Semesterarbeit Frühförderung Heidi Knöchlein und Ilka Gängel Pädagogische Hochschule Heidelberg Fach: Sonderpädagogische Frühförderung Sommersemester 2003 Dozentin: Dr. paed. Ursula Horsch Hauptseminar: Aufgabenfelder der Frühpädagogik Referatstermin: 03.07.2003 Ausarbeitung zum Referat Thema: Spracherwerb von Kindern mit schweren Behinderungen Name: Heidi Knöchlein Ilka Gängel Viktoriastr. 8 Hirschberger Allee 39 69126 Heidelberg 68526 Ladenburg Semester: VII VIII Studiengang: Sonderpädagogik grundständig Hauptfach: Blindenpädagogik Geistigbehindertenpädagogik Nebenfach: Geistigbehindertenpädagogik Blindenpädagogik Inhaltsverzeichnis 1 Einleitung ......................................................................................................... 1 2 Taubgeboren: Zum Spracherwerb gehörloser Kinder ................................... 2 3 4 5 2.1 Emmanuelle Laborit und das Dogma der Lautsprachlichkeit ....................... 2 2.2 Sprache und Identität: Ich gebärde, also bin ich............................................. 3 2.3 Aus den Augen, aus dem Sinn - Zeit-Wörter ................................................... 3 2.4 Gebärden oder Lautsprache.............................................................................. 5 2.5 Die Fühlbarkeit von Stimme und Hand ........................................................... 6 2.6 Die Lautsprache als Zweitsprache .................................................................... 7 2.7 Radikales Umdenken: Methodenfreiheit ist erforderlich ............................... 8 2.8 Was soll man Eltern raten? ............................................................................... 9 Spracherwerb trotz Sprechlähmung - Beispiel: Christopher Nolan............ 10 3.1 Ein vulkanischer Drang nach Mitteilung ....................................................... 11 3.2 Fazit ................................................................................................................... 11 Das Rätsel des Autismus ................................................................................ 12 4.1 Autismus. Die vermauerten Fenster ............................................................... 12 4.2 Verstehensdefekte bei Autisten ....................................................................... 12 4.3 Botschaften aus einem autistischen Kerker ................................................... 13 4.4 Einblick in Birgers Tagebuch .......................................................................... 13 4.5 Spracherwerb ohne Sprechen ......................................................................... 14 Ergänzung: Vorstellung in der Sitzung ........................................................ 15 Literaturangaben .................................................................................................. 16 Semesterarbeit Frühförderung Heidi Knöchlein und Ilka Gängel 1 Einleitung Der Mensch ist auf Sprache angelegt und bedarf ihrer. Wir brauchen Sprache um uns mitteilen zu können, mit anderen in Kontakt zu treten und unsere innersten Gedanken und Gefühle auszudrücken. Was für die meisten Menschen eine Selbstverständlichkeit ist, bleibt vielen Menschen mit schweren Behinderungen verwehrt. Sie haben oft keine Möglichkeit, sich zu verständigen und ohne Hilfe mit der Umwelt zu kommunizieren, da ihnen die Fähigkeit zum Sprechen fehlt. Das Zitat von Oliver Sacks: „Sprache kann man nicht alleine erwerben“1 zeigt, dass Eltern und Kinder eine aktive Rolle beim Spracherwerb spielen. Bei den Fällen, in denen Kinder nur eingeschränkt kommunizieren können, tragen die Eltern die Verantwortung für den Spracherwerb scheinbar alleine. Im ersten Teil wird der Weg des Spracherwerbes eines gehörlosen Kindes beschrieben. Für viele Kinder wie Emmanuelle Laborit bedeutete dies zunächst Isolation von der hörenden Außenwelt. Nur ihre Mutter behalf sich mit einigen einfachen