat repräsentierten Öffentlichkeit vertreten, haben sie
neben einem Hilfsauch einen Ordnungs- und Kontrollauftrag zu erfüllen (vgl. Brandl-Nebehay, Russinger
1995); es geht um gesellschaftliche Macht, aber auch um die schutzwürdigen Bedürfnisse von Dritten. Der
Staat übernimmt Verantwortung, drohende Gefahren abzuwenden und bedient sich dabei der
professionellen Arbeit von BeraterInnen und/oder TherapeutInnen. Daraus ergibt sich das typische
Spannungsfeld zwischen Hilfe und Kontrolle, zwischen Therapie und Strafe (vgl. Russinger, Wagner 1999)
Nach einer einführenden Darstellung des Arbeitskontextes Maßnahmenvollzug soll in diesem Beitrag
aufgezeigt werden, wie eine unkritische Anwendung zentraler systemischer Konzepte wie
Auftragsfokussierung, Lösungs- und Ressourcenorientierung den Erfordernissen einer verantwortungsvollen
therapeutischen Arbeit in der Forensischen Psychiatrie zuwiderläuft, während die kritische Reflexion dieser
Konzepte unter Einbeziehung der Systemtheorie als Theorie sozialer Systeme und als Metatheorie des
Beobachtens und Unterscheidens eine besondere Kompetenz des systemischen Therapeuten darstellen
kann. Da diese Kompetenz nicht wesentlich aus der Anwendung klinischen Wissens (dem Wissen über
gesunde versus pathologische seelische Phänomene) erwächst, möchte ich sie unter dem Begriff
„Systemkompetenz“ diskutieren.
Das Konstrukt Systemkompetenz wurde von Schiepek eingeführt (Manteufel & Schiepek, 1998) und
beinhaltet neben dem Verständnis für allgemeine Charakteristika dynamischer Systeme (z.B. Rückkopplung,
Nichtlinearität, Selbstorganisation usw.) und der Fähigkeit zu kompetentem selbstreflexiven Handeln beim
Eingreifen in komplexe Systeme auch ein fundiertes Fachwissen über das jeweils spezifische komplexe
System (d.h. über die Vernetzung relevanter Systemelemente und Einflussfaktoren). „Systemkompetenz“,
definiert als Kompetenz im Umgang mit komplexen dynamischen Systemen, besteht damit aus einem
allgemeinen bereichsübergreifenden und einem speziellen bereichsspezifischen Anteil. Einerseits sind
situationsbezogenes und domainspezifisches Wissen und Handlungskompetenzen notwendig, um mit den in
der speziellen Anforderungssituation relevanten Systemen und Systemelementen angemessen umzugehen.
Andererseits wird postuliert, dass auch eine „allgemeine“, bereichsübergreifende Systemkompetenz
entwickelt werden kann. Diese übergreifenden Wissens- und Fähigkeitskomponenten helfen Personen in
verschiedenen komplexen Problemsituationen beim Management von Systemprozessen (Kriz 2000).
FÜR DIE AUSEINANDERSETZUNG mit dem Arbeitskontext Forensische Psychiatrie möchte ich die
anzustrebende „Systemkompetenz“ auf drei Ebenen explizieren:
a) die Ebene der angemessenen Konzeptualisierung des institutionellen Kontextes vor dem
Hintergrund der Theorie Luhmanns,
b) die Ebene der angemessenen erkenntnistheoretischen Fundierung von Expertenwissen in der
forensischen Psychiatrie und
c) die Ebene der angemessenen Definition der therapeutischen Beziehung in Hinblick auf das
Teilhaben an der institutionellen Macht der Vollzugsanstalt.
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Systemische Notizen 02/04
Forensische Psychiatrie
Zunächst soll aber der Arbeitskontext Forensische Psychiatrie in seinen Grundzügen vorgestellt und die
grundsätzliche Schwierigkeit der Anwendung systemischer Konzepte diskutiert werden.
ZUM ARBEITSKONTEXT FORENSISCHE PSYCHIATRIE
Voraussetzung für die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Täters, somit für dessen Schuldfähigkeit, ist
dessen Zurechnungsfähigkeit zum Zeitpunkt der Tat. Wer nicht in der Lage ist, das Unrecht seiner Tat
einzusehen und entsprechend diesem Urteil zu handeln, der handelt nicht schuldhaft und kann nicht bestraft
werden. Wenn jedoch zu befürchten ist, dass jemand, der „unter dem Einfluss einer geistigen oder
seelischen Abartigkeit höheren Grades“ ein Delikt begangen hat, unter dem Einfluss dieser „Abartigkeit“ eine
weitere strafbare Handlung mit schweren Folgen begehen könnte, erfolgt die Einweisung in den
Maßnahmenvollzug. Aus dem Rechtsbrecher wird ein Patient der Forensischen Psychiatrie, der behandelt
wird, bis seine Gefährlichkeit abgebaut ist und dann mit einer gerichtlichen Behandlungsweisung bedingt
entlassen werden kann. Die Unterbringung im Maßnahmenvollzug ist als „vorbeugende Maßnahme“
definiert, die dem Abbau der spezifischen Gefährlichkeit und damit der Abwendung künftiger Gefahren, die
vom Untergebrachten ausgehen, dient.
Zweck der Unterbringung ist, den Zustand des Untergebrachten soweit zu bessern, dass von ihm die
Begehung weiterer Straftaten nicht mehr zu erwarten ist, und „den Untergebrachten zu einer
rechtschaffenen und den Erfordernissen des Gemeinschaftslebens angepassten Lebenseinstellung zu
verhelfen“. Zur Erreichung der Vollzugszwecke sind die Untergebrachten „entsprechend ihrem Zustand
ärztlich, insbesondere psychotherapeutisch, psychohygienisch und erzieherisch zu betreuen“.
