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Ethische Entscheidungssituationen bei Schwerkranken und Sterbenden
Palliativmedizinische und palliativpflegerische Konsequenzen
Susanne Roller
Gerade in der ärztlichen und pflegerischen Begleitung von Schwerkranken und
Sterbenden kommt es immer wieder zu ethischen Konflikten, die alle Betroffenen vor
schwere Entscheidungen stellen. Um solche Konfliktsituationen zu Lösen, muss im
Team ein Konsens gefunden werden. Dies ist oft ein schwieriger, mühevoller
Prozess, der Zeit, Reflektion und Kompromissbereitschaft fordert.
Wo findet ärztliche Entscheidung statt?
informell zwischen Tür und Angel (Teeküche, Aufzug ...)
vor / im Patientenzimmer
in Institutionen (Ethik-Kommissionen)
einsam (Chefarzt, Oberarzt, Assistent, PJ-Student, ...)
selten in Fortbildungen verallgemeinert
gar nicht!
Das Lösen ethischer Konflikte braucht Zeit.
Um zu einer begründeten Einschätzung der Situation zu kommen, muss also im
Einzelnen geklärt werden
1. Wer ist betroffen?
2. Um was geht es (Problemfeststellung)?
3. Welche ethischen Prinzipien sind relevant und wie werden sie beachtet
oder verletzt (Situationsanalyse)?
4. Was sind die Einzelnen bereit, zu tun, welche Gefühle löst die Situation
aus, wo findet Identifizierung, wo Abgrenzung statt
(Verhaltensanalyse)?
5. Welche gesellschaftlichen, institutionellen oder kulturellen Normen sind
betroffen und beeinflussen die Handlenden bzw. die Handlung
(Normenprüfung)?
6. Welche Handlungsmöglichkeiten bestehen? Abwägen von Wirkung und
Nebenwirkung einzelner Lösungsansätze.(Urteilsentscheid)
7. Überprüfen der Korrekturnotwendigkeit (Adäquanzkontrolle)
Ad 1.
Betroffen sind in medizinischen Konfliktsituationen neben Patient und Angehörigen
auch Ärzte, Pflegende, andere Therapeuten und sonstige Personen, die mit dem
Kranken zu tun haben. Idealer Weise kommen alle zu einem – oder besser mehreren
– klärenden Gesprächen zusammen.
Die Arbeit im multidisziplinären Team erfordert regelmäßige Gelegenheit zur
Kommunikation, Reflektion und Supervision.
Ad 2.
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Häufige Probleme sind Therapieverzicht oder Therapieabbruch, Knappheit der
Ressourcen, fehlende Willensäußerungen des Patienten (Selbstbestimmungsrecht).
Kein Arzt hat ein Recht auf Behandlung. Eine Behandlungspflicht besteht nur im
Notfall. In allen anderen Situation handelt der Arzt im Auftrag und mit Einverständnis
des aufgeklärten, informierten Patienten. Eine Zuwiderhandlung wäre
Körperverletzung. Jeder Patient hat also das Recht, jede beliebige Therapie
abzulehnen oder zu beenden.
Behandlungsverzicht: Eine mögliche Behandlung wird (auf Wunsch des Patienten)
nicht begonnen (z. B. Dialyse bei akutem Nierenversagen)
Behandlungsabbruch: Eine bereits begonnene Behandlung wird abgebrochen, weil
sie medizinisch nicht mehr sinnvoll oder vom Patient nicht mehr gewünscht
wird (z. B. Chemotherapie bei Fortschreiten der Krankheit unter Therapie,
Antibiose, Dialyse, Beatmung u.a.).
Beispiel: Das wunschgemäße Beenden der Sondenernährung bei einem
schluckunfähigen Patienten, der keinen Hunger und Durst leidet, ist keine
aktive Sterbehilfe, es ist Sterben zu-lassen.
Das heißt nicht „nichts tun“, sondern nichts „mit dem Ziel der Lebensverlängerung“
tun, dafür alles „mit dem Ziel der Leidensminderung“.
Eine einmal begonnene Behandlung zu Beenden ist schwerer, als sie gar nicht erst
zu beginnen. Deshalb immer vorher Indikation und Sinn prüfen!