Gebärden. In der Schule wurde sie auf Lautsprache getrimmt, die Gebärdensprache sogar verboten. Durch Zufall bekamen die Eltern von der deutschen Gebärdensprache mit, die Emmanuelle das Tor zur Welt öffnete. Wie ihr erging es auch anderen gehörlosen Kindern. Bis heute ist der Streit, welche Sprache wann und wie intensiv erlernt werden sollte, nicht abgeebbt. Im Folgenden werden wir einen Einblick in die Welt von zwei Menschen bekommen, die auf Grund ihrer Behinderung in ihrer Sprachfähigkeit stark beeinträchtigt sind und die doch eine Möglichkeit gefunden haben, mit ihrem Umfeld in Kontakt zu treten und sich sprachlich auszudrücken. Es sind beeindruckende Beispiele und erschütternde Einblicke in die Welt der eingeschlossenen Wörter und Gedanken. Die Ausarbeitung bezieht sich auf Texte aus dem Buch von Wolfgang und Jürgen Butzkamm: Wie Kinder sprechen lernen. Kindliche Entwicklung und die Sprachlichkeit des Menschen. Tübingen, Basel 1999, S. 139-188. 1 S. 163 1 Semesterarbeit Frühförderung Heidi Knöchlein und Ilka Gängel 2 Taubgeboren: Zum Spracherwerb gehörloser Kinder (Ilka Gängel) „Die Sprache aber liegt in der Seele, und kann sogar bei widerstrebenden Organen und fehlendem, äußeren Sinn hervorgebracht werden. (Wilhelm von Humboldt)“2 2.1 Emmanuelle Laborit und das Dogma der Lautsprachlichkeit Lange Zeit galt, dass Menschen, die durch ihre Gehörlosigkeit nicht gelernt haben zu sprechen, in einer Welt mit „geistigen Löchern“ leben. Jedoch sind Gehörlose nicht minder intelligent und insbesondere in Gemeinschaft entwickeln sie eine Zeichensprache, mit der sie kommunizieren können. Emmanuelle Laborit ist von Geburt an taub, was von den Eltern bald bemerkt wurde. So entwickelte vor allem die Mutter einfache Gebärden, mit denen sie sich mit ihrem Kind unterhielt. Mit Hilfe dieser „Nabelschnur“ hält Emmanuelle Verbindung zu ihrer Außenwelt, doch auch dem Vater blieb einiges verborgen. Ein Arzt versuchte die Sorgen der Eltern am Anfang zu beschwichtigen und schlug die Tür zu, woraufhin das Kind reagierte. Mit diesem „Hörtest“ wollte er beweisen, dass das Kind hören konnte – er hatte jedoch nicht bedacht, dass das Kind die Schwingung des Zuschlagens gespürt und darauf reagiert hat. So kommt es häufig auch in Ländern mit ausgebautem Gesundheitswesen vor, dass Taubheit zu spät diagnostiziert wird. In der Schule, die Emmanuelle besuchte, wurden die Schüler auf Lautsprache getrimmt und Gebärden sogar verboten. Die Autorin merkt kritisch an, dass die grafische Rückmeldung der Lauthervorbringung auf dem Bildschirm den Schüler nicht sehr weiterbringt. Außerdem wenn die Schüler Sprache produzieren, dann ist sie häufig für Außenstehende unverständlich. Systematisch wird in den Schulen die Lautsprache vermittelt. Sprechsilben und Einzellaute werden mechanisch geübt. Ein Kind, das sprechen lernt, lernt dies nebenbei – einzelne Wörter, Wortreihen und mit der Zeit mit der richtigen Grammatik. Wichtiges Vorbild sind die sprechende Eltern, aber keine grammatischen Belehrungen. 2 S. 139 2 Semesterarbeit Frühförderung Heidi Knöchlein und Ilka Gängel „Der Kardinalfehler besteht demnach in der Annahme, man könne eine Erstsprache durch systematische Belehrung statt im Dialog erwerben.“ 3 Wörter, Sätze und die Grammatik der Sprache werden im Gespräch geübt, auch wenn das Kind zu Beginn seiner eigenen Logik gehorcht. Emmanuelles Eltern hörten zufällig im Radio von einer offiziellen Gebärdensprache, die sie nun mit dem inzwischen sieben-jährigen Madchen erlernten – erst zu diesem Zeitpunkt, da keiner der Experten sie darauf hingewiesen hat. Das Erlernen von Sprache ist für sie wie eine zweite Geburt. 