●
Ohne hier auf die Details der Unterbringung in der „vorbeugenden Maßnahme“ eingehen zu wollen,
sollen doch die wesentlichen Charakteristika genannt sein:
●
Die Unterbringung erfolgt, was das Ausmaß an Freiheitseinschränkung betrifft, unter haftähnlichen
Bedingungen, unabhängig davon, ob sie an spezialisierten forensischen Abteilungen psychiatrischer
Krankenhäusern oder in spezialisierten Justizanstalten vollzogen wird.
●
Die Unterbringung erfolgt zeitlich unbegrenzt. Da es sich unabhängig von der Schwere des Delikts
um eine „vorbeugende Maßnahme zum Abbau der spezifischen Gefährlichkeit“ handelt, ist die
Entlassung an den Behandlungserfolg und die damit verbundene günstige Prognose geknüpft.
●
Die Überprüfung der Notwendigkeit der weiteren Anhaltung erfolgt in der Regel einmal jährlich.
●
Die Entscheidung über die Entlassung fällt das Gericht. In der Regel werden dafür positive
Stellungnahmen der Behandelnden und ein positives Gutachten eines externen Sachverständigen
benötigt.
●
Bei der Entlassung handelt es sich immer um eine bedingte Entlassung, d. h. die Entlassung ist an
Bedingungen (meist die Fortführung einer bestimmten Art der Betreuung oder Behandlung)
geknüpft.
Aus diesen Eckdaten wird ersichtlich, dass die Entstehung des Maßnahmenvollzuges untrennbar mit dem
Auftreten einer Fachdisziplin, der Forensischen Psychiatrie, verknüpft war, die den Anspruch erhob, über
prognostisches Wissen zur Gefährlichkeitseinschätzung und behandlungstechnische Kompetenz zum
„Abbau der spezifischen Gefährlichkeit“ zu verfügen. Dieser Anspruch erscheint z.B. beim paranoidpsychotischen Patienten, der im Rahmen eines Verfolgungswahnes seinen vermeintlichen Verfolger
umgebracht hat und durch antipsychotische Behandlung von seinem Wahn distanziert ist, relativ
unproblematisch. Nach erfolgter psychopathologischer Stabilisierung kann er unter der Auflage, dass er sich
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Forensische Psychiatrie
weiterhin einer medikamentösen Therapie unterzieht, entlassen werden. Diese (relative) Eindeutigkeit
psychiatrischer Kategorien fehlt jedoch z.B. beim impulsiven Vergewaltiger, dessen „seelische Abartigkeit
höheren Grades“ sich nicht in einem psychiatrisch gut definierten Krankheitsbild (paranoide Psychose)
sondern in einem unabhängig vom Delikt häufig schlecht identifizierbaren Verhaltens- bzw.
Persönlichkeitsmerkmal manifestiert.
Zur Konzeptualisierung dieser pathologischen Persönlichkeitsentwicklungen sind in der Forensischen
Psychiatrie zunächst vor allem psychoanalytische Konzepte verfolgt worden, welche sich aus mehreren
Gründen für diesen Kontext eignen: Sie bieten das mit Abstand reichhaltigste theoretische Repertoire an
Erklärungsmustern für abweichendes Erleben und Verhalten. Sie stimmen darüber hinaus in ihrem Umgang
mit Kausalität, Zeit und Geschichtlichkeit mit den Grundannahmen des Maßnahmevollzugs überein: Das
Delikt ist Ausdruck (Symptom) einer Störung, diese Störung kann in einem langwierigen therapeutischen
Prozess behandelt werden. In den letzten Jahren haben sich in der Forensischen Psychiatrie hingegen
zunehmend kognitiv- behaviorale und psychoedukative Behandlungsstrategien verbreitet, die wegen der
Zielgerichtetheit ihrer Interventionen und ihrer empirisch nachgewiesenen Wirksamkeit punkten konnten. In
einem Rückfallpräventionsprogramm lernt der Täter, den eigenen Entscheidungsprozess und damit
zusammenhängende Risikofaktoren zu identifizieren und Kontrolle über diesen Entscheidungsprozess zu
übernehmen. Im Zentrum der Behandlung steht die Arbeit am Deliktszenario, die erst abgeschlossen ist,
wenn der Täter die für ihn typische Abfolge von Situationen, Gefühlen, Gedanken und Handlungen kennt,
die dazu führen können, dass er wieder ein Delikt begeht.
Trotz aller inhaltlicher Unterschiede zwischen einem psychoanalytischen und einem kognitiv-behavioralen
Therapieansatz (vgl. Parfy, Wagner 1999) weisen diese Modelle doch auch gewisse Gemeinsamkeiten auf,
die sie andererseits von einem systemischen Therapieverständnis unterscheiden: beide Theorien haben
ausgefeilte Störungsmodelle, rechnen mit der Möglichkeit zielgerichteter Interventionen und
konzeptualisieren eher kontinuierliche Veränderungsprozesse („Durcharbeiten der Konflikte in der
Übertragungsbeziehung“ bzw. „Arbeit am Deliktszenario“). Dieses Bekenntnis zu linearer Kausalität, dieser
Umgang mit Zeit und Geschichtlichkeit sind mit den Grundannahmen des Maßnahmenvollzugs gut
kompatibel.
Daraus ergibt sich aber auch die grundsätzliche Schwierigkeit bei der Anwendung systemischkonstruktivistischer Konzepte in diesem Kontext. SystemikerInnen konzeptualisieren keine
„zugrundeliegenden Störungen“, sie verstehen Therapie nicht als langwierigen therapeutischen Prozess, in
dem der Klient wie in den psychodynamischen Therapien im Wege der Durcharbeitung der Übertragung
seine psychische Struktur verändert oder wie in einem psychoedukativen Programm schrittweise an die
Übernahme von Eigenverantwortung herangeführt wird. Systemische Modelle verweisen im Gegensatz dazu
auf die Nicht-Instruierbarkeit psychischer oder sozialer Systeme, legen eher diskontinuierliche
Veränderungen nahe (Was würde wohl ein Gutachter von einer single-session-therapy eines Gewalttäters
halten?) und rufen zur Skepsis gegenüber jedem diagnostischen und prognostischen Wissen auf.
