1993/ Anfang 1994: Bandgründung von Tocotronic (benannt nach einem Gameboy-Vorläufer) durch die Hamburger Punkmusiker Jan Müller (Bass) und Arne Zank (Schlagzeug) - beide ex- Meine Eltern/ Punkarsch - und den aus dem Badischen zugezogenen Gitarristen und Sänger Dirk von Lowtzow. Erste Auftritte in Hamburg führen dazu, dass in Hamburger Kneipen zunehmend der Name Tocotronic gewispert wird. Junge Menschen finden eine Lieblingsband: der Enge-Werbe-T-Shirts-Trainingsjacken-Cordhosen-Stil wird gewürdigt, die Höflichkeit der Ansagen bewundert. Tocotronic-Zeilen finden sich auf Häuserwände gesprüht und in Schulbänke geritzt. Der Fanclub 'Megatronic' wird gegründet. 1994: Die erste Tocotronic-Single erscheint auf dem bandeigenen Rock-o-tronic-Label: Vier Lieder, kompromisslos im Zwei-Spur-Verfahren im Proberaum aufgenommen, bei denen nicht stört, dass man die Texte stellenweise nicht versteht, da die Lieder so viel Energie und Melancholie zugleich in sich tragen. Jochen Distelmeyer von Blumfeld schnappt den Songtitel "Ich Möchte Teil Einer Jugendbewegung Sein" von Tocotronic auf und baut ihn in den Song 'Sing Sing' ein. Dirk singt ihn auf Blumfelds LP. L`Age D`Or übernimmt den Versand der Single und des Jugendbewegungs-T-Shirts. Erste Tourneen mit 5 Freunde und Blumfeld folgen. Christoph Gurk stellt die Tocs in Spex vor, Fanzines bejubeln die Single. 1995: ”Digital ist besser”, ihre Debütplatte, auf die sich vor einem Jahr nahezu jeder einigen konnte, stellt in seiner räudigen Unmittelbarkeit das wahrscheinlich beste Stück deutschsprachiger Popmusik ever dar.” (Chelsea Chronicle 6/96) Die in wenigen Wintertagen im Soundgarden-Studio aufgenommene erste LP/ CD erscheint bei L`Age D`Or und setzt einen Meilenstein des Underground-Pop in Deutschland. Treibend punkiges Sloganeering (Jugendbewegung, Masterplan, Digital Ist Besser) und vergrätzte Abgrenzung von deutscher Alltagskultur (Freiburg, Samstag Ist Selbstmord, Hamburg rockt) treffen einen Nerv sowohl bei Pop-Intellektuellen, die darin den Ausdruck einer neuen Generation sehen, als auch bei eben dieser Generation, jungen Menschen, die sich mit Tocotronics Wut identifizieren können, aber auch bewegt sind von der leicht sentimentalen Melancholie von ”Drüben Auf Dem Hügel”, ”Letztes Jahr Im Sommer”, oder dem wunderbaren ”Die Idee Ist Gut, Doch Die Welt Noch Nicht Bereit”. Dass die Platte so trashig hingerotzt klingt und doch die Melodien so eingängig sind, verstärkt den Eindruck, den sie macht. Und wem das nicht weird genug ist, der hat ja noch die wirr-jaulend-sympathische Songvignetten von Schlagzeuger Arne. Nach einer 14-tägigen ”Headline-Tour” (Powerline) im deutschsprachigen Raum und einigen Festivals im Sommer erscheint nicht nur Arne Zanks Cassette "Die Mehrheit Will Das Nicht Hören, Arne" (Eigenvertrieb), sondern zum Erstaunen aller Beobachter bereits im Juli das zweite (Mini-) Album der Tocs, ”Nach Der Verlorenen Zeit” auf L`Age D`Or/ RTD. Sie führt das Prinzip ”Platten machen wie Tagebuch schreiben” ein, denn auf ihr reagieren Tocotronic in selbstreflexiven Statements auf die Rezeption der Band ('Ich Bin Neu In Der Hamburger Schule', 'Ich Muss Reden, Auch Wenn Ich Schweigen Muss', 'Es Ist Einfach Rockmusik', 'Hauptsache Ist'). Andererseits sind da die berührenden persönlichen Stücke über Freundschaft, wie 'Du Bist Ganz Schön Bedient', 'Gott Sei Dank Haben Wir Beide Uns Gehabt' und 'Ich Mag Dich Einfach Nicht Mehr So', das ganz genau den Moment beschreibt, an dem Zuneigung in Langeweile übergeht. Danach folgt das erste Gitarrensolo in der Toco-Geschichte. Im August folgen fünf Auftritte mit Guided By Voices, u.a. bei der Popkomm; im November dann eine achttägige Tour durch kleinere deutsche Städte, wobei es in Potsdam vor Begeisterung zu einer Bühneninvasion kommt. Dazu erscheinen zwei 7"-Singles: "Du Bist Ganz Schön Bedient/ You Are Quite Cool" beinhaltet die Hits 'Bedient' und 'Die Idee Ist Gut, Doch Die Welt Noch Nicht Bereit' in englischen Übersetzungen zwischen Mittelstufenenglisch und kongenialer Übertragung pendeln (aus "Straciatella oder Nuss" wird "Cujamara Split"). Die andere Single ist eine Konzeptplatte: Das Stück 'Freiburg' (plus drei andere), von dem aus Freiburg weggezogenen Dirk geschrieben, live aufgenommen im Freiburger 'KTS Vauban' und veröffentlicht vom Freiburger Label Ritchie Records. 1996: Die Leser der Zeitschrift Spex wählen Tocotronic zum besten Newcomer 1995 und zur drittbesten Band überhaupt. Für die Hörer von Klaus Walters Radiosendung "Der Ball Ist Rund" auf HR 3 ist "Digital Ist Besser" die Platte des Jahres. Erstes Radio-Airplay in den Niederlanden wird kaltblütig ausgenutzt, indem eine Holland-Kurztournee organisiert wird. Mit Chokebore geht es dann auf Tour durch Süddeutschland, Österreich und die Schweiz. Dazu erscheint in Zusammenarbeit von L`Age D`Or und Amphetamine Reptile eine Tocotronic/ Chokebore-Splitsingle mit einer rockigeren neuen Version von "Gott Sei Dank Haben Wir Beide Uns Gehabt". “Einfach Rockmusik” ist das nicht mehr. Eher ein waghalsiger Selbstversuch, der auch mit der erfolgsträchtigen Niedlichkeitsoffensive des Jungens-Trios ins Gericht geht. Das Sloganeering ist zurückgeschraubt- wer die Band liebt, soll ihr auch an die Ufer schlammiger 8-Minuten-Stücke folgen. Insofern also doch ein schülerhafter Schrei nach Gerechtigkeit, aber einer, der bewusst mit seinen beschränkten, mittelständischen Mitteln hausieren gehen muss. ”Wir kommen um uns zu beschweren” ist ein historischer Kompromiss.” (Taz, 2.4.96) Die im Dezember im Hamburger Soundgarden-Studio von Christian Mevs und Carol von