Wie Nabokov fügen Tocotronic mit Liebe zum Detail manchmal auch

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1993/ Anfang 1994: Bandgründung von Tocotronic (benannt nach einem Gameboy-Vorläufer) durch die
Hamburger Punkmusiker Jan Müller (Bass) und Arne Zank (Schlagzeug) - beide ex- Meine Eltern/
Punkarsch - und den aus dem Badischen zugezogenen Gitarristen und Sänger Dirk von Lowtzow. Erste
Auftritte in Hamburg führen dazu, dass in Hamburger Kneipen zunehmend der Name Tocotronic gewispert
wird. Junge Menschen finden eine Lieblingsband: der Enge-Werbe-T-Shirts-Trainingsjacken-Cordhosen-Stil
wird gewürdigt, die Höflichkeit der Ansagen bewundert. Tocotronic-Zeilen finden sich auf Häuserwände
gesprüht und in Schulbänke geritzt. Der Fanclub 'Megatronic' wird gegründet.
1994: Die erste Tocotronic-Single erscheint auf dem bandeigenen Rock-o-tronic-Label: Vier Lieder,
kompromisslos im Zwei-Spur-Verfahren im Proberaum aufgenommen, bei denen nicht stört, dass man die
Texte stellenweise nicht versteht, da die Lieder so viel Energie und Melancholie zugleich in sich tragen.
Jochen Distelmeyer von Blumfeld schnappt den Songtitel "Ich Möchte Teil Einer Jugendbewegung Sein"
von Tocotronic auf und baut ihn in den Song 'Sing Sing' ein. Dirk singt ihn auf Blumfelds LP. L`Age D`Or
übernimmt den Versand der Single und des Jugendbewegungs-T-Shirts. Erste Tourneen mit 5 Freunde und
Blumfeld folgen. Christoph Gurk stellt die Tocs in Spex vor, Fanzines bejubeln die Single.
1995: ”Digital ist besser”, ihre Debütplatte, auf die sich vor einem Jahr nahezu jeder einigen konnte, stellt
in seiner räudigen Unmittelbarkeit das wahrscheinlich beste Stück deutschsprachiger Popmusik ever dar.”
(Chelsea Chronicle 6/96)
Die in wenigen Wintertagen im Soundgarden-Studio aufgenommene erste LP/ CD erscheint bei L`Age D`Or
und setzt einen Meilenstein des Underground-Pop in Deutschland. Treibend punkiges Sloganeering
(Jugendbewegung, Masterplan, Digital Ist Besser) und vergrätzte Abgrenzung von deutscher Alltagskultur
(Freiburg, Samstag Ist Selbstmord, Hamburg rockt) treffen einen Nerv sowohl bei Pop-Intellektuellen, die
darin den Ausdruck einer neuen Generation sehen, als auch bei eben dieser Generation, jungen Menschen,
die sich mit Tocotronics Wut identifizieren können, aber auch bewegt sind von der leicht sentimentalen
Melancholie von ”Drüben Auf Dem Hügel”, ”Letztes Jahr Im Sommer”, oder dem wunderbaren ”Die Idee
Ist Gut, Doch Die Welt Noch Nicht Bereit”. Dass die Platte so trashig hingerotzt klingt und doch die
Melodien so eingängig sind, verstärkt den Eindruck, den sie macht. Und wem das nicht weird genug ist, der
hat ja noch die wirr-jaulend-sympathische Songvignetten von Schlagzeuger Arne.
Nach einer 14-tägigen ”Headline-Tour” (Powerline) im deutschsprachigen Raum und einigen Festivals im
Sommer erscheint nicht nur Arne Zanks Cassette "Die Mehrheit Will Das Nicht Hören, Arne"
(Eigenvertrieb), sondern zum Erstaunen aller Beobachter bereits im Juli das zweite (Mini-) Album der Tocs,
”Nach Der Verlorenen Zeit” auf L`Age D`Or/ RTD. Sie führt das Prinzip ”Platten machen wie Tagebuch
schreiben” ein, denn auf ihr reagieren Tocotronic in selbstreflexiven Statements auf die Rezeption der Band
('Ich Bin Neu In Der Hamburger Schule', 'Ich Muss Reden, Auch Wenn Ich Schweigen Muss', 'Es Ist Einfach
Rockmusik', 'Hauptsache Ist'). Andererseits sind da die berührenden persönlichen Stücke über Freundschaft,
wie 'Du Bist Ganz Schön Bedient', 'Gott Sei Dank Haben Wir Beide Uns Gehabt' und 'Ich Mag Dich Einfach
Nicht Mehr So', das ganz genau den Moment beschreibt, an dem Zuneigung in Langeweile übergeht. Danach
folgt das erste Gitarrensolo in der Toco-Geschichte.
Im August folgen fünf Auftritte mit Guided By Voices, u.a. bei der Popkomm; im November dann eine
achttägige Tour durch kleinere deutsche Städte, wobei es in Potsdam vor Begeisterung zu einer
Bühneninvasion kommt. Dazu erscheinen zwei 7"-Singles: "Du Bist Ganz Schön Bedient/ You Are Quite
Cool" beinhaltet die Hits 'Bedient' und 'Die Idee Ist Gut, Doch Die Welt Noch Nicht Bereit' in englischen
Übersetzungen zwischen Mittelstufenenglisch und kongenialer Übertragung pendeln (aus "Straciatella oder
Nuss" wird "Cujamara Split"). Die andere Single ist eine Konzeptplatte: Das Stück 'Freiburg' (plus drei
andere), von dem aus Freiburg weggezogenen Dirk geschrieben, live aufgenommen im Freiburger 'KTS
Vauban' und veröffentlicht vom Freiburger Label Ritchie Records.
1996: Die Leser der Zeitschrift Spex wählen Tocotronic zum besten Newcomer 1995 und zur drittbesten
Band überhaupt. Für die Hörer von Klaus Walters Radiosendung "Der Ball Ist Rund" auf HR 3 ist "Digital
Ist Besser" die Platte des Jahres. Erstes Radio-Airplay in den Niederlanden wird kaltblütig ausgenutzt, indem
eine Holland-Kurztournee organisiert wird. Mit Chokebore geht es dann auf Tour durch Süddeutschland,
Österreich und die Schweiz. Dazu erscheint in Zusammenarbeit von L`Age D`Or und Amphetamine Reptile
eine Tocotronic/ Chokebore-Splitsingle mit einer rockigeren neuen Version von "Gott Sei Dank Haben Wir
Beide Uns Gehabt".
“Einfach Rockmusik” ist das nicht mehr. Eher ein waghalsiger Selbstversuch, der auch mit der
erfolgsträchtigen Niedlichkeitsoffensive des Jungens-Trios ins Gericht geht. Das Sloganeering ist
zurückgeschraubt- wer die Band liebt, soll ihr auch an die Ufer schlammiger 8-Minuten-Stücke folgen.