2.2 Sprache und Identität: Ich gebärde, also bin ich Mama und Papa sind Identifikationsfiguren für ihre Kinder, doch taubstumme Kinder wie Emmanuelle merken schnell, dass sie nicht wie diese Erwachsenen werden wird. Die Welten trennen sich an der Sprache. Sie wird nie ganz in die sprechende Welt eintauchen. Ihren Eltern wurde sogar abgeraten, sich mit tauben Erwachsenen zu treffen. Es wäre wichtiger die Lautsprache zu erlernen, denn Gebärden würden den Spracherwerb behindern. Doch für das Mädchen wäre es wichtig gewesen, gebärdende Erwachsene zu sehen, sich mit ihnen unterhalten zu können und dabei zu erkennen, dass auch sie erwachsen werden kann. Die Eltern einer Freundin schirmten ihr Kind Sylvie, von anderen Gehörlosen ab, um ihr den Ansporn für den Lautspracherwerb zu geben. Sie empfand es regelrecht als Befreiung mit 15 Jahren sich endlich in „ihrer“ Sprache unterhalten zu können und konnte die Abschirmung ihren Eltern nur schwer verzeihen. Wenn Gehörlose mit Hörenden lautsprachlich kommunizieren, dann fühlt er sich fast zwangsläufig behindert. Die Gebärdensprache gibt den Menschen und Dingen Namen, sie können den Sinn erkennen und ihre eigene Identität begreifen. Emmanuelle kann nicht nur kümmerlich lautieren, sondern sich in ganzen Sätzen unterhalten und Fragen stellen. Sie ist begierig, die neue Sprache zu erlernen und braucht dafür nur drei Monate, wohingegen ihre Eltern zwei Jahre benötigen. 2.3 Aus den Augen, aus dem Sinn - Zeit-Wörter Vielen gehörlosen Kindern fällt es schwer zu verstehen, was die Dimensionen „Gestern, Heute und Morgen“ zu bedeuten haben. Ohne Sprache können sie nicht 3 S. 140 3 Semesterarbeit Frühförderung Heidi Knöchlein und Ilka Gängel nachfragen, was es bedeutet und mit den Erklärungsversuchen und der Anwendung durch die Eltern erst langsam die Bedeutung begreifen. Auch die Eltern sind dann nicht mehr „fort“, also verschwunden, sondern das Kind kann verstehen lernen, dass sie nur vorübergehend allein gelassen wurden und ihre Eltern z. B. am Abend ausgegangen sind. Emmanuelle schreibt: „Manchmal erklärten mir meine Eltern, daß sie ausgehen würden. Aber habe ich das wirklich verstanden, dieses Ausgehen? Für mich war es ein Fortgehen, ein Verlassenwerden.“4 Einen Begriff von „Zeit“ zu bekommen, ist sehr schwierig. Man kann sie nicht mit den Sinnen wahrnehmen. Ein Baby, das nach seiner Flasche schreit, wird mit Worten wie „warte“ vertröstet, dass die Flasche gleich kommt, aber es noch einen Moment dauert. Die Situation mit einem gehörlosen Baby wird ähnlich ablaufen, aber es kann die Worte der Mutter nicht hören und so auch keinen Zeitbegriff von der Wiege an erlernen. Einige Kinder erkennen, dass es die Zeit nicht mehr zurückdrehen kann, insbesondere dann, wenn ein Geschwisterchen die ganze Aufmerksamkeit der Mutter beansprucht. Es selbst ist kein Baby mehr. Aber auch in der alltägliche Sprache verstecken sich viele Hinweise auf die Dimension „Zeit“: „, Iß, damit du groß und stark wirst.’ ,Räum jetzt auf. Morgen kannst du weitermachen.’“5 Der fünfjährige Bubi versucht mit ausgestreckten Händen eine Stunde darzustellen. Dass Zeit räumlich dargestellt werden kann, hat er von der Kuckucksuhr gelernt – immer wenn Zeit vergeht, dann kommt der Kuckuck zum Vorschein. Es kann Jahre dauern bis Zeitadverbien, die Beziehungen ausdrücken, geklärt sind. „Was heute war, wird zum Gestern, das Morgen zum Heute, so wie Mami aus der Sicht des Onkels zur Schwester wird.“6 Wichtig ist immer mit dem Kind das Vergangene, das Gegenwärtige und auch das Kommende zu besprechen. Nur so kann es den Sinn der Unterbrechung des Spieles begreifen. Es bekommt zugesichert, dass es später wieder weiterspielen darf. Das Kind lernt, dass dieses „später“, nach dem Einkaufen bedeutet. Doch Gehörlose können dieses Wort nicht nebenbei kennen lernen und so das Verhalten 4 S. 144 S. 146 6 S. 147 5 4 Semesterarbeit Frühförderung Heidi Knöchlein und Ilka Gängel der Mutter nicht nachvollziehen. Bei Monats- oder Jahreszeiten-Bezeichnungen helfen Verbindungen zur Lebenspraxis wie „im Sommer fahren wir in Urlaub“. Ebenso kann Emmanuelle nur schwer begreifen, dass ihre Katze überfahren wurde. Sie wollte sie unbedingt sehen, um das Geschehene verstehen zu können, doch ihre Eltern wollten ihr das nicht antun. Mit diesem Wissen wird verständlicher, dass auch der Glaube an Gott mit Worten verbunden ist, da sonst nur der Himmel verehrt wird, aber nicht Gott selbst. Der Ausspruch Paulus im Brief an die Römer7 war der Grund, warum Taubstummen die Sakramente verwehrt wurden. – Sie könnten die Verkündigung nicht hören, also auch keinen rechten Glauben entwickeln und ohne rechten Glauben, können keine Sakramente empfangen werden. 