Rautenkranz aufgenommene LP "Wir Kommen Um Uns Zu Beschweren" erscheint. Das bekannt und beliebt gewordene tocotronische Soundspektrum wird ausformuliert und zugespitzt. Wenn man Punk-Pop-Songs spielen mag, dann brauchen die auch nicht länger als zwei Minuten zu sein. Und wenn man so eine richtige RockSchwarte spielen will, dann müssen die Gitarren auch sieben Minuten Zeit haben, um Dinosaur-Soli aufeinanderzuschaufeln. Auch in den Texten wird mächtig ausdifferenziert: Ein persönliches, trauriges Stück wie "Ich Möchte Irgendwas Für Dich Sein" braucht nur zwei Zeilen Text; der mitlaufende Kommentar zur Rezeption der Band wird wieder mitgeliefert ("Ich Werde Mich Nie Verändern", "Jetzt Geht Wieder Alles Von Vorne Los"), Hass und Sloganeering nicht vergessen ("Ich Verabscheue Euch Wegen Eurer Kleinkunst Zutiefst"), und mit "Ich Heirate Eine Familie" und "Schritte Auf Der Treppe" hat die Melancholie und Unsicherheit des Erwachsenerwerdens ihren Platz. Die Klippe des dritten Albums, an der schon einige Hamburger Hoffnungsträger zerschellten, wird sicher umfahren, dank der nonchalanten Herangehensweise an das Musikmachen, die an US-College-Bands erinnert. "Wir Kommen Um Uns Zu Beschweren" steigt in die Album-Charts ein und verbringt dort einige Wochen. Die höchste Plazierung ist #47 am 30. April. Konzerte auf der zweiwöchigen Tournee müssen in größere Hallen verlegt werden. Im Sommer folgen die üblichen Wochenendausflüge zu Festivals, sowie ein Benefizauftritt für den in Berlin überfallenen Universal-Congress-Of-Gitarristen Joe Baiza. Unter der Woche beginnen die Arbeiten an Songs für das vierte Album. Im August eröffnen Tocotronic die Theatersaison in der Berliner Volksbühne. Das erste Konzert ist bereits nach wenigen Stunden ausverkauft, so dass flugs ein Zusatzkonzert organisiert wird, bei dem auch keine Plätze frei bleiben. Beim Bizarre-Festival in Köln sind die Tocs die umjubelten Stars des Nachmittages. Mehr diskutiert wird allerdings an diesem Popkomm-Wochenende über einen anderen Auftritt von Tocotronic: Bei der "Comet"-Preisverleihungsgala des Musikfernsehsenders Viva lehnen sie auf der Bühne den ihnen zugedachten Award "Jung, deutsch und auf dem Weg nach oben" ab, nicht ohne sich vorher für die Einladung zu bedanken. Die Begründung von Jan Müller: „Wir sind nicht stolz darauf, jung zu sein. Und wir sind auch nicht stolz darauf, deutsch zu sein.“ Die Band hatte sich erst nach langen Diskussion im Vorfeld zu diesem Vorgehen entschlossen, wobei es wichtig erschien, sich einerseits für die Respektsbezeugung höflich erkenntlich zu zeigen, andererseits aber die Ablehnung des Einsortiertwerdens in Kategorien wie "jung" und "deutsch" deutlich abzulehnen. Und außerdem wollte Jan unbedingt seine Helden Kiss sehen, die dort auftraten. Abgeschlossen wird das ereignisreiche Jahr mit einer Tour durch kleinere deutsche Städte – mit etwas unangenehmen Begleitumständen: Jan wird krank und tritt mit Fieber auf, dazu schlägt das schlechte Wetter auf die Stimmung ("Einmal waren wir fast eingeschneit.") 1997: Das neue Jahr läuten die Tocs mit einem Auftritt bei dem von L'Age D'Or mitveranstalteten Rock & Rave-Festival in der Hamburger Markthalle ein. In den Leserpolls der Musikzeitschriften sind Tocotronic auch diesmal gut plaziert: Die Leser von Spex wählen sie zur viertbesten Band und zur drittbesten Show. Im Rolling Stone landen sie auf Platz 6 in der Kategorie "Beste Band-National" und aus den monatlichen Lesercharts von Visions und Intro sind die Tocs kaum wegzudenken. Im Februar reisen Tocotronic nach Frankreich, um im Blackbox-Studio von Iain Burgess ihre vierte LP "Es Ist Egal, Aber..." aufzunehmen. Produzent ist diesmal Hans Platzgumer, der auch die Streicherarrangements für die Platte geschrieben hat. Toningenieur ist Peter Deimel, der "Stag" von den Melvins für die bestproduzierte Platte ever hält. Die Vorabsingle "Sie Wollen Uns Erzählen" erscheint im Juni und steigt kurz darauf in deutschen Singlecharts ein. Das Video dazu dokumentiert einen Ausflug in den Wildpark “Schwarze Berge”, passend zu den drei Enten auf dem Albumcover. Schon im Herbst stellt die Hamburger Country-oder-sowas-Band Fink eine Coverversion des Songs vor. „Wie Nabokov fügen Tocotronic mit Liebe zum Detail manchmal auch scheinbar Unzusammenhängendes aneinander, brechen abrupt ab. Und wie Nabokov und dessen berühmtester Schüler, Thomas Pynchon, entwickeln auch Tocotronic langsam, aber stetig einen Hang zu einigermaßen absurden Phantasien.“ (Jochen Bonz, Intro) „Es ist egal, aber“ heißt das neue Werk, wobei besonders das Komma zu beachten ist. Es markiert das spezifische Einerseits-Andererseits in der Tocotronischen Weltbetrachtungs-Poesie. Jugendliches Aufbegehren, das sofort wieder umschlägt in altkluges Achselzucken. So ist das mit dem Erwachsenwerden. (Christian Schröder, Der Tagesspiegel) "Es Ist Egal, Aber..." erscheint im Juli. Wandel und Weiterentwicklung sind der Platte anzuhören, obgleich sie noch immer eindeutig nach Tocotronic klingt. Doch in den Texten wird Abstand genommen von der “Ich”-Litanei früherer Platten, das ”Du” kommt stärker zu seinem Recht. Die Songs sprechen von Entfremdung, von sich voneinander entfernenden Menschen, von der Sehnsucht nach Freundschaft. Im Songwriting sind gesungene und instrumentale Teile stärker ineinander verwoben, der Aufbau der Songs folgt einer Dramaturgie, die in enger Korrespondenz zum Text steht. Der Einsatz von Streichern ist das augenfälligste Ergebnis der Zusammenarbeit mit Hans Platzgumer. Dirks Gesang ist ausgefeilter denn je, in der Melodiesetzung, wie in der