Insofern also doch ein schülerhafter Schrei nach Gerechtigkeit, aber einer, der bewusst mit seinen
beschränkten, mittelständischen Mitteln hausieren gehen muss. ”Wir kommen um uns zu beschweren” ist ein
historischer Kompromiss.” (Taz, 2.4.96)
Die im Dezember im Hamburger Soundgarden-Studio von Christian Mevs und Carol von Rautenkranz
aufgenommene LP "Wir Kommen Um Uns Zu Beschweren" erscheint. Das bekannt und beliebt gewordene
tocotronische Soundspektrum wird ausformuliert und zugespitzt. Wenn man Punk-Pop-Songs spielen mag,
dann brauchen die auch nicht länger als zwei Minuten zu sein. Und wenn man so eine richtige RockSchwarte spielen will, dann müssen die Gitarren auch sieben Minuten Zeit haben, um Dinosaur-Soli
aufeinanderzuschaufeln. Auch in den Texten wird mächtig ausdifferenziert: Ein persönliches, trauriges Stück
wie "Ich Möchte Irgendwas Für Dich Sein" braucht nur zwei Zeilen Text; der mitlaufende Kommentar zur
Rezeption der Band wird wieder mitgeliefert ("Ich Werde Mich Nie Verändern", "Jetzt Geht Wieder Alles
Von Vorne Los"), Hass und Sloganeering nicht vergessen ("Ich Verabscheue Euch Wegen Eurer Kleinkunst
Zutiefst"), und mit "Ich Heirate Eine Familie" und "Schritte Auf Der Treppe" hat die Melancholie und
Unsicherheit des Erwachsenerwerdens ihren Platz. Die Klippe des dritten Albums, an der schon einige
Hamburger Hoffnungsträger zerschellten, wird sicher umfahren, dank der nonchalanten Herangehensweise
an das Musikmachen, die an US-College-Bands erinnert.
"Wir Kommen Um Uns Zu Beschweren" steigt in die Album-Charts ein und verbringt dort einige Wochen.
Die höchste Plazierung ist #47 am 30. April. Konzerte auf der zweiwöchigen Tournee müssen in größere
Hallen verlegt werden. Im Sommer folgen die üblichen Wochenendausflüge zu Festivals, sowie ein
Benefizauftritt für den in Berlin überfallenen Universal-Congress-Of-Gitarristen Joe Baiza. Unter der Woche
beginnen die Arbeiten an Songs für das vierte Album.
Im August eröffnen Tocotronic die Theatersaison in der Berliner Volksbühne. Das erste Konzert ist bereits
nach wenigen Stunden ausverkauft, so dass flugs ein Zusatzkonzert organisiert wird, bei dem auch keine
Plätze frei bleiben. Beim Bizarre-Festival in Köln sind die Tocs die umjubelten Stars des Nachmittages.
Mehr diskutiert wird allerdings an diesem Popkomm-Wochenende über einen anderen Auftritt von
Tocotronic: Bei der "Comet"-Preisverleihungsgala des Musikfernsehsenders Viva lehnen sie auf der Bühne
den ihnen zugedachten Award "Jung, deutsch und auf dem Weg nach oben" ab, nicht ohne sich vorher für
die Einladung zu bedanken. Die Begründung von Jan Müller: „Wir sind nicht stolz darauf, jung zu sein. Und
wir sind auch nicht stolz darauf, deutsch zu sein.“ Die Band hatte sich erst nach langen Diskussion im
Vorfeld zu diesem Vorgehen entschlossen, wobei es wichtig erschien, sich einerseits für die
Respektsbezeugung höflich erkenntlich zu zeigen, andererseits aber die Ablehnung des Einsortiertwerdens in
Kategorien wie "jung" und "deutsch" deutlich abzulehnen. Und außerdem wollte Jan unbedingt seine Helden
Kiss sehen, die dort auftraten.
Abgeschlossen wird das ereignisreiche Jahr mit einer Tour durch kleinere deutsche Städte – mit etwas
unangenehmen Begleitumständen: Jan wird krank und tritt mit Fieber auf, dazu schlägt das schlechte Wetter
auf die Stimmung ("Einmal waren wir fast eingeschneit.")
1997: Das neue Jahr läuten die Tocs mit einem Auftritt bei dem von L'Age D'Or mitveranstalteten Rock &
Rave-Festival in der Hamburger Markthalle ein. In den Leserpolls der Musikzeitschriften sind Tocotronic
auch diesmal gut plaziert: Die Leser von Spex wählen sie zur viertbesten Band und zur drittbesten Show. Im
Rolling Stone landen sie auf Platz 6 in der Kategorie "Beste Band-National" und aus den monatlichen
Lesercharts von Visions und Intro sind die Tocs kaum wegzudenken.
Im Februar reisen Tocotronic nach Frankreich, um im Blackbox-Studio von Iain Burgess ihre vierte LP "Es
Ist Egal, Aber..." aufzunehmen. Produzent ist diesmal Hans Platzgumer, der auch die Streicherarrangements
für die Platte geschrieben hat. Toningenieur ist Peter Deimel, der "Stag" von den Melvins für die
bestproduzierte Platte ever hält. Die Vorabsingle "Sie Wollen Uns Erzählen" erscheint im Juni und steigt
kurz darauf in deutschen Singlecharts ein. Das Video dazu dokumentiert einen Ausflug in den Wildpark
“Schwarze Berge”, passend zu den drei Enten auf dem Albumcover. Schon im Herbst stellt die Hamburger
Country-oder-sowas-Band Fink eine Coverversion des Songs vor.
„Wie Nabokov fügen Tocotronic mit Liebe zum Detail manchmal auch scheinbar Unzusammenhängendes
aneinander, brechen abrupt ab. Und wie Nabokov und dessen berühmtester Schüler, Thomas Pynchon,
entwickeln auch Tocotronic langsam, aber stetig einen Hang zu einigermaßen absurden Phantasien.“
(Jochen Bonz, Intro)
„Es ist egal, aber“ heißt das neue Werk, wobei besonders das Komma zu beachten ist. Es markiert das
spezifische Einerseits-Andererseits in der Tocotronischen Weltbetrachtungs-Poesie. Jugendliches
Aufbegehren, das sofort wieder umschlägt in altkluges Achselzucken. So ist das mit dem Erwachsenwerden.
(Christian Schröder, Der Tagesspiegel)
"Es Ist Egal, Aber..." erscheint im Juli. Wandel und Weiterentwicklung sind der Platte anzuhören, obgleich
sie noch immer eindeutig nach Tocotronic klingt. Doch in den Texten wird Abstand genommen von der
“Ich”-Litanei früherer Platten, das ”Du” kommt stärker zu seinem Recht. Die Songs sprechen von
Entfremdung, von sich voneinander entfernenden Menschen, von der Sehnsucht nach Freundschaft. Im
Songwriting sind gesungene und instrumentale Teile stärker ineinander verwoben, der Aufbau der Songs
folgt einer Dramaturgie, die in enger Korrespondenz zum Text steht. Der Einsatz von Streichern ist das
augenfälligste Ergebnis der Zusammenarbeit mit Hans Platzgumer. Dirks Gesang ist ausgefeilter denn je, in
der Melodiesetzung, wie in der Phrasierung, wie auch in der Aufnahme. “Es Ist Egal, Aber...” ist der
Abschied von den einfachen musikalischen Laut-Leise-Lösung; Tocotronic verfeinern den Umgang mit ihren
musikalischen Mitteln - manche sprechen da gern von Reife.
