Deutsche Vereinigung für die Rehabilitation Behinderter – DVfR – Vorschläge der DVfR zur Etablierung einer qualifizierten ambulanten wohnortnahen Rehabilitation 1 Bedeutung der Rehabilitation im Gesundheitssystem Eine der großen Herausforderungen an das deutsche Gesundheitssystem ist dessen Anpassung an den Wandel des Krankheitspanoramas, gekennzeichnet durch die Zunahme chronisch Kranker, und an die demographischen Veränderungen im Altersaufbau der Bevölkerung. Die steigende Zahl chronisch Kranker und die Zunahme älterer und zumeist multimorbider Menschen, aber auch die Verlängerung der Lebensarbeitszeit implizieren tendenziell einen steigenden Bedarf an Rehabilitation, verstanden als umfassende Hilfe zur Vermeidung einer Behinderung oder für ein selbstbestimmtes Leben mit einer Behinderung und als Leistung zur Erhaltung der Erwerbsfähigkeit und zur Vermeidung oder Minderung von Pflegebedürftigkeit. Auch die Fortschritte in der Intensivmedizin führen zu einem Mehrbedarf in der Rehabilitation. Es ist davon auszugehen, daß der aus diesem Paradigmenwechsel resultierende Mehrbedarf an Mitteln für die Rehabilitation mit den gegenwärtig zur Verfügung stehenden finanziellen Ressourcen nicht abgedeckt werden kann. Es sind jedoch Kompensationsmöglichkeiten zu erwarten und zu nutzen, die sich zum einen aus dem Ausbau der ambulanten Rehabilitation und der daraus folgenden Reduzierung stationärer Reha-Kapazitäten und zum anderen aus der Flexibilisierung der Rehabilitationsmaßnahmen ergeben. Kompensationsmöglichkeiten werden auch in der von führenden Gesundheitswissenschaftlern geforderten neuen Prioritätensetzung im Gesundheitsgesamtbudget gesehen, die insbesondere bei chronischen Krankheiten einen früheren Übergang von der kurativen Behandlung in die medizinische Rehabilitation fordert. Dies gilt sowohl für die kurative Behandlung durch die niedergelassenen Ärzte als auch für die Akutbehandlung im Krankenhaus. Der Auf- und Ausbau ambulanter Rehabilitationsstrukturen sollte schrittweise unter Berücksichtigung der wissenschaftlichen Ergebnisse von Modellvorhaben (z. B. für psychisch Kranke, Suchtkranke, bei neurologischen Erkrankungen, orthopädisch-traumatologischen Erkrankungen) erfolgen und bereits etablierte Angebote der Rehabilitation berücksichtigen. Über den Bereich der ambulanten Rehabilitation hinaus gilt allgemein, daß der Auf- und Ausbau der rehabilitativen Versorgungsstrukturen die Entwicklung geeigneter Planungsinstrumente erfordert. 2 Besondere Möglichkeiten der ambulanten wohnortnahen Rehabilitation Die ergebnisorientierte Zielsetzung der Rehabilitation erfordert einen Behandlungsansatz, der nicht nur auf die individuellen Fähigkeitsstörungen und/oder Beeinträchtigungen sowie die Risikofaktorenkonstellation einwirkt, sondern auch die Lebensbedingungen des Patienten im beruflichen und sozialen Kontext berücksichtigt und die Überwindung eingliederungshemmender Faktoren insgesamt anstrebt. Hier kann die ambulante Rehabilitation durch ihre Nähe zum Wohnumfeld und zum Arbeitsplatz den wünschenswerten Alltagsbezug der Rehabilitation herstellen. Eingliederungshemmnisse im beruflichen und vor allem im sozialen Feld werden schon während der Rehabilitation evident, 2 und es können frühzeitig zielgerichtete Maßnahmen (z. B. stufenweise Wiedereingliederung in den Arbeitsprozeß) eingeleitet werden. Hervorzuheben ist als ein weiterer besonderer Aspekt der ambulanten Rehabilitation die Möglichkeit der Nutzung eingliederungsfördernder Ressourcen eines vorhandenen sekundären sozialen Netzwerks von Hilfen (z. B. Sozialstationen, ambulante