Wenn ein Schwerkranker nach einem von ihm gewünschten
Behandlungsabbruch stirbt, so stirbt er nicht daran, sondern an den Folgen
seiner Erkrankung, die jetzt nicht mehr durch medizinische Maßnahmen
aufgehalten wird.
Ad 3.
Häufige ethische Prinzipien sind Autonomie, Würde, Fürsorge, Gerechtigkeit, d.h.
„Gutes tun, nicht schaden“
„Das Gegenteil von Gut ist gut gemeint“
Situation der professionellen HelferInnen im Krankenhaus
 60% der Patienten sterben im Krankenhaus (bis 1990 noch > 80%)
 Die meisten Menschen sterben an einer "chronischen" Erkrankung, relativ alt,
hatten also vorher lange Zeit immer wieder Therapie mit dem Ziel der
Lebensverlängerung
 Alter wird zur Krankheit
 Ärzte erwarten von sich und spüren diese Erwartung von andern, Leben zu
erhalten „um jeden Preis“ (Bild des Arztes in den Medien)
 Die Grenze zwischen Leben und Tod wird fließend (Intensivmedizin)
 In der Klinik wird der Mensch auf seine Krankheit/en reduziert
 Dies ist einerseits nötig, um schnell und effizient zu arbeiten, anderseits geht
der Patient als Person verloren
 Besonders sinnlos ist dies bei palliativer Therapie
 Ärzte sind hilflos, wenn keine therapierbare Krankheit mehr erkennbar ist.
("Ich kann nichts mehr (für Sie - für mich) tun")
 Die Professionalität geht verloren
 Angst entsteht
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vor dem Verlassen gewohnter therapeutischer Wege
vor dem Versagen (Sterben und Tod sind in der Medizin nicht eingeplant)
vor dem eigenen Tod
BÄK: „Aufgabe des Arztes ist es, unter Beachtung des Selbstbestimmungsrechtes
des Patienten Leben zu erhalten, Gesundheit zu schützen und wiederherzustellen
sowie Leiden zu Lindern und Sterbenden bis zum Tode beizustehen.
Die ärztliche Verpflichtung zur Lebenserhaltung besteht jedoch nicht unter allen
Umständen. Es gibt Situationen, in denen sonst angemessene Diagnostik und
Therapieverfahren nicht mehr indiziert sind, sondern Begrenzung geboten sein
kann. Dann tritt palliativmedizinischen Versorgung in den Vordergrund.“
Ad 4.
Was die Einzelnen bereit sind, zu tun, hängt eng mit dem Informationsstand, dem
Grad der Autonomie (Hierarchie im Krankenhaus) und der Bereitschaft der Reflexion
zusammen
Kein Arzt macht es sich leicht mit Entscheidungen über Leben und Tod. Aber es
gehört auch nicht gerade zum Alltag eines Arztes, solche Entscheidungen zu treffen.
Meist ist der Arzt sehr alleine gelassen
Zwar lernt der Arzt, Entscheidungen zu treffen. Er lernt aber nicht, dass dies
immer auch den "möglichen Fehler" beinhaltet
Neben allgemein ethischen, philosophischen, wirtschaftlichen und
wissenschaftlichen Aspekten spielen auch seine persönlichen Erfahrungen,
Ängste und Gefühle eine Rolle
Meist kennt der Arzt den Patient, über dessen Schicksal er entscheiden muss,
nicht oder nur in schwerkrankem Zustand
Über einen voraussichtlichen Verlauf einer Erkrankung herrscht immer ein
Rest Ungewissheit
Bisher galt es als unbestritten, dass immer der Erhalt bzw. das Verlängern des
Lebens erste Priorität hat
Keine "lebensverlängernde Therapie" durchzuführen heißt für viele Ärzte
immer noch "Wir können nichts mehr für sie tun", denn die Kenntnisse der
Palliativmedizin sind noch nicht allgemeines Medizinerwissen
Zeitdruck ist der größte Feind einer überlegten Entscheidung. Oft wird er
vorgeschoben, um vermeintlich leichter zu einer Entscheidung zu kommen.