2.4 Gebärden oder Lautsprache Gebärdensprache ist für von Geburt an Gehörlose wie ihre Muttersprache. Damit diese Kinder nicht verkümmern, brauchen sie ein System von Gebärden als Schwungrad. „Mit dreieinhalb Jahren beherrscht ein gehörloses Kind durchschnittlich nicht mehr als fünf bis zehn verständlich artikulierte Wörter und zwanzig bis hundert Mundbilder.“8 Ihr Wissensdurst und ihr Mitteilungsbedürfnis wird und ist stark eingeschränkt. Umso wichtiger ist es, das Kind mit anderen Gebärdenden zusammenzubringen, damit es wie ein hörendes Kind viele Worte aufschnappen kann. Dennoch sind viele deutsche Gehörlosenschulen oral-aural ausgerichtet und Gebärden werden unterdrückt. In Frankreich war bis 1991 die Gebärdensprache verboten und ist in Deutschland bis heute noch nicht offiziell anerkannt. Das deutlichste Argument der Oralisten ist die Isolation Gehörloser. Nur sie können sich untereinander unterhalten. Doch die Lautsprache, die sie antrainiert bekommen, ist häufig nur von der engsten Familie verständlich. Wolfgang und Jürgen Butzkamm erzählen von einem Taubstummenunterricht. Einzelne Buchstaben-Bildung wurde schon geübt, nun soll das „f“ hinzukommen „Wie sollen sie aber den anrufen, an den sie nicht glauben? Wie sollen sie aber an den glauben, von dem sie nichts gehört haben? Wie sollen sie aber hören ohne Prediger?“ Röm 10, 14 Anmerkung der Verfasserin: Es ist fraglich, ob sich diese Passage auf gehörlose Menschen bezieht. 8 S. 149 7 5 Semesterarbeit Frühförderung Heidi Knöchlein und Ilka Gängel und „Aff pafft“ gebildet werden. Der Lehrer versucht durch Anschauung den Sinn der Wörter begreiflich zu machen. Jedes einzelne Kind holt er auf seinen Schoß und spricht die Wörter vor, die der Schüler nachsprechen soll. Die Kinder müssen an so vieles gleichzeitig denken: Die Worte von der Tafel und von den Lippen ablesen, die Hand auf dem Kehlkopf legen und dessen Bewegungsablauf nachspüren, den Atemstoß kontrollieren, die Lippen genau im passenden Moment richtig bewegen, die Zahnstellung ist mal weit, mal eng und auch die Zunge muss an einer bestimmten Position liegen. Aber hören können sie ihr eigenes Wort dadurch ebenso wenig. Wichtig ist es die Worte zu wiederholen, sonst kann es sein, dass der Lernprozess noch einmal von vorn beginnen muss. Die akustische Rückmeldung und das Hören der Worte fehlt diesen Kindern. Automatisiert wird die Lautsprache schwerlich werden. Ein Gehörloser „schreinert“ jedes seiner Worte immer neu. 2.5 Die Fühlbarkeit von Stimme und Hand So wie das Ohr der Regler der Stimme ist, so ist das Auge der Regler der Gebärde – das Hör-Sprach-System gleicht dem Auge-Hand-System. Auf diese Weise wird auch unsere Sprache kontrolliert: ist das, was wir von uns geben auch das, was wir sagen wollen und hat unser Gegenüber meine Worte richtig verstanden. Die Eigenart eines Gehörlosen wird von der Gebärdensprache respektiert. Auf Gebärden kann nur verzichtet werden, wenn das Kind durch die Unterstützung von Technik hören und sprechen lernen kann. Ansonsten gelten folgende Gründe für die natürliche Sprache Gehörloser: 1. „Es wird von Anfang an kommuniziert… 2. Das Gebärdengespräch ist schon früh möglich, weil Gebärden und Sehverstehen ähnlich aufeinander abgestimmt sind wie Sprechen und Hören… 3. Gebärden werden ebenso “geäußert“ (nach außen gestellt) wie Worte und füllen wie diese einen für die Partner gemeinsamen Erscheinungsraum… 4. Sprache und Hand sind die schöpferischen Organe des Menschen. 