SIND SYSTEMISCHE KONZEPTE FÜR DIE ARBEIT
IN ZWANGSKONTEXTEN GRUNDSÄTZLICH UNPASSEND?
In einer Vielzahl kritischer Artikel (Herington 1993, Levold 1993, Levold et al 1993, Pleyer 1996) werden die
konstituierenden Charakteristika systemisch-therapeutischen Arbeitens für den Kontext von Gewalt und
sozialer Kontrolle zumindest kontroversiell diskutiert. Diese Diskussion wurde andernorts ausführlich
dargestellt (Russinger, Wagner 1999) und soll daher in diesem Beitrag nur mit wenigen Sätzen angerissen
werden.
Ein grundlegendes Charakteristikum systemischen Denkens – die Infragestellung linearer Kausalität und die
Fokussierung auf Zirkularität – erscheint vielen Autoren problematisch, wenn es zu schweren Gewalttaten
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gekommen ist. Vor allem aus feministischer Perspektive wurde kritisiert, dass durch die Konstruktion
zirkulärer Zusammenhänge dem Opfer der Gewalttat implizit Schuld zugewiesen wird. Was für einen
Beratungs- oder Therapiekontext, in dem ein Paar aktiv an Veränderung des problematischen evtl. auch
gewalttätigen Verhaltens arbeitet, hilfreich ist, kann in der Einzelarbeit mit verleugnenden Tätern höchst
problematisch sein. Allzu bereitwillig können inhaftierte Gewalttäter die „Provokation“ durch das Opfer nicht
nur als Auslöser sondern als ausreichende Erklärung (und Entschuldigung) für das Delikt heranziehen,
wodurch die Übernahme von Verantwortung und die Erarbeitung sozial akzeptierter Verhaltensweisen
erschwert wird. Auch durch die Ablehnung einer „objektiven Realität“, durch eine undifferenzierte, „neutrale
Haltung“ gegenüber dem inkriminierten Verhalten und durch eine strikte Auftragsfokussierung (wenn nämlich
nur der Therapieauftrag des Klienten berücksichtigt wird) können systemische TherapeutInnen in eine
unheilvolle Koalition mit den Verleugnungstendenzen des Täters geraten.
Dass bei angemessener Differenzierungs- und Reflexionsleistung systemische Konzepte auch in der Arbeit
mit Gewalttätern verantwortungsvoll angewandt werden können, wurde in dem Beitrag „Gewalt – Zwang –
System“ (Russinger, Wagner 1999) ausführlich dargestellt. LeserInnen, die sich für die Anwendung systemi
scher Konzepte, die nötige Adaptierung und Begrenzung für die Arbeit in Zwangskontexten interessieren,
seien auf diese Arbeit verwiesen. In diesem Beitrag sollen nun drei Ebenen der „Systemkompetenz“ erläutert
werden.
DREI EBENEN DER SYSTEMKOMPETENZ IN DER FORENSISCHEN PSYCHIATRIE
A) SYSTEMKOMPETENZ BEI DER THEORETISCHEN BETRACHTUNG
DES INSTITUTIONELLEN KONTEXTES
Luhmanns Konzept der funktionalen Differenzierung gesellschaftlicher Subsysteme und die Umwandlung
von Gefahren in Risken durch die Kopplung an eine Entscheidung
In einer systemtheoretischen Betrachtungsweise drängt sich die Formulierung auf, dass im
Maßnahmenvollzug Komplexität entlang zweier verschiedener Leitdifferenzen reduziert wird: gesund/krank
im medizinisch-therapeutischen Bereich, Recht/Unrecht im Bereich der Justizverwaltung. Dass es sich dabei
nicht nur um eine abstrakte, der soziologischen Reflexion entsprungene Unterscheidung handelt, sondern
diese in hohem Ausmaß die tägliche Zusammenarbeit der Berufsgruppen bestimmt, ist zumindest den dort
Beschäftigten schmerzhaft bewusst. Bei jeder Teamentscheidung über Vollzugslockerungen, bei der der
Psychiater über den zu rehabilitierenden Kranken, der Beamte über den zu bewachenden Rechtsbrecher
spricht, kann diese Differenz der Unterscheidung deutlich werden. Das „Warum“ einer Vollzugslockerung
bedarf für den Arzt oder Therapeuten keiner Begründung, wohl aber muss das „Warum nicht“
(Gefährlichkeit, Rückfallgefahr) kritisch bedacht werden. Der Justizwachebeamte, der nicht von
therapeutischen Idealen geleitet ist, sondern im Insassen den Rechtsbrecher sieht, vor dem die Gesellschaft
geschützt werden will, mag nicht nur die Gefährlichkeit anders einschätzen (meiner Erfahrung nach ist bei
der Beantwortung des „Warum nicht“ relativ leicht Einigung zu erzielen) – er stellt vor allem die viel
grundsätzlichere Frage des „Warum“ einer Vollzugslockerung, die er zunächst als vermeidbares Risiko
ansieht.
In der Forensischen Psychiatrie treffen damit regelmäßig zwei verschiedene „Systemlogiken“ aufeinander,
und alle Entscheidungsträger sind aufgefordert, die Berechtigung der jeweils anderen Logik und die daraus
erwachsende Argumentation zu würdigen.