Phrasierung, wie auch in der Aufnahme. “Es Ist Egal, Aber...” ist der Abschied von den einfachen musikalischen Laut-Leise-Lösung; Tocotronic verfeinern den Umgang mit ihren musikalischen Mitteln - manche sprechen da gern von Reife. “Es Ist Egal, Aber” tritt einen erfolgreichen Weg in die Hitparaden an und erreicht Platz 13 in den deutschen und Platz 21 in den österreichischen Albumcharts. Auch in diesem Sommer spielen Tocotronic auf diversen Festivals, u.a. bei dem berühmten Openair im dänischen Roskilde. Im Herbst folgt die große Tournee durch das Verbreitungsgebiet der deutschen Sprache - so lange am Stück wie noch nie zuvor. Das hat die von vielen Bands gefürchteten Auswirkungen der Routine: “Ich hatte das Gefühl, wir funktionieren auf Knopfdruck”, erinnert sich Dirk und meint das durchaus auch wörtlich: Der Entschluss reift, den Verzerrer zukünftig wegzulassen. Eventueller Überdruss wurde aber gemindert durch eine weitere Freundschaft zu einer amerikanischen Band: Fuck. Ein Ergebnis davon ist die Coverversion von “Alles Was Ich Will Ist Nichts Mit Euch Zu Tun Haben” auf dem FuckAlbum “Conduct”; ein anderes die Gegeneinladung an Tocotronic zu einer USA-Tournee. Die zweite Hälfte der Herbst-Tour spielten die Schweizer Lado-Kollegen Die Aeronauten mit. Zur Tour erscheint mit der Herbst-Hymne und Neil-Young-Hommage “Dieses Jahr” eine zweite Single aus dem Album. Zum Jahresende gibt es eine ungewöhnlich lange Probepause von drei Monaten, unterbrochen nur von einem Benefiz für den Golden Pudel Club. Jan und Arne nutzen die Zeit, um das Rock-o-Tronic-Label wiederzubeleben: Sie produzieren das Debüt der jungen Grungeband Jonas aus Bad Bentheim, das schließlich an L’Age D’Or lizensiert wird. Arne dreht außerdem einen Filzlegetrickfilm, Dirk schreibt die Musik für einen ungarischen Spielfilm. 1998: Die Leserpolls der Musikzeitschriften belohnen das Schaffen von Tocotronic erneut mit guten Plazierungen: Im Visions belegen sie in der Kategorie “Beste Band” Platz 9, in “Bestes Konzert” Platz 3, und “Es Ist Egal, Aber” ist Nummer 6 bei den Alben des Jahres. Auch für die Leser von Spex sind Tocotronic die neuntbeste Band, das Album erreicht Platz 16 und das Video zu “Dieses Jahr” Platz 9 bei den Clips. Die Leser des Rolling Stone wählen “Es Ist Egal, Aber” auf 25 bei den Alben und “Sie Wollen Uns Erzählen” auf 26. Und im Intro gibt es Platz 2 bei den Bands, 3 bei den Live-Acts, 6 bei den Alben Tocotronic kehren zurück in den Übungsraum und proben im Sitzen. Neue Stücke entstehen, zunächst mit dem Plan, eine sehr ruhige Platte zu machen, die durch längere Texte unaufdringlicher wirken soll, deren Ich ein eindeutig lyrisches und kein autobiografisches sein soll. Doch Cornershops Zwei-Akkorde-Hit „Brimful Of Asha“ bringt die Band von der durchgängigen Ruhe ab, auch Stücke wie „Let There Be Rock“ sind erlaubt. Im März wird die Gegeneinladung von Fuck angenommen: Tocotronic gehen mit ihnen auf US-Tour. Und zwar nicht durch Goethe-Institutssäle, sondern durch ganz normale Rockclubs in Städten wie Chicago, Detroit, Philadelphia, Washington oder New York, wo bei am Abschlusskonzert mit Come als zusätzlicher Band Indie-Rock-Prominenz von Pavement und Sonic Youth gratulieren kommt. Zur Tour erscheint nicht nur ein Song auf einer CD des US-Fanzines „Bunny Hop“, sondern auch ein Best-of-Album für den internationalen Markt mit dem Titel „The Hamburg Years“. Bei den Sommerfestivals wird die Bekanntschaft mit Micha Acher von Notwist intensiviert, der den Auftrag bekommt, Streicher- und Bläserarrangements vorzubereiten. Tocotronic selbst fahren im Herbst wieder ins Black Box-Studio in Frankreich. Diesmal darf aber auch Carol von Rautenkranz als Produzent des fünften Albums mitkommen, allerdings unter einer Bedingung: Er muss sein Handy zuhause lassen. Vierwöchige Aufnahmen mit dem bewährten Tontechniker und Ko-Produzenten Peter Deimel folgen. Dirk, Jan und Arne lassen sich Vollbärte wachsen, die aber zurück in Hamburg alle schnell (Arne weniger schnell) wieder abrasieren. Im November/Dezember folgen zusätzliche Aufnahmen in Weilheim (Bläser und Streicher, arrangiert von Micha Acher, im Uphon-Studio) und Hamburg (Keyboards mit Stellas Thies Mynther und Overdubs im Soundgarden-Studio) – insgesamt dauern die Aufnahmen 70 Tage, ein klarer Rekord für Tocotronic. Anfang 1999: Huch, keine Pollergebnisse! Erstmals seit „Digital ist besser“ ist ein Jahr ohne neues Tocotronic-Album vergangen. Doch das nächste wird schon im Soundgarden abgemischt und bekommt den Namen „K.O.O.K.“ – Jan findet derweil Zeit, das zweite Album von Jonas für Rock-o-Tronic zu produzieren. Die Band probiert die neuen Stücke auch auf der Bühne aus, bei einzelnen Konzerten in Kopenhagen, Amsterdam, Wien und Belgien (dort mit To Rococo Rot, was sich natürlich auf den Plakaten sehr gut macht). Mai/Juni 1999: Nun kehren Tocotronic auch auf deutsche Konzertbühnen zurück – und zwar mit sehr kontrastreichen Auftritten: Bei Rock im Park/ am Ring (nachmittags auf der großen Bühne), einem AntifaFestival in Greifswald, sowie mit ihrer eigenen Theater-Tournee. Der Hintergrund ist, dass der Band die Konzerte in der Berliner Volksbühne immer großen Spaß machten. Außerdem sollen ja diesmal überwiegend Stücke zur Aufführung gelangen, die das Publikum noch nicht kennt – die Theatersitze sollen zum entspannten Zuhören einladen. Der Erfolg der Auftritte steht und fällt etwas mit der Atmosphäre der Theater, besonders die Volksbühne und Hamburgs Schauspielhaus wissen zu gefallen. Im Sendesaal des ORF in Wien kommt es zu amüsanten Schwierigkeiten der Rundfunktechniker mit der Klangübertragung: Immer neue Mikrofone werden vor Dirk aufgebaut. Wie erhofft, kommt bei den Theaterkonzerten das neue Lied „Let There Be Rock“ besonders gut an, denn es wird auch die Vorabsingle zu „K.O.O.K.