6 Semesterarbeit Frühförderung Heidi Knöchlein und Ilka Gängel 5. Der grammatische Sinn der Kinder wird geweckt. Kinder können Grammatik noch spontan entwickeln, während Erwachsene sie verstandesmäßig erschließen müssen. 6. Von Anfang an wird das Denken gefördert.“9 Bei der Lautsprache kann es ein zuviel an Worten und Begriffen für das Kind geben, diese Probleme tauchen es in der Gebärdensprache nicht auf. 2.6 Die Lautsprache als Zweitsprache Taubstumme Kinder helfen sich untereinander mit vielen Bewegungen und Mimik. Für Außenstehende ist es nicht immer verständlich und offiziell verpönt. Auch Emmanuelle berichtet, dass sie sich hinter dem Rücken des Lehrers mit Gebärden unterhielten und häufig wurde der Unterrichtsstoff erst dadurch verständlich. Dieser ungewollte Nebeneffekt erweist sich als Glück. Ist die Sprache mit Gebärden gesichert, kann Lautsprache als Ergänzung \ Zweitsprache hinzukommen. Gebärden unterstützen auch das Lesenlernen. So wie ein hörendes Kind die Lippen bewegt oder leise den Text beim Lesen spricht, so gebärdet ein gehörloses Kind zum Text. Hörende Kinder von gehörlosen Eltern zeigen, dass sie auch wenn ihre Erstsprache Gebärden sind, sie ohne Probleme Lautsprache erlernen können. Hier wird nicht bei mangelnder Anregung das Sprachzentrum von anderen Gehirnregionen übernommen, sowie bei Blinden die Sehgebiete umfunktioniert werden. Dieser Lernweg hat sich nicht als Nachteil erwiesen. Deshalb ist es sinnvoll, dass sich Eltern selbst sich mit Gesten unterhalten. In gehörlosen Familien fangen Kinder ab dem 2. Lebensjahr zu gebärden an – der Spracherwerb sollte so wenig wie möglich verzögert werden. Kinder sollten dann die Möglichkeit in Kindergärten und Spielgruppen erhalten in die Deutsche Gebärdensprache (DGS) hineinzuwachsen. Später lernen sie auch voneinander - in der Schule und im Internat quasi nebenbei. Lautsprachliche Gebärden können beim Lesen und Schreiben als didaktisches Kunstmittel benutzt werden. Dann kann die Artikulation geübt werden, wobei der Aufwand mit dem Erreichbaren in einen vernünftigen Rahmen betrieben werden soll. Nicht unproblematisch ist, dass etwa nur 30% des Gesagten von den Lippen gelesen und erfasst werden kann. 7 Semesterarbeit Frühförderung Heidi Knöchlein und Ilka Gängel Die Gebärden dienen hierbei als Vermittlungsinstanz - als Bindeglied. Hilfesysteme wie die Unterstützte Kommunikation können Hilfen sein insbesondere für Menschen mit schweren Behinderungen. Bildtafeln können wie im Beispiel von Christopher Nolen (s.u.) mit einem Stirnstab betätigt werden. Dadurch ist eine lautsprachliche Äußerung möglich. Mithilfe dieser Systeme kann sich ihre Intelligenz weiterentwickeln. Helen Keller, die zusätzlich zu ihrer Gehörlosigkeit blind ist, half sich mit dem Fingeralphabet und der Blindenschrift. Sie erlernte trotz Taubheit die Lautsprache, jedoch nicht als Erstsprache, wie von Oralisten gefordert wird. Zu berücksichtigen ist, dass sie erst mit 19 Monaten, als sie schon Worte sprechen konnte, ertaubte, erblindete und schließlich verstummte. Gehörlose selbst werden bei dieser Diskussion, ob und wann Lautsprache gelernt werden soll, wenig berücksichtigt. 2.7 Radikales Umdenken: Methodenfreiheit ist erforderlich Den Methodenstreit gibt es nicht erst seit kurzer Zeit. Nein, schon seit Mitte des 18. Jahrhunderts, als der Taubstummenunterricht begann. Inzwischen geben sich manche Lautsprachler kompromissbereit und akzeptieren Gebärden als vorübergehende Hilfe. Andere gestehen die zusätzlichen Gebärden nur Menschen mit geistiger Behinderung zu, quasi als „Krücke“. Doch grundsätzlich bleiben die Fronten bestehen. Das „wilde […] Rumgefuchtel“10 reicht nie an die Leistungen einer Lautsprache heran. Eine Sprache entsteht nicht aus dem Nichts. Auch die Grammatik übernehmen wir von unseren „Vorsprechern“. Doch die Tradition muss aufrechterhalten werden, also die Sprache muss angewandt werden, sonst geht sie verloren und eine neue entsteht. Sprachwissenschaftler haben die Gebärdensprache verfolgt und ein hohes sprachliches und grammatikalisches Potential festgestellt. Gebärden gelten nicht weltweit, sie können nur übersetzt werden, denn ohne Kontakt kann es keine gemeinsame Sprache geben. Zwischen der amerikanischen und europäischen Zeichensprache lässt sich eine Verwandtschaft erkennen, da sie beide von der Pariser Schulgründung 1755 abstammen. 