Neben dem vertieften Verständnis für die unterschiedlichen Leitdifferenzen und den daraus erwachsenden
Konfliktlinien hat mir die Auseinandersetzung mit Luhmanns Werk noch eine andere wichtige Denkfigur
eröffnet, welche die Entwicklung von einem kustodialen zu einem therapeutischem Vollzug in einen
größeren gesellschaftlichen Zusammenhang stellt. Luhmann (1991) hat darauf hingewiesen, dass in der
modernen Gesellschaft zunehmend Gefahren in Risken umgewandelt werden, indem sie Entscheidungen
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zugerechnet werden. Dies geschieht auch in der Entwicklung des Strafvollzugs von einem kustodialen zu
einem therapeutischen: Vollzugslockerungen und die Entlassung aus dem therapeutischen Vollzug basieren
auf Entscheidungen, an denen zumeist die „professionellen Helfer“, also Psychiater, Psychotherapeuten etc.
mit ihren jeweiligen handlungsleitenden Fachtheorien beteiligt sind. Durch die Zurechnung auf eine
Entscheidung wird aus der Gefahr einer neuerlichen Straftat in Luhmanns Terminologie ein Risiko, das im
Gegensatz zu den „schicksalhaften“ Gefahren verantwortet werden muss. Deshalb wird der therapeutische
Vollzug – im Vergleich zum kustodialen Vollzug – weit mehr daran gemessen, wie sich die Insassen nach
der Entlassung bzw. während der Vollzugslockerungen verhalten.
Die Entwicklung des therapeutischen Vollzugs ist somit auch in Zusammenhang mit dem Auftreten einer
wissenschaftlichen Disziplin, in unserem Fall der Forensischen Psychiatrie, zu sehen, die sich anbietet, mit
Hilfe ihrer fachspezifischen Theorie das Risiko zu konzeptualisieren und abzuschätzen. Die adäquate
epistemologische Fundierung dieser fachspezifischen Theorien soll nach der Konzeptualisierung des
institutionellen Kontextes mit Hilfe Luhmanns Theorie der funktional differenzierten Gesellschaft als zweite
Ebene von Systemkompetenz diskutiert werden.
B) ERKENNTNISTHEORETISCHE KOMPETENZ
IM UMGANG MIT FACHSPEZIFISCHEN THEORIEN
Da auch psychotherapeutisch geschulte Fachdienste in die regelmäßig erforderliche Risikoeinschätzung im
Zusammenhang mit Freigängen, Lockerungen oder Entlassungen eingebunden sind, fließen hier auch
verschiedene schulenspezifische Theorien ein. Therapeuten strukturieren ihre Überlegungen entsprechend
psychotherapeutischer Konzepte und formulieren sie in Begriffen, die sich aus den komplexen und günstigen
Falls empirisch abgesicherten therapeutischen Theoriengebäuden ableiten.
Auf diese Weise werden einzelne Ereignisse, z.B. „gefährliche Drohungen“ im Rahmen verbaler
Auseinandersetzungen, in einen klinisch-biographischen und diagnostischen Rahmen gestellt und
differentiell beurteilt. Was bei einem als aggressiv-gehemmt eingeschätzten Patienten als Fortschritt
gesehen werden kann, mag bei einem anderen eine unerfreuliche Wiederholung eines pathologischen
Musters darstellen. Bereits dieses triviale Beispiel macht den Unterschied zum kustodialen Vollzugswesen
deutlich, wo Regelverstöße eindeutig definiert sind und vorhersagbare Folgen nach sich ziehen. Die
Beurteilung von Verhalten vor dem Hintergrund einer psychotherapeutischen Theorie erhöht zunächst
Komplexität durch das Einführen der Dimension „Bedeutung“ (vgl. Parfy, Wagner 1999).
Dadurch muss es freilich noch nicht zu „besseren“ Entscheidungen kommen; gegenüber einer fixen
Kopplung von einzelnen Verhaltensweisen an konkrete Entscheidungen wird zunächst ein Mehr an
Variabilität einge führt, wodurch der Entscheidungsspielraum und damit der Argumentationsbedarf erhöht
wird. Wenn Entscheidungen nicht willkürlich oder zufällig getroffen werden sollen, ist zu fordern, dass das
der Entscheidung zugrundeliegende Verständnis psychosozialer Zusammenhänge (evtl. vor dem
Hintergrund eines psychotherapeutischen Konzeptes) expliziert werden kann. Diese Argumentation muss
auch für Außenstehende nachvollziehbar und darüber hinaus geeignet sein, die Problemlage differenzierter
darzustellen. Insbesondere nach Fehlentscheidungen kann dies von großer Wichtigkeit sein, da so der
Vorwurf, es habe Schlamperei und Willkür geherrscht, durch eine klare und theoriegeleitete Begründung
entkräftet und gegenüber der Fachöffentlichkeit die Rationalität der getroffenen Entscheidung begründet
werden kann.
Eine auf psychotherapeutische Vorstellungen gestützte Argumentation verlässt allerdings auch den Boden
alltagspsychologischer oder allgemeinmedizinischer Verbindlichkeiten und betritt das Feld der teils
konkurrierenden psychotherapeutischen Modellbildungen – und zwar meist, ohne die alternativen
Strukturierungsmöglichkeiten in Betracht zu ziehen, die sich aus anderen Konzepten ableiten lassen würden.
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Forensische Psychiatrie
Ich weise auf diesen Punkt hin, weil hier nicht mehr nach dem Analogieschluss entschieden („gute Führung
innerhalb der Anstalt erlaubt Ausgang“) sondern auf fachliche Einschätzungen zurückgegriffen wird, die
einer bestimmten theoretischen Konzeptualisierung von Menschen, Störungen oder Krankheiten und der
damit verbundenen Gefährlichkeit entspringen. Es ist ein Unterschied, ob meiner Einschätzung von
Gefährlichkeit das Konzept „Aggressionstrieb“ oder „maligner Narzißmus“ zugrunde liegt, oder ob ich eine
Gewalttat in einem zirkulären Verständnis als Teil einer Interaktionssequenz verstehe.