“ und steigt im Juni auf Platz 38 in die deutschen Singlecharts ein. „Let There Be Rock“ löst sofort hitzige Debatten aus, wegen des in Gibraltar gedrehten Videos, der AC/DCHommage im Titel, vor allem aber weil die Keyboard-Fanfare aus „Final Countdown“ von Europe zitiert wird. Juli/August 1999: „K.O.O.K.“ erscheint. Tocotronic hatten einen langen Nachdenkprozess an den Anfang der Arbeit an diesem Album gestellt. Das Ergebnis: Keine Hass-Lieder mehr, kein Punk-Pop, nicht mehr Identifikations-Dienstleister sein. Die Sprache der Songtexte ist bildhafter, verrätselter, weniger direkt, aber dafür bleibend schöner. Und trotzdem kommen dabei Zeilen und Titel heraus, die sich in Alltagssituationen der Hörer einmischen: „Wir sind raus, und wir sind stolz darauf“, „Das haben sich die Jugendlichen selbst aufgebaut“, „Das Unglück muss zurückgeschlagen werden“. Die überwiegende Zahl der Lieder ist im Midtempo gehalten, ihre Länge lässt viel Platz für Streicher-, Bläser-, Synthesizer-Arrangements. Letztes Mal fiel das Wort „reif“, diesmal fällt das Wort „erwachsen“. Mancher Stagediver mag enttäuscht sein, andere entdecken erstmals, dass Tocotronic eine Band ist, die ihnen etwas in ihrem Leben sagen kann. Greil Marcus hat vor zehn Jahren über den ebenso unerwarteten wie totalen Erfolg Nirvanas sinngemäß geschrieben, dass eine ganze Nation wie gelähmt auf genau den Sound dieser Gruppe gewartet hätte und ihn annahm wie eine Erlösung: Dies könnte in einem besseren Deutschland auch für „K.O.O.K.“ gelten, Tocotronics fünfte CD. (...) In einer letzten Kraftanstrengung wird ein überlebensgroßer Gitarrensound aufgebaut, der aufräumen soll mit Mittelmaß, mit der eigenen Epigonalität von gestern, mit der erbärmlichen Sprache, in der heute in Deutschland gern gerappt und gesungen wird. (...) Eine bessere CD mit Gitarren drauf wird heuer nicht mehr gemacht. (Karl Bruckmaier, Süddeutsche Zeitung) Dirk, Arne und Jan aus Hamburg haben eine Gabe, und sie besteht darin, einfach irgendwie unzufrieden zu sein. Und zwar so unzufrieden, dass wir, die Hörer, es gerne auch sind. (...) „K.O.O.K.“ ist nicht nur das ernsthafteste Album, sondern auch das beste, das Tocotronic seit ihrem Debüt „Digital Ist Besser“ gemacht haben. Das Glück der drei Akkorde haben sie längst gegen eine komplexere Gefühlswelt aus Nuancen und feinen Klangabstufungen eingetauscht. (Marc Deckert, Jetzt) Das Album steigt auf einem hervorragenden 7. Platz in die deutschen Charts ein und hält sich fünf Wochen unter den Top 50. In Österreich ist es sogar noch eine Woche länger, die höchste Position ist Platz 18. Parallel sind Tocotronic auch in diesem Sommer wieder auf Festivals unterwegs, kreuz und quer von Losheim bis Puch, von Haldern bis Wiesen, von Erfurt bis zum Bizarre in Köln. Zwischendurch spielen sie auf einem LKW-Anhänger, um gegen einen Nazi-Aufmarsch in Hamburg zu mobilisieren. Oder entern als Alsterpiraten das Vorprogramm eines Konzerts von Tomte in Hildesheim. Oktober/November 1999: Tomtes Sänger und Gitarrist Thees Uhlmann begleitet Tocotronic auf ihrer Tournee als Gitarrenroadie – und als Chronist: Sein Tourtagebuch wird zunächst auf der offiziellen Website von Tocotronic (www.tocotronic.de) veröffentlicht und erscheint später im Ventil-Verlag in Buchform, unter dem Titel „Wir könnten Freunde werden“. Das Buch gibt einen anekdotenreichen und herrlich distanzlosen Einblick in das Tourleben von den nun meist ganz in schwarz gekleideten Tocs, besonders während der aus zwei 14-tägigen Blöcken bestehenden Herbsttour 1999. Im Vorprogramm spielen in der ersten Tourhälfte die Finnen And The Lefthanded, in der zweiten die Kanadier Weakerthans. Dirk erinnert sich an eine „sehr gute Stimmung“, die unterwegs herrschte; die Atmosphäre sei sehr angenehm gewesen, ein Verdienst auch von Tourmanager Michael Bugmann. Nach dem ersten von zwei Konzerten im Wiener Planet Music eilt Dirk noch ins Flex, um dort für ein Lied mit der Berliner Band Britta auf der Bühne zu stehen. Ende November schafft es auch die zweite Single aus „K.O.O.K.“ in die deutschen Singlecharts (wenn auch nur gerade so): „Jackpot“ überrascht mit Remixen von den Kölner Kompakt-Leuten Tobias Thomas & Olaf Dettinger und von Fischmob & Erobique. Ein Vorgriff auf das kommende Remixalbum, für das Jan und Arne bereits Kontakte knüpfen. Am Ende des Jahres läuft der Plattenvertrag mit Motor Music aus. Die Band vergleicht zusammen mit L’Age D’Ors Carol von Rautenkranz die Angebote und unterschreibt schließlich bei Zomba. Anfang 2000: In diesem Jahr sind Tocotronic zurück in den Zeitschriftenpolls: Das Album „K.O.O.K.“ schafft es bei den Lesern von Spex auf Platz 3, vom Rolling Stone auf 11 und vom Visions auf 18. Für die Kritiker des Rolling Stone ist es das zehntbeste Album, bei den Kritikern des Musikexpress gibt es Platz 26. Die Spex-Kritiker wählen die Single „Let There Be Rock“ auf Rang 11 ihrer Endabrechnung, bei den SpexLesern ist es sogar die Nummer 4, für die Musikexpress-Leser die 10. Dirk tritt im Februar zusammen mit dem Wiener DJ DSL am Vorabend einer der regelmäßigen Donnerstagsdemos auf, die zum Protest gegen die Regierungsbeteiligung von Jörg Haiders FPÖ durch Österreichs Hauptstadt ziehen. Einen Monat später fliegt die ganze Band in die USA, spielt dort eine Radiosession für ein Chicagoer Collegeradio, beim South-By-Southwest-Festival in Austin, sowie im Brownies im New Yorker East Village (zusammen mit Stella). Aus Anlass dieser Amerikareise wird „K.O.O.K.