Aber gerade z. B. die Frage der Sondenernährung hat Zeit, muss reifen,
überlegt sein, Für und Wider abgewogen, alle Stimmen gehört und beachtet
sein und dann in Ruhe getroffen werden
- Hausärzte, Angehörige, Freunde, Seelsorger des Patienten werden zu selten
mit einbezogen, denn der Arzt ist es gewohnt, alleine zu entscheiden. Er muss
erst wieder lernen, mit allen Betroffenen zu reden.
Bedürfnisse des Betreuungsteams
 Bewahren des palliativmedizinischen Ethos
 Interdisziplinäre Wertschätzung
 Aus- und Weiterbildung
 Supervision
 Eigene Reflektion und Selbsterfahrung
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Aneignen und Erleben von Ritualen zur Sterbebegleitung und Trauer
Gelegenheit zum Gespräch
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Ad 5.
Institutionelle und gesellschaftspolitische Aspekte beeinflussen
Entscheidungsprozesse, z.B. die Berichterstattung zum Thema Flüssigkeitsgabe in
Pflegeheimen der letzten Jahre.
Die Richtlinien der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung haben eine
breite öffentliche Diskussion über palliativmedizinischen Begleitung angestoßen,
durch die heute ganz neue Entscheidungswege offen sind.
BÄK: "Unabhängig von dem Ziel der medizinischen Behandlung hat der Arzt in
jedem Fall für eine Basisbetreuung zu sorgen. Dazu gehören u.a.:
Menschenwürdige Unterbringung, Zuwendung, Körperpflege, Lindern von
Schmerzen, Atemnot und Übelkeit sowie Stillen von Hunger und Durst. Art und
Ausmaß einer Behandlung sind vom Arzt zu verantworten. Er muss dabei den Willen
des Patienten beachten."
Die Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung sind ein
wichtiger Beitrag zur Begleitung Sterbender.
Die wesentlichen Neuerungen sind
- Eine klare Ablehnung aktiver Sterbehilfe
- Betonung der Verpflichtung des Arztes, Leben zu erhalten und Leiden zu
lindern
- Anerkennung von Situationen, in denen Maßnahmen zur Lebensverlängerung
nicht mehr angebracht sind
- Änderung des Therapieziels in diesem Falle in Richtung palliativ-medizinischer
Maßnahmen (individuell und vom Willen des Patienten bestimmt)
- Definition einer unverzichtbaren Basisbetreuung
- Betonung des Selbstbestimmungsrechtes aller Patienten (auch der
bewusstseinseingeschränkten oder bewusstlosen)
- Verpflichtung zur wahrheitsgemäßen, der Situation des Sterbenden
angemessenen Aufklärung
- Anerkennung von Vorsorgevollmacht, Patientenverfügung und
Betreuungsverfügung als wichtiges Instrument der Willenserklärung
Die Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung gelten
selbstverständlich nicht nur auf sog. Palliativstationen sondern sind gerade für alle
Ärzte im stationären und ambulanten Bereich hilfreich bei der Betreuung
Schwerkranker und Sterbender. Grundlegende Kenntnisse der Palliativmedizin sind
Voraussetzung für die Begleitung Sterbender.
Die verschiedenen Teammitglieder verstehen darunter oft ganz unterschiedliche
Dinge:
 Arzt: Gute Symptomkontrolle („Keine Schmerzen“)
 Schwester: Individuelle Pflege (einfühlsam und fachgerecht)
 Sozialarbeiter: Heil sein, auch wenn der Körper stirbt
 Seelsorger: Begleitet sein
 Angehörige: Schmerzfrei, ruhig und friedlich sterben können
Wesentlich ist: Der Patient muss mit seinen Grundbedürfnissen immer im
Mittelpunkt stehen. Dies bedeutet
 Zufriedenstellender körperlicher Zustand und gute Symptomkontrolle
 Mitfühlende seelische Begleitung mit Liebe, Hoffnung und Beistand
 Gelegenheit zur mentalen Verarbeitung der Situation durch Wahrhaftigkeit
 Gelegenheit zum Gespräch über „metaphysische“ Fragen der Spiritualität
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
Ordnen von Beziehungen, Regeln der „letzten Dinge“ in Familie,
Freundeskreis und sozialem Leben.