Es gibt also im Bereich der forensischen Psychiatrie neben der Aufgabe, therapeutisch zu handeln, auch die
Aufgabe, aus dieser Expertenposition Entscheidungen, die nicht die Therapie im engeren Sinne, sondern die
„Lebenswelt“ des Patienten betreffen, mitzuformulieren und rational zu begründen. Das Verfügbarmachen
einer rationalen Entscheidungsgrundlage, die letztlich auf dem Erahnen künftigen Verhaltens eines
Menschen beruht, erwächst jedoch keineswegs direkt aus der therapeutischen Kompetenz, zumindest nicht
aus der Kompetenz einer systemischen Therapeutin, deren klinische Theorie von autopoietischen Systemen
und deren funktionaler Geschlossenheit ausgeht und damit eher die Nicht-Voraussagbarkeit menschlichen
Verhaltens impliziert.
Wenn es darum geht, auf der Basis einer ausdifferenzierten klinischen Theorie über den Patienten sprechen
und ihn betreffende Entscheidungen begründen zu können, bietet das Theoriengebäude der Systemischen
Therapie weniger Hilfestellung als eine pathologie- und konfliktorientierte Theorie, die neben der initialen
Diagnostik auch die Beschreibung von Therapiefortschritten erlaubt. Die Ausbildung in einer bestimmten
Therapieschule kann als Sozialisationsprozess begriffen werden, der dazu befähigt, die Komplexität
klinischer Phänomene mit Hilfe bestimmter Modellbildungen zu reduzieren (vgl. Wagner 1996). Therapeuten
verschiedener Schulen unterscheiden sich dann darin, für die Erkennung welcher Muster sie eine besondere
Sensibilität entwickelt haben. So wie Ressourcenorientierung dabei hilft, Ressourcen aufzuspüren und diese
im therapeutischen Prozess zu nützen, darf man wohl davon ausgehen, dass Konfliktorientierung eine
ähnliche Sensibilität für nicht offen thematisierte Konflikte schafft. Ohne die Ressourcenorientierung und das
„Gehör für Lösungsmelodien“ (vgl. de Shazer 1992) in der Arbeit mit geistig abnormen Rechtsbrechern
missen zu wollen, scheint mir hier eine gewisse Expertise betreffend (Persönlichkeits-)Pathologie doch
unabdingbar, um verantwortungsvolle Entscheidungen mitgestalten zu können.
Wenn nun die Systemische Therapeutin durch das Fehlen einer pathologieorientierten klinischen Theorie für
die genaue diagnostische Erfassung von psychopathologischen Phänomenen, für die differenzierte
Beschreibung von deren Veränderungen und die daraus abgeleitete Prognose schon auf Expertenwissen
anderer Disziplinen zurückgreifen muss, bietet doch die durch die Systemtheorie vermittelte
erkenntniskritische Grundhaltung ein hohes Maß an Sensibilität dafür, wie mittels einer spezifischen
psychotherapeutischen oder klinisch – psychologischen Theorie und ihrer Leitdifferenzen jeweils spezifische
Unterschiede und damit Realitäten erzeugt werden. „Die Theorie bestimmt, was wir sehen können“ – im
Falle der Systemtheorie, als einer Metatheorie des Beobachtens, gelingt häufig das Sichtbarmachen der
getroffenen Unterscheidungen und damit auch die Identifikation der „blinden Flecke“ verschiedener
Theorien. Damit soll die Nutzung von Expertenwissen, von klinischen Theorien verschiedener Provenienz
keineswegs in Frage gestellt werden: Entsprechend einem Verständnis von Systemtheorie als einer Theorie
der Beobachtung zweiter Ordnung ist die Nutzung von solch spezifischem „Wissen“ solange legitim, als eine
exakte, logische Buchhaltung sicherstellt, dass Beobachtungen erster und zweiter Ordnung unterschieden
werden. Expertenwissen kann es immer nur bei der Beobachtung erster Ordnung geben. Der wertvolle
Beitrag, den systemische TherapeutInnen in solchen Fachdiskussionen leisten können, ist weniger die
Formulierung einer zusätzlichen klinischen Theorie als die Anregung jener Reflexionsleistung, die
nachzeichnet, in welcher Art der vor dem Hintergrund einer bestimmten Theorie erhobene Befund von der
Theorie und damit vom Beobachter und nicht vom Beobachteten beeinflusst wird. Wichtig ist dabei, dass es
gelingt, dies nicht als Entwertung der fachspezifischen Theorien im Sinne einer Radikalinfragestellung von
Erkenntnismöglichkeit, sondern als Methode zur selbstreflexiven Vertiefung des Erkenntnisaktes zu
formulieren.
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C) SYSTEMKOMPETENZ IM UMGANG MIT DEN
KONTEXTABHÄNGIGEN SCHWIERIGKEITEN DES MASSNAHMENVOLLZUGS
Bei diesen kontextabhängigen Schwierigkeiten handelt es sich vor allem um die Vermischung der
Therapeutenrolle mit Aspekten der sozialen Kontrolle und das Teilhaben des Therapeuten an der
institutionellen Macht der Vollzugsanstalt.
Es scheint nahezuliegen, das Problem der Rollenverquickung aus sozialer Kontrolle und Therapie zu lösen,
indem man externe (institutionsfremde) oder semi-integrierte Therapeuten mit der psychotherapeutischen
Versorgung beauftragt. Gleichzeitig würde man aber auf diese Weise auf die Vorteile verzichten, die eine
therapeutische Institution bietet: der Therapeut verliert seinen Einfluss auf das Geschehen in der Institution,
es können die anderen Mitarbeiter nicht in den therapeutischen Prozess miteinbezogen werden, wodurch
das Risiko inkonsistenten Verhaltens verschiedener Berufsgruppen wächst. Gleichzeitig werden
Spaltungsprozesse bei den Insassen („guter Therapeut“, „böse Anstalt“) gefördert.