“ in einer Version mit ins Englische übersetzten Texten veröffentlicht. Tocotronic-Platten werden in den USA von Triage vertrieben. Der holländische Vertrieb ist Konkurrent, und in Holland spielen Tocotronic dann auch im April, seltsamerweise auf einem Festival namens „London Calling“ im Amsterdamer Paradiso. In Paris entsteht das Video zur Vorabsingle aus dem Remixalbum, „Freiburg Version 3.0“, in dem der Interpretenname Tocotronic vs. Console verkörpert wird: Die drei Tocs kämpfen in Superheldenkostümen gegen den Bösewicht Console. „Es war wahnsinnig anstrengend“, schnauft Dirk noch in der Erinnerung. Martin Gretschmann alias Console nahm eine Neufassung des Tocotronic-Klassikers „Freiburg“ auf, im Stile seines Hits „14 Zero Zero“ mit englischem Computergesang. Sommer/Herbst 2000: Ende Juli erscheint bei L’Age D’Or/Zomba das Album „KOOK Variationen“. Angeregt vom wachsenden persönlichen Interesse an elektronischer Musik, haben Tocotronic das Projekt in Angriff genommen. „Gerade nach der langen Arbeit an ‚K.O.O.K.‘ waren wir neugierig darauf, was andere daraus machen“, erinnert sich Jan. Teilweise fragten Elektroniker von selbst an, teilweise fragten Tocotronic persönliche Bekannte, teilweise wurden Kontakte über Lado hergestellt. Die Auswahl der Tracks übernahmen hauptsächlich Jan und Arne. Sie sorgten für ein breites Stilspektrum, von BeinaheCoverversionen (Dakar & Grinser, Justus Köhncke) über eher klassische Remixe (Thomas & Dettinger, Egoexpress, Turner) bis hin zu radikaleren Verfremdungen (Funkstörung, Fever) – und da ist DJ DSLs erstaunliche Bar-Version von „Let There Be Rock“ noch gar nicht erwähnt. Den typischen Problemen von Remixalben zum Trotz (nie wird jemand alle Versionen gleich gut finden), finden die „KOOK Variationen“ ein überwiegend positives Echo und steigen auch auf Platz 82 in die deutschen Albumcharts ein. Den Rest des Jahres gibt es nur noch vereinzelte Live-Auftritte – zum einen Benefiz-Konzerte wie in der Roten Flora für die Jungle World oder in Magdeburg gegen rassistische Gewalt; zum anderen bei Festivals wie etwa dem „20 Jahre Spex“-Abend zur Eröffnung der Popkomm, bei dem Rick McPhail sein Debüt als Tourkeyboarder gibt. Rick ist ein langjähriger Freund von Dirk, stammt ursprünglich aus den USA, lebt aber schon lange in Deutschland und spielt in der Band Venus Vegas, die zuletzt eine EP namens „Gold“ bei Fanboy Records/EFA veröffentlicht haben. Und Tomte haben ihm schon 2000 ein Lied gewidmet, den „Rick McPhail Song“. Mit Rick können die ausgefeilteren Arrangements der neueren Platten live besser umgesetzt werden; bei Studioaufnahmen ist er aber nicht dabei. Ins Studio nistet sich die Band ab August ein – dem Electric Avenue von Tobias Levin, zum Proben von neuen Songs, die diesmal gleich im Studio entwickelt werden sollten. 2001: In den Polls ist diesmal hauptsächlich die „Freiburg“-Version von Console platziert – bei Spex sind sich Leser (Platz 3) und Kritiker (Platz 5) fast einig. Die Redakteure der BR-Radiosendung „Zündfunk“ wählen die Single auf Platz 8 ihres Jahresrückblicks. Und für die Hörer von „Der Ball ist rund“ im HR ist „Freiburg“ die Nummer 8 und Justus Köhnckes Version „Tomorrow Will Be Like Today“ sogar die Nummer 6 unter den Singles des Jahres. 2001 machen sich Tocotronic in der Öffentlichkeit rar. Kein einziger Liveauftritt in Vollbesetzung, nur bei vereinzelten, mehr oder weniger unangekündigten Soloauftritten von Dirk sind schon die neuen Lieder zu hören, deren Aufnahme die Hauptbeschäftigung des Jahres ist. Nach den Proben finden von Mai bis Dezember auch die Aufnahmen im Hamburger Electric-Avenue-Studio statt; Produzent ist Tobias Levin (der mit Cpt. Kirk & u.a. für das großartige Album „Reformhölle“ verantwortlich war), Engineer Thomas Maringer. Es sind die bisher aufwändigsten Tocotronic-Aufnahmen, wie ja schon aus ihrer Länge ersichtlich wird. Neben den Aufnahmen bleibt den Bandmitgliedern aber noch Zeit für verschiedene Nebenaktivitäten. Dirk bringt gemeinsam mit Thies Mynther (Stella, Superpunk) unter dem Namen Phantom/Ghost ein Album mit elektronischer Popmusik bei Ladomat heraus. Phantom/Ghost treten auch in Clubs auf, z.B. auf der Operation-Pudel-Tour, dem Viva-Zwei-Abschied, zwei Spex-Datapop-Abenden und der IntroJubiläumsfeier. Dabei genießt Dirk, die Hände frei zu haben und wirft sich in Discodiva-Posen. Right Said Freds „You’re My Mate“ ist der regelmäßige Abschluss. Daneben ist Dirk auch journalistisch tätig: Schon seit 1999 schreibt er Ausstellungskritiken für „Texte zur Kunst“, wo auch ein Interview mit dem italienischen Horrorfilmregisseur Dario Argento erscheint, das wiederum die Basis bildet für einen Vortrag an der Hamburger Kunsthochschule im Rahmen der Gastprofessur von Cosima von Bonin. Ein Interview mit dem Science-Fiction-Künstler Chris Foss (von dem auch das Cover-Motiv für „K.O.O.K.