9 S. 152/153 S. 156 10 8 Semesterarbeit Frühförderung Heidi Knöchlein und Ilka Gängel Lautsprachler müssen endlich erkennen, dass sich die Lautsprache gegen die Gebärden nicht durchsetzen konnte. Mit Hilfe von Schulversuchen lässt sich diese Frage möglicherweise klären. Doch auch die Gebärdensprache soll ihre Chance erhalten und in den Lehrplan mit aufgenommen werden. Grundsätzlich ist es wichtig, dass das Umfeld und insbesondere die Eltern die Andersartigkeit ihrer Kinder verstehen lernen. So kann der Bericht von Emmanuelle Hoffnung geben, eigene Schwierigkeiten besser zu verstehen und zu verarbeiten. 2.8 Was soll man Eltern raten? Eltern sollten Fragen an die Hand bekommen wie: „Wird es auf KüchenGeräusche aufmerksam?“11, um ihre Vermutungen zu festigen. Hiermit sollen sie am besten gleich zu einem HNO-Arzt, Phoniater oder Audiologen gehen, weil Hörbehinderungen von Geburt an selten sind, so dass Kinderärzte oft wenig Erfahrung haben. In Kliniken kann mit Hilfe von technischen Geräten die Hörleistung eines Kindes gut bestimmt werden. Daraufhin ist es möglich das Kind mit Hörgeräten oder Cochlea-Implant zu versorgen und es kann so Sprache frühzeitig wahrnehmen. Erst dann können Entscheidungen über Sprachförderung fallen. Bei der HörhilfenAnpassung sollten nur Spezialisten herangezogen werden, da gerade bei Kleinkindern die richtige Versorgung häufig Glückssache ist. Es gibt positive Belege dafür, dass der Spracherwerb mit CI stattgefunden hat. Durch den technischen Fortschritt wird die Zahl derjenigen, die auf Gebärden angewiesen sind, sinken. Doch wichtig ist dabei, dass auch die Eltern wie die von Emmanuelle die Gebärdensprache erlernen. 11 S. 158 9 Semesterarbeit Frühförderung Heidi Knöchlein und Ilka Gängel 3 Spracherwerb trotz Sprechlähmung - Beispiel: Christopher (Heidi Knöchlein) Christopher Nolan ist fast vollständig gelähmt. Er kann weder sprechen noch selbständig Nahrung zu sich nehmen, Spasmen durchwallen immer wieder blitzartig seinen Körper (seine Augen verdrehen sich, die Arme fahren wild in die Gegend, die Beine zucken). Er nennt dies später: seine „Kriegstänze“, seine „polkapolternden Bewegungen“, sein „Walfischschnauben“. Er kann aber hören, dazu den Kopf etwas bewegen, mit den Füßen signalisieren. Er kommuniziert hauptsächlich mittels Augenausdruck und Augenbewegungen. Da er intelligent ist, reift in ihm bei minimalem Dialog Sprache heran. Die Familie merkt, dass er Sprache verstehen kann und beginnt, ihm Fragen zu stellen, die er mit Augen und dem Kopf eindeutig beantworten kann: er signalisiert „Ja“ und „Nein“. Mit der Zeit kann C. immer mehr mit den Augen ausdrücken; er kann liebkosen oder wütend sein und es entwickelt sich ein innerfamiliäres Verständigungssystem aus Kopfgebärden, Augenschwenken, Beifalls- und Protestlärm der Füße. Eine Episode aus der Schule: Ein Junge lässt in der Pause die Luft aus seinen Reifen. C. schlägt Lärm mit seinen Füßen, so dass die Lehrerin aufmerksam wird. Er schaut sie durchdringend an und veranstaltet einen Trommelwirbel mit seinen Füßen. Als sie herantritt, hält er sie mit seinen Augen fest und dirigiert sie erst zu dem einen Rad und dann zum anderen. Die Lehrerin erkennt, dass er sagen will, dass jemand mutwillig seinen Reifen zerstört hat und fragt nach dem Schuldigen. Nolan lenkt seinen Blick weiter auf den