In der systemischen Literatur hat die Auseinandersetzung mit therapeutischen Institutionen eine erst kurze
Tradition. Die Übernahme von Kontrollfunktion wird dabei kontroversiell beurteilt. Während einige Autoren an
ihrer Expertenschaft für Kommunikation festhalten und sich dementsprechend als Gäste im Zwangskontext
definieren, sprechen sich andere für die explizite Übernahme einer parentalen Funktion aus (vgl. Pleyer
1996). Die Pioniere auf dem Gebiet der therapeutischen Institutionen – August Aichhorn, Fritz Redl, Edward
Glover oder Tilman Moser – stehen einem psychodynamischen Therapieverständnis nahe und prägten
Begriffe wie „therapeutisches Milieu“, „hygienische Atmosphäre“ (für die Ausschaltung aller krankmachenden
Umweltfaktoren) und „aufgeteilte Übertragung“ für Übertragungsphänomene, die sich unter mehreren
Mitgliedern des therapeutischen Teams aufteilten. Für die genannten Autoren war eine innige
Zusammenarbeit von Psychotherapeuten und Betreuungspersonal eine conditio sine qua non
therapeutischer Institutionen.
Die Implikationen der dabei auftretenden Rollenkonfusion von sozialer Kontrolle und Therapie für den
Therapieauftrag und die therapeutische Beziehung, vor allem aber die Möglichkeiten, damit in einer
systemischen Perspektive konstruktiv umzugehen, ist Inhalt meiner weiteren Ausführungen.
Laut Ludewig führt nur explizites Hilfesuchen bei der Lösung eines veränderungswürdigen und
veränderbaren Problems zu Therapie. Für Psychotherapie im Zwangskontext ist hingegen eine „gemischte
Auftragslage“ charakteristisch. Aber auch in der familientherapeutischen Praxis ist das Ideal der völlig
freiwilligen Therapie mit hoher Eigenmotivation aller Beteiligten nicht immer gegeben. Häufig kommen
Kinder, Jugendliche oder einer der Partner nur auf Bestreben eines Familienmitgliedes. In anderen Fällen
besteht nur ein diffuser Leidensdruck, und die Klienten gelangen durch Überweisung in die Therapie.
Ludewig (1992) unterscheidet daher Anleitung, Beratung, Therapie und Begleitung, was dem „Helfer“
erleichtern soll, im Interesse des Hilfesuchenden, also „auftragsgerecht“ zu arbeiten. Ludewig berücksichtigt
damit die offensichtlich nicht nur im Maßnahmenvollzug relevante Tatsache, dass in einem therapeutischen
Kontext von Klienten nicht ausschließlich (oder nicht einmal überwiegend?) „Therapieaufträge“ im engeren
Sinn geäußert werden. Auch die Unterscheidung von Besuchern, Klägern und Kunden, wie sie de Shazer
(1993) vornimmt, zielt nicht auf eine Motivationstypologie ab, sondern beschreibt aktuelle
Beziehungsmuster, die sich im Laufe der Zeit ändern können. Der Sinn dieser Unterscheidung besteht dann
nicht darin, die „guten“ – weil gut motivierten – von den „schlechten“ – weil schlecht motivierten – Klienten zu
trennen, sondern darin, dem Therapeuten bei der Auswahl geeigneter Interventionen zu helfen.
Auch der Insasse einer Vollzugsanstalt wird in vielen Phasen Besucher oder Kläger sein, doch ist auch
damit zu rechnen, dass er in Bezug auf gewisse Ziele zum Kunden werden kann, der explizit Hilfe für die
Lösung veränderungswürdiger und veränderbarer Probleme sucht. Aus diesem Grunde erscheint es mir wie
auch anderen in diesem Kontext Arbeitenden (vgl. Drewes, Krott 1996) nicht hilfreich, den „Therapiestatus“
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in diesem Kontext radikal in Abrede zu stellen, da dies auch den Therapeuten von der Verantwortung
befreien würde, sich immer wieder um einen Therapieauftrag bzw. eine therapeutische Haltung zu bemühen.
Gefordert wäre hingegen eine hohe Sensibilität in bezug auf das jeweils aktualisierte Beziehungsmuster,
wobei im besonderen die Aspekte sozialer Kontrolle berücksichtigt werden müssen. Neben der potentiell zu
weiteren
Beschränkungen
führenden
Einschätzung
des
Therapeuten
wird
gerade
in
Maßnahmenvollzugsanstalten der Therapeut häufig als Fürsprecher oder Anwalt des Klienten
wahrgenommen – und zwar sowohl von den anderen Bediensteten als auch von den Insassen selbst.
Psychotherapie wird auch im Maßnahmenvollzug also keineswegs als Zwangsmaßnahme im engeren Sinn
wie z.B. ein Umerziehungsplan gesehen. Häufig besteht eine ambivalente Haltung – entweder ein latentes
Misstrauen oder, noch typischer, ein Schwanken zwischen Idealisierung („Sie sind mein einziger
Gesprächspartner“ und den damit verbundenen Hoffnungen „Sie helfen mir da raus“ oder „Mit Ihrer Hilfe
werde ich ein anderer Mensch“) und tiefstem Misstrauen und Entwertung.