“ stammt) erscheint in dem Suhrkamp-Band „Sound Signatures“, herausgegeben von Jochen Bonz. Und schließlich inszeniert Angela Richter beim Theaterfestival „Dramatik 01“ in Hannover das Stück „Alles wird in Flammen stehen“, das aus Songtexten und Interviewaussagen von Dirk besteht, sowie aus übersetzten Interviewaussagen von skandinavischen Satanistenbands. Jan gründet Das Bierbeben, zusammen mit Rasmus Engler, dem Schlagzeuger der Band Gary. „Eine Liebhabersache“, sagt Jan selber dazu. Anfang 2002 erscheint bei Rock-o-Tronic die 7“-Single „Die Birne Ist Reif“ mit Coverversionen der Deutsch-Punkbands OHL, Junge Front und Schleimkeim, sowie dem Titelsong, einer Eigenkomposition. Ziel war im Design eine möglichst originalgetreue Nachahmung der Covergestaltung des Rock-o-Rama-Labels zu erreichen. Die unfreundlichen Texte werden von freundlichen Frauenstimmen gesungen – man darf vielleicht Art-Punk dazu sagen. Zuvor hatte Rock-o-Tronic bereits 2000 das Album „Die Schleife“ vom Rudolf Brauer Sextett veröffentlicht. Im Zeichen von Jans Punkvergangenheit steht auch sein Auftritt in dem Dokumentarfilm „So jung kommen wir nicht mehr zusammen“. Die Regisseurin Vera Vogt spürt darin den Lebensläufen von vier früheren Freunden aus Hamburger Punktagen nach – und einer davon ist eben auch Jan. Arne produziert weiterhin zuhause am Computer Musik – elektronische Instrumentals, von denen das Stück „Sweet Bird Of Youth“ auf der Ladomat-Jubiläumscompilation „Ladomat 100“ erscheint. Sein Comicstrip „Die Vögel“, der seit 1997 in der Kölner StadtRevue erschien, endet im November. Dafür ist Arne seit dem Herbst an der Programmgestaltung der Hamburger Off-Galerie Hinterconti beteiligt. Seltsames geschieht derweil auf der Stil-Seite der FAZ: Der Redakteur Klaus Ungerer wählt für Artikelüberschriften regelmäßig Tocotronic-Textzeilen aus. Die Band ist zwar geschmeichelt, aber die ganze Sache ist den Tocs auch etwas peinlich. Anfang 2002: Für die Poll-Ausbeute ist in diesem Jahr Phantom/Ghost alleine zuständig: Die Single „Perfect Lovers“ kam auf Platz 9 der Intro-Kritikerliste und auf 39 im Spex-Leserpoll. Die Spex-Kritiker wählten das Album auf Rang 40. Den Vogel schossen aber wieder die Radiohörer von „Der Ball ist rund“ ab: Platz 6 fürs Album und Platz 5 für den Song „Phantoms & Ghosts“! Im Soundgarden-Studio wird derweil das neue Tocotronic-Album abgemischt von Mikael Illbert, der schon für Roxette gearbeitet hat, aber trotzdem ein Netter sein soll. Auch ein Titel wird gefunden – nach etwas Hinundher heißt die Platte einfach „Tocotronic“. Mai/ Juni 2002: Die Single „This Boy Is Tocotronic“ erscheint. Das Video dazu wurde im Schloss Blomenburg bei Kiel gedreht und erzählt eine Dornröschen-Geschichte im Stil tschechischer Märchenfilme. Der Song ist, wie schon „Let There Be Rock“, eindeutig als Single konzipiert und zitiert u.a. Technotronic und Sisters Of Mercy. „Excellent icy electro-guitar-clash-pop“, schreibt der NME, „a meeting of movements that comes good (…), landing somewhere between Grandaddy and New Order.“ Der Charteinstieg folgt bald, in Deutschland auf 48, in Österreich auf 51. Und darauf wiederum folgt der erste Auftritt bei „Top Of The Pops“ in der Bandgeschichte von Tocotronic – angekündigt von Alex Christensen, behält nur Dirk seine angestammte Rolle (trägt dafür aber Anzug), die restliche Besetzung ist: Jan am Keyboard, Arne an der Gitarre, Rick am Schlagzeug. „This Boy is Tocotronic“ ist aber nur eine unvollständige (um nicht zu sagen: irreführende) Vorbereitung auf das, was die Hörer mit dem Album „Tocotronic“ erwartet. Ganz in weiß gehalten, mit den allzu nahe liegenden Beatles-Verweisen spielend, ist „Tocotronic“ das mit Abstand musikalischste, produzierteste, durcharrangierteste Album der bisherigen Bandgeschichte – dank der langwierigen, „workshop-artigen“ (Dirk) Arbeit mit Produzent Tobias Levin in dessen Electric-Avenue-Studio. Die gewohnten Indie-RockSoundwelten existieren nur noch als Ahnung, stattdessen fallen Roxy Music, David Bowie, The Smiths als häufigste Vergleiche. Es ist Popmusik, sanft, melodisch, optimistisch – und doch als Tocotronic-Platte erkennbar. Dazu haben sich Dirks Texte wieder verändert: Weiter weg von den genau benennbaren Alltagsorten, sollen sie bewusst offen sein für Interpretationen, die auch kommen und von Fantasy ebenso sprechen wie von Globalisierungskritik, von Märchenhaftigkeit ebenso wie von Intellektualismus, von Science Fiction wie von Poesie. Das abschließende „Neues vom Trickser“ gibt dann auch den Schlüssel zur offenen Interpretation: „Eines ist doch sicher: Eins zu eins ist jetzt vorbei.“ Aus der Identifikationsmaschinerie haben sich Tocotronic befreit – zum Glück ist Schönheit an die Stelle getreten. Vielleicht seit „Digital Ist Besser“ wurde jedenfalls kein Tocotronic-Album mehr mit derart einhelliger Begeisterung aufgenommen. Das gilt für die veröffentlichte Meinung (Spex brachte die Band nicht nur aufs Cover, sondern druckte sogar gleich drei unterschiedliche Titelseiten), aber, wenn man den Chartsplatzierungen glauben darf, auch fürs Publikum: „Tocotronic“ steigt auf Platz 5 in die deutschen Albumcharts ein, in Österreich ist es Platz 6 – jeweils die bisher höchsten erreichten Plätze. Die Live-Umsetzung der für Tocotronic-Verhältnisse ja sehr komplexen Platte lässt sich zunächst etwas kompliziert an – auch in Viererbesetzung. Dass „Rock am Ring“ gleich der erste Auftritt ist, macht die Dinge nicht leichter – doch von Festival zu Festival wird es besser, und bei der fast schon traditionellen Zweimal-zwei-Wochen-Tour im Herbst läuft es dann rund (im Vorprogramm übrigens Turner). Herbst/Winter 2002: Als zweite Single wird aus „Tocotronic“ das Stück „Hi Freaks“ ausgekoppelt, erhältlich in zwei Versionen: Zum einen mit Coverversionen von Fuck, Minutemen und Turbonegro, zum anderen mit Remixen von Tobias Levin, DJ Rabauke, Superpitcher, Martini Brös und Alexander Polzin – auch wenn es also diesmal keine „Variationen“-Platte gibt, bleiben Tocotronic elektronischen Musiken gegenüber aufgeschlossen. Auch „Hi Freaks“ schafft es in die Charts, nämlich auf Platz 77 – trotz oder wegen des Videos? Dabei handelt es sich nämlich um eine Art Ballett-Clip, gedreht in den Hamburger Kammerspielen. Die Jahresendauswertungen der Musikzeitschriften fallen diesmal sehr erfolgreich aus für Tocotronic. In der Spex schafft es „Tocotronic“ auf Platz 2 der Leser und Platz 7 der Kritiker, bei den Lieblingssingles der Leser schaffen „Hi Freaks“ und „This Boy Is Tocotronic“ sogar den Doppelschlag auf 1 und 2. Beim Intro wählen die Kritiker das Album auf Platz 1, die Leser auf die 4. „Hi Freaks“ ist die 3 bei den Autoren-Singles, bei den Lesern die 4. Für die Kritiker des Musikexpress ist „Tocotronic“ das zehntbeste Album 2002, für die des Rolling Stone sogar das zweitbeste. 