Dienste, Hilfsmittelversorgung, Berufsintegrationsfachdienste) sowie des Rückhaltes und der sozialen Unterstützung des primären sozialen Netzes (z. B. Familie, Angehörige, Partner). Die praktisch wirksame Behinderung und damit auch die Rehabilitationsbedürftigkeit wird nämlich nicht allein durch die Fähigkeitsstörungen und/oder Beeinträchtigungen bestimmt, sondern entsteht aus der Wechselwirkung verschiedener Komponenten, und zwar den Fähigkeitsstörungen und Beeinträchtigungen des Rehabilitanden, den zur Verfügung stehenden materiellen und personellen Ressourcen und den selbstgesetzten oder fremdbestimmten Anforderungen im beruflichen und sozialen Bereich. Ambulante wohnortnahe Rehabilitation erleichtert auch die Anbahnung zu den Angeboten der Selbsthilfe. Im Rahmen eines ganzheitlichen Rehabilitationsansatzes ist die Selbsthilfe ein wichtiger Bestandteil, die auch in der Nachsorge wertvolle Unterstützung leisten kann, um z. B. psychosoziale Begleiterscheinungen von chronischen Krankheiten und Behinderungen besser zu bewältigen. 3 Ambulante Rehabilitation für Patienten mit besonderem Behandlungsbedarf Die Entwicklung der ambulanten Form der medizinischen Rehabilitation ist derzeit geprägt durch eine indikationsspezifische Ausrichtung der Rehabilitationskonzepte mit Konzentration auf die kardiologische, neurologische, rheumatologische und orthopädische Rehabilitation und weitere Indikationen. Beim Aufbau der ambulanten wohnortnahen Rehabilitation sollten aber auch Patientengruppen mit besonderem Rehabilitationsbedarf berücksichtigt werden, bei denen die ambulante Rehabilitation im Hinblick auf die über einen längeren Zeitraum benötigten Hilfen eine bedarfsgerechte Versorgungsform darstellen kann. Zu nennen sind z. B. Querschnittgelähmte, Schwer-Schädel-Hirnverletzte, Aphasiker mit schweren Kommunikationsstörungen, Muskelkranke und Menschen mit chronischen neurologischen Erkrankungen, Menschen mit Körperbehinderungen, geistigen und Mehrfachbehinderungen, ältere Menschen mit geriatrischem Behandlungsbedarf und Pflegebedürftige. Diese Personengruppen werden derzeit entweder überwiegend stationär rehabilitiert, oder es steht für sie kein adäquates ambulantes Rehabilitationsangebot zur Verfügung. Bezüglich der Patienten mit besonderem Behandlungsbedarf muß jedoch gesehen werden, daß unter dem Aspekt der Wohnortnähe die Frage des regional sehr unterschiedlichen Patientenaufkommens und damit die Frage der Wirtschaftlichkeit ambulanter Rehabilitationseinrichtungen, die multiprofessionelle therapeutische Angebote gebündelt und zielorientiert zur Anwendung bringen (Komplexmaßnahmen), eine wichtige Rolle spielt. Ein ambulantes und/oder mobiles Rehabilitationsangebot für diese Menschen, die vielfach Einschränkungen der Motorik, Sensorik, der Kommunikation, der Nahrungsaufnahme (Essen, Kauen, Schlucken) sowie der Kontinenz aufweisen und deshalb einen komplexen Rehabilitationsbedarf haben, auf Unterstützung der primären und sekundären Netzwerke angewiesen sind und in der Regel Einschränkungen in der Mobilität zeigen, könnte, unter Nutzung der Ressourcen in der Region, eine Antwort sein. Daher steht als weiterer Vorschlag zur Diskussion, für Patienten mit unterschiedlichen Diagnosen, aber weitgehend gleichem Behandlungs-/Rehabilitationsbedarf, indikations- und altersstufenübergreifende Angebotsformen der ambulanten Rehabilitation vorzusehen. 