Es gilt hier also zunächst einmal für sich selbst, dann aber auch mit dem Klienten, die Auftragslage zu
klären: Welchen Auftrag hat der Gesetzgeber an die Institution, welchen Auftrag hat die Institution an den
Therapeuten? In manchen Institutionen soll der Umgang mit Insassen erleichtert werden, in anderen
erwartet man sich vom Psychotherapeuten Verständnis- und Entscheidungshilfen. Es muss nicht jeder
Auftrag angenommen oder gar erfüllt werden, doch sollte das Feld nach mehr oder weniger explizit
formulierten Erwartungen (oder Einschätzungen von Erwartungen) abgetastet werden. Dieses Vorgehen
wird dem Umstand gerecht, dass therapeutische Beziehungen im Zwangskontext als triadisch zu
konzeptualisieren sind: der „Auftraggeber“ als machtvolle Instanz, die den Zwang ausübt, muss
berücksichtigt werden (vgl. Peyer 1996).
Gerade hier bieten die in der Systemischen Therapie üblichen Fragen zur Auftragsklärung gegenüber
anderen Therapieschulen einen erheblichen Startvorteil bezüglich Transparenz und Kontextsensitivität:
Was erwartet x?
Woran würde x merken, dass sein Auftrag erfüllt ist?
Woran würde x merken, dass wir an seinem Auftrag (nicht) arbeiten?
Welches Bild hat x von Ihrem Problem, dass er eine Therapie empfiehlt?
All diese Fragen sind in Bezug auf die relevanten Entscheidungsinstanzen (Anstaltsleiter,
Sachverständigengutachter, Richter, Angehörige) aber auch in Bezug auf die eigenen verschiedenen Rollen
und die daraus erwachsende „gemischte Auftragslage“ anzuwenden:
Woran würde der Gutachter/der Richter merken, dass Ihre Gefährlichkeit abgebaut ist?
Welches Bild hat der Richter von Ihrer Störung, dass er eine Unterbringung in einer therapeutischen
Institution veranlasste?
Was müssten Sie mir als Therapeutin Ihrer Meinung nach erzählen, damit ich zu der Meinung komme, dass
Ihre Gefährlichkeit abgebaut ist?
Was müssten Sie mir Ihrer Einschätzung nach erzählen, damit ich von Vollzugslockerungen abrate?
Es darf nicht davon ausgegangen werden, dass Gefängnisinsassen mehrheitlich die Überzeugung hegen,
dass Psychotherapie geeignet ist, ihre Probleme zu lösen. Wären sie dieser Überzeugung, hätten sie
eventuell schon vor der Inhaftierung versucht, auf diesem Weg Veränderungen zu erzielen. Es ist daher
zumeist Aufgabe des Therapeuten, statt den vielfach fatalistischen Weltentwürfen der Insassen
Problemdefinitionen zu entwickeln, die den Klienten und erst dadurch auch den Therapeuten handlungsfähig
machen. Die Konzeptualisierung von „Therapiemotivation“ als eindimensionale Personeneigenschaft
widerspricht nicht nur systemischem Denken, sondern ist vor allem im Bereich der Forensik, wo
antitherapeutische Strukturen einer entsprechenden Selbstdefinition der Betroffenen entgegenwirken, durch
ein interaktives Person-Angebot-Konzept zu ersetzen (vgl. Steller 1994). Als Nicht-Gefängnis-Insasse
könnte man vermuten, dass der wesentliche Auftrag des Klienten lautet: „Hilf mir, dass ich so schnell wie
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möglich entlassen werde“. Meiner Erfahrung nach haben Insassen jedoch keineswegs zwingend die
Tendenz, die Therapie laufend in Zusammenhang mit der Entlassung zu sehen. „Was muß hier geschehen,
damit ich entlassen werde“ wird zumindest explizit kaum gefragt. Der Klient wechselt von einem „Was
werden oder können Sie für meine Entlassung tun“ am Anfang der Therapie häufig unerwartet schnell zu
einem scheinbar absichtslosen „Wenigstens Sie verstehen mich“, um dann eventuell wieder in Zorn und
bittere Enttäuschung darüber zu verfallen, dass der Therapeut nicht genug für die Entlassung getan hat.
Man kann sich als Therapeut also keineswegs darauf verlassen, dass der Klient konsequent die Therapie im
Hinblick auf die Entlassung nützt. Häufig neigen Insassen dazu, sich als Opfer ihrer Tat bzw. des
Justizsystems zu fühlen und schreiben sich selbst wenig Veränderungsmöglichkeiten zu. Die Therapie dient
dann eher dazu, die widrigen Umstände der Haft besser zu ertragen, was ein typisches Beispiel für
„Begleitung“ darstellen würde. Auch diesen Auftrag kann man ernst- und annehmen. Bei allem Respekt für
diesen Auftrag thematisiere ich aber immer wieder den Unterschied zwischen dem, was dann hier geschieht
und den Erwartungen der „Überweiser“.
Das kann dann z.B. so klingen:
„Ich verstehe, dass Sie in einer sehr schwierigen Situation sind und Hilfe brauchen, um all diese
Belastungen besser auszuhalten,....ich frage mich nur, wie sich diese Art von Hilfestellung für den Gutachter
oder den Richter darstellt, die ja mit dieser Einweisung in eine therapeutische Einrichtung des Strafvollzuges
deutlich gemacht haben, dass sie von Ihnen eine Veränderung erwarten.........
Es kann aber auch so klingen:
„Ich verstehe, dass Sie in einer sehr schwierigen Situation sind und am liebsten diese Stunden verwenden
würden, um über die Probleme zu sprechen, die erst durch die Inhaftierung auf Sie zugekommen sind. Aber
andererseits ist die Therapie hier keine Abmachung zwischen uns beiden, bezahlt werde ich vom Staat –
und zwar nicht dafür, – würde der Richter sagen, Ihnen die Haft erträglich zu machen, sondern dafür, dass
diese Stunden etwas dazu beitragen, dass ihre Gefährlichkeit abgebaut wird. Glauben Sie, dass es dazu
kommen kann, wenn wir nur über Ihre Schwierigkeiten hier im Gefängnis sprechen?“
Diese Berufung auf den Kontext, das Thematisieren der triadischen Auftragslage kann so an ungeliebte
(unbewußte?) ausgeblendete Themen heranführen und bietet damit eine pragmatische und mit
systemischen Konzepten kompatible Alternative zu dem, was andere Therapieschulen als „Arbeit am
Widerstand“ bezeichnen.