Übeltäter, der somit entlarvt wird.12 Ab dem elften Lebensjahr gelingt ihm echte Sprachproduktion. Fast zwei Jahre lang hat er hart an der Schreibmaschine trainiert: ein Griffel ist an seinen Kopf geschnallt, und mit diesem soll er tippen, indem er nickt. Dabei wird von einer weiteren Person sein Kinn gestützt. Es war sehr mühselig und anstrengend für ihn, vor allem weil er immer wieder Krämpfe bekam. Aber er hat einen Weg gefunden, um zu kommunizieren. „ Schreibendes Einhorn“ nennt er sich selbst.13 12 13 S. 164 S. 163 - 165 10 Semesterarbeit Frühförderung 3.1 Heidi Knöchlein und Ilka Gängel Ein vulkanischer Drang nach Mitteilung Menschen, die ihre Sprache verloren haben, können sehr verzweifelt werden. Sie haben den Kopf voller Wörter und können kein einziges verstehbar herausbringen oder artikulieren. Viele geben frustriert auf und schließen sich in ihre eigene Welt ein. „ Ich jagte die verlorenen Wörter, bei jeder Gelegenheit, Stunde für Stunde“14 Durch die Entwicklung der Elektronik innerhalb der letzten Jahre, brauchen sich schwerstbehinderte Menschen, um sich auszudrücken, nicht mehr so zu quälen wie C. Nolan. Es wird erst einmal ermittelt, welche minimalen Bewegungen ihnen noch zu Gebote stehen. Speziell angepasste Sensoren reagieren dann auf die kleinsten Bewegungen und geben sie an einen am Bett oder Rollstuhl befestigten Computer weiter, der über einen Infrarotsender weitere Geräte bedienen kann. Durch Pusten oder Blinzeln können wie mit einer Computermaus Bildschirmsymbole angeklickt werden, um einen Wunsch mitzuteilen. 3.2 Fazit Eine Muttersprache kann auch alleine durch Zusprechen und Zuhören erworben werden. Es ist wichtig, dass die Angehörigen bei der alltäglichen Pflege weitersprechen, so als ob das Kind alles verstehen würde- auch wenn klare Bestätigungen des Verstehens ausbleiben. Die Mutter von Christopher glaubt fest daran, dass in dem beschädigten Körper ihres Kindes ein lebendiger Geist wohnt, der angesprochen werden will. Wer ein behindertes Kind pflegt, wird mit dem Kind sprechen, auch wenn es nie eine Antwort gibt. In gewisser Weise findet auch so ein Dialog statt; Zuhören ist schon aktives Mitwirken und Verstehen; ein inneres Wiedererzeugen. Das Kind antwortet - nur bleibt die Antwort in dem behinderten Körper eingeschlossen. Die Antwort kommt nicht heraus und es bleibt ein innerer Dialog.15 14 15 Zitat: Eugen Baursch, In: Butzkamm, 1999, S. 167 vgl. S. 167f 11 Semesterarbeit Frühförderung Heidi Knöchlein und Ilka Gängel 4 Das Rätsel des Autismus 4.1 Autismus. Die vermauerten Fenster „Autismus (wörtlich: Selbstbezogenheit) ist eine Entwicklungsstörung, die im Kleinkindalter auftaucht und in der Regel ein Leben lang fortdauert.“16 Hier liegt eine körperliche Unversehrtheit vor, während die Seele wie „geschüttelt“ ist. Typisch ist, dass allem Neuen ausgewichen wird; es wird als Bedrohung empfunden. Stereotype Handlungen, wie ständiges hin- und herwippen, auf Blättern Kreise malen etc. werden ständig wiederholt. Meist reagieren ihre Sinne überempfindlich und sie können Reize nicht filtern. „Wenn ich jemand zuhöre, sehe ich ihn nicht, und wenn ich ihn anschaue und mustere, kann ich ihm nicht zuhören“17 Stereotypen, auch die Selbstverletzung, das manisch auf etwas fixiert sein, die fanatische Ordnungsliebe, die Abkapselung, – erklären sich durch den „Kuddelmuddel“ bei der Verarbeitung von Sinneswahrnehmungen. Es wird keine Kommunikations- und Sprachbereitschaft gezeigt. 