4 Einordnung der ambulanten Rehabilitation Obwohl eine Trennung von Kuration und (ambulanter) Rehabilitation weder möglich noch gewollt ist, muß aus leistungsrechtlichen Gründen und zur Zuordnung der 3 Strukturverantwortung Klarheit über Art und Umfang der medizinischen Leistungen zur Rehabilitation erreicht werden. Für die Standortbestimmung ambulanter wohnortnaher Rehabilitation im Versorgungssystem wird daher folgende sich am individuellen Rehabilitationsbedarf orientierende Einordnung vorgeschlagen: Ambulante medizinische Rehabilitation nach Maßgabe der BAR-Rahmenempfehlungen vom 2.11.1995, wenn Art und Ausmaß der Fähigkeitsstörungen und/oder Beeinträchtigungen und die daraus abgeleiteten Rehabilitationsziele Komplexmaßnahmen nach den in den Rahmenempfehlungen aufgestellten Behandlungsgrundsätzen erfordern. Die Rehabilitationsmaßnahmen werden von einem interdisziplinären Rehabilitationsteam erbracht und stehen unter ärztlicher Leitung und Verantwortung. Ambulante vertragsärztliche Versorgung mit rehabilitativer Zielsetzung einschließlich Heil- und Hilfsmittelversorgung in Form von Einzelmaßnahmen, wenn Art und Ausmaß der Fähigkeitsstörungen und Beeinträchtigungen und die daraus abgeleiteten Rehabilitationsziele Komplexmaßnahmen i. S. der BAR-Rahmen-empfehlungen nicht erfordern. Dies setzt voraus, daß die niedergelassenen Ärzte über Fachwissen in der Rehabilitation verfügen. Auch von daher sollten die rehabilitationsmedizinischen Inhalte in Forschung und Lehre wesentlich ausgebaut, die Fortbildung der niedergelassenen Ärzteschaft verbessert und die vorhandenen personellen und fachlichen Kompetenzen von entsprechend weitergebildeten Ärzten in der Region genutzt werden. Die Umsetzung rehabilitativer Zielsetzungen in der ambulanten vertragsärztlichen Versorgung erfordert verbesserte Kooperation und Koordination im Hinblick auf das Erreichen von Rehabilitationszielen. 5 Zugang zur ambulanten Rehabilitation Der Zugang zur ambulanten Rehabilitation sollte sowohl aus der ambulanten ärztlichen Behandlung als auch aus der Krankenhausbehandlung möglich sein. Die für den Bereich der stationären medizinischen Rehabilitation entwickelten Verfahren der Anschlußrehabilitation haben sich bewährt und sollten sich auch auf die ambulante Rehabilitation erstrecken. Hinweise auf eine Rehabilitationsbedürftigkeit können sich auch aus den KrankenhausEntlassungsberichten, der Auswertung von Arbeitsunfähigkeits-Fällen und aus der Tätigkeit der Betriebsärzte ergeben. Eine Orientierungshilfe für den niedergelassenen Arzt sind die RehaRichtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen. Ergeben sich Anhaltspunkte für eine Rehabilitationsbedürftigkeit, erstellt der behandelnde Arzt mit Zustimmung des Versicherten einen qualifizierten ärztlichen Befundbericht für den Rehabilitationsträger. Der Rehabilitationsträger bzw. sein Ärztlicher Dienst entscheidet, ob der Befundbericht zur Beurteilung der Rehabilitationsbedürftigkeit und die Planung der Rehabilitationsmaßnahme ausreicht. Kann in besonderen Problemfällen, z. B. bei ungeklärter Rehabilitationsbedürftigkeit, wegen der Komplexität der Fähigkeitsstörungen und drohenden oder bestehenden Beeinträchtigungen die erforderliche ambulante oder stationäre Rehabilitation noch nicht bestimmt werden, empfiehlt der Arzt eine Rehabilitationsabklärung. Die Rehabilitationsabklärung erfolgt durch den Ärztlichen Dienst des Rehabilitationsträgers, ggf. durch ein Assessment unter Beteiligung einer ambulanten oder stationären Rehabilitationseinrichtung. 