Auch wenn im obengenannten Beispiel der Therapeut durch zirkuläres Fragen die Kontrollfunktion auf
Gutachter und/oder Richter überträgt und dadurch für die therapeutische Arbeit eine neutrale
Reflexionsposition sichert, muss in diesem Kontext die Vermengung von Psychotherapie mit Elementen
sozialer Kontrolle doch auch offen thematisiert werden. In der systemischen Literatur wird dieses Thema für
den ambulanten Bereich (z.B. Kinderschutz) breit diskutiert. Vielfach wird dabei eine Trennung von Kontrolle
und Hilfe postuliert, aber auch die Gegenposition ist bekannt: Tom Levold (1993) hält diese Trennung für
eine Scheinlösung – besser sei ein offener (oder offensiver) Umgang mit der Kontrollfunktion und der damit
vereinbarten Machtposition, welche mit der „Selbstbescheidung als Experte für Kommunikation“ nicht
auszufüllen ist. Levold fordert eine „parentale Position“: Die reale Machtposition muss offen thematisiert
werden.
Der Rückzug auf die therapeutische Verschwiegenheit kann häufig als Etikettenschwindel entlarvt werden,
wenn z.B. Therapeuten keine Stellungnahmen schreiben, aber ihrem Vorgesetzten unter dem Titel
„Supervision“ die dafür nötigen Informationen geben. Ich bevorzuge hier ein Modell der „doppelten
Transparenz“, wie es auch von Vertretern der Mailänder Schule (Cirillo et al 1992) vorgestellt wurde: Ich bin
als Therapeutin transparent gegenüber der Institution, indem ich über wesentliche Faktoren des
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Forensische Psychiatrie
Therapieverlaufes berichte, bin aber in dieser Transparenz wieder gegenüber dem Patienten transparent,
indem ich ihm alle Stellungnahmen vorlese und mit ihm bespreche.
Auch Virginia Goldner (1993) hält die Trennung von systemischer Arbeit und sozialer Kontrolle für eine
Illusion und die „formalistische Spaltung in moralische und klinische Kategorien für theoretisch
bedeutungslos und psychologisch unglaubwürdig. Die Alternative besteht darin, in der Therapie moralische
Fragen aufzuwerfen, z.B. auf die psychischen Aspekte moralischer Konflikte und auf die moralischen
Aspekte psychischer Konflikte hinzuweisen.“
Ein wesentlicher Faktor ist dabei natürlich der Umgang mit Lüge und Verleugnung. Der Aspekt sozialer
Kontrolle äußert sich innerhalb der Therapie nicht darin, dass man Detektiv spielen muß, um die Wahrheit
ans Licht zu bringen sondern in der Berücksichtigung der Tatsache, dass der Klient häufig gute Gründe hat
zu lügen, was wiederholt thematisiert werden sollte:
Gesetzt den Fall, das ist die Wahrheit, was erwarten Sie, was ich mit dieser Information anfange?
Was würde passieren, wenn ich Ihnen nicht glaube?
Gesetzt den Fall, das ist nicht die Wahrheit, was erwarten Sie von mir, wie ich mit dieser Information
umgehe?
Wie würde es sich auf Ihr Bild von mir auswirken, wenn ich Ihnen trotzdem glaube: Würde Sie das für mich
einnehmen oder würde ich in Ihrem Ansehen sinken?...
Es wäre ein Mißverständnis systemisch-konstruktivisti scher Arbeit, jede Aussage, jede Selbstbeschreibung
als subjektive Realitätskonstruktion unhinterfragt stehen zu lassen. Es geht in der systemischen Therapie ja
gerade und sehr explizit um das Hinterfragen der individuellen Wirklichkeitsbeschreibungen. Dass in der Art
der Fragestellung der Kontext berücksichtigt wird, liegt nahe. Statt von Lügen und Verleugnung könnte man
dann auch – weniger wertend und schuldzuschreibend - von kontextspezifischen Interessen des Klienten
sprechen. Diese kontextspezifischen Interessen können als Störung des therapeutischen Prozesses
wahrgenommen werden – hier empfiehlt es sich, diese „Störung“ zum Thema zu machen – denn das Reden
über eine Störung ist etwas anderes als die Störung.
RESUMÉE
„Systemkompetenz“ in der Forensischen Psychiatrie besteht neben einer angemessenen Konzeptualisierung
des institutionellen Kontextes also auf theoretischer Ebene darin, die Kontextabhängigkeit von Verhalten und
die Beobachterabhängigkeit von Beschreibungen im Bewußtsein zu halten und für die Leitdifferenzen und
damit auch für die blinden Flecken anderer klinischer Konzepte zu sensibilisieren. Auf einer praktischen
Ebene ermöglicht Systemkompetenz eine therapeutische Haltung, die das explizite Thematisieren von
Rollenverquickungen nahelegt und in der damit verbundenen Offenheit und Transparenz (nicht in der
unkritischen Akzeptanz jeder Selbstbeschreibung) auch Respekt gegenüber dem zur Therapie
Gezwungenen ausdrückt.
LITERATURVERZEICHNIS
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Systemische Notizen 02/04
Forensische Psychiatrie
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DR. ELISABETH WAGNER ist Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie, Psychotherapeutin in systemischer
Familientherapie in freier Praxis, Lehrtherapeutin für systemische Familientherapie i.A.; sie leitet die psychiatrische
Abteilung der Justizanstalt Favoriten und hat langjährige Erfahrung in instutiioneller Psychotherapie.
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