“Es Ist Egal, Aber” tritt einen erfolgreichen Weg in die Hitparaden an und erreicht Platz 13 in den deutschen
und Platz 21 in den österreichischen Albumcharts.
Auch in diesem Sommer spielen Tocotronic auf diversen Festivals, u.a. bei dem berühmten Openair im
dänischen Roskilde. Im Herbst folgt die große Tournee durch das Verbreitungsgebiet der deutschen Sprache
- so lange am Stück wie noch nie zuvor. Das hat die von vielen Bands gefürchteten Auswirkungen der
Routine: “Ich hatte das Gefühl, wir funktionieren auf Knopfdruck”, erinnert sich Dirk und meint das
durchaus auch wörtlich: Der Entschluss reift, den Verzerrer zukünftig wegzulassen. Eventueller Überdruss
wurde aber gemindert durch eine weitere Freundschaft zu einer amerikanischen Band: Fuck. Ein Ergebnis
davon ist die Coverversion von “Alles Was Ich Will Ist Nichts Mit Euch Zu Tun Haben” auf dem FuckAlbum “Conduct”; ein anderes die Gegeneinladung an Tocotronic zu einer USA-Tournee. Die zweite Hälfte
der Herbst-Tour spielten die Schweizer Lado-Kollegen Die Aeronauten mit. Zur Tour erscheint mit der
Herbst-Hymne und Neil-Young-Hommage “Dieses Jahr” eine zweite Single aus dem Album.
Zum Jahresende gibt es eine ungewöhnlich lange Probepause von drei Monaten, unterbrochen nur von einem
Benefiz für den Golden Pudel Club. Jan und Arne nutzen die Zeit, um das Rock-o-Tronic-Label
wiederzubeleben: Sie produzieren das Debüt der jungen Grungeband Jonas aus Bad Bentheim, das
schließlich an L’Age D’Or lizensiert wird. Arne dreht außerdem einen Filzlegetrickfilm, Dirk schreibt die
Musik für einen ungarischen Spielfilm.
1998: Die Leserpolls der Musikzeitschriften belohnen das Schaffen von Tocotronic erneut mit guten
Plazierungen: Im Visions belegen sie in der Kategorie “Beste Band” Platz 9, in “Bestes Konzert” Platz 3,
und “Es Ist Egal, Aber” ist Nummer 6 bei den Alben des Jahres. Auch für die Leser von Spex sind
Tocotronic die neuntbeste Band, das Album erreicht Platz 16 und das Video zu “Dieses Jahr” Platz 9 bei den
Clips. Die Leser des Rolling Stone wählen “Es Ist Egal, Aber” auf 25 bei den Alben und “Sie Wollen Uns
Erzählen” auf 26. Und im Intro gibt es Platz 2 bei den Bands, 3 bei den Live-Acts, 6 bei den Alben
Tocotronic kehren zurück in den Übungsraum und proben im Sitzen. Neue Stücke entstehen, zunächst mit
dem Plan, eine sehr ruhige Platte zu machen, die durch längere Texte unaufdringlicher wirken soll, deren Ich
ein eindeutig lyrisches und kein autobiografisches sein soll. Doch Cornershops Zwei-Akkorde-Hit „Brimful
Of Asha“ bringt die Band von der durchgängigen Ruhe ab, auch Stücke wie „Let There Be Rock“ sind
erlaubt.
Im März wird die Gegeneinladung von Fuck angenommen: Tocotronic gehen mit ihnen auf US-Tour. Und
zwar nicht durch Goethe-Institutssäle, sondern durch ganz normale Rockclubs in Städten wie Chicago,
Detroit, Philadelphia, Washington oder New York, wo bei am Abschlusskonzert mit Come als zusätzlicher
Band Indie-Rock-Prominenz von Pavement und Sonic Youth gratulieren kommt. Zur Tour erscheint nicht
nur ein Song auf einer CD des US-Fanzines „Bunny Hop“, sondern auch ein Best-of-Album für den
internationalen Markt mit dem Titel „The Hamburg Years“.
Bei den Sommerfestivals wird die Bekanntschaft mit Micha Acher von Notwist intensiviert, der den Auftrag
bekommt, Streicher- und Bläserarrangements vorzubereiten. Tocotronic selbst fahren im Herbst wieder ins
Black Box-Studio in Frankreich. Diesmal darf aber auch Carol von Rautenkranz als Produzent des fünften
Albums mitkommen, allerdings unter einer Bedingung: Er muss sein Handy zuhause lassen. Vierwöchige
Aufnahmen mit dem bewährten Tontechniker und Ko-Produzenten Peter Deimel folgen. Dirk, Jan und Arne
lassen sich Vollbärte wachsen, die aber zurück in Hamburg alle schnell (Arne weniger schnell) wieder
abrasieren. Im November/Dezember folgen zusätzliche Aufnahmen in Weilheim (Bläser und Streicher,
arrangiert von Micha Acher, im Uphon-Studio) und Hamburg (Keyboards mit Stellas Thies Mynther und
Overdubs im Soundgarden-Studio) – insgesamt dauern die Aufnahmen 70 Tage, ein klarer Rekord für
Tocotronic.
Anfang 1999: Huch, keine Pollergebnisse! Erstmals seit „Digital ist besser“ ist ein Jahr ohne neues
Tocotronic-Album vergangen. Doch das nächste wird schon im Soundgarden abgemischt und bekommt den
Namen „K.O.O.K.“ – Jan findet derweil Zeit, das zweite Album von Jonas für Rock-o-Tronic zu
produzieren. Die Band probiert die neuen Stücke auch auf der Bühne aus, bei einzelnen Konzerten in
Kopenhagen, Amsterdam, Wien und Belgien (dort mit To Rococo Rot, was sich natürlich auf den Plakaten
sehr gut macht).
Mai/Juni 1999: Nun kehren Tocotronic auch auf deutsche Konzertbühnen zurück – und zwar mit sehr
kontrastreichen Auftritten: Bei Rock im Park/ am Ring (nachmittags auf der großen Bühne), einem AntifaFestival in Greifswald, sowie mit ihrer eigenen Theater-Tournee. Der Hintergrund ist, dass der Band die
Konzerte in der Berliner Volksbühne immer großen Spaß machten. Außerdem sollen ja diesmal überwiegend
Stücke zur Aufführung gelangen, die das Publikum noch nicht kennt – die Theatersitze sollen zum
entspannten Zuhören einladen. Der Erfolg der Auftritte steht und fällt etwas mit der Atmosphäre der Theater,
besonders die Volksbühne und Hamburgs Schauspielhaus wissen zu gefallen. Im Sendesaal des ORF in
Wien kommt es zu amüsanten Schwierigkeiten der Rundfunktechniker mit der Klangübertragung: Immer
neue Mikrofone werden vor Dirk aufgebaut.