Ad 6.
Oft ist es schwerer, Aufzuhören, als gar nicht erst zu beginnen (z.B. Beatmung),
daher müssen zu jedem Lösungsansatz die Konsequenzen bedacht werden. Die
Palliativmedizin bietet dabei oft Behandlungsalternativen, die für alle Beteiligten
einen tragbaren Konsens darstellen.
Palliativmedizin: Die "lindernde" Medizin. Ziel ist nicht die Lebensverlängerung (oft
aber "Nebeneffekt") oder "Heilung" (oft aber "Heil werden" im Sinne von
ganzheitlich betreut werden), sondern die ganzheitliche Leidenslinderung in
der letzten Lebensphase, d.h. Symptomkontrolle unter Beachtung
physischer, psychischer, sozialer und spiritueller Bedürfnisse.
WHO-Definition: Palliativmedizin
- erkennt das Sterben als normalen Prozess des Lebens an
- beschleunigt oder verzögert das Sterben nicht
- sorgt für Schmerzfreiheit und Freiheit von anderen Symptomen
- integriert psychologische und spirituelle Aspekte in die Therapie
- bietet Unterstützung, die dem Patienten ein möglichst aktives Leben bis zum
Tode ermöglicht
- bietet Unterstützung für die Familie
Die Interaktion zwischen Patient (oft nicht mehr orientiert) und dem Arzt (eventuell
nach Rücksprache mit Experten) ist oft erschwert. Deshalb ist die Kenntnis
allgemeiner Entscheidungsmöglichkeiten wichtig:
weitere Untersuchungen
beobachtendes Abwarten
Beratung mit Patient, Angehörigen oder Kollegen
sofortiges Handeln (Notfall)
aufstellen eines Behandlungsplanes
Verzicht auf weitere Untersuchungen und Behandlung
Ad 7.
Ethische Entscheidungsprozesse sind keine festgelegten Handlungsabläufe. Jeder
Schritt muss neu überprüft werden.
BÄK: „Maßnahmen zur Verlängerung des Lebens dürfen in Übereinstimmung mit
dem Willen des Patienten unterlassen oder nicht weitergeführt werden, wenn diese
nur den Todeseintritt verzögern. Beim Sterbenden kann die Linderung des Leidens
so im Vordergrund stehen, dass eine möglicherweise unvermeidbare
Lebensverkürzung hingenommen werden darf. Eine gezielte Lebensverkürzung ... ist
unzulässig ...“
Lebensverlängernde Maßnahmen sind alle die ärztlichen Maßnahmen, die mit dem
ausdrücklichen Ziel der Lebensverlängerung eingesetzt werden. (z. B.
Wiederbelebung, Dialyse bei Versagen der Nierenfunktion). Dieselbe
Maßnahme kann symptomorientiert oder zur Lebensverlängerung eingesetzt
werden. Entscheidend ist das Behandlungsziel. Eine "Basisbetreuung" ist
ethisch immer geboten.
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Entscheidungsfindung
 Liegt eine Willenserklärung vor?
 Wie ist der bisherige Krankheitsverlauf? (akut, schleichend)
 Was ist das Behandlungsziel?
 Liegen potenziell reversible Gründe vor?
 Welche Einstellung bzw. Kenntnisstand haben die Angehörigen?
Entscheidungsfindung im Team
 Wie schätzt der Patient die Situation ein?
 Wie schätzen die Angehörigen die Situation ein?
 Wie schätzen Pflegende und Ärzte die Situation ein?
 Welche Ängste haben die einzelnen Personen?
 Was kann jeder tun?
 Was kann passieren (mit und ohne Therapie)?
 Klären offener Fragen
Zum Schluss
„Fachleute, Spezialisten,
Profis und Macher
hat unsere Welt heute viele!
Hat sie auch genügend Menschen?
Menschen, die ihre Menschwerdung
ein Leben lang beherzt gestalten?
Wir brauchen
Menschen, die viel können,
Menschen, die viel wissen,
Menschen, die viel leisten.
Wir brauchen vor allem Menschen,
durch die uns warm ums Herz wird,
wenn wir ihnen begegnen.“
(Franz Schmatz)
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