2003: Im Januar werden Tocotronic für den Echo in der Kategorie „Künstler/in/Gruppe National Alternative“ nominiert, doch müssen weder Dankes- noch Ablehnungsreden erdacht werden. In Hamburg ist derweil die Räumung des Bauwagenplatzes Bambule durch den rechten Innensenator Schill ein großes Thema – Tocotronic spielen unter dem Motto "Regierung stürzen - Let the music play!" ein Benefiz in der Roten Flora, die Zuschauerschlange zieht sich durchs halbe Schanzenviertel. Im Frühjahr gibt es einen Festivalausflug zum Primavera Sound in Spanien. Ansonsten ist es für Tocotronic ein eher geruhsames Jahr: ein Auftritt in Dänemark, vereinzelte Festivals in Österreich, der Schweiz und Deutschland (u.a. springen Tocotronic kurzfristig auf der großen Bühne des Hurricane ein). Im Dezember jährt sich zum zehnten Mal die Bandgründung von Tocotronic – zum Jubiläum erscheint „10th Anniversary“, zum einen eine CD mit B-Seiten und Raritäten, die sich über die Jahre angesammelt haben, zum anderen eine DVD, auf der nicht nur alle Videoclips der Bandgeschichte zu sehen sind, sondern auch Tour-und Studio-Dokumentationen. In einigen großen Interviews lassen Tocotronic die Jahre Revue passieren. Ansonsten ist durchaus Zeit für Nebenaktivitäten: Dirk bringt zusammen mit Thies Mynther das zweite Phantom/Ghost-Album „To Damascus“ beim Label Mute heraus. Das Bierbeben veröffentlicht derweil drei Maxis und das Album „No Future No Past“ für Shitkatapult. Arne bestreitet auf der Jubiläumstour von L’Age D’Or einige Soloauftritte. 2004: Waren Tocotronic beim letzten Mal ohne fertige Songs ins Studio gegangen, um sie im Produktionsprozess entstehen zu lassen, findet diesmal die Hauptarbeit wieder im Proberaum statt – und zwar zu viert: Rick McPhail wird offizielles Bandmitglied von Tocotronic. Die dort entstehenden neuen Songs bekommen ihre Livepremiere in eher exotisch wirkendem Zusammenhang: Tocotronic spielen auf Einladung des Goethe-Instituts vier Konzerte in Sibirien. Zehn Tage dauert die Reise, die Jan als „extrem interessant und von den Publikumsreaktion her toll“ bezeichnet. Danach gehen Tocotronic ins Berlin-Kreuzberger Mamasweed-Studio, um mit Produzent Moses Schneider in nur neun Tagen die meisten Songs des neuen Albums einzuspielen. Zusätzliche Aufnahmen finden im Mushroom- (Berlin) und Soundgarden-Studio (Hamburg) statt. Nach dem langwierigen Werkeln an „Tocotronic“ wird diesmal „live und ohne Kopfhörer“ eingespielt – mit Rick an der zweiten Gitarre, ein deutlich hörbares neues Element im Bandsound. Abgemischt wird das Ganze erneut von Michael Ilbert, diesmal im Puk-Studio in Dänemark. Die Umstände der Popkultur in Deutschland machen ein Debattenstatement von Tocotronic nötig: „Sehr geehrte Damen und Herren, wie schon an anderer Stelle vermerkt, lehnen wir, die Gruppe Tocotronic, Nationalismus, Deutschtümelei und Heimatduseligkeit seit Anbeginn aller Zeiten ab. Umso erstaunter sind wir nun, dass schon zum zweiten Mal in unsrer bewegten Karriere der Versuch unternommen wird, deutsche Musik zu nationalisieren und eine Quote für hiesige Produktionen im Rundfunk einzurichten. Gerechtfertigt wird dies mit zweifelhaften wirtschaftlichen Argumenten. Wohin die Reise geht ist völlig klar: Wir sind wir, auferstanden aus Ruinen und fühlen uns deutsch und sexy und haben es satt uns im eigenen Land ständig marginalisiert zu fühlen, wir werden förmlich überschwemmt von der angloamerikanischen Kulturindustrie, es gibt doch eine coole, heimatverbundene deutsche Musikszene, der geholfen werden muss und pi, pa und po. Wir sagen ganz deutlich, wie so oft in unserem Leben: Wir sind dagegen! Und fragen: Lebt denn der alte Holzmichl noch? Mit herzlichem Gruss, Tocotronic“ Außerdem gilt es, weitere Nebentätigkeiten der Bandmitglieder zu vermelden: Dirk schreibt weiterhin gelegentlich für Texte Zur Kunst und liest zudem zwei Texte vor von HP Lovecraft für ein Hörbuch. Jan gründet zusammen mit dem Blumfeld-Manager Oliver Frank den Müller + Frank-Musikverlag und kümmert sich u.a. um Ida Red, La Grande Illusion und Julia Hummer. Arne veröffentlicht unter dem Namen DJ Shirley beim Label Scheinselbstständig und als Arne Zank bei L’Age D’Or je eine EP. Und Rick schließlich spielt Tour-Keyboard bei Karl Bartos und arbeitet an seiner eigenen Band Glacier. Aus der Vergangenheit meldet sich hingegen eine Seven-Inch-Veröffentlichung mit Proberaumaufnahmen von Punkarsch, der präTocotronic-Band von Jan und Arne. 2005: Am 1. Januar werden Tocotronic das Neujahrskonzert in der Berliner Volksbühne spielen. Und schon am 17. Januar erscheint „Pure Vernunft Darf Niemals Siegen“, das neue Album von Tocotronic. Im August erscheint die Buch CD „ I CAN´T RELAX IN DEUTSCHLAND“ mit dem Track „Aber hier leben, nein danke!“ vom aktuellen Album. Hier setzt die Band ein Statement gegen Nationalisierungstendenzen in der Popkultur. PRESSESTIMMEN ZU „TOCOTRONIC“ „’Tocotronic’ ist, wie alle Alben der Band, vollkommen eigenperspektivisch. Nur eben, dass sich hier nichts mehr 1:1 objektivieren lässt, wie auf, sagen wir, den ersten drei Alben. Es ist eine größtenteils undurchdringliche Innenschau, die den Hörer aber durch cleveres Papierschnipselstreuen auf Fährten lockt, denen er gerne folgt.