Wie erhofft, kommt bei den Theaterkonzerten das neue Lied „Let There Be Rock“ besonders gut an, denn es
wird auch die Vorabsingle zu „K.O.O.K.“ und steigt im Juni auf Platz 38 in die deutschen Singlecharts ein.
„Let There Be Rock“ löst sofort hitzige Debatten aus, wegen des in Gibraltar gedrehten Videos, der AC/DCHommage im Titel, vor allem aber weil die Keyboard-Fanfare aus „Final Countdown“ von Europe zitiert
wird.
Juli/August 1999: „K.O.O.K.“ erscheint. Tocotronic hatten einen langen Nachdenkprozess an den Anfang
der Arbeit an diesem Album gestellt. Das Ergebnis: Keine Hass-Lieder mehr, kein Punk-Pop, nicht mehr
Identifikations-Dienstleister sein. Die Sprache der Songtexte ist bildhafter, verrätselter, weniger direkt, aber
dafür bleibend schöner. Und trotzdem kommen dabei Zeilen und Titel heraus, die sich in Alltagssituationen
der Hörer einmischen: „Wir sind raus, und wir sind stolz darauf“, „Das haben sich die Jugendlichen selbst
aufgebaut“, „Das Unglück muss zurückgeschlagen werden“. Die überwiegende Zahl der Lieder ist im
Midtempo gehalten, ihre Länge lässt viel Platz für Streicher-, Bläser-, Synthesizer-Arrangements. Letztes
Mal fiel das Wort „reif“, diesmal fällt das Wort „erwachsen“. Mancher Stagediver mag enttäuscht sein,
andere entdecken erstmals, dass Tocotronic eine Band ist, die ihnen etwas in ihrem Leben sagen kann.
Greil Marcus hat vor zehn Jahren über den ebenso unerwarteten wie totalen Erfolg Nirvanas sinngemäß
geschrieben, dass eine ganze Nation wie gelähmt auf genau den Sound dieser Gruppe gewartet hätte und ihn
annahm wie eine Erlösung: Dies könnte in einem besseren Deutschland auch für „K.O.O.K.“ gelten,
Tocotronics fünfte CD. (...) In einer letzten Kraftanstrengung wird ein überlebensgroßer Gitarrensound
aufgebaut, der aufräumen soll mit Mittelmaß, mit der eigenen Epigonalität von gestern, mit der
erbärmlichen Sprache, in der heute in Deutschland gern gerappt und gesungen wird. (...) Eine bessere CD
mit Gitarren drauf wird heuer nicht mehr gemacht. (Karl Bruckmaier, Süddeutsche Zeitung)
Dirk, Arne und Jan aus Hamburg haben eine Gabe, und sie besteht darin, einfach irgendwie unzufrieden zu
sein. Und zwar so unzufrieden, dass wir, die Hörer, es gerne auch sind. (...) „K.O.O.K.“ ist nicht nur das
ernsthafteste Album, sondern auch das beste, das Tocotronic seit ihrem Debüt „Digital Ist Besser“ gemacht
haben. Das Glück der drei Akkorde haben sie längst gegen eine komplexere Gefühlswelt aus Nuancen und
feinen Klangabstufungen eingetauscht. (Marc Deckert, Jetzt)
Das Album steigt auf einem hervorragenden 7. Platz in die deutschen Charts ein und hält sich fünf Wochen
unter den Top 50. In Österreich ist es sogar noch eine Woche länger, die höchste Position ist Platz 18.
Parallel sind Tocotronic auch in diesem Sommer wieder auf Festivals unterwegs, kreuz und quer von
Losheim bis Puch, von Haldern bis Wiesen, von Erfurt bis zum Bizarre in Köln. Zwischendurch spielen sie
auf einem LKW-Anhänger, um gegen einen Nazi-Aufmarsch in Hamburg zu mobilisieren. Oder entern als
Alsterpiraten das Vorprogramm eines Konzerts von Tomte in Hildesheim.
Oktober/November 1999: Tomtes Sänger und Gitarrist Thees Uhlmann begleitet Tocotronic auf ihrer
Tournee als Gitarrenroadie – und als Chronist: Sein Tourtagebuch wird zunächst auf der offiziellen Website
von Tocotronic (www.tocotronic.de) veröffentlicht und erscheint später im Ventil-Verlag in Buchform, unter
dem Titel „Wir könnten Freunde werden“. Das Buch gibt einen anekdotenreichen und herrlich distanzlosen
Einblick in das Tourleben von den nun meist ganz in schwarz gekleideten Tocs, besonders während der aus
zwei 14-tägigen Blöcken bestehenden Herbsttour 1999. Im Vorprogramm spielen in der ersten Tourhälfte die
Finnen And The Lefthanded, in der zweiten die Kanadier Weakerthans. Dirk erinnert sich an eine „sehr gute
Stimmung“, die unterwegs herrschte; die Atmosphäre sei sehr angenehm gewesen, ein Verdienst auch von
Tourmanager Michael Bugmann. Nach dem ersten von zwei Konzerten im Wiener Planet Music eilt Dirk
noch ins Flex, um dort für ein Lied mit der Berliner Band Britta auf der Bühne zu stehen.
Ende November schafft es auch die zweite Single aus „K.O.O.K.“ in die deutschen Singlecharts (wenn auch
nur gerade so): „Jackpot“ überrascht mit Remixen von den Kölner Kompakt-Leuten Tobias Thomas & Olaf
Dettinger und von Fischmob & Erobique. Ein Vorgriff auf das kommende Remixalbum, für das Jan und
Arne bereits Kontakte knüpfen.
Am Ende des Jahres läuft der Plattenvertrag mit Motor Music aus. Die Band vergleicht zusammen mit L’Age
D’Ors Carol von Rautenkranz die Angebote und unterschreibt schließlich bei Zomba.
Anfang 2000: In diesem Jahr sind Tocotronic zurück in den Zeitschriftenpolls: Das Album „K.O.O.K.“
schafft es bei den Lesern von Spex auf Platz 3, vom Rolling Stone auf 11 und vom Visions auf 18. Für die
Kritiker des Rolling Stone ist es das zehntbeste Album, bei den Kritikern des Musikexpress gibt es Platz 26.
Die Spex-Kritiker wählen die Single „Let There Be Rock“ auf Rang 11 ihrer Endabrechnung, bei den SpexLesern ist es sogar die Nummer 4, für die Musikexpress-Leser die 10.