6 Koordinierung und Vernetzung Es wird empfohlen, die ambulante Rehabilitation unter Berücksichtigung des Bedarfs und der Wirtschaftlichkeit sowie im Hinblick auf die Multimorbidität indikationsspezifisch und ggf. krankheits- und altersgruppenübergreifend zu konzipieren und bei ihrer Ausgestaltung zu gewährleisten, daß die Rehabilitationsziele der verschiedenen Träger erreicht werden und die Träger die ambulanten Rehabilitationsstrukturen möglichst gemeinsam nutzen können. Bei der Etablierung ambulanter Rehabilitationsangebote ist die Vernetzung mit den regionalen Versorgungsstrukturen des Gesundheitswesens in geeigneter Weise sicherzustellen, z. B. durch Kooperationsverträge zwischen den Leistungsanbietern. 4 Um die mit der Vernetzung angestrebte Verbesserung der regionalen Zusammenarbeit für die Beteiligten nachvollziehbar zu machen, sollten zielorientierte Vorgaben für die Vernetzung erarbeitet werden, z. B. durch die Beschreibung möglicher Synergieeffekte. Der Kontinuität oder Progredienz der Erkrankung und der Tatsache der Behinderung ist ggf. durch eine fachkompetente Weiterbetreuung mit rehabilitativer Zielsetzung bzw. durch spezielle Programme der Nachsorge Rechnung zu tragen. Dadurch soll eine nahtlose Weiterbehandlung gewährleistet und eine Unterbrechung notwendiger Behandlungsmaßnahmen mit rehabilitativer Zielsetzung vermieden werden. 7 Ergänzende und flankierende Maßnahmen zur Eingliederung Zur Erreichung und dauerhaften Sicherung des Rehabilitationserfolges kommt den ergänzenden Maßnahmen zur Eingliederung in Form von folgenden Leistungen besondere Bedeutung zu: Hilfen zur Bewältigung von Lebensproblemen, die zu der Krankheit oder Behinderung geführt haben oder durch diese ausgelöst wurden, z. B. Hilfen zur Lebensbewältigung, Unterstützung beim Prozeß der Krankheits- bzw. Behinderungsverarbeitung Hilfen zur psychischen Stabilisierung und zur Förderung der sozialen Integration, z. B. Umgang mit Krisensituationen, Überwindung sozialer Isolierung durch Training sozialer und kommunikativer Fähigkeiten Aktivierung von Selbsthilfepotentialen, z. B. Hilfe zur Änderung der Einstellung zur eigenen Person Information und Beratung von Partnern und Angehörigen der Rehabilitanden, Vermittlung von Kontakten zu örtlichen Selbsthilfe- und Beratungsmöglichkeiten, NachsorgeMaßnahmen wie Rehabilitationssport, Heil- und Hilfsmittelversorgung Darüber hinaus kann in vielen Fällen (körperlich, geistig, psychisch sowie mehrfach behinderte Menschen) ein dauerhafter Erfolg der Rehabilitation nur erreicht werden, wenn die Umweltbedingungen an die Fähigkeitsstörungen und/oder Beeinträchtigungen angepaßt wurden. Als solche flankierende Anpassungsmaßnahmen sind beispielhaft zu nennen: behinderungsgerechte Wohnungen und Arbeitsplätze, barrierefreier öffentlicher Personennahverkehr und barrierefreier Zugang zu öffentlichen Gebäuden und Einrichtungen. Zur Sicherung der Eingliederung sind auch ambulante Einrichtungen der Eingliederungshilfe in qualitativ und quantitativ ausreichendem Umfang auf Wohnortebene erforderlich (z. B. Werkstätten für Behinderte, betreutes Wohnen, behindertengerechte Wohnung, Tagesförderung). Auch ambulante Einrichtungen der Altenhilfe (z. B. Tagespflege) stellen weitere wichtige Elemente eines umfassenden wohnortnahen, auf Eingliederung ausgerichteten Hilfesystems dar. 8 Qualitätssicherung Für die ambulante Rehabilitation sollten abgestimmte Programme zur Sicherung der Struktur-, Prozeß- und Ergebnisqualität entwickelt werden. Die Anbieter von ambulanten Rehabilitationsleistungen sind zu verpflichten (z. B. in Versorgungsverträgen), sich an Qualitätssicherungsprogrammen der Träger zu beteiligen. Juli 1999 Deutsche Vereinigung für die Rehabilitation Behinderter e. V. (DVfR) Friedrich-Ebert-Anlage 9, 69117 Heidelberg, Telefon 06221/25485, Telefax 06221/166009 E-Mail: [email protected] aus: www.dvfr.de / Stellungnahmen / Mitteilung vom 02.07.1999