4.2 Verstehensdefekte bei Autisten Autisten scheinen nicht zu verstehen, was in den Köpfen der anderen vorgeht. Sie sind „blind“ für die Gefühls- und Denkwelt, für das Innenleben ihrer Mitmenschen. Sie können keine Gedanken lesen und den Ton, Gesichtsausdruck und Körpersprache nicht deuten. Sie verstehen Witze somit nicht und wirken oft unhöflich, abrupt und allzu direkt. Autisten verwenden häufig Wörter und Satzfragmente wie ein Leitmotiv und plappern bestimmte Satzteile papageiähnlich immer wieder nach. Eltern sind oft froh, über dieses echoartige Nachplappern. „Eine Reaktion ist besser als keine“18 16 S. 169 S. 170 18 S. 174 17 12 Semesterarbeit Frühförderung 4.3 Heidi Knöchlein und Ilka Gängel Botschaften aus einem autistischen Kerker Bücher von Birger Sellin haben in Deutschland auf das Phänomen des Autismus aufmerksam gemacht. Nach einer schweren Erkrankung im zweiten Lebensjahr war er ein anderer Mensch. „Er schrie nach jedem Mittagsschlaf, er schrie, sobald er das Haus verlassen sollte etc. Gleichzeitig begann seine Sprache zu versiegen. Birger stammelte nur noch vereinzelte Worte. Sein Wortschatz wurde immer kleiner. Eines Tages verstummte er vollends“19 Bis zu seinem 19. Lebensjahr spricht Birger nicht. Erst dann bricht er sein Schweigen. Er spricht immer noch nicht. Aber er schreibt Texte, die einen erschütterten Einblick in seine gepeinigte Seele geben. Durch gestützte Kommunikation (facilitated communication) hatte er dann eine Möglichkeit gefunden, in Kommunikation mit seinen Mitmenschen zu treten. Am Anfang tippt er nur Wortfetzen unter großer Mühe und starker innerer Erregung. Nach zwei Wochen kommen einzelne Sätze. Er muss dabei große seelische Widerstände und Qualen auskämpfen. Da er oft Sätze wie: “aufhören, ich will aufhören“, schreibt. 4.4 Einblick in Birgers Tagebuch „ich bin oft erschreckt worden denn die leute haben nicht gewusst dass ich alles verstehe so haben sie einfach alles gesagt was ich nicht hören sollte. Gerne war ich nur an den damaligen festen auf der welt aber sonst erdachte ich alles damit ich aus der wesensart herauskommen könnte... ich bin ohne Sprache ein armer irrer und auch schreiben kann ich nur mit hilfe einer anderen Person das ist sehr demütigend und ich schäme mich deswegen. Ich will dir ein gedicht schreiben über die freude Sich ausdrücken zu können Ich liebe sprache Sie bringt das innere zum blühen Sie schickt gedanken mit der kühnheit eines adlers in dimensionen deiner innersten innigsten träume 19 S. 175 13 Semesterarbeit Frühförderung Heidi Knöchlein und Ilka Gängel Sie verbindet uns die wir eingesperrt sind in unsre einsamkeit“20 4.5 Spracherwerb ohne Sprechen Birger bleibt bis heute auf Helfer angewiesen. Ohne die Helfer geht es nicht. Birgers Sprache bleibt aber nicht auf dem Stand des Zweijährigen. Sie konnte sich durch den Zuspruch der Eltern und das Lesen entwickeln. Es ist klar: Sprechen setzt mehr voraus als die Fähigkeit, Laute zu formen, Wörter aufzunehmen und Sätze zu bilden. Dem Autisten schein ein Stück von der Gabe der Mitmenschlichkeit zu fehlen. Sie sind keine „Redegesellen“ (Jakob Grimm) Ihrer Sprache fehlt die kommunikative Würze, wie Spontaneität und unterstützende Betonung, Mimik und expressive Gestik, Witz und Ironie.21 20 21 S.176 S. 185 14 Semesterarbeit Frühförderung Heidi Knöchlein und Ilka Gängel 5 Ergänzung: Vorstellung in der Sitzung 1. Folie mit darauf aufbauendem Kurzreferat 2. Rollenspiel - Drei Studenten sollen freiwillig nach vorne kommen - Eine Studentin ist ein behindertes Kind, das nicht sprechen und sich nicht bewegen kann, die anderen sind die Eltern - „Eltern“ müssen das Zimmer verlassen, während ich dem „Kind“ Anweisungen gebe („du kannst nicht sprechen und dich nicht bewegen, außer die Füße. Versuche nun deinen Eltern klarzumachen, dass du gerne etwas trinken möchtest“) - Hinweis: Auf dem Tisch steht eine Flasche und ein Becher - Kind muss Eltern etwas mit wenigen Signalen klarmachen und Eltern müssen die Signale des Kindes deuten. - Den Studenten soll die Schwierigkeit und Problematik klar werden!!!! 3. Darstellung von weiteren Fallbeispielen 15 Semesterarbeit Frühförderung Heidi Knöchlein und Ilka Gängel Literaturangaben Wolfgang und Jürgen Butzkamm: Wie Kinder sprechen lernen. Kindliche Entwicklung und die Sprachlichkeit des Menschen. Tübingen, Basel 1999, S. 139-188. 16