“ (Sascha Ziehn, Intro) „Wenn das Frühwerk der Tocos – mal ganz literaturgeschichtlich über zweihundert Jahre nach hinten gebolzt– Sturm und Drang war und die darauffolgende Platte ihre Klassik, sind sie nun – nach dem letzten Scharnieralbum „K.O.O.K:“ in der Romantik angekommen.“ (Linus Volkmann, Intro) „Verstehen wollen ist hier der falsche Ansatz.“ (Alexandra Brandt, Visions) „Aus hässlichen, lauten, schon mal schmutzigen und unschuldigen Entlein sind seelenruhig dahingleitende Schwäne geworden, blütenweiß – und verdorben.“ (Thomas Winkler, taz) „Tocotronic legen etwas Neues, Anderes vor, ein ungrölbares Alterswerk, das eingedreht und abgehoben soll, wer gern möchte. Den Herren noch etwas anzukreiden wäre eitel und kleinlich: Mit Tocotronic begann die Rockmusik deutscher Sprache.“ (Klaus Ungerer, FAS) „[sie] wirken wie drei nachdenkliche Philosophen, denen nichts Gutes schwant. Genauso klingen die neuen Lieder. Zwar sind die in ihrer märchenhaften Melancholie und der Art ihrer Sprache. Doch statt der Wutausbrüche über Tanztheater, Kinderbuchautoren und Gitarrenhändler beschreiben sie gruselig-skurrile Szenarien.“ (Jan Gritz, Young Miss) „Auf die Gegenwart bezogen, können wir vorerst davon ausgehen, dass die Messlatte für vergleichbare (deutschsprachige) Textarbeit, Musik und Darstellungsformen nun wieder ein beträchtliches Stück höher liegt.“ (Tobias Thomas, Spex) „Das, was sie jetzt machen, ist so alt wie neu: Rockmusik, die allerdings zunehmend erwachsen klingt. Nicht im Sinne eines stabilen Endzustands – das wäre langweilig -, sondern als vorübergehendes Produkt eines dynamischen, sich fortentwickelnden Prozesses. Musik, die sich selbst anstatt ihrer Musiker in den Mittelpunkt stellt. (…) Auf ihre Weise klingen sie heute so aufregend wie einige Helden der Popgeschichte, kurz bevor die wussten, dass sie Helden werden: Brian Wilson, Bryan Ferry, Paul Weller oder auch Jochen Distelmeyer.“ (Michael Hess, Szene Hamburg) „Das Ergebnis ist angenehm verstörend. Glatt, im guten Sinn, obwohl viel zusammenkommt: New-WaveSpirit, Synthie und Sampler, Falsettgesang, Plink-plonk, und, jaja, Van Halen-Gitarren.“ (Anja Rützel, Rolling Stone) „Wohlwollend darf festgestellt werden, dass diese Band auf dem Weg vom Altklugen zum Aufgeklärten nicht noch schluffiger geworden ist.“ (Oliver Götz, Musikexpress) „Zurückgelehnter Studenten-Pop mit Grips.“ (Playboy) „Auf (…) ‚Tocotronic’ geht es hinein in einen ‚Wald aus Zeichen’. Die Räume haben sich aufgefächert, ins Science-Fiction- und Fantasyhafte. Statt der Imbissbude heißt der neue Sehnsuchtsort nun ‚Mitte eines Zwischenreichs’ und ist ein ‚Dickicht als ein Dickicht, wo die Wege nur mehr Pfade’ seien. Die Musik auf ‚Tocotronic’ ist wie Wasser: Sie kommt von überall her, sammelt sich und fließt als ruhiger stolzer Strom weiter. Die Zuflüsse heißen zum Beispiel Bowie, Morrissey und Prefab Sprout. Sie vereinen sich zu einem Fluss namens Schönheit, der die notorische Kratzigkeit dieser Band komplett wegspült.“ (Oliver Fuchs / Axel Henrici, Süddeutsche Zeitung) „Jetzt heißt es: ‚Du strahlst heller als der hellste Stern’ oder ‚Auf der Erde und im All / Zerbrechen wir wie ein Kristall’. Ist es nicht das, wogegen Tocotronic einmal angetreten sind? Wo liegt wirklich der Unterschied zwischen Deutschrock-Poesie und diffusen metaphorischen Bildern wie ‚Die Wolke der Unwissenheit / wird für immer bei uns sein’?“ (peer, Wahrschauer) „Allenfalls Blumfeld haben einen ähnlich souveränen Umgang mit der eigen Plattensammlung erreicht. Und plötzlich ist man da, wo man einem Bowie auf die Schultern klopft: ‚Schatten werfen keine Schatten’ zitiert als Folie ‚Heroes’ – aus Bowies Helden sind Schatten geworden, Schatten von Tocotronic. Und Tocotronic selbst wiederum sind die Agenten, die uns von den Möglichkeiten ständiger Erweiterung berichten: Hier ist der Beweis. Und hier ist der seltene Fall einer Platte ohne Verfallsdatum.“ (Marcel Elsener / Kaspar Surber, St. Galler Tagblatt) „’Tocotronic’ ist eine Platte des Sichzurückziehens, eine Platte aber auch, die sich an die Grenzen der menschlichen Wahrnehmung begibt und diese selbst (wie auch sich selbst) zum Thema macht. Mit all den unzähligen Verweisen, von Pierre Bourdieu bis Edgar Wallace, von Dario Argento bis Marcel Duchamp, mit allen gedanklichen Endlosschleifen und dem Noten- und Sprachfluss hat man letztlich einen gigantischen Soundmonolithen vor sich, dessen Essenz ist, dass man nichts oder vielleicht doch ein wenig verstehen kann. Im Grunde ist das ein sattes Stück Dreistigkeit. Und es klingt verdammt gut.“ (Dominik Dusek / Thomas Kramer, Tagesanzeiger) „Die deutlichen Zitate von Lieblingssongs und –sounds aus den Siebzigern, Achtzigern, Neunzigern breiten dabei keine Referenz-Hölle aus, sondern stellen die Frage, wie man mit der eigenen musikalischen Biographie verfahren kann, ohne peinlich oder kitschig zu sein. ‚Tocotronic’ ist Pop, ist Optimismus, ist Gegenwart und handelt gleichzeitig ganz bewusst davon. Das schaffen die wenigsten.“ (Michael Kerkmann, NZZ) „Galt jahrelang die Prämisse, die Romantik zugunsten einer politisch motivierten Realitätsbeschreibung auszuspielen, scheint angesichts einer Realitätsabbildung, die nur ncoh Banalitäten hervorbringt, die Romantik wieder Hochkonjunktur zu haben. Eine Romantik, deren Versuch es ist, die Vielschichtigkeit der Postmoderne darzustellen.“ (Patricia Wedler, Wochenzeitung)