Dirk tritt im Februar zusammen mit dem Wiener DJ DSL am Vorabend einer der regelmäßigen
Donnerstagsdemos auf, die zum Protest gegen die Regierungsbeteiligung von Jörg Haiders FPÖ durch
Österreichs Hauptstadt ziehen. Einen Monat später fliegt die ganze Band in die USA, spielt dort eine
Radiosession für ein Chicagoer Collegeradio, beim South-By-Southwest-Festival in Austin, sowie im
Brownies im New Yorker East Village (zusammen mit Stella). Aus Anlass dieser Amerikareise wird
„K.O.O.K.“ in einer Version mit ins Englische übersetzten Texten veröffentlicht. Tocotronic-Platten werden
in den USA von Triage vertrieben. Der holländische Vertrieb ist Konkurrent, und in Holland spielen
Tocotronic dann auch im April, seltsamerweise auf einem Festival namens „London Calling“ im
Amsterdamer Paradiso. In Paris entsteht das Video zur Vorabsingle aus dem Remixalbum, „Freiburg Version
3.0“, in dem der Interpretenname Tocotronic vs. Console verkörpert wird: Die drei Tocs kämpfen in
Superheldenkostümen gegen den Bösewicht Console. „Es war wahnsinnig anstrengend“, schnauft Dirk noch
in der Erinnerung. Martin Gretschmann alias Console nahm eine Neufassung des Tocotronic-Klassikers
„Freiburg“ auf, im Stile seines Hits „14 Zero Zero“ mit englischem Computergesang.
Sommer/Herbst 2000: Ende Juli erscheint bei L’Age D’Or/Zomba das Album „KOOK Variationen“.
Angeregt vom wachsenden persönlichen Interesse an elektronischer Musik, haben Tocotronic das Projekt in
Angriff genommen. „Gerade nach der langen Arbeit an ‚K.O.O.K.‘ waren wir neugierig darauf, was andere
daraus machen“, erinnert sich Jan. Teilweise fragten Elektroniker von selbst an, teilweise fragten Tocotronic
persönliche Bekannte, teilweise wurden Kontakte über Lado hergestellt. Die Auswahl der Tracks
übernahmen hauptsächlich Jan und Arne. Sie sorgten für ein breites Stilspektrum, von BeinaheCoverversionen (Dakar & Grinser, Justus Köhncke) über eher klassische Remixe (Thomas & Dettinger,
Egoexpress, Turner) bis hin zu radikaleren Verfremdungen (Funkstörung, Fever) – und da ist DJ DSLs
erstaunliche Bar-Version von „Let There Be Rock“ noch gar nicht erwähnt.
Den typischen Problemen von Remixalben zum Trotz (nie wird jemand alle Versionen gleich gut finden),
finden die „KOOK Variationen“ ein überwiegend positives Echo und steigen auch auf Platz 82 in die
deutschen Albumcharts ein.
Den Rest des Jahres gibt es nur noch vereinzelte Live-Auftritte – zum einen Benefiz-Konzerte wie in der
Roten Flora für die Jungle World oder in Magdeburg gegen rassistische Gewalt; zum anderen bei Festivals
wie etwa dem „20 Jahre Spex“-Abend zur Eröffnung der Popkomm, bei dem Rick McPhail sein Debüt als
Tourkeyboarder gibt. Rick ist ein langjähriger Freund von Dirk, stammt ursprünglich aus den USA, lebt aber
schon lange in Deutschland und spielt in der Band Venus Vegas, die zuletzt eine EP namens „Gold“ bei
Fanboy Records/EFA veröffentlicht haben. Und Tomte haben ihm schon 2000 ein Lied gewidmet, den „Rick
McPhail Song“. Mit Rick können die ausgefeilteren Arrangements der neueren Platten live besser umgesetzt
werden; bei Studioaufnahmen ist er aber nicht dabei.
Ins Studio nistet sich die Band ab August ein – dem Electric Avenue von Tobias Levin, zum Proben von
neuen Songs, die diesmal gleich im Studio entwickelt werden sollten.
2001: In den Polls ist diesmal hauptsächlich die „Freiburg“-Version von Console platziert – bei Spex sind
sich Leser (Platz 3) und Kritiker (Platz 5) fast einig. Die Redakteure der BR-Radiosendung „Zündfunk“
wählen die Single auf Platz 8 ihres Jahresrückblicks. Und für die Hörer von „Der Ball ist rund“ im HR ist
„Freiburg“ die Nummer 8 und Justus Köhnckes Version „Tomorrow Will Be Like Today“ sogar die
Nummer 6 unter den Singles des Jahres.
2001 machen sich Tocotronic in der Öffentlichkeit rar. Kein einziger Liveauftritt in Vollbesetzung, nur bei
vereinzelten, mehr oder weniger unangekündigten Soloauftritten von Dirk sind schon die neuen Lieder zu
hören, deren Aufnahme die Hauptbeschäftigung des Jahres ist. Nach den Proben finden von Mai bis
Dezember auch die Aufnahmen im Hamburger Electric-Avenue-Studio statt; Produzent ist Tobias Levin (der
mit Cpt. Kirk & u.a. für das großartige Album „Reformhölle“ verantwortlich war), Engineer Thomas
Maringer. Es sind die bisher aufwändigsten Tocotronic-Aufnahmen, wie ja schon aus ihrer Länge ersichtlich
wird.
Neben den Aufnahmen bleibt den Bandmitgliedern aber noch Zeit für verschiedene Nebenaktivitäten. Dirk
bringt gemeinsam mit Thies Mynther (Stella, Superpunk) unter dem Namen Phantom/Ghost ein Album mit
elektronischer Popmusik bei Ladomat heraus. Phantom/Ghost treten auch in Clubs auf, z.B. auf der
Operation-Pudel-Tour, dem Viva-Zwei-Abschied, zwei Spex-Datapop-Abenden und der IntroJubiläumsfeier. Dabei genießt Dirk, die Hände frei zu haben und wirft sich in Discodiva-Posen. Right Said
Freds „You’re My Mate“ ist der regelmäßige Abschluss.
Daneben ist Dirk auch journalistisch tätig: Schon seit 1999 schreibt er Ausstellungskritiken für „Texte zur
Kunst“, wo auch ein Interview mit dem italienischen Horrorfilmregisseur Dario Argento erscheint, das
wiederum die Basis bildet für einen Vortrag an der Hamburger Kunsthochschule im Rahmen der
Gastprofessur von Cosima von Bonin. Ein Interview mit dem Science-Fiction-Künstler Chris Foss (von dem
auch das Cover-Motiv für „K.O.O.K.“ stammt) erscheint in dem Suhrkamp-Band „Sound Signatures“,
herausgegeben von Jochen Bonz. Und schließlich inszeniert Angela Richter beim Theaterfestival „Dramatik
01“ in Hannover das Stück „Alles wird in Flammen stehen“, das aus Songtexten und Interviewaussagen von
Dirk besteht, sowie aus übersetzten Interviewaussagen von skandinavischen Satanistenbands.
Jan gründet Das Bierbeben, zusammen mit Rasmus Engler, dem Schlagzeuger der Band Gary. „Eine
Liebhabersache“, sagt Jan selber dazu. Anfang 2002 erscheint bei Rock-o-Tronic die 7“-Single „Die Birne
Ist Reif“ mit Coverversionen der Deutsch-Punkbands OHL, Junge Front und Schleimkeim, sowie dem
Titelsong, einer Eigenkomposition. Ziel war im Design eine möglichst originalgetreue Nachahmung der
Covergestaltung des Rock-o-Rama-Labels zu erreichen. Die unfreundlichen Texte werden von freundlichen
Frauenstimmen gesungen – man darf vielleicht Art-Punk dazu sagen. Zuvor hatte Rock-o-Tronic bereits
2000 das Album „Die Schleife“ vom Rudolf Brauer Sextett veröffentlicht.
Im Zeichen von Jans Punkvergangenheit steht auch sein Auftritt in dem Dokumentarfilm „So jung kommen
wir nicht mehr zusammen“. Die Regisseurin Vera Vogt spürt darin den Lebensläufen von vier früheren
Freunden aus Hamburger Punktagen nach – und einer davon ist eben auch Jan.
Arne produziert weiterhin zuhause am Computer Musik – elektronische Instrumentals, von denen das Stück
„Sweet Bird Of Youth“ auf der Ladomat-Jubiläumscompilation „Ladomat 100“ erscheint. Sein Comicstrip
„Die Vögel“, der seit 1997 in der Kölner StadtRevue erschien, endet im November. Dafür ist Arne seit dem
Herbst an der Programmgestaltung der Hamburger Off-Galerie Hinterconti beteiligt.
Seltsames geschieht derweil auf der Stil-Seite der FAZ: Der Redakteur Klaus Ungerer wählt für
Artikelüberschriften regelmäßig Tocotronic-Textzeilen aus. Die Band ist zwar geschmeichelt, aber die ganze
Sache ist den Tocs auch etwas peinlich.
Anfang 2002: Für die Poll-Ausbeute ist in diesem Jahr Phantom/Ghost alleine zuständig: Die Single
„Perfect Lovers“ kam auf Platz 9 der Intro-Kritikerliste und auf 39 im Spex-Leserpoll. Die Spex-Kritiker
wählten das Album auf Rang 40. Den Vogel schossen aber wieder die Radiohörer von „Der Ball ist rund“ ab:
Platz 6 fürs Album und Platz 5 für den Song „Phantoms & Ghosts“!
Im Soundgarden-Studio wird derweil das neue Tocotronic-Album abgemischt von Mikael Illbert, der schon
für Roxette gearbeitet hat, aber trotzdem ein Netter sein soll. Auch ein Titel wird gefunden – nach etwas
Hinundher heißt die Platte einfach „Tocotronic“.
Mai/ Juni 2002: Die Single „This Boy Is Tocotronic“ erscheint. Das Video dazu wurde im Schloss
Blomenburg bei Kiel gedreht und erzählt eine Dornröschen-Geschichte im Stil tschechischer Märchenfilme.
Der Song ist, wie schon „Let There Be Rock“, eindeutig als Single konzipiert und zitiert u.a. Technotronic
und Sisters Of Mercy. „Excellent icy electro-guitar-clash-pop“, schreibt der NME, „a meeting of movements
that comes good (…), landing somewhere between Grandaddy and New Order.“ Der Charteinstieg folgt
bald, in Deutschland auf 48, in Österreich auf 51. Und darauf wiederum folgt der erste Auftritt bei „Top Of
The Pops“ in der Bandgeschichte von Tocotronic – angekündigt von Alex Christensen, behält nur Dirk seine
angestammte Rolle (trägt dafür aber Anzug), die restliche Besetzung ist: Jan am Keyboard, Arne an der
Gitarre, Rick am Schlagzeug.
„This Boy is Tocotronic“ ist aber nur eine unvollständige (um nicht zu sagen: irreführende) Vorbereitung auf
das, was die Hörer mit dem Album „Tocotronic“ erwartet. Ganz in weiß gehalten, mit den allzu nahe
liegenden Beatles-Verweisen spielend, ist „Tocotronic“ das mit Abstand musikalischste, produzierteste,
durcharrangierteste Album der bisherigen Bandgeschichte – dank der langwierigen, „workshop-artigen“
(Dirk) Arbeit mit Produzent Tobias Levin in dessen Electric-Avenue-Studio. Die gewohnten Indie-RockSoundwelten existieren nur noch als Ahnung, stattdessen fallen Roxy Music, David Bowie, The Smiths als
häufigste Vergleiche. Es ist Popmusik, sanft, melodisch, optimistisch – und doch als Tocotronic-Platte
erkennbar. Dazu haben sich Dirks Texte wieder verändert: Weiter weg von den genau benennbaren
Alltagsorten, sollen sie bewusst offen sein für Interpretationen, die auch kommen und von Fantasy ebenso
sprechen wie von Globalisierungskritik, von Märchenhaftigkeit ebenso wie von Intellektualismus, von
Science Fiction wie von Poesie. Das abschließende „Neues vom Trickser“ gibt dann auch den Schlüssel zur
offenen Interpretation: „Eines ist doch sicher: Eins zu eins ist jetzt vorbei.“ Aus der
Identifikationsmaschinerie haben sich Tocotronic befreit – zum Glück ist Schönheit an die Stelle getreten.
Vielleicht seit „Digital Ist Besser“ wurde jedenfalls kein Tocotronic-Album mehr mit derart einhelliger
Begeisterung aufgenommen.
Das gilt für die veröffentlichte Meinung (Spex brachte die Band nicht nur aufs Cover, sondern druckte sogar
gleich drei unterschiedliche Titelseiten), aber, wenn man den Chartsplatzierungen glauben darf, auch fürs
Publikum: „Tocotronic“ steigt auf Platz 5 in die deutschen Albumcharts ein, in Österreich ist es Platz 6 –
jeweils die bisher höchsten erreichten Plätze. Die Live-Umsetzung der für Tocotronic-Verhältnisse ja sehr
komplexen Platte lässt sich zunächst etwas kompliziert an – auch in Viererbesetzung. Dass „Rock am Ring“
gleich der erste Auftritt ist, macht die Dinge nicht leichter – doch von Festival zu Festival wird es besser, und
bei der fast schon traditionellen Zweimal-zwei-Wochen-Tour im Herbst läuft es dann rund (im
Vorprogramm übrigens Turner).
Herbst/Winter 2002: Als zweite Single wird aus „Tocotronic“ das Stück „Hi Freaks“ ausgekoppelt,
erhältlich in zwei Versionen: Zum einen mit Coverversionen von Fuck, Minutemen und Turbonegro, zum
anderen mit Remixen von Tobias Levin, DJ Rabauke, Superpitcher, Martini Brös und Alexander Polzin –
auch wenn es also diesmal keine „Variationen“-Platte gibt, bleiben Tocotronic elektronischen Musiken
gegenüber aufgeschlossen. Auch „Hi Freaks“ schafft es in die Charts, nämlich auf Platz 77 – trotz oder
wegen des Videos? Dabei handelt es sich nämlich um eine Art Ballett-Clip, gedreht in den Hamburger
Kammerspielen.
Die Jahresendauswertungen der Musikzeitschriften fallen diesmal sehr erfolgreich aus für Tocotronic. In der
Spex schafft es „Tocotronic“ auf Platz 2 der Leser und Platz 7 der Kritiker, bei den Lieblingssingles der
Leser schaffen „Hi Freaks“ und „This Boy Is Tocotronic“ sogar den Doppelschlag auf 1 und 2. Beim Intro
wählen die Kritiker das Album auf Platz 1, die Leser auf die 4. „Hi Freaks“ ist die 3 bei den Autoren-Singles,
bei den Lesern die 4. Für die Kritiker des Musikexpress ist „Tocotronic“ das zehntbeste Album 2002, für die
des Rolling Stone sogar das zweitbeste.
2003: Im Januar werden Tocotronic für den Echo in der Kategorie „Künstler/in/Gruppe National
Alternative“ nominiert, doch müssen weder Dankes- noch Ablehnungsreden erdacht werden. In Hamburg ist
derweil die Räumung des Bauwagenplatzes Bambule durch den rechten Innensenator Schill ein großes
Thema – Tocotronic spielen unter dem Motto "Regierung stürzen - Let the music play!" ein Benefiz in der
Roten Flora, die Zuschauerschlange zieht sich durchs halbe Schanzenviertel. Im Frühjahr gibt es einen
Festivalausflug zum Primavera Sound in Spanien. Ansonsten ist es für Tocotronic ein eher geruhsames Jahr:
ein Auftritt in Dänemark, vereinzelte Festivals in Österreich, der Schweiz und Deutschland (u.a. springen
Tocotronic kurzfristig auf der großen Bühne des Hurricane ein).
Im Dezember jährt sich zum zehnten Mal die Bandgründung von Tocotronic – zum Jubiläum erscheint „10th
Anniversary“, zum einen eine CD mit B-Seiten und Raritäten, die sich über die Jahre angesammelt haben,
zum anderen eine DVD, auf der nicht nur alle Videoclips der Bandgeschichte zu sehen sind, sondern auch
Tour-und Studio-Dokumentationen. In einigen großen Interviews lassen Tocotronic die Jahre Revue
passieren.
Ansonsten ist durchaus Zeit für Nebenaktivitäten: Dirk bringt zusammen mit Thies Mynther das zweite
Phantom/Ghost-Album „To Damascus“ beim Label Mute heraus. Das Bierbeben veröffentlicht derweil drei
Maxis und das Album „No Future No Past“ für Shitkatapult. Arne bestreitet auf der Jubiläumstour von
L’Age D’Or einige Soloauftritte.
2004: Waren Tocotronic beim letzten Mal ohne fertige Songs ins Studio gegangen, um sie im
Produktionsprozess entstehen zu lassen, findet diesmal die Hauptarbeit wieder im Proberaum statt – und
zwar zu viert: Rick McPhail wird offizielles Bandmitglied von Tocotronic. Die dort entstehenden neuen
Songs bekommen ihre Livepremiere in eher exotisch wirkendem Zusammenhang: Tocotronic spielen auf
Einladung des Goethe-Instituts vier Konzerte in Sibirien. Zehn Tage dauert die Reise, die Jan als „extrem
interessant und von den Publikumsreaktion her toll“ bezeichnet.
Danach gehen Tocotronic ins Berlin-Kreuzberger Mamasweed-Studio, um mit Produzent Moses Schneider
in nur neun Tagen die meisten Songs des neuen Albums einzuspielen. Zusätzliche Aufnahmen finden im
Mushroom- (Berlin) und Soundgarden-Studio (Hamburg) statt. Nach dem langwierigen Werkeln an
„Tocotronic“ wird diesmal „live und ohne Kopfhörer“ eingespielt – mit Rick an der zweiten Gitarre, ein
deutlich hörbares neues Element im Bandsound. Abgemischt wird das Ganze erneut von Michael Ilbert,
diesmal im Puk-Studio in Dänemark.
Die Umstände der Popkultur in Deutschland machen ein Debattenstatement von Tocotronic nötig: „Sehr
geehrte Damen und Herren, wie schon an anderer Stelle vermerkt, lehnen wir, die Gruppe Tocotronic,
Nationalismus, Deutschtümelei und Heimatduseligkeit seit Anbeginn aller Zeiten ab. Umso erstaunter sind
wir nun, dass schon zum zweiten Mal in unsrer bewegten Karriere der Versuch unternommen wird, deutsche
Musik zu nationalisieren und eine Quote für hiesige Produktionen im Rundfunk einzurichten. Gerechtfertigt
wird dies mit zweifelhaften wirtschaftlichen Argumenten. Wohin die Reise geht ist völlig klar: Wir sind wir,
auferstanden aus Ruinen und fühlen uns deutsch und sexy und haben es satt uns im eigenen Land ständig
marginalisiert zu fühlen, wir werden förmlich überschwemmt von der angloamerikanischen Kulturindustrie,
es gibt doch eine coole, heimatverbundene deutsche Musikszene, der geholfen werden muss und pi, pa und
po. Wir sagen ganz deutlich, wie so oft in unserem Leben: Wir sind dagegen! Und fragen: Lebt denn der alte
Holzmichl noch? Mit herzlichem Gruss, Tocotronic“
Außerdem gilt es, weitere Nebentätigkeiten der Bandmitglieder zu vermelden: Dirk schreibt weiterhin
gelegentlich für Texte Zur Kunst und liest zudem zwei Texte vor von HP Lovecraft für ein Hörbuch. Jan
gründet zusammen mit dem Blumfeld-Manager Oliver Frank den Müller + Frank-Musikverlag und kümmert
sich u.a. um Ida Red, La Grande Illusion und Julia Hummer. Arne veröffentlicht unter dem Namen DJ
Shirley beim Label Scheinselbstständig und als Arne Zank bei L’Age D’Or je eine EP. Und Rick schließlich
spielt Tour-Keyboard bei Karl Bartos und arbeitet an seiner eigenen Band Glacier. Aus der Vergangenheit
meldet sich hingegen eine Seven-Inch-Veröffentlichung mit Proberaumaufnahmen von Punkarsch, der präTocotronic-Band von Jan und Arne.
2005: Am 1. Januar werden Tocotronic das Neujahrskonzert in der Berliner Volksbühne spielen. Und schon
am 17. Januar erscheint „Pure Vernunft Darf Niemals Siegen“, das neue Album von Tocotronic.
Im August erscheint die Buch CD „ I CAN´T RELAX IN DEUTSCHLAND“ mit dem Track „Aber hier
leben, nein danke!“ vom aktuellen Album. Hier setzt die Band ein Statement gegen
Nationalisierungstendenzen in der Popkultur.
PRESSESTIMMEN ZU „TOCOTRONIC“
„’Tocotronic’ ist, wie alle Alben der Band, vollkommen eigenperspektivisch. Nur eben, dass sich hier nichts
mehr 1:1 objektivieren lässt, wie auf, sagen wir, den ersten drei Alben. Es ist eine größtenteils
undurchdringliche Innenschau, die den Hörer aber durch cleveres Papierschnipselstreuen auf Fährten lockt,
denen er gerne folgt.“ (Sascha Ziehn, Intro)
„Wenn das Frühwerk der Tocos – mal ganz literaturgeschichtlich über zweihundert Jahre nach hinten
gebolzt– Sturm und Drang war und die darauffolgende Platte ihre Klassik, sind sie nun – nach dem letzten
Scharnieralbum „K.O.O.K:“ in der Romantik angekommen.“ (Linus Volkmann, Intro)
„Verstehen wollen ist hier der falsche Ansatz.“ (Alexandra Brandt, Visions)
„Aus hässlichen, lauten, schon mal schmutzigen und unschuldigen Entlein sind seelenruhig dahingleitende
Schwäne geworden, blütenweiß – und verdorben.“ (Thomas Winkler, taz)
„Tocotronic legen etwas Neues, Anderes vor, ein ungrölbares Alterswerk, das eingedreht und abgehoben
soll, wer gern möchte. Den Herren noch etwas anzukreiden wäre eitel und kleinlich: Mit Tocotronic begann
die Rockmusik deutscher Sprache.“ (Klaus Ungerer, FAS)
„[sie] wirken wie drei nachdenkliche Philosophen, denen nichts Gutes schwant. Genauso klingen die neuen
Lieder. Zwar sind die in ihrer märchenhaften Melancholie und der Art ihrer Sprache. Doch statt der
Wutausbrüche über Tanztheater, Kinderbuchautoren und Gitarrenhändler beschreiben sie gruselig-skurrile
Szenarien.“ (Jan Gritz, Young Miss)
„Auf die Gegenwart bezogen, können wir vorerst davon ausgehen, dass die Messlatte für vergleichbare
(deutschsprachige) Textarbeit, Musik und Darstellungsformen nun wieder ein beträchtliches Stück höher
liegt.“ (Tobias Thomas, Spex)
„Das, was sie jetzt machen, ist so alt wie neu: Rockmusik, die allerdings zunehmend erwachsen klingt. Nicht
im Sinne eines stabilen Endzustands – das wäre langweilig -, sondern als vorübergehendes Produkt eines
dynamischen, sich fortentwickelnden Prozesses. Musik, die sich selbst anstatt ihrer Musiker in den
Mittelpunkt stellt. (…) Auf ihre Weise klingen sie heute so aufregend wie einige Helden der Popgeschichte,
kurz bevor die wussten, dass sie Helden werden: Brian Wilson, Bryan Ferry, Paul Weller oder auch Jochen
Distelmeyer.“ (Michael Hess, Szene Hamburg)
„Das Ergebnis ist angenehm verstörend. Glatt, im guten Sinn, obwohl viel zusammenkommt: New-WaveSpirit, Synthie und Sampler, Falsettgesang, Plink-plonk, und, jaja, Van Halen-Gitarren.“ (Anja Rützel,
Rolling Stone)
„Wohlwollend darf festgestellt werden, dass diese Band auf dem Weg vom Altklugen zum Aufgeklärten
nicht noch schluffiger geworden ist.“ (Oliver Götz, Musikexpress)
„Zurückgelehnter Studenten-Pop mit Grips.“ (Playboy)
„Auf (…) ‚Tocotronic’ geht es hinein in einen ‚Wald aus Zeichen’. Die Räume haben sich aufgefächert, ins
Science-Fiction- und Fantasyhafte. Statt der Imbissbude heißt der neue Sehnsuchtsort nun ‚Mitte eines
Zwischenreichs’ und ist ein ‚Dickicht als ein Dickicht, wo die Wege nur mehr Pfade’ seien. Die Musik auf
‚Tocotronic’ ist wie Wasser: Sie kommt von überall her, sammelt sich und fließt als ruhiger stolzer Strom
weiter. Die Zuflüsse heißen zum Beispiel Bowie, Morrissey und Prefab Sprout. Sie vereinen sich zu einem
Fluss namens Schönheit, der die notorische Kratzigkeit dieser Band komplett wegspült.“ (Oliver Fuchs /
Axel Henrici, Süddeutsche Zeitung)
„Jetzt heißt es: ‚Du strahlst heller als der hellste Stern’ oder ‚Auf der Erde und im All / Zerbrechen wir wie
ein Kristall’. Ist es nicht das, wogegen Tocotronic einmal angetreten sind? Wo liegt wirklich der Unterschied
zwischen Deutschrock-Poesie und diffusen metaphorischen Bildern wie ‚Die Wolke der Unwissenheit / wird
für immer bei uns sein’?“ (peer, Wahrschauer)
„Allenfalls Blumfeld haben einen ähnlich souveränen Umgang mit der eigen Plattensammlung erreicht. Und
plötzlich ist man da, wo man einem Bowie auf die Schultern klopft: ‚Schatten werfen keine Schatten’ zitiert
als Folie ‚Heroes’ – aus Bowies Helden sind Schatten geworden, Schatten von Tocotronic. Und Tocotronic
selbst wiederum sind die Agenten, die uns von den Möglichkeiten ständiger Erweiterung berichten: Hier ist
der Beweis. Und hier ist der seltene Fall einer Platte ohne Verfallsdatum.“ (Marcel Elsener / Kaspar Surber,
St. Galler Tagblatt)
„’Tocotronic’ ist eine Platte des Sichzurückziehens, eine Platte aber auch, die sich an die Grenzen der
menschlichen Wahrnehmung begibt und diese selbst (wie auch sich selbst) zum Thema macht. Mit all den
unzähligen Verweisen, von Pierre Bourdieu bis Edgar Wallace, von Dario Argento bis Marcel Duchamp, mit
allen gedanklichen Endlosschleifen und dem Noten- und Sprachfluss hat man letztlich einen gigantischen
Soundmonolithen vor sich, dessen Essenz ist, dass man nichts oder vielleicht doch ein wenig verstehen kann.
Im Grunde ist das ein sattes Stück Dreistigkeit. Und es klingt verdammt gut.“ (Dominik Dusek / Thomas
Kramer, Tagesanzeiger)
„Die deutlichen Zitate von Lieblingssongs und –sounds aus den Siebzigern, Achtzigern, Neunzigern breiten
dabei keine Referenz-Hölle aus, sondern stellen die Frage, wie man mit der eigenen musikalischen
Biographie verfahren kann, ohne peinlich oder kitschig zu sein. ‚Tocotronic’ ist Pop, ist Optimismus, ist
Gegenwart und handelt gleichzeitig ganz bewusst davon. Das schaffen die wenigsten.“ (Michael Kerkmann,
NZZ)
„Galt jahrelang die Prämisse, die Romantik zugunsten einer politisch motivierten Realitätsbeschreibung
auszuspielen, scheint angesichts einer Realitätsabbildung, die nur ncoh Banalitäten hervorbringt, die
Romantik wieder Hochkonjunktur zu haben. Eine Romantik, deren Versuch es ist, die Vielschichtigkeit der
Postmoderne darzustellen.“ (